1 delirium

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Editorial «The house of fiction has many windows, but only two or three doors.» – Was James Wood über erzählende Prosa sagt, möchte ich für alle literarischen Texte stark machen. Der Leser tritt ein, schaut sich um, versucht sich zurechtzufinden, nistet sich nach und nach ein und wählt sich sein/e Fenster. Der Eintritt kann nicht beliebig erfolgen, aber die Aussichten sind vielseitig. Grundsätzlich können sich zwei durch dasselbe Haus lesen, ohne sich darin zu begegnen – andere Türe, anderes Fenster. Das macht es spannend zu erfahren, welchen Weg ein anderer Leser zurückgelegt hat (genau der gleiche wird es nie sein) und zu welchen Fenstern er kam, wo man sich vielleicht gekreuzt hat und welcher Teil des Hauses den eigenen Augen (noch) verborgen blieb. Eine Kritik zeigt einen solchen Weg eines anderen Lesers auf – aber nicht nur. Sie breitet vor uns auch den Grundriss des Hauses aus und untersucht, wie und worauf es gebaut ist; zeigt uns nicht nur, was reizvoll an ihm ist, sondern auch, wo das Fundament brüchig ist oder das Haus gar zerfällt. Und nicht zuletzt begutachtet eine Kritik, was durch die vielen Fenster eines Textes ausgemacht werden kann, ob diese Ausblicke sehenswert sind und den LeserInnen Weitsicht ermöglichen. Kritik fragt also, was ein bestimmter Text ist, will und macht, was er auslöst, verspricht und einholt, wie und weshalb er es macht und nicht zuletzt auch: wozu. Somit beschäftigt sich Kritik von einem Text ausgehend mit allgemeinen Fragen nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Literatur – und hat deshalb immer auch am Diskurs um Literatur teil. delirium will durch die Auseinandersetzung mit literarischen Texten nicht einfach erreichen, dass mehr geschrieben wird. Nicht Produktivität um des reinen Produzierens willen – wovor Dolores Zoe in ihrer Replik zur Erstausgabe warnt – liegt uns am Herzen, sondern ebendiese Frage, was Literatur ist, kann und soll. Wir sind überzeugt, dass sie stets von Neuem gestellt werden muss, um – egal ob als Schreibender, Lesender oder Kritisierender – dem Gegenstand der Literatur gerecht werden zu können. Kurz: Literatur ist angewiesen auf den Diskurs. Und somit ist die andere wichtige Frage – warum delirium? – schon beinahe beantwortet: Weil die Literatur den Diskurs braucht und der Diskurs die Kritik, setzen sich auch in dieser Ausgabe wieder vier KritikerInnen mit zeitgenössischen literarischen Texten von vier AutorInnen auseinander. Wir laden ein, ins delirium einzutauchen, die dort versammelten literarischen Häuser auf eigene Faust zu erkunden und sie zusammen mit den jeweiligen Kritiken auf ihre Standfestigkeit sowie die erlesenen Aussichten hin zu prüfen.

Gute Reise! Laura Basso


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Sebastien Fanzun

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L I T E R AT U R

e n i e d n e g r i e r ä w e i s … n i t s i n i l o i beliebige V … n e d r o w e g

KRITIK

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Auerbach

Literatur

Ein Gefühl von Erleichterung und grenzenloser Freiheit habe den jungen Auerbach in grösste Erregung versetzt, schreibt Sebald, als die bis dahin regelmässig und stets pünktlich eintreffenden, manchmal besorgten und immer liebevollen Briefe der aus Berlin schreibenden Eltern nicht und fortan nie mehr eintrafen. Tagelang habe Auerbach darauf unter seiner stets schwarzen Kleidung eine Erektion mit sich herumgetragen, bis ihm eine hübsche Schauspielstudentin ermöglicht habe, sein neu gewonnenes Freiheitsgefühl an ihr abzuexerzieren. Tatsächlich, so Sebald, sei Auerbach durch dieses Gefühl von erleichternder Abwesenheit nicht nur zu Schauspielerinnen, sondern auch zum Schauspiel selbst getrieben worden, ganz so, als hätten sich ihm nun, da er niemandes Kind mehr war, Türen zu allen möglichen Identitäten geöffnet, die sämtlich durchzuspielen er sich anschickte. Fortan habe er, der zuvor so schüchtern gewesen war, seine Mitschüler in den Pausen und manchmal sogar inmitten einer Lektion mit Passagen aus Hamlet oder mit Imitationen einer Lehrperson, eines Mitschülers oder eines Politikers unterhalten. Auerbachs Einschreibung zum Schauspielstudium an der St. Martin’s School of Art sei daraus nur logische Konsequenz gewesen. Und ohne Zweifel, schreibt Sebald, wäre aus dem attraktiven, begabten und bis zur Arroganz selbstbewussten Auerbach ein bedeutender Schauspieler geworden, wenn nicht eine zufällige Begebenheit seinem Leben eine andere Richtung verliehen hätte. Im Anschluss an eine Aufführung von Schuberts Unvollendeter in der Wigmore Hall sei Auerbach nämlich mit einer jungen Violinistin ins Gespräch gekommen. Als er einige Stunden später im Dunkel seines Schlafzimmers gelegen habe, nichts hörend bis auf die leisen Atemzüge dieser Violinistin, sei er, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, zutiefst fasziniert gewesen von der unbegreiflichen Art der Präsenz dieses nur durch etwas Decke und Zimmerluft von ihm getrennten Körpers, schreibt Sebald. Tatsächlich habe er nämlich, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, die doch eigentlich physisch von ihm getrennte Haut der Violinistin beinahe auf seiner eigenen gespürt. Dieses beinahe habe Auerbach augenscheinlich aussergewöhnlich beeindruckt, schreibt Sebald, habe er doch dieses Wort in seinem Tagebucheintrag mehrfach unterstrichen. Als Auerbach fünfzig Jahre später der BBC ein Interview gegeben habe über seine Jugendjahre, habe er dieser in Echtzeit nur wenige Minuten dauernden und angesichts seiner übrigen jugendlichen Erlebnisse unbedeutend scheinenden Episode einen Grossteil der Gesprächszeit gewidmet, so Sebald. Nicht weniger als sieben Mal habe Auerbach das Wörtchen beinahe wiederholt, mit zunehmender Vehemenz. Beim siebenten Mal sei Auerbach schliesslich den Tränen nahe gewesen, so Sebald, worauf die Journalistin das Gespräch fast gewaltsam auf ein anderes Thema habe lenken müssen. Auch dies zeige die bedeutende Rolle, die jene kurze Episode im Dunkel seines Zimmers für den weiteren Werdegang Auerbachs gespielt habe. Entrückt bis an die Grenze zur Verstörung sei er am nachfolgenden Morgen gewesen, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, so Sebald. Mit der kurz darauf die Wohnung etwas enttäuscht verlassenden Violinistin habe er keine funktionierende Konversation mehr betreiben können. Einige Minuten lang habe er die hinter der Gehenden geschlossene Tür seiner Wohnung betrachtet und während dieser eingehenden Betrachtung habe Auerbach mit der Idee der


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Schauspielerei ein für alle Mal abgeschlossen, so Sebald. Der sichtlichen Enttäuschung seiner Professoren, die ein bedeutendes Talent verloren sahen, habe er nichts ausser seiner Entschlossenheit entgegengesetzt. Die sich als ein so zartes beinahe äussernde Präsenz der Violinistin habe Auerbach den Professoren gegenüber nicht erwähnt, wie er überhaupt keine Gründe angeführt habe, nichts kommuniziert habe ausser seinem entschiedenen Wunsch, sein Schauspielstudium schnellstmöglich abzubrechen, so Sebald. Kaum exmatrikuliert habe Auerbach sich auf seiner Suche nach jenem zarten beinahe den am Polytechnikum wirkenden bildkünstlerischen Kreisen angeschlossen. Tatsächlich habe er es für nichts als schlüssig gehalten, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, dass die bildenden Künste und insbesondere das Zeichnen den einzigen Weg darstellen mussten, einer so seltsamen körperlichen Wesenhaftigkeit wie derjenigen der Violinistin im Dunkel seines Schlafzimmers auf den Grund zu kommen. In die Vielzahl von auf einen nackten Menschen oder eine griechische Amphore gerichteten Augenpaaren habe sich also das Auerbachsche eingegliedert, Dienstag und Donnerstag um fünf Uhr abends, so Sebald. Nun habe es sich aber gleich bei der Entstehung der ersten Aktskizze ergeben, dass schon nach wenigen strukturierend hingeworfenen Bleistiftzügen das Verhältnis von Objekt und Bild im Auge Auerbachs auf so entscheidende Weise gestört worden sei, dass er sich genötigt gesehen habe, die Skizze sofort und restlos zu vernichten. Ob die Sonne Schuld getragen habe, die vielleicht just im ungünstigsten Moment hinter einem dünnen Wolkenfaden teils verdeckt war; ob vielleicht eine geringe, wie unbewusst ausgeführte Bewegung des Modells verantwortlich gewesen war; ob möglicherweise schliesslich eine ebenso spontane wie kaum merkliche und vergängliche Trübung des Auerbachschen Auges vorlag, liesse sich nicht rekonstruieren, so Sebald. Tatsache sei, dass die Skizze für Auerbach untragbar geworden sei und ihre anschliessende Zerstörung einziger möglicher Ausweg aus dem existenziellen Ekel, in den das Werk seinen Schöpfer offenbar für einige Sekunden versetzt habe. Die Skizze vernichtet, habe Auerbach den Kurs auf der Stelle verlassen, so Sebald. Die Enttäuschung sei die denkbar grösste gewesen. Der unendliche qualitative Unterschied zwischen der Skizze und ihrem Objekt, multipliziert mit dem unendlichen qualitativen Unterschied zwischen dem Objekt der Skizze und dem Objekt des Auerbachschen Zeichenhungers, jenes eigentümliche beinahe, habe sein Denken auf Monate hinaus verfinstert, so Auerbach in seinem Tagebuch, schreibt Sebald. Wie Auerbach in seinem Tagebuch schreibt, sei er in London in einem Restaurant gesessen und habe seinen Tisch betrachtet und dieser Tisch, in seiner skrupellosen physischen Gewöhnlichkeit einerseits, und seiner pointierten Nützlichkeit andererseits, sei ihm wie ein Angriff auf seine Person erschienen. Und so habe er sich entschlossen, dieser seiner Person ein Ende zu machen, so Auerbach in seinem Tagebuch. Als eine eigentümliche Laune des Zufalls erscheine es im Nachhinein, schreibt Sebald, dass Auerbach auf dem als seinen letzten geplanten abendlichen Weg zur Themse hinunter an der Wigmore Hall vorbei geschritten und sein enttäuschtes Auge auf das Plakat gefallen sei, das für jenen Abend Schuberts Unvollendete ankündigte. Als einen «Satz jener fremdartigen Sprache des Chaos, mit so etwas wie einem Ausrufzeichen am Ende» habe Auerbach in seinem Tagebuch jenen Umstand bezeichnet, so Sebald, und dieser Dynamik habe sich der Enttäuschte hingegeben und sich also erneut, ob aus Wehmut oder aus Nostalgie, aus reinem ästhetischen Gefallen oder aus


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innerer Konsequenz heraus, Schuberts Unvollendete in der Wigmore Hall angehört. Seine ganz und gar eigentümliche Befindlichkeit sei noch um ein ganzes Stück eigentümlicher geworden, als die Violinen im G-Dur-Thema sämtlich ihren Einsatz verpasst hätten und darauf jeder Violinist für sich einen zu seinen Mitmusikanten versetzten Einstieg ausgesucht habe ohne Rücksicht auf die fuchtelnden Rettungsversuche des unglücklichen Dirigenten, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch. Tatsächlich, so schreibt Auerbach, schreibt Sebald, habe er diese Passage noch nie so sehr genossen wie in diesem Verwirrungszustand und er sei beinahe etwas verärgert gewesen, als dem Dirigenten zuletzt doch noch die Rettung gelang. Im Anschluss an die Aufführung sei Auerbach mit einer jungen Juristin ins Gespräch geraten. Diese junge Juristin, so habe sich im Gespräch ergeben, sei als Kind mit demselben Zug und ebenfalls aus Berlin nach England gekommen, dann aber nach London gegangen, während Auerbach zunächst nach Kent gelangt war. In London habe sie sich ein Zimmer mit einer Violinistin der Wigmore Hall geteilt, so die Juristin, und sich deshalb regelmässig die dort stattfindenden klassischen Konzerte angehört. Mit dieser Tradition habe sie auch nicht gebrochen, als ihre Violine spielende Mitbewohnerin vor etwas mehr als einem Jahr nach Paris gereist sei, so die Juristin. Auerbach habe, wenn man seinem Tagebuch hier Glauben schenken darf, anhand der abseits ihrer beruflichen Tätigkeit völlig fehlenden Beschreibung jener Violinistin sofort erkannt, dass es sich um dieselbe Violinistin handeln musste, die ihm damals diese so entscheidenden Momente im Dunkel seines Schlafzimmers geschenkt hatte. Es sei nur passend, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, dass die Violinistin nun wieder so beinahe da gewesen sei, dass ihre Existenz – Auerbach, so Sebald, habe hier ganz bewusst den Begriff des Daseins vermieden – dass ihre Existenz gleichsam durch das Wort Violinistin schien wie ein Lichtstrahl durch einen Mauerspalt und doch fassbar zu werden sich weigerte. Tatsächlich hätte jede konkretisierende Beschreibung seitens der Juristin die Fassbarkeit ihrer Mitbewohnerin nicht gesteigert, sondern im Gegenteil vermindert, so Auerbach in seinem Tagebuch, sie wäre irgendeine beliebige Violinistin geworden. Auerbach habe anhand der geballten Menge an erstaunlichen Zufällen dieses Abends zur Erkenntnis gefunden, dass jedes menschgemachte System und jede menschliche Massnahme zur Vermeidung des Chaos letzten Endes zum Scheitern verurteilt sein musste, so Sebald. In der ihm eigenen gedanklichen Schärfe habe Auerbach den Freitod als eine solche Massnahme klassiert und folgerichtigerweise davon abgesehen. Es sei der aussergewöhnlichen sozialen Eleganz Auerbachs und seinem stark ausgeprägten Sinn für Diskretion zu verdanken, dass wir über die unmittelbare Fortsetzung seines Verhältnisses zu jener Juristin nichts wissen, so Sebald. Fest stehe einzig, dass er anscheinend einige Tage später aufgrund dieser Juristin – «durch sie und mit ihr», schreibt Auerbach in seinem Tagebuch – zur Zeichnung zurück gefunden habe. In den folgenden Wochen und Monaten habe Auerbach unermüdlich diese Juristin gezeichnet, schreibt Sebald. Nicht ein einziges Mal habe sich seine Faszination einem anderen Objekt gewidmet als dieser Juristin. Nicht minder ungewöhnlich als die Monomanie seines künstlerischen Interesses sei sein Arbeitsvorgang gewesen. Kaum einige Striche hingeworfen, habe Auerbach nämlich jenes schale Gefühl des Ungenügens verspürt, das seine erste Aktskizze ihm so gründlich verekelt habe, schreibt Sebald. Und dieses tiefe zeichnerische Unbehagen, dieses Wissen


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um die unendliche qualitative Differenz zwischen seiner Skizze und dem Objekt dieser Skizze, sei mit fortschreitendem Arbeitsprozess grösser geworden bis zur Unerträglichkeit, so Auerbach in seinem Tagebuch, schreibt Sebald. Dies habe zunächst dazu geführt, dass Auerbach jeden gesetzten Strich nur wenig später wieder korrigierend übermalt habe, stets auf der Suche nach seinem Motiv, das ihm immer wieder unter den Utensilien zu entschwinden schien, so Sebald. Nach stundenlanger Abwechslung von erkundendem und verbesserndem Strich, wie Auerbach diese Mechanismen in seinem Tagebuch nennt, sei also von seinem Motiv kaum mehr etwas erkennbar gewesen als einige wenige, annähernd eine Gestalt formende Striche in einem Sturm aus geradezu absurd angehäuften Farbmengen. Darauf, so Sebald, habe Auerbach jeweils zu einem Malspachtel gegriffen und einen grossen Teil der über den Tag entstandenen Anhäufung mit einigen wenigen, aber entschlossenen und heftigen Bewegungen abgeschabt, dass er am Boden zu liegen kam und die Leinwand kaum mehr zeigte als einige Vernarbungen von Kreide, Kohle oder Öl. Am nächsten Morgen habe sich Auerbach mit der grössten Selbstverständlichkeit erneut vor dieselbe Leinwand gestellt und erneut mit erkundenden und verbessernden Strichen sich daran gemacht, sein in seinem Verständnis stets sich wandelndes Modell in die auf der Leinwand noch zu sehenden Spuren des Vortages und der Vorwoche zu bringen, schreibt Sebald. An einem Porträt habe Auerbach solcherart nicht selten über mehrere Monate hinweg gearbeitet, manchmal länger als ein Jahr, so Sebald. Diese für Aussenstehende befremdliche Methode sei für Auerbach der einzige sinnvolle Versuch gewesen, jenem beinahe auf die Spur zu kommen. So wie der Körper der Violinistin im Dunkel des Zimmers beinahe Auerbachs Körper berührt habe, so sei das Modell in diesen zu Schemen sich ballenden Farbwolken beinahe vorhanden, ohne je zu einer ihm abträglichen Fassbarkeit zu gerinnen, so Sebald. Durch winzige Spalten in einer Mauer aus Farbe falle gleichsam wie ein Lichtstrahl die Existenz des Modells. Den Kritikern, die ihm alsbald vorwarfen, immer dasselbe zu malen, habe Auerbach stets entgegen gehalten, es sei völlig unmöglich auch nur zwei Mal dasselbe zu malen. Denjenigen Kritikern derweil, die sein Vorgehen als plump und grob bezeichneten, habe Auerbach stets erwidert, es sei im Gegenteil plump und grob ein ungefähres Abbild eines Modells einfach so auf die Leinwand zu schmieren und dieses Abbild dem Modell rücksichtslos als ein Abbild seiner selbst zu präsentieren, diesem Modell eine bildliche Identität einfach so zeichnerisch aufzuzwingen, wie es in der Geschichte der Malerei schändlicherweise doch immer wieder praktiziert worden sei, so Sebald. Auerbach schreibt in seinem Tagebuch, seine Methode sei im Gegenteil nichts anderes als die respektvolle Bewunderung und Bewahrung der Vielfalt des Modells und seine Porträts nichts anderes als eine Auffächerung von Möglichkeitsformen. Tatsächlich sehe er in seinem einzigen Modell, dieser Juristin nämlich, nicht zwei Mal dasselbe. Immer wieder aufs Neue spüre er ihren Lebenslinien nach, immer wieder suche er mit Pinsel und Kohlestift, Kreide und Bleistift seine Ratlosigkeit ihr gegenüber zu ergründen und sei stets aufs Neue erstaunt darüber, was er in der Gestalt eines einzelnen Modells vorfände, schreibt Auerbach, so Sebald. Die Porträts seien dabei allesamt nicht als Resultate, sondern als Wegstationen zu verstehen, als Versuche, dem stets sich wandelnden Anblick irgendwann annähernd gerecht zu werden. Tatsächlich, schreibt Sebald, habe Auerbach mehrfach die durch das immer


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wiederkehrende Abschaben der Leinwände entstehenden und den Boden seines Ateliers in Haufen bedeckenden Farb- und Kreidespäne als sein eigentliches Werk bezeichnet. Auerbach habe sich selbst mehrfach als Landschaftsmaler bezeichnet, der mittels eines am Objekt jener Juristin stattfindenden Prozesses steter Wiederholung und Variation eine Landschaft von Farbe am Boden seines Ateliers erschaffe, die gleichwohl von der Existenz dieser Juristin künde wie auch von ihrer durch ihre stete Veränderung immer wieder aufs Neue entstehenden Abwesenheit, so Sebald. Diese nie zu einer Vollendung gelangende Landschaft des Scheiterns, schreibt Auerbach in seinem Tagebuch, sei das grösste Zeugnis des Lebens, das immer dort stattfinde, wo man gerade nicht hinschaut und das zu seiner grössten Schönheit dort gelange, wo man es nur beinahe wahrnimmt, den unverständlichen Regeln des Chaos folgend. Solch bis an die Schmerzgrenze und darüber hinaus aufgetragenes Pathos, so schreibt Sebald, sei typisch für Auerbach. Sebastien Fanzun


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So Sebald «‫ת ֶ ׁש ֤ ֵא־ל ֶא א ֨ ּ ָב־ם ִא ה֞ ָי ָה ְו ע ַ ֑ר ּ ָז ַה ה ֣ ֶי ְהִי ו֖ ֹל א ֥ ּ ֹל י ֛ ּ ִכ ָנון֔ ֹא ע ַ ֣ד ּ ֵי ַו‬ ‫»׃וי ֽ ִחָא ְל ע ַר֖ ֶז־ן ָת ְנ י ֥ ּ ִת ְל ִב ְל ה ָצ ְר ֔ ַא ת ֣ ֵחִׁש ְו ֙וי ִחָא‬ «Aber da Onan wusste, dass der Same nicht sein eigen sein sollte, wenn er einging zu seines Bruders Weib, liess er’s auf die Erde fallen und verderbte es, auf dass er seinem Bruder nicht Samen gäbe.» 1. Mose 38.9

Kritik

I. Exposition Das in Auerbachs Tagebuch «bis an die Schmerzgrenze und darüber hinaus aufgetragene Pathos», schreibe Sebald, «sei typisch für Auerbach», so am Ende seiner Erzählung Auerbach Fanzun. Tatsächlich jedoch schreibt Sebald – also W. G. Sebald, der Schriftsteller – nicht das, sondern etwas ganz anderes, und er schreibt es auch nicht über Auerbach – also Frank Auerbach, den Maler – sondern zunächst über eine an Auerbach angelehnte Figur namens Max Aurach, die dann in späteren Ausgaben von Sebalds Ausgewanderten, da der Porträtist die Genehmigung verweigert hatte, dass seine Bilder in der englischsprachigen Fassung des Erzählbandes abgedruckt werden, Max Ferber heisst. Weder also ist das Porträt eines britischen Malers deutsch-jüdischer Herkunft, das Sebald in der vierten und letzten Erzählung der Ausgewanderten entwirft, jenes des britischen Malers deutsch-jüdischer Herkunft Auerbach, noch ist das sebaldsche Porträt eines Malers dieses Namens, das Fanzun – also Sebastien Fanzun, der paratextuell indizierte Erzähler der in dieser Kritik zu kritisierenden Erzählung – bloss wiederzugeben vorgibt, jenes von Sebald. Das Porträt eines Porträts, als das Auerbach daherkommt, indem es scheinbar aus dem Tagebuch des Malers Zitiertes aus einem Bericht des Schriftstellers zu zitieren scheint, ist mithin die fiktive Lektüre einer fiktiven Lektüre. Und nachdem im Verlauf der Erzählung tiefste Faszination auf grösste Erregung gefolgt ist, «mehrfach unterstrichen» und «mit zunehmender Vehemenz» wiederholt, sich Unendliches mit Unendlichem multipliziert hat, Auerbach der Zufall im Zufall begegnet und daher seine «ganz und gar eigentümliche Befindlichkeit» noch «um ein ganzes Stück eigentümlicher» geworden ist, sich also Rekurrenzen, Verschachtelungen und Hyperbeln Schicht um Schicht übereinandergelagert haben, liest sich der eingangs zitierte Satz als Aufforderung an den Leser oder die Kritikerin, nun selbst zum Malspachtel zu greifen

und diese Anhäufung «mit einigen wenigen, aber entschlossenen und heftigen Bewegungen» abzuschaben, um zu sehen, was dabei auf der narrativen Leinwand an Vernarbungen stehen bleibt – und was zu Boden fällt. Aber man mache sich nichts vor: Der Text als Text überlässt es den Rezipierenden, dies auch sein zu lassen. Er bittet nicht darum, durch den penetrierenden Akt kritischen Scheidens und Trennens von seinen Gewebeballungen erlöst zu werden, damit sein Wesenhaftes «wie ein Lichtstrahl» durch einen Spalt in der Mauer des Sprachmaterials hindurchscheinen möge. Er begehrt nicht, vermittels solcher Abtötung des Textfleisches zu unkörperlichem Fortbestand errettet zu werden – und sei es in der Gestalt des Verwesungsgeruchs, der als «Zeugnis des Lebens» vom zum Staube Zurückgekehrten her aufsteigt. Ja er verlangt – als Text – noch nicht einmal danach, überhaupt gelesen zu werden. Wo sich Kritik von ihrem Gegenstand eingeladen wähnt, sollte sie besser ein zweites Mal hinschauen. Lektüre liest zwar zunächst sich selbst und fühlt sich insofern zu Recht immer schon gemeint; wer in solcher Selbstbespiegelung jedoch befangen bleibt, wird einem Text an Neigungen zuschreiben, was tatsächlich dem eigenen Narzissmus geschuldet ist. Gerade weil Kritik als erhaltendes Zernichten nicht anders kann, als der Logik der Peinigung zu folgen – maliziös und begierig zugleich –, tut sie gut daran, sich nicht darüber hinwegzutäuschen, dass sie in erster Linie die Antwort auf eine nicht gestellte Frage ist: ein Übergriff.

II. Exzitation «I withdraw if I get any sense of the person’s discomfort», so W. G. Sebalds Kommentar zu seinem Entschluss, die Figur Max Aurach in Max Ferber umzubenennen. Der Porträtist Sebald scheint dem Porträtisten Auerbach mit den Ausgewanderten für dessen Empfinden zu nahe auf den Leib gerückt zu sein – und das, obwohl Sebald sein Material ausschliesslich öffentlich zugänglichen Quellen entnommen hatte. Wenn nun Fanzun in seiner Erzählung – im Übrigen grösstenteils ohne jeden Bezug zur Vorlage – den fiktionalen Sebald freimütig und mit interessiertem Blick unter die Gürtellinie aus dem Tagebuch des fiktionalen Auerbach vortragen lässt, erweckt das vor diesem Hintergrund den Anschein einer subtilen Persiflage auf das delikate Verhältnis zwischen den beiden realweltlichen Kulturschaffenden. Ein intertextueller Zusammenhang, der weiter akzentuiert, was bei einem Porträt im Porträt zwangsläufig im Zentrum steht: mit der Tätigkeit des Porträtierens der prekäre Akt, andere zum Gegenstand


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III. Klimax

Die sich wolkenhaft ballenden Gedankengebilde, die Fanzun seinen Sebald aus dem Tagebuch Auerbachs kolportieren lässt, wollen sich mit einer solchen Pointe freilich nicht zufriedengeben. Als hielte der Maler die produktive Anspannung nicht aus, in die er von seinem künstlerischen Begehren getrieben wird, sucht er Trost im Metaphysischen: Er setzt sich das Chaos als das grosse Andere entgegen, das in fremder Zunge zu ihm spricht und nur begriffslos verstanden werden kann, dessen unergründlichen Regeln der Mensch – auch über den Tod hinaus – ausweglos unterworfen ist, und das den Künstler nur dann belohnt, wenn er dem Schönen hingebungsvoll den Raum gibt, sich an unverhoffter Stelle zu zeitigen. Insofern ist Auerbachs Prozedur des zeichnerischen Erkundens und Verbesserns, des stürmischen Anhäufens und wieder Abschabens von Farbe, der unermüdlichen Wiederholung und Variation eine Art Gottesdienst. Ob dabei überhaupt beachtenswerte Bilder zustande kommen, lässt die Erzählung derweil auffallend offen. Aufmerksamkeit erntet ihr Auerbach – seinem realweltlichen Vorbild soweit in nichts nachstehend – zwar durchaus; doch alles, was der Text diesbezüglich anführt, sind schlechte Kritiken, und solche sind – soviel wird eine Kritik voraussetzen dürfen – nicht zwingend das Signum guter Kunst. Fanzuns Sebald selbst indes, der unter anderem die «gedankliche Schärfe» und «aussergewöhnliche soziale Eleganz» des Malers preist, enthält sich, was dessen Malerei anbelangt, jeden Urteils: Um die Bilder scheint es gar nicht zu gehen. Worum dann? Der spöttisch-distanzierte Kommentar zu Auerbachs Schwärmereien, mit welchem Fanzun Sebalds Bericht ausklingen lässt, bezeichnet diese als typisch für den Maler; die Arbeit des schreibenden Porträtierens scheint also just in dem Augenblick getan zu sein, da der Schriftsteller sein Sujet nach dessen Typus charakterisiert hat. Ein sonderbarer Schlussakkord für eine Darlegung, die sich den Bemühungen eines Künstlers widmet, seinen Gegenständen keinen identifikatorischen Zwang anzutun. Sollten die sebaldschen Ausführungen allen Ernstes mit einer platten Verallgemeinerung auf ihrem inhaltlichen Höhepunkt angekommen sein? Mit der gleichen Aussage, mit der Sebald den ins Religiöse mündenden Überschwang Auerbachs als tendenziell unbillig beargwöhnt, gerät er als Porträtist ironischerweise selbst in ein schiefes Licht. Die Erzählung geht also mit ihrem letzten Satz zum Maler und zum Schriftsteller gleichermassen auf Distanz. Ein weiterer Hieb durch die narrativen Aufschichtungen von

Kritik

des eigenen Schaffens zu machen. Fanzuns Auerbach ist sich im Klaren darüber, dass die latente Gewaltsamkeit solcher Objektivierung auch durch Konsensualität nicht aufzuheben ist: verdankt sich seine schöpferische Unruhe doch dem Verlangen, dem Modell – so freiwillig es auch sitzen mag – nicht eine «bildliche Identität einfach so zeichnerisch aufzuzwingen». Was sich mit diesem Anspruch Auerbachs an sich selbst bei einem ersten groben Streich über Fanzuns Leinwand als Bruchstück herauslöst, ist der Ansatz zu einem Massstab. Zu einem Massstab, der sich nicht zuletzt – soweit das Geschäft des Kritisierens in seiner mehr oder minder verkappten Übergriffigkeit mit jenem des Porträtierens vergleichbar ist – an die sich hier vollziehende Kritik wird anlegen lassen, im Zuge derselben vor allem aber auch an die Erzählung Auerbach als Darstellung einer Darstellung: Indem sich diese nämlich, wie fiktional auch immer, auf die Möglichkeit eines spezifischen Verhältnisses eines schreibend Porträtierenden zu seinem Sujet bezieht, tritt sie der Wirklichkeit kultureller Praktiken dieser Art als deren Reflexion gegenüber und kann als solche daher beurteilt werden. Auf allen Ebenen stellt sich die Frage, ob der an seinem jeweiligen Gegenstand vollzogene Akt – sei er nun einer der Komposition oder Dekomposition – diesem auch gerecht zu werden vermag. Den Maler in Fanzuns Erzählung treibt diese Frage in seiner Methode des endlosen Neuansetzens zu laufend sich verschiebenden Perspektivierungen. Aber auch seine künstlerische Praxis der «Bewunderung und Bewahrung der Vielfalt» und der «Auffächerung von Möglichkeitsformen» scheint ihm mehr Ausdruck und Würdigung, denn Lösung des Problems der Darstellung zu sein: Auerbachs Schwärmen für die «nie zu einer Vollendung gelangende Landschaft des Scheiterns» zu seinen Füssen ist nämlich, zumindest beim Wort genommen, keineswegs die unverbindlich-selbstzufriedene Überhöhung der Unabschliessbarkeit zum letzten Ende, für die man es halten könnte – denn scheitern kann einer nur, wo etwas auf dem Spiel steht. Die schöpferische Verve des Künstlers lebt gerade von der Spannung, den Zweck seiner Bemühungen je nicht einfach nur nicht, weil notwendigerweise nicht, sondern vielmehr je noch nicht, also womöglich bald verwirklicht zu haben, mithin von der prinzipiellen Erreichbarkeit des Ersehnten nicht weniger, als von dessen prinzipieller Unerreichbarkeit. Kurzum: von der paradoxalen Struktur des beinahe.


11 Auerbach legt insofern den Blick frei auf Spielräume, die sich der Text durch seine mehrlagige Konstruktion verschafft, um darin hintersinnigen Schalk zu treiben: Wie Sebald den Auerbach, führt Sebastien Fanzun, die implizite Erzählstimme, seinen Sebald vor. Der Kritik indes scheint sich die Erzählung damit gleich doppelt zu entziehen: Auf der Ebene der Reflexionen Auerbachs ohnehin, denn als Maler muss sich dieser auf der Leinwand bewähren und nicht in seinem Tagebuch; nicht minder aber auf der Ebene der Darlegungen Sebalds, denn selbstredend kann dieser fehlgehen, ohne dass deshalb der literarische Text als solcher scheiterte. Diese Narrenfreiheit erkauft sich die Erzählung freilich dadurch, dass sie sich stattdessen auf der hauchdünn gehaltenen narrativen Metaebene beweisen muss, mit der Sebalds Darstellung selbst zur Darstellung kommt. Dazu hat die Kritik sich ihr Urteil zu bilden. Zu diesem Zweck wird sie jedoch noch einmal etwas weiter ausholen und tiefer einschlagen müssen als bisher.

Kritik

IV. Retardation Auerbachs Erleichterungsgefühl in Anbetracht des Ausbleibens der elterlichen Briefe – neben dem Gedanken, dass das am Boden zu liegen kommende Material sein eigentliches Werk darstelle, das einzige Motiv der Erzählung, das auch in W. G. Sebalds Ausgewanderten zu finden ist – drückt sich bei Fanzun in der Gestalt einer Erektion aus. Der Künstler wird damit von Beginn weg in seiner Zeugungskraft in den Blick genommen, und zwar unzweideutig im erotisch-kreativen Doppelsinn: Es treibt ihn zu Frauen wie zur Kunst. Eine Parallelführung, in der sich die überkommene Fantasie niederschlägt, der Akt der Fortpflanzung sei in erster Linie Ausdruck männlicher Produktivität und es sei überhaupt Pflicht und Privileg des Mannes, Menschen und Dinge zu erzeugen. Geschlechtsverkehr erscheint in dieser Perspektive primär unter seinem pragmatischen Aspekt der Ingebrauchnahme eines anderen Körpers: Auerbach entledigt sich seines Priapismus, als ihm «eine hübsche Schauspielstudentin» ermöglicht, die Dauererektion «an ihr abzuexerzieren». Die Unwahrheit der patriarchalen Metaphorik, die dem Mann die Rolle des Erzeugers zudenkt, der gestaltend auf die Welt zugreift – sie sich also aneignet, als wäre sie sein Fabrikat –, liegt einerseits in ihrer rigiden Naturalisierung soziokultureller Konstellationen, andererseits in der impliziten Verklärung sachlicher und versachlichender Bezugnahme auf Zwischenmenschliches zur höchsten zivilisatorischen Tugend

– nicht jedoch in dem sich in ihr äussernden Sinn für Objektivierung an sich: Dass das je andere sowohl als Person als auch als Sache begegnen kann, stellt ein Spannungsverhältnis dar, das überhaupt jedem Handeln einbeschrieben ist. Erst mit dem Gefühl «niemandes Kind mehr» zu sein, seinen Eltern also nicht mehr als deren wie liebevoll auch immer umsorgter Spross zu eignen, eröffnet sich für Auerbach der Spielraum, eigene Identitäten zu erproben. Vor diesem Hintergrund erscheint es nur konsequent, wenn er später als Porträtist bestrebt ist, die Gegenstände seiner Kunst – bei aller Einvernehmlichkeit – nicht in ihrer Identität zu verletzen. Und doch will er sie porträtieren. Die Paradoxie des beinahe, des seine je unmittelbar bevorstehende Einlösung fortlaufend aufschiebenden Versprechens, korrespondiert mit der unauflöslichen Widersprüchlichkeit des Wunsches des Porträtisten, sich seinen jeweiligen Gegenstand zwar schöpferisch anzueignen, aber nicht als Gegenstand. Eine Person dergestalt zur Sache seiner Kunst machen zu wollen, dass sie dadurch nicht versachlicht wird, läuft auf das widersinnige Verlangen hinaus, sie nicht wie ein Ding, sondern eben als Person in Besitz zu nehmen. Auerbachs ästhetisches Ideal ist so gesehen gerade nicht der Verzicht auf den Anspruch, sich anderer in ihrer Identität zu bemächtigen, sondern ganz im Gegenteil dessen letzte Konsequenz. Als Auerbach «die doch eigentlich physisch von ihm getrennte Haut der Violinistin beinahe auf seiner eigenen» spürt, ist er zutiefst fasziniert «von der unbegreiflichen Art der Präsenz dieses nur durch etwas Decke und Zimmerluft von ihm getrennten Körpers»: Die Violinistin liegt, als Körper, zum Greifen nahe – und ist für Auerbach als das, als was sie präsent ist, doch nicht zu fassen. Am Ende geht sie – «etwas enttäuscht» – allem Anschein nach unverrichteter Dinge; Auerbach kann mit ihr «keine funktionierende Konversation mehr betreiben». Seinen gültigen Ausdruck findet der Zwiespalt des auerbachschen Begehrens im Coitus interruptus.

V. Implosion Das Motiv des Unterbruchs wird in Auerbach ad nauseam wiederholt: Unterbrochen wird Auerbachs sich klimaktisch aufbauende Erregung beim Wiederholen seines Fetischworts, sodass er im Interview mit der Journalistin den «Tränen» nur nahe kommt; der junge Auerbach bricht sein Schauspielstudium ab, wie später auch die Aktskizze und damit den Zeichenkurs; unterbrochen wird sein Suizidvorhaben und die Aufführung


12 geworden». Und um eine solche geht es nicht: nicht um diese oder jene Person mit ihren kontingenten Qualitäten, Neigungen und Marotten, und natürlich auch nicht darum, dass sie ausgerechnet Musikerin ist. Violinistin fungiert für Auerbach nicht als Begriff, sondern eben als Name – nur dass er sich als solcher nicht auf einen konkreten Menschen bezieht. Weshalb auch sein Interesse sich ohne Weiteres metonymisch von der Violinistin auf deren ehemalige Mitbewohnerin verschieben kann. Was Auerbach verfolgt, ist die Sache der Kunst, und solange es um diese geht, ist eine Künstlerin oder ein Künstler der Sphäre interpersoneller Bindungen notwendig enthoben. Auerbach jedoch scheint auch seine Beziehungen noch nach Massgabe seines Schaffens organisieren zu wollen; der Porträtist wirkt wie einer, der keine andere Form der Bezugnahme zulässt, als jene, die ihm seine Produktionswut diktiert: Ein Herr der Schöpfung, befangen in der solipsistischen Sterilität seiner kreativen Manie. Die Fetischisierung der Welt zum grossen Gegenüber ist ihr kompensatorisches Gegenstück: Der Versachlichung von Personen entspricht die Personifikation von Sachen. Als würde Sebald erst im Schreiben deren Abgeschmacktheit gewahr, zieht er sich aus der an Verbrüderung grenzenden Distanzlosigkeit zu Auerbach, in die er gerade erst hineingeraten war, jäh zurück – und spricht sein verallgemeinerndes Urteil. Die Fragwürdigkeit des abrupten Wechsels vom Porträtieren zum Typisieren – ein weiterer, letzter Unterbruch –, findet in der Fragwürdigkeit des ästhetizistischen Idealismus, dem der porträtierte Porträtist verfallen scheint, als deren Reflex ihren Sinn. Und der narrative Drahtseilakt von Auerbach – dies als Quintessenz dieses kritisch-libidinösen Zerlegungswerks – ist damit gerade noch gut gegangen. Dalibor Suchanek

Kritik

von Schuberts Unvollendeter – eine Unterbrechung des Unterbrochenen neben dem Unterbruch des Unterbrechens –; und immer wieder aufs Neue unterbricht Auerbach das Porträtieren der Juristin, um die üppig ausgeworfene Farbe zerstörerisch von der Leinwand zu schaben und zu Boden fallen zu lassen. Dabei scheinen sich in seinem Verhältnis zur Juristin, mit dem sich endlos wiederholenden Durchspielen des Aktes der Unterbrechung und der Unterbrechung des Aktes, Kunst und Liebe im Leben des Protagonisten am Ende versöhnt zu haben. Als sein Gegenstand und seine Bezugsperson ermöglicht ihm die Juristin, zur Malerei zurückzufinden: «durch sie und mit ihr», wie Fanzun Sebald aus Auerbachs Tagebuch wörtlich zitieren lässt. Über die tatsächliche Beziehung zwischen den beiden ist damit freilich kaum etwas gesagt. Die Erzählung lässt diesbezüglich eine Lücke klaffen, betont durch Sebalds etwas umständlichen Kommentar, in dem er die narrative Leerstelle mit der zitierten aussergewöhnlichen sozialen Eleganz von Auerbach sowie mit dessen «stark ausgeprägtem Sinn für Diskretion» begründet. Dieses beredte Schweigen des Textes, der plötzliche distanzlose Überschwang des sonst nüchtern referierenden Schriftstellers sowie die Ironie, dass der ans Voyeuristische grenzende Bericht Sebalds damit ein Lob der Verschwiegenheit anklingen lässt, sollten misstrauisch machen. Was ist das für eine Art von «sozialer Eleganz» – einer Ästhetik des Zwischenmenschlichen –, die auf die Violinistin als auf jene Bezug nehmen lässt, welche Auerbach «damals diese so entscheidenden Momente im Dunkel seines Schlafzimmers geschenkt hatte»? Jovial wird damit Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht für eine Handlung, die als solche nie vollzogen worden war: bedingt ein Geschenk doch sein Intendiertsein seitens der schenkenden Person. Tatsächlich lag im gegebenen Fall nichts als eine Kommunikationsstörung vor, und eine solche lässt sich nicht zu einem Wechselverhältnis schönreden, indem man die Interessen des anderen kurzerhand umdeutet. Und wofür steht denn eigentlich dieser Name, der – wie auch die Namen aller andern Frauen im Text – keiner ist: Violinistin? Nach dem Vorbild von Namen zeigt der Begriff bloss an, wo Begriffe sonst zu erfassen suchen: Für Auerbach ist er die Chiffre für eine Existenz in ihrer ganzen Einmaligkeit. Mit jeder näheren Bestimmung seitens der Juristin – also wohl auch mit der Nennung des Eigennamens – hätte sich ihm seine Zufallsbekanntschaft in ihrer Fassbarkeit weiter entzogen: «Sie wäre irgendeine beliebige Violinistin


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Andreas Fischer

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L I T E R AT U R

…Zurück a uf s Meer, s ag ich

n n i w e G r e d Wo … ! t r ö h e g r e n dem Gewin

KRITIK

18 Dolores Zoe


14 Literatur

Jason träumt

Der Gewinn dem Gewinner! Die Mütter und die alten Männer bleiben zurück Brüten dumpf an ihren Küchentischen und Im blassen Licht erscheint für sie Das Immergleiche ewig – Jason! Zieh die Boote vom Strand! Hier hausen Elfenhunde mit rotgeränderten Ohren Betrunkene Mönche Gespenster und Märchengeschichten Raben krächzen den bleichen Verlockungen nach – Jason! Kehr zu den Lebenden heim! Sicher Man kann von mancherlei träumen bei Flaute Und natürlich denkt man abends mal In der Kajüte bei einer Pfeife Tabak An die Teiche von einst Die bunten Wasserbälle, die leisen Geräusche Der Wellen im Schilf, und draussen Am Horizont ein Kauffahrtsschiff, jedoch Absolut keine Angriffslust heute – Jason! Lass dich nicht irre machen Vom Ticken und Tacken der Uhren! Zurück aufs Meer, sag ich Wo der Gewinn dem Gewinner gehört! Die Masten stechen hoch in den Wind Die Gegenwart ist nur ein Augenblick Nimm Kolchis, das reiche Panama und die Inseln der Südsee Die Winde stehn günstig Goldene Vliese warten auf dich Handelswege und eine Medea Die deine Söhne umbringen wird Doch die See lässt den Gewinn Dem Gewinner – Richte dein Fernrohr auf Fernes! Den Zurückgebliebenen bleibt nur Der abgewrackte Traum am Strand Kieloben faulend.


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Hic Rhodos

Literatur

Mauern gegen einen hellen Himmel Kreuzfahrerburgen und Moscheen Und Strandhotels so weit das Auge reicht Jetzt zeig, was du kannst! – Du kannst mich mal, ich bin kein Tanzbär Bin nur ein schlecht bezahlter Fremdenführer Und bringe dich zum Aussichtsturm Doch was du dort erblickst Musst du schon selbst erkennen: Für die Ewigkeit erbaute Traumpaläste Gedankengebäude Ruinen Man müsste wohl das Handy zücken Die Bilder hochladen Auf Facebook Für die Herren Grabräuber ist da bestimmt Was Besond‘res versteckt Von Wassermaus und Kröte Abends spöte noch ersonnen Einmalig und Gold wert War im TV zu sehn Im Internet zu bewundern Alle wissen davon Ich aber handle Mit bescheid’neren Dingen Erinnerungen und Abschiedsmusik Die Ringe unter den Augen Kommen wohl vom Raki am gestrigen Abend Sollen sich die Archäologen drum kümmern! Die haben die Überbleibsel schliesslich gesammelt Zu Prunk-Palästen gestapelt Mit Glitzergirlanden verziert – Du stehst nur staunend davor: Wohin du schaust ist Rhodos Also tanze!


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Literatur

Stromboli, Oktober

Das Meer graut unter Wolken Bräunlich gelbe Schwaden hängen sich An den Vulkan, der Wind verweht Die Sommervögel, die Zypressen Wiegen sich Hin – her – hin – her Und das Handy verfügt: Zwei Tage Regen! Steinern blickt der Friedhof auf ’s Meer Die Gräber mit Fotos geschmückt Von Fischern zumeist Doch ihre Kinder vermieten die Häuser an Fremde Fliehn im Herbst auf das Festland Schon hat der Laden im Dorf Das Sortiment dezimiert Die Bar ist geschlossen Die Wäsche trocknet nicht mehr Finster starrt Odysseus auf den Sack Des Äolos: Zehn Jahre hielten ihn die Winde Fern von Ithaka – Yes, edler Dulder So kann es gehen! Denkst du noch an das Haus Die Sommerfrau Die Säulen und die blauen Fensterläden Die Penne Melanzane und die Involtini Di Spada – eingebrannt in Herz und Magen? Im Regen glühn die Blüten noch mal auf In sattem Rot Und der Geruch der faulenden Citronen Verdoppelt sich Die Mücken bissiger Und selbst die Hunde bellen Als wär’s das letzte Mal Die Winde drehn auf Abschied Die Wolken hinterm Meer erinnern Von ferne an die heimatlichen Alpen Zwischen dunklen Steinen Zerkräuselt weisse Gischt am Strand Für die Verbindungen zum Festland gilt Der Winterfahrplan – Das Knattern des Piaggio-Dreirads Die Koffer und im Hafen Das Tragflügelboot Die Luft riecht nach Algen.


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Andreas Fischers drei Gedichte entführen uns in die Mittelmeerregion, dorthin, wo die nächste europäische Revolution entbrennen wird – so sie denn kommen mag. Einige Ferienparadiese sind in nordeuropäischen Köpfen wohl bereits zerstört worden – aber sicherlich weniger an der Zahl, als tatsächlich vor die Immobilienhunde gingen oder von den jüngsten Troikas abgeschrieben wurden. Vermeintlich handeln Fischers Gedichte von Abschieden, Abfahrten und Andenken, von Gestrandeten, Gejagten und Gescheiterten. Hinterrücks aber verknüpfen sie die Abgründe der Antike mit denjenigen, die hinter der Moderne lauern, und mahnen uns, sich’s nur ja nicht zu gemütlich zu machen in unseren Alltagsmythen. Im Folgenden sollen zwei der drei Gedichte aufgegriffen werden. Sowohl Stromboli, Oktober als auch Jason träumt handeln von gottverlassenen Orten und götterverlassenen Männern. Bevor wir uns aber Odysseus auf den Äolischen Inseln und Jason (auf Limnos!?) zuwenden, richten wir den Blick auf Zürich, genauer auf den Pfauen. Im Dezember im Schauspielhaus: Die Odyssee für Kinder, von und mit den Stärnefoifi. Zum ersten Mal darf mein Gottebueb in einem dieser geschichtsträchtigen roten Samtsessel Platz nehmen. Die zweimal fünfundvierzig Minuten sind beinahe zu lange für ihn, der umso heftiger zappelt und ungeduldiger hin und her schaukelt, je länger das Spektakel dauert. Und ja, ein Spektakel ist es. Ein schauriger Zyklopenschlund, eine Starlett-Kirke, eine fantastische sechsköpfige Skylla und eine Charybdis, die gegen ihren mächtigen Vater Poseidon trötzelt – dies alles lauert im Bühnengrund. Die Irrfahrt des Odysseus wird dabei eingebettet in die Feriengeschichte einer sitzen gelassenen Mutter und eines pubertierenden Jungen, die den Manager-Gatten und Vater am Flughafen der bankrotten Firma überlassen mussten und nun im Hotel Calypso auf ihn warten. Und während wir um Odysseus bangen und einen Freund um den anderen über die Klinge beziehungsweise über Bord springen lassen müssen, berichtet der Hotelboy in der CalypsoLobby vom Kampf des in der Schweiz gebliebenen Vaters um den Familienbetrieb, von Scheingefechten im Grossraumbüro und zähen Schlachten am Verhandlungstisch. Der Manager-Gatte lässt also auf sich warten, ebenso wie der Beinahe-Götter-Gatte seine Liebsten auf Ithaka warten liess. Und ja, um es hier

nun zu verraten: Beide Helden kehren zu ihrer Familie zurück. Mein zappeliger Gottebueb und ich dürfen der glücklichen Vereinigung von Odysseus und seiner Familie beiwohnen – er erscheint nach neunzigminütigem Kampf in Leinenhosen, Hemd und Strohhut, mit Rollkoffer und Sonnenbrille vor dem Hotel Calypso, entschuldigt sich bei seinem Sohn, umgarnt seine Frau und prahlt mit seinen Heldentaten und Ränkespielen im Verhandlungsdschungel und an Skype-Konferenzen. Odysseus, der Listige, umschifft heutzutage also Offshoreklippen und lässt sich von Gewinnmaximierungsstrategien die Sinne verwirren. Nicht so sehr die ewig gleiche Rede vom Vater, der seine Familie sitzen lässt, aber trotzdem ein Held ist (Achtung: Klischees!), sondern vielmehr die Irrfahrten – sei es auf stürmischer See oder in den Untiefen des Finanzmarktes – führen mich zurück zu Fischers Gedichten. Da werden Bilder von Rhodos per Facebook vertrieben, Jason erobert Pfeife rauchend Panama und auf Stromboli harrt Odysseus, der edle Dulder, während das Handy die Wetterlage meldet – Yes! Nun gut, so flach spannt Fischer den Bogen von der Antike zur Postmoderne dann doch nicht. Vielmehr spiegeln sich die Brüche und Falten unserer Zeit in den wendigen Anachronismen und den flatternden Bildwechseln, die Fischers Gedichte charakterisieren. In zwei kurzen Analysen möchte ich diesen Wind- und Wendungen nachgehen, um diese sodann in einer Synthese mit der Odyssee für Kinder zusammenzuführen. Reisen wir nun also zuerst nach Stromboli. Eben so, wie ein alter Kahn durch klatschende Wellen zuckelt, so lässt auch Stromboli, Oktober die Leserinnen und Leser immer wieder unvermittelt aufprallen. Rhythmen, Zeiten und Orte werden verschoben, gebrochen und überlagert. Ein dreifaches Enjambement leitet das Gedicht ein, aber bevor wir uns in das Wehen des Windes und Wiegen der Zypressen einpendeln können, bricht das zweimalige «hin – her» abrupt ab und die Zivilisation meldet sich. Der Blick springt auf den Handybildschirm (nicht in den Himmel), gleitet unverzüglich weiter auf den Friedhof, über die Fotos der Toten hinweg und mündet in der Beschreibung des Ferienkoloniealltags. Kaum weckten der halb leere Dorfladen und die flatternde Wäsche in den Gassen Erinnerungen an eigene Ferienerlebnisse, folgt schon wieder ein Sprung. Diesmal ein Zeitenwechsel: Odysseus, vom Winde verweht, wurde zurück auf die Insel getrieben. Unfreiwillig harrt er dort – so wie alle, die noch auf der Insel hausen. «Yes, edler Dulder» – diese Ermutigung gilt für alle, die es bis jetzt auf Stromboli ausgehalten haben. Denn schon sind wir

Kritik

Von götterverlassenen Männern


Kritik

19 wieder bei den Ferienerinnerungen, ruft das lyrische Ich den Leserinnen und Lesern schöne Frauen und frische Pasta in Erinnerung. Italianità, das Herz glüht – aber nein, nur nicht verweilen! Die Vergänglichkeit lauert! Alle Sinne sind geschärft, Augen, Nase, Ohren werden ein letztes Mal gesättigt mit Farben, Düften und Klängen, dann dreht der Wind, nimmt die Eindrücke mit sich und trägt uns mit zwei Zeilensprüngen vom Meeresufer zu den Berggipfeln hinauf. «Zerkräuselt weisse Gischt» kündigt den ersten Schnee an und das «Knattern des Piaggio-Dreirads» könnte ebenso gut von einem Schneejet im Wallis stammen. Was bleibt, sind aber weder der Lärm noch die Bilder, sondern der Geruch – denn der Wind kehrt zurück. Doppelt fauliger Zitronengeruch und salzige Algen kleben uns zum Ende des Gedichts in der Nase und man wünscht sich, die Stürme mögen toben, um ebenso wie sie Odysseus umhergejagt haben, diesen gärenden Geruch zu vertreiben. Könnten wir uns dem Wind hingeben, wäre es vielleicht möglich, all die Brüche zu überfliegen; wäre es vielleicht möglich, all die Klippen zu umschiffen. Aber ebenso gnadenlos, wie dieser Gedichtwind die sommerlichen Ferienerinnerungen zerzaust, säuselt er uns faulende Verwesung und nagende Einsamkeit ins Ohr. Ein Murmeln und Raunen, dem wir nicht entkommen. Auch in Jason träumt ist es die Fäulnis, die am Ende in der Luft hängen bleibt. Wieder befinden wir uns am Strand und diesmal werden wir mit dem Sohn des Aison richtiggehend von der Insel gejagt. Dreimal zetert das Gedicht: «Jason! / Zieh die Boote vom Strand! / Jason! / Kehr zu den Lebenden heim! / Jason! / Lass dich nicht irremachen / Vom Ticken und Tacken der Uhren!» Die Abschnitte, die mit den Anrufungen eingeleitet werden, sind weder in Form noch Inhalt vergleichbar, und sie sind auch nicht gleichberechtigt. Der Titel Jason träumt findet nach dem zweiten «Jason!» seinen Anschluss, wenn es heisst: «Sicher / Man kann von mancherlei träumen bei Flaute». Mit dem Bezug zum Titel erhält dieser Abschnitt ein besonderes Gewicht. Und wovon träumt Jason? – Vom dolce far niente, um bei der Italianità zu bleiben. Er träumt den süssen Traum vom Nichtstun, von Antriebslosigkeit, von Mussestunden. Aber auch hier gilt: Bevor wir uns mit Jason zu sicher in diesem Traum wiegen, werden wir aufgeschreckt: «Jason! / […] Zurück aufs Meer, sag ich / Wo der Gewinn dem Gewinner gehört!» Auf Fernes soll Jason sein Fernrohr richten, um nur ja nicht stehen zu bleiben. Nur ja nicht wie die Alten zuhause in der Ewigkeit versumpfen. Die Zeit drängt und der Gewinn lockt – und wer will schon kein Gewinner sein?

Selbst wenn die Katastrophe prophezeit wurde und er mit jedem Sieg dem Untergang einen Schritt näher rückt – Getriebener bleibt Getriebener. Im Gegensatz zu diesem stürmenden, jagenden Duktus bleiben die Zeilen in diesem Gedicht seltsam isoliert und einsam. Die Gedankenstriche vor jedem Aufschrei – «Jason!» – sind Atempausen und Abgründe zugleich. Die Gedankenstriche markieren Zeiträume und Fälligkeitsdaten. Aber Zeit – Zeit bleibt Jason keine, denn sie drängt, eilt und flieht. In den markanten Gedankenbrüchen liegt das Potenzial der Musse, der Gedankenfreiheit, der – «Jason!» Es wird schleunigst gekappt. Auch für eine Ausführung dieser redundanten Zeile «Der Gewinn dem Gewinner!» bleibt keine Zeit; einmal wird sie von einem Ausrufezeichen beschnitten, einmal von besagtem Gedankenstrich, auf den prompt ein neuer Imperativ folgt: «Doch die See lässt den Gewinn / dem Gewinner – Richte dein Fernrohr auf Fernes!» Ja, wer will schon kein Gewinner sein. Hier nun lässt sich Fischers unheimliche Verknüpfung von Antike und Postmoderne, welche in der Einleitung bereits angedeutet wurde, erläutern. In Verbindung mit dem Plot besagter Kinder-Odyssee ergibt sich nach obigen Betrachtungen eine bemerkenswerte Überlagerung: In Fischers Gedicht ist es nicht der listige Odysseus, sondern Jason, der durch die Kapitalmeere gescheucht wird, um sich in der Bereicherung den Untergang einzuhandeln. Aus Schaffe, schaffe, Häusle bauen! flicht uns Fischer einen antiken Strick: Rudre, Rudre, auch wenn am Ende der Weltmeere der heilige Hain von Dodona auf dich wartet! Odysseus, der Listige, verliert zwar all seine Kampfgefährten, doch kehrt er zuletzt unversehrt zu seinen Liebsten zurück. Nicht so Jason, der nach unerhörten Begebenheiten in Dodona von den Wrackteilen seines eigenen Schiffes Argo erschlagen wird. Deshalb leitet die Losung «Der Gewinn dem Gewinner!» wohl nicht von ungefähr Fischers Gedicht ein. Verfolgt man die etymologische Spur des Gewinns zurück, so stösst man im Deutschen Wörterbuch auf eine verlassene Herkunft des Wortes «gewinnen»: «leidenschaftliches begehren mag die formen der gier, der wut, des leidens annehmen, es wird zu kampf, streit und mühevollem ringen anreizen und je nach dem erfolg wird es äuszerungen der freude oder des schmerzes zur folge haben.» Gewinnen meint demzufolge nicht nur das Resultat einer Handlung, sondern auch die Motivation und Handlungsursache selbst, also das Streben nach Gewinn. Welches Resultat dieses Streben zeitigt, ist jedoch gar nicht so klar, wie es uns die modernen Verheissungen von Mehrwert und


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Dolores Zoe

Kritik

Kapitalanreicherung glauben machen. Derart betrachtet, ist der Imperativ, welcher Jason träumt einleitet, folglich zweideutig: «Der Gewinn dem Gewinner!» ist nicht nur eine glücksverheissende Losung, sondern ebenso eine Warnung. Zwar hat sich manch einer aufgemacht, seinen Traum zu leben, aber bevor man losfahre, vergewissere man sich erst, ob man denn den eigenen Traum träumt. Und wer sein Fernrohr nur auf Fernes richtet, übersieht möglicherweise die Klippen in Strandnähe. Ob Jason nun hinauszieht oder nicht – den Zurückgebliebenen bleiben so oder so die Schiffssärge am Strand, seien es die Überreste ihrer eigenen Träume oder die Trümmer der Argonauten-Flotte. Ihre Gerippe sind Mahnmale und sie faulen mit dem Kiel gen Himmel gerichtet. Diese Schiffe sind ausgeschwemmt und so schnell besteigt sie niemand mehr. Wir ahnen, was kommt, und ja, wir werden alle zu edlen Dulderinnen und Duldern – «Yes! […] / So kann es gehen.»


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Cédric Weidmann

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L I T E R AT U R

s s i e w h c i l r ü t a N … … s e u a n e G s t h c i man n

KRITIK

18 Fabian Schwitter


22 Literatur

Drei Geometrieaufgaben Für János

HELIX «Diese Stadt, die eine Strasse ist.» Die Strasse windet sich in schroffen Verschlingungen zwischen den Häusern hindurch, die sie still und gelassen umfrieden. Das Rattern von Zahnrädern, die nicht sichtbar in den Boden eingelegt sind, weht über die Vorgärten, wenn einer der Wagen vorbeifährt. Wie schwingende Masten ragen die rostigen Stangen aus den Wagen. Die an ihnen befestigten Masken ruckeln heftig während der Fahrt und sehen von weitem aus, als würden sie lachen. Die Anwohner sehen nicht auf, sie schmücken die Fenster ihrer Häuser oder beackern die Beete und wischen sich von Zeit zu Zeit, auf die Schaufel gestützt und die Beine überkreuzt, den Schweiss von der Stirn, manchmal unterhalten sich zwei mit lauter Stimme über die Strasse hinweg. Sie achten nicht auf die vorbeifahrenden Masken. Die meisten aber halten den Blick auf ihre Arbeit gesenkt, um nicht in Gespräche verwickelt zu werden, oder sie ziehen sich in die Häuser zurück, um ein Mittagessen vorzubereiten. Wenn die Wagen an das Ende der Schiene gelangen, berühren sich die Lippen zweier Masken, und ein Feuerwerk zerplatzt am bewölkten Himmel. Dann sehen die Anwohner auf, um das Farbenspiel zu betrachten. Die Masken drehen sich und die Wagen wechseln die Richtung. An manchen Orten der Stadt wirft sich ein plötzlicher Schatten auf die Gärten und zwingt die Betroffenen zur vorübergehenden Aufgabe ihrer Tätigkeiten. Die Strasse, die sich hier einem Korkenzieher gleich um die Achse windet, die der Mittelstreifen bildet, steht senkrecht zum Boden, so dass die Masken horizontal zur Seite hinausragen. Die hochgestellte Strasse behindert die Sicht auf die gegenüberliegenden Häuser und auf die frühe oder die späte Sonne, doch nur wenige Gehminuten der Strasse entlang senkt sich der Asphalt wieder in die Ebene ab. Dabei kommt das, was vorher die Oberfläche gebildet hat, nun unterhalb der Strasse zu liegen und das, was vorher unten lag, liegt nun auf der Strasse. Auch hier knarzen die Zahnräder in den Fugen, die in die Strasse eingelegt und kaum sichtbar sind. Auch hier sind Masken unterwegs, allerdings kleinere, und wenn man genau hinschaut, erkennt man am Fuss jeder Metallstange ein Aktenköfferchen, das bei der Fahrt hin- und herschaukelt. In dieser Akte mögen Papiere sein. Sie mag wichtige Dokumente in ihrem ausgebeulten Bäuchlein tragen. Natürlich weiss man nichts Genaues. Die Anwohner beäugen, indem sie sich im dunklen Zimmer hinter das Fenster stellen, missgünstig die Aktenkoffer und fragen sich, ob sie nicht wieder dicker geworden sind und ob nicht mehr Papiere und Dokumente in ihrem Inneren liegen als am Vortag. Manche haben angefangen, sich mit einer Akte verbunden zu fühlen, als sei sie eine Geliebte, die sie mit dem Untergehen der Sonne erwarten. Die meisten vermuten, dass eine ganz bestimmte Akte zu ihnen gehört, in der alles über sie steht. Obwohl sie ahnen, dass sie diese Akte nie lesen werden, warten sie auf die entsprechende Maske und mustern von weitem


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das tanzende Köfferchen auf dem Wagen. Natürlich ist nicht gesagt, dass die Köfferchen gefüllt sind, aber, wie gesagt, es scheint so. Wenn sich die nächtlichen Masken berühren, gibt es kein Feuerwerk, aber ein kleiner Blitz geht von der einen auf die andere Maske über und für den Bruchteil einer Sekunde leuchten ihre grossen, weissen Augen und die gewölbten Lippen von unten auf. Sie rattern auch leiser als am Tag und bewegen sich insgesamt langsamer. Woher die Unterschiede zwischen den oberen und den unteren Masken kommen, ist nicht leicht zu erklären. Es kann zudem sein, dass – falls es nur eine Stelle gibt, an der sich die Strasse schraubt – sich die Wagen auf einem Möbiusband bewegen, und dass die oberen und die unteren Masken eigentlich dieselben sind. Aber das ist nicht sicher.

TESSERAKT «Die Türen, die schlossen bleiben, und wie du stets durch Fenster weiterziehst.»

Literatur

Vorne der Lehrer. Er beizt die Kreide an der Tafel ab, unterstreicht ein Wort doppelt, vielleicht dreifach, bis nicht mehr zu erkennen ist, ob er das Wort oder den Strich betont. Vorne der Lehrer, der vor der Klasse redet. Und nur Yasmin sitzt in der ersten Reihe und passt auf, der Rücken gestreckt und ihre Hand auf der Tischfläche, bereit, sie hochzurecken. Nach vorne schauen, sage ich mir. Herr Ellenbogen hat mich bereits verwarnt, weil ich draussen die Strassenschraube betrachtet habe statt aufzupassen. Es ist Nachmittag, die Stimmung dröge und Herr Ellenbogen müde. «Bildung ist wichtig!», hat er gedröhnt, «man hat nie ausgelernt. Verstehst du? Nie.» Daran glaube ich nicht. Lernen ist schliesslich auch nur etwas, was man uns beigebracht hat. Es hat einen Anfang und es hat ein Ende. Wie alle Dinge. «Es gibt auch Dinge, die keinen Anfang und kein Ende haben», raunt Golo neben mir. Gibt es nicht. Alles hat einen Anfang und ein Ende, auch wir Menschen. «Es gibt aber auch anderes… Der Raum zum Beispiel. Der Weltraum.» Ich denke eine Weile darüber nach. Ich glaube, er liegt falsch, auch der Weltraum hat ein Ende, aber… hat er einen Anfang?… Ich finde den Fehler des Arguments nicht und schreibe das dem Hunger zu. Sozusagen schlussfolgernd pikse ich mit dem Zirkel seine Hand. Golo zuckt zurück, unterdrückt einen Aufschrei und macht eine kleine Bewegung und ich richte mich aufmerksam auf, denn Herr Ellenbogen ist verstummt. Sein Blick kreist böse um mich, und wenn ich seine Augen ansehe, glaube ich, dass ich wie ein Adler kreise, aber ich sitze still an meinem Pult und er sieht mir geradewegs in die Augen und trotzdem scheinen seine Pupillen auf dem Augapfel umherzuwandern. Ich bin so überrascht von dem Phänomen, dass ich mir keine Mühe gebe, unbeteiligt zu scheinen. «Raus», dröhnt er. «Da ist die Türe.» Und er zeigt mit dem Finger, nicht mit dem Ellbogen, wie wir uns Schüler gewünscht hätten, zur Türe. Seine Bemühungen amüsieren mich, denn weder hat er etwas davon, wenn er mich raus schickt, noch ist er persönlich beleidigt, dass ich nicht zugehört habe. Er will nur strafen. Klar, er muss strafen, um die Ordnung im Klassenzimmer zu wahren. Yasmin dreht sich um, wartend. Sie freut sich


24 Literatur

darauf, Strafen zu sehen. Jeder Mensch ist fasziniert von Strafen, aber sie hat das Unglück, nie selber Teil davon zu sein, und jetzt schaut sie zu und denkt: Das ist also einer, der es verdient hat. Dabei habe ich es doch gar nicht so verdient, denke ich, und Golo versucht, mir beizupflichten, indem er, an mich gewandt, eine Grimasse schneidet. Sogar Tom, der dumme Junge, der neben mir sitzt, und unablässig in sein Buch starrt, schaut zu mir herüber. Langsam stehe ich auf, denn jetzt ist es zu spät, Einsprache zu erheben, aber eigentlich würde ich gern. Ich würde gerne sagen: Peter Ellenbogen, mal langsam, wir haben‘s beide doch nicht leicht. Ich weiss, was du willst, du willst mich strafen, du musst dich durchsetzen, gratuliere, du hast das geschafft und das ist auch ganz richtig so. Aber ich habe es verstanden, kann ja auch ruhig und konzentriert sein und setze mich wieder hin. Wir müssen keinen Kindergarten veranstalten. Das versuche ich ihm mit Gedankenkraft und einem besonders aussagekräftigen Blick mitzuteilen, doch er gibt nicht nach. Er weist auf die Türe und ich sehe ihn enttäuscht an. Langsam packe ich meine Sachen, drücke mich an Golo vorbei und streife Toms Haare, der schon wieder in das Lehrbuch versunken ist. Ich gleite an Amalia und Yasmin vorüber und dem dürren Blonden, dessen Name ich tatsächlich vergessen habe und der mich hinter seiner Brille anblinzelt. Ich nehme meine Jacke vom Haken, werfe sie mir über die Schulter, öffne die Tür des Klassenzimmers und trete, ohne den Lehrer eines Blickes zu würdigen, über die Türschwelle. «Bitte setz dich!» Ich schaue zu der Frau auf und kehre unweigerlich auf den Fussspitzen um, doch die Türe ist bereits zugefallen. Der Rückweg wird mir unmöglich sein, man kann schliesslich nicht wieder in das Zimmer gehen, aus dem man verwiesen wurde. «Bitte setze dich», wiederholt die Lehrerin mit sanfter Stimme und weist mit der Hand zum Ende des Raumes, wo noch ein Platz frei ist. Das Gefühl der Augen, die auf mir ruhen, ist nicht geschwunden, denn auch hier starrt mich das ganze Klassenzimmer an. Ein Yasmin-Imitat sitzt in der ersten Reihe, ihr Rücken ist noch gestreckter, so dass man denkt, er müsste bei der sanftesten Berührung bersten. Ich warte eine Weile, und als sich die Situation nicht verändert, beschliesse ich, Folge zu leisten. Ich nehme den Mantel von der Schulter und hänge ihn behutsam auf. Langsam gehe ich den Weg durch die Bänke hindurch zu meinem Platz. Wie mein richtiges Pult steht es in der Ecke des Zimmers, nur dass es düsterer und dreckiger wirkt. Ich setze mich und erwidere möglichst wenige Blicke. Die Lehrerin lächelt zufrieden, erhebt sich und fährt dort fort, wo ich sie unterbrochen habe. Schnell begreife ich, dass es wieder Mathematik ist, und spüre, wie mich Müdigkeit überschwemmt. Ich sehe zu meinem Nachbarn hinüber, denn er sieht aus wie Golo, nur seine Nase ist etwas krummer und doch, er verhält sich so ähnlich, schaut mich sogar an, als wäre ich sein Freund. Auch einen Tom gibt es, er sitzt in der gleichen Reihe und ist in sein Buch vertieft, aber sein Kopf hängt so tief ins Buch hinein, dass er verborgen ist. Nach einer Weile merke ich, dass es doch keine Mathematikstunde ist. Ich will verstehen, worum es sonst geht, aber ich finde es nicht heraus, denn einmal spricht sie von der chemischen Reaktion von Kaugummis und Schuhsohlen, dann wieder will sie ein Lied anstimmen, was alle Schüler aber einstimmig ablehnen. Sie sagt immer «im Grossen und Ganzen», aber ich komme nicht umhin zu glauben, dass sie damit


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eigentlich das Kleinste und Konkreteste meint. Ich verstehe gar nicht, was das für eine Stunde ist. «Wieso nicht?», fragt Golo. Du kannst auch meine Gedanken erraten? Der zweite Golo lächelt und sagt etwas, das der erste nie gesagt hätte: «Ich errate sie nicht, ich mache sie.» Das kann man nicht. Jeder denkt, was er will. «Kuchenverstand», versetzte er. Kuchenverstand? Golo prustet los, als ich das denke, und ich möchte mir ins Gesicht schlagen. Er schaut mich hämisch an. «Ich mache sie, ich mache sie!» Jetzt schaut die Lehrerin streng zu mir und Golo herüber und ich mache mich auf die nächste Bestrafung gefasst. «Warum schaut ihr eigentlich nicht mal aus dem Fenster?» Ich sehe verdutzt in das ernste Gesicht der Frau. «Weshalb seid ihr immer so konzentriert? Man hat ja auch einmal ausgelernt.» Mein Blick wandert zum Fenster, aber dort sehe ich nicht den hellen Tag und die Strasse, sondern mein Klassenzimmer, wo der echte Golo neben einem leeren Platz sitzt und Ellenbogen seine Mathematikstunde gibt. Ich sollte dort drüben sein, denke ich. «Warum?» Weil ich dort hingehöre. «Kuchenverstand», sagt Golo. Nein, zweimal klappt es nicht. Golo schaut traurig. Die Lehrerin richtet ihre Aufmerksamkeit plötzlich auf Yasmin. «Du, ja, vor allem du. Bei dir spüre ich eine zu grosse Spannung. Du äugst immer so über meine Schultern und möchtest wohl alles besser machen.» Die Lehrerin verweist sie des Zimmers. Mit zitternden Schritten erhebt sie sich, packt ihre Sachen zusammen und mit kerzengeradem Rücken verlässt sie das Zimmer. Ich drehe meinen Kopf zu der anderen Fenstergalerie und schaue ihr durch die Scheiben nach, wie sie niedergeschlagen einen neuen Platz im nächsten Klassenzimmer einnimmt, den ihr ein greiser Lehrer zuweist. Kuchenverstand, denke ich. Mist.


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SYMMETRIE «Wie die Zeit nicht vergisst, sondern verschiebt.» Ein Bahnperron, auf dem einige Wartende unbeteiligt stehen. Sie tragen Aktenköfferchen bei sich. Hinter ihnen sind drei Türen sichtbar mit den Ziffern 1, 2 und 5. Dies sind die Minutentüren, in die von Zeit zu Zeit jemand schlüpft. Aus einer vierten Tür kommt eben so unregelmässig jemand heraus. YAN, einer der Wartenden, steht davor und ist in einer Zeitung versunken. Mit lauten Schritten und keuchend stösst SIMON dazu. Ist er schon ab? Ist der Wagen N34 schon ab? YAN Der ist vor zehn Minuten ab. SIMON

SIMON

Ach. (schaut auf die Uhr) Scheisse, meine Uhr stimmt nicht… Beschissener Onkel. (auf einen Blick von YAN) Mein Onkel stellt mir immer die Uhr zurück. Er glaubt, es sei eine grosse Schande, zu früh irgendwo zu sein. An Meetings dürfe man nicht pünktlich, an Partys nicht als Erster und im Bett nicht zu früh kommen, wenn man etwas auf sich halten wolle. YAN

Na ja. (lacht leise) Das hat schon was. SIMON

Ja, das sind gute Beispiele, aber wenn man den Wagen erwischen will, ist das kein guter Rat. YAN

Dafür war ich letzthin an einer Party als Erster. Und Ihr Onkel hat schon recht, das ist nichts Gutes… Ich musste bei den Vorbereitungen helfen. SIMON

Das ist auch Pech! Ach… mein nächster Wagen kommt in vier Minuten, das spar‘ ich mir. SIMON verschwindet mit einer Verabschiedung in der 2-Minutentüre. ELENA kommt auf den Perron und stellt sich schweigend neben YAN. YAN

Sie sehen nicht sehr glücklich aus, vielleicht kann ich Sie glücklich machen? ELENA

Literatur

(rümpft die Nase) So prompt? Für einen solchen Anmachspruch ist es zu früh. Sie müssen mit der Frau erst ins Gespräch kommen… Aber stimmt, ich bin nicht glücklich, ich habe ja auch eine Trennung vor mir.


28 Literatur

YAN

So, wer ist denn der Unglückliche? Wie hat er es verdient? ELENA

Dieses Gehabe! Immer kommt er zu spät, egal was es ist: An Beerdigungen, zur Arbeit, er kommt zu spät nach Hause und steht zu spät auf. Man ist ja nicht mehr siebzehn. YAN

(vorsichtig) Ich könnte mir vorstellen, wen Sie meinen. Der Herr ist vor wenigen Minuten durch die Türen gegangen. ELENA

Ach? Und so wie ich ihn kenne, war‘s die Fünf! ELENA marschiert auf die Tür zu und betritt sie. Eine Minute lang ist YAN alleine und liest Zeitung. Ein Wagen mit Maske fährt unbeteiligt vorüber. Alle sehen ihm misstrauisch nach. Einer legt sein Aktenköfferchen neben die fahrende Stange und entfernt sich dann. SIMON kommt aus der vierten Türe. SIMON

Sie warten auch schon eine Weile, wieso nehmen Sie nicht die Minutentüren? YAN

Ach, ich habe Geduld. (unbeteiligt) Ihre Freundin sucht Sie übrigens. Sie kommt allerdings erst in etwa drei Minuten zurück. SIMON

Warum? Oh Gott. Habe ich wieder etwas verpasst? Ein Jahrestag, ein Geburtstag? YAN bewegt sich nach auf einen vorbeifahrenden Wagen zu. Der RAUCHENDE ONKEL tritt aus der Menge zu SIMON. ONKEL

Ach, mein lieber Simon, nimm doch nicht alles so streng… SIMON

Onkel! Ein Zufall, dass ich dich hier treffe. YAN hat sich offenbar im Wagen getäuscht und kehrt zu den beiden zurück und bleibt überrascht stehen. YAN

Aber… Das ist mein Onkel! ONKEL

(lacht onkelhaft über ihre Blicke) Lasst nur machen, lasst nur machen. Ich bin euer beider Onkel. SIMON

Und… du hast uns nie etwas davon gesagt?


29

ONKEL

Ihr habt mich ja nie gefragt. YAN

Dann sind wir ja Cousins! Aber, Onkel, warum stellst du immer seine Uhr zurück, damit er zu spät kommt? Seine Freundin will ihn darum verlassen! SIMON

Was? ELENA

(hat sich bei diesen Worten angenähert und hält inne) Ich komme besser später wieder. (verschwindet durch die 1-Minutentüre) ONKEL

Ach, YAN, du brauchst doch nicht eifersüchtig zu sein. Ich hatte euch beide immer gleich gern. Deine Uhr habe ich dafür immer vorgestellt, damit du zu früh kommst. YAN

Was? ONKEL

Ja, fällt es dir nicht auf? Wann fährt denn dein Wagen? YAN

(schaut auf die Uhr) In einer Minute. ONKEL

Haha, falsch, er fährt in fünfzig Minuten! Geht dir jetzt ein Licht auf? Die Verabredungen, an denen man dich vermeintlich sitzen gelassen hat? All die Warteräume, die du so gut kennst? Dass du immer so rasch Frauen ansprichst? YAN

Aber… warum? ONKEL

Ach, lasst doch eurem Onkel den letzten Spass, den er hat. Wir müssen zusammen was essen, jetzt ist gerade die rechte Zeit dazu, bald ist es zu spät und bis jetzt ging es nicht.

Literatur

Der RAUCHENDE ONKEL klopft seinen Neffen auf die Schultern und zieht sie mit sich fort. ELENA kommt aus der Tür und nähert sich vorsichtig dem leeren Platz. Dort sieht sie sich verloren um.


30

«Drei Geometrieaufgaben» steht als Titel über Cédric Weidmanns Text. Die Geisteswissenschaftlerinnen und Bildungsbürger unter uns, die Literaten und Künstlerinnen kriegen es mit der Angst zu tun. Die sonst so klare Struktur der Geometrie verwandelt sich im Kopf Unkundiger zu einem Chaos aus Vektoren und schon sind wir gleichermassen mitten in Weidmanns Text wie in der Zeitschrift delirium. Schliesslich spricht aus dem Namen der Zeitschrift doch der Wunsch, tief ins mentale Chaos einzudringen – bis zum Punkt des Orientierungsverlusts. Allerdings schwingt auch die heimliche Hoffnung mit, mit umso klarerem Kopf wieder aus dem delirium herauszukommen. Tatsächlich trifft der Titel von Weidmanns Text in verschiedener Hinsicht zu. Nicht nur fasst er mittels des Oberbegriffs ‹Geometrie› die drei Texte Weidmanns zusammen, er verweist auch auf andere Dimensionen – die drei Dimensionen der Zeitschrift delirium. Und dies tut er sinnigerweise der Geometrie entsprechend in Form von drei Aufgaben. Denn auf eine Widmung folgt der Titel der ersten Aufgabe Helix und ein Zitat. Dass es sich bei Weidmanns drei Texten – oder ist es ein einziger Text? – in irgendeiner Form um Geometrie handelt, wäre aus den Untertiteln bereits abzulesen: Helix, Tesserakt, Symmetrie. Die Aufgabe allerdings lenkt den Blick entscheidend. Tatsächlich sind Weidmanns Texte Aufgaben – undauch dies in verschiedener Hinsicht. Als literarische Vorgabe sind sie dem Kritiker aufgegeben. Der Kritiker wiederum macht sie sich zur Aufgabe. Umgekehrt hat sich jedoch schon der Autor Weidmann recht explizit eine oder sogar mehrere Aufgaben gestellt. Die vorangestellten Motto-Zitate weisen deutlich darauf hin. Letztlich spricht aus Weidmanns Text aber vor allem die Aufgabe der Zeitschrift delirium selbst. delirium ist ein Experiment – nirgends wurde das deutlicher als in den Teilnahmebedingungen, die von literarischen Autorinnen und Autoren neben ihren eigentlichen Texten zusätzlich Essays verlangten. Kaum ein Essay traf ein. Aus redaktioneller Sicht also ein glorios gescheitertes Experiment – ansonsten hochinteressant. Die Parameter müssen angepasst werden. Ein Experiment muss schliesslich irgendwie funktionieren. Wie es funktioniert und was dabei herauskommt: eine legitime Frage.

Ein Experiment zeichnet sich dadurch aus, dass es seine Rahmenbedingungen selbst erschafft – auch wenn die Parameter hin und wieder angepasst werden müssen, damit etwas passiert. Fast möchte ich sagen, dass im delirium paradoxerweise Literatur unter Laborbedingungen entsteht. Die Hypothese in Form einer Frage: Was ist Literatur gegenwärtig – vorderhand zumindest in Zürich? Natürlich schwingt da schon die Voraussetzung mit, dass es Literatur wie auch Gegenwart gibt. Aber im Experiment ist das – auf Weidmanns Text schielend – durchaus zulässig, mag es in der Welt auch ganz anders aussehen. Mit einem Augenzwinkern ist einzugestehen: Worüber wir diskutieren, daran arbeiten wir mit jeder Ausgabe weiter. So ist delirium immer gegenwärtige Literatur, in Form des Experiments notwendigerweise, und nicht nur eine Sammlung einzelner Hefte, sondern im besten Fall ein Gesamtkunstwerk. Diesen Faden nimmt Weidmann auf, indem er sich durch die Motto-Zitate Laura Bassos Text Die Akte aus delirium N°01 gleichermassen zur Ausgangslage wie zur Aufgabe gemacht hat. So gilt es für die Kritik, dieser Verbindung nachzuspüren und zu untersuchen, was bei der gestellten Aufgabe herausgekommen ist. Sich an Aufgaben zu messen und an der Aufgabe zu wachsen, ist durchaus ehrenwert. Und seine Aufgabe geht Weidmann nicht zuletzt experimentell an. Da wird, was – als literarischer wie als (von Stéphane Boutin) kritisierter Text – psychologisch begonnen hat, streng formal wieder aufgenommen. Doch die drei Aufgaben der Reihe nach:

1. Helix Das angesprochene Chaos im Kopf könnte Wirklichkeit sein – die von Weidmann beschriebene Strasse fordert dem Vorstellungsvermögen alles ab. Und wäre da nicht der wegweisende Titel, so bliebe die Strasse vollends unvorstellbar. Wie sie sich windet und schraubt, fast als wäre Bassos Protagonist, der sich verrenkt, durch Spalten zwängt und sich vor geraden Strassen fürchtet, diese weidmannsche Strasse selbst. Und wie verkorkst muss die Strasse sein, damit sich in ihr eine ganze Stadt zusammenfassen lässt: Diese Stadt, die eine Strasse ist. Nur, weil die Stadt zu unübersichtlich, geradezu unvorstellbar, und eigentlich eine einzige Strasse schon zu viel für das Vorstellungsvermögen ist. – «Aber», so wendet Weidmanns Text am Ende der Helix ein, indem er sich schon fast selbst den Boden unter den Füssen wegzieht, «das ist nicht sicher». Das alles ist nicht sicher. Was ist dann sicher? Die Irritation ist sicher – und

Kritik

Das Experiment als Aufgabe


Kritik

31 diese steht notwendigerweise auf schwankenden Brettern. Als poetisches Programm läuft sie Gefahr, unbegründet abzustürzen: Irritiert der Text, weil die Irritation gelungen ist, oder irritiert der Text, weil die Irritation nicht gelungen ist? Faktisch bleibt der Text irritierend. Vertrauen wir also dem Bühnenboden vorerst und lassen uns auf das sich anbahnende Schauspiel ein: Der Text beginnt mit einem scharfen Kontrast: «Die Strasse windet sich in schroffen Verschlingungen zwischen den Häusern hindurch, die sie still und gelassen umfrieden.» Auf irritierende Weise – still und gelassen – säumen Häuser eine schroff gewundene Strasse. Mitnichten können diese Häuser die Strasse umfassen oder eben umfrieden, wäre die Strasse doch sonst eher ein Platz oder gar ein Hof. Und nur am Rande, wo die Leute «beackern» und «schmücken», ist diese Szene vergleichbar mit der tiefen Seelenruhe eines Friedhofs. Stattdessen rattert und knirscht es. Einzig die Beklemmung dieses Schauspiels, denn (Toten-?)Masken ziehen vorbei, ist dem Gefühl auf einem Totenacker ähnlich – wenn unvorstellbar bleibt, wohin und weshalb jemand gehen musste. Und mit diesen beklemmenden Fragen tauchen Aktenköfferchen auf. Seltsam entrückt ziehen sie zusammen mit den Masken vorbei – aus irgendeinem Grund und irgendwohin. Alles ist physische Realität geworden. Die Akte, die vormals bei Basso nur in der Vorstellung existierte, ist da, auch wenn sie immer noch nicht eingesehen werden kann. Aber vielleicht sind auch nur die Köfferchen da, völlig inhaltslos. Das käme dann dem Protagonisten Bassos wieder nahe, der sich vermutlich mehr einbildet, als tatsächlich ist. Aber wie immer: «Natürlich weiss man nichts Genaues.» Und teils scheren sich «die Anwohner» in Weidmanns Text auch nicht darum. Sie scheinen in ihrer Alltäglichkeit gut eingerichtet allenthalben «ein Mittagessen vorzubereiten». Essen muss der Mensch, während sich sein Leben schreibt und er vergeht. Die Akte wird erst zur Akte, wenn das Leben vollendet ist und jemand, wer auch immer das sein mag, das Sündenregister – oder eben die Akte – tatsächlich herunterliest. Daran lassen sich auch die gleichförmigen Aktenköfferchen erkennen: an den dazugehörigen Totenmasken aus leichenblassem Gips. Denn manchmal «leuchten ihre grossen, weissen Augen und die gewölbten Lippen von unten auf». Am Ende drehen sich diese Masken gar, nachdem sie vorher noch die «Richtung» gewechselt haben, auf «einem Möbiusband». Seelenwanderung und Kreislauf des Lebens. Das ist viel Mutmassung, um eine Vorstellung von

Weidmanns Text zu kriegen. Es verhält sich ein wenig wie mit den Aktenköfferchen: Ist denn «gesagt, dass die Aktenköfferchen gefüllt sind»? – Natürlich ist das «nicht gesagt». Aber vielleicht braucht ein literarischer Text auch nichts gesagt zu haben – nichts gesagt zu haben im Sinne der strengen Wahrheit, die nur sagen kann, was es gibt. Dagegen Fiktionalität in aller Kürze: «Wie gesagt, es scheint so.» – Oder: Wie gesagt, so scheint es. Da wird gleichermassen «gesagt» und «nicht gesagt» und was «gesagt» wird, «scheint» – und Platon hätte sich im Grab umgedreht. Trotzdem oder gerade deshalb liegt die Vermutung nahe, dass auch der Text «nichts Genaues» weiss.

2. Tesserakt Es ist keine Schande, «nichts Genaues» zu wissen. Die Unvorstellbarkeit nimmt zu – oder wie viele können tatsächlich von sich behaupten, die vierte Dimension einwandfrei zu meistern? Das allwissende Wikipedia sagt: «Der Tesserakt ist eine Verallgemeinerung des klassischen Würfels auf vier Dimensionen». Und genauso allwissend schien der Erzähler der Helix – jetzt ist er es nicht mehr. Aber wer kann auch mit leerem Magen denken? Das Mittagessen, in der Helix fand es nicht mehr statt, ist nun am «Nachmittag» längst vorbei. Da hilft auch alle «Gedankenkraft» nichts, derer sich der Protagonist zu bedienen versucht, um seiner – in der Tat faszinierenden – Strafe zu entgehen. Ob der Lehrer weiss, womit er seinen Schüler bestraft, und ob der Schüler weiss, in was für einem Universum er lebt, sei dahingestellt. Es könnten verschiedene Paralleluniversen sein, es könnte auf irgendeine eigenartige Weise mit den vier Dimensionen des Tesserakts zu tun haben oder alles könnte auch nur der Tagtraum eines hungrigen und müden Schülers sein. Aber so wichtig ist das vermutlich gar nicht. Wichtiger scheint diese ominöse Gedankenkraft. Wer aussieht wie Golo (ist es Golo oder Golo‘?), besitzt sie offenkundig. Und mit dieser Gedankenkraft kehrt die Einflussangst aus Bassos Akte zurück, auf deren Note der Tesserakt endet: «Mist». Allerdings ist diese Einflussangst bei Weidmann weit weniger bedrohlich; eher eine Spielerei, etwa so wie Geometrieaufgaben im Schulunterricht: recht abstrakt, schwer vorstellbar, lösbar – vielleicht. Viel bedrohlicher ist einmal mehr die Vorstellung, dass die physische Realität nach dieser Einflussangst strukturiert sein könnte. Die Selbstbestimmung des Protagonisten jedenfalls ist an einem kleinen Ort – zumindest solange er das mit der Gedankenkraft nicht beherrscht. Denn vor der Gedankenkraft und ihren Einflüssen schützen den Schüler


32 alte Lied vo dä Bahnhöf, wo dr Zug gäng scho abgfahren isch oder no nid isch cho... Da kommen Weidmanns «Minutentüren» recht gelegen. Ansonsten hilft einmal mehr nichts – in diesem schrägen Theater. Ob die Absicht des Onkels darin bestand, auf etwas skurrile, aber gutmütige Weise seine Neffen, die eigenartigerweise auch nichts von einem gemeinsamen Onkel wussten, zu erziehen, oder ob er mit seinen Zeitspielereien schlicht ein alter Querulant ist, steht vorderhand einfach einmal im Raum. Aber ich komme nicht umhin, Weidmann für diesen Onkel zu halten, der sich aus Bassos Text bedient und sich entsprechend der Vorlage als Zeit selbst herausstellt: Wie die Zeit nicht vergisst, sondern verschiebt. Der Onkel, der da nach Gutdünken verdreht und verschiebt und in die Irre führt – und sich, wenn er denn selbst die Zeit ist, um sich selbst dreht. Damit ist die Sache noch vertrackter als beim Tesserakt und ich beginne, mir die Helix wieder herbeizuwünschen. Irritierend bleibt es also bis zum Schluss. Es ist kein besonders rücksichtsvoller Erzähler, der sich anpassungsfähig wie ein Chamäleon durch die verschiedensten Erzählformen und -perspektiven gewunden hat. Aber immerhin merkt man ihm den Schalk an, wie er da verschmitzt Aufgaben stellt, die einem vorkommen wie ein abstrakter Witz – die Pointe ist keine Pointe oder irgendwie so ging das, und dies würde wiederum den Onkel retten.

3. Symmetrie

Hinterher schlauer? Umso besser

Ein letzter Versuch, sich die Zähne (quartäre Gesteinsbrocken?) nicht auszubeissen! Schweisstreibend ist die Arbeit des Kritikers auch, so viel sei Dolores Zoe immerhin zugestanden. – Dass Weidmann vom Programm abweicht, – Helix und Tesserakt sind geometrische Figuren, die Symmetrie ist eher ein Verhältnis bzw. eine Eigenschaft – erklärt sich über das Essen. Allerdings findet auch dieses gerade nicht statt, selbst wenn genau die «rechte Zeit» wäre – Mittag muss aufgrund der Symmetrie wohl gefolgert werden. In der Helix war schliesslich Vormittag und im Tesserakt Nachmittag. Stattdessen müssen wir uns das Mittagessen, zu dem der Onkel seine beiden Neffen einlädt, vorstellen und bleiben wie Elena ein wenig «verloren» zurück. Die angedeutete Dreiecksbeziehung kam nicht zustande – irgendwie haben wir wohl die Pointe verpasst, konnten die Sache nicht auf den Punkt bringen – sind eben unpünktlich. Das muss besonders Schweizerinnen und Schweizer ärgern. Immerhin ist die Schweiz das einzige Land, wo sich Leute bei einer Zugverspätung von fünf Minuten und der resultierenden Wartezeit herzhaft aufregen können. Wir kennen das

Vielleicht lohnt es sich, die Sache einmal wörtlich anzugehen. Dann lässt sich sagen, dass die psychische Geometrie in Bassos Akte in Weidmanns Aufgaben in eine physische Topografie verwandelt wurde. Die drei weidmannschen Texte sind also gleichermassen Aufgabe wie Lösung. Aber Himmel Herrgott noch mal, der Teufel soll mich holen – in einer solchen Welt will ich nicht leben, weder in der verkorksten Psyche des Protagonisten Bassos noch in Weidmanns surrealem Labyrinth. Ob Bassos Protagonist das auch in aller Klarheit und mit grösster Sicherheit hätte sagen können? Wohl kaum; insofern wird Weidmanns Text Bassos Vorlage durchaus gerecht, wenn er auch wesentlich spielerischer daherkommt. Und das macht ihn gleich wieder sympathisch. Was aber weiss Weidmanns Text selbst, ausser einigen subtilen Beobachtungen («ob er das Wort oder den Strich betont») und skurrilen Einfällen («Minutentüren»), die gleichermassen aufblitzen wie die anfänglich erwähnten Feuerwerke und Blitze? Die grosse Frage scheint mir diejenige nach der Fiktionalität zu sein. Die Antwort darauf: Von aussen gesehen darf Literatur

Kritik

auch seine neunmalklugen Gedanken zu «Strafen» nicht, wenn es einmal so weit ist, dass ein irrwitziges Wort im Kopf widerhallt: «Kuchenverstand». So beherrscht Weidmanns Schüler, aber er ist ja noch ein Schüler, weder das Reich der mentalen noch das Reich der physischen Realität – und schon gar nicht deren Überschneidung oder Verschmelzung. Zwar geht er, im Gegensatz zum Protagonisten Bassos, der sich kaum noch vor die Tür getraut, ganz normal durch die Tür weiter. Aber wo er damit landet? Die Türen, die verschlossen bleiben, und wie du stets durch Fenster weiterziehst. Es bleibt ihm also wenig anderes übrig, als – und darin gleicht er dem Protagonisten Bassos wieder – von einer seltsamen Lehrerin explizit aufgefordert einigermassen träumerisch zum Fenster hinaus zu blicken; von Parallelwelt zu Parallelwelt, denn sogar die Helix aus dem ersten Text windet sich da wieder vor dem Fenster. Langsam nimmt eine Ahnung Gestalt an. Ein Lichtblick. – Ein Gedankenblitz: Immerhin ist das auch ein geometrischer Vorgang. – Der Grund, weshalb die Unübersichtlichkeit ständig zunimmt, liegt in der gestellten Aufgabe selbst. Wer sich das wohl grösste geometrische Problem zur Aufgabe gemacht hat, – nämlich den «Weltraum» – wird kaum so schnell zu einem «Ende» kommen. Aber ob das mit der Zeit besser geht?


33 primär wohl einmal alles. Ob das von innen her gesehen, d.h. aus dem Text selbst heraus, auch funktioniert, ist eine andere Frage. Ob also drei Aufgaben einen Text ergeben? Die geschickte Übernahme von Motiven aus Bassos Erzählung macht noch keinen eigenständigen Text, obwohl das Kopieren und Kompilieren durchaus zur Ästhetik der Gegenwart gehört – zumindest in der Literatur. Das ist der feine Unterschied zwischen Helene Hegemann und Karl-Theodor von und zu Guttenberg, der feine Unterschied zwischen einem Bestseller und dem Akteneintrag ‹Plagiat›. Hingegen ist Weidmanns Unterfangen keinesfalls mit dem hegemannschen Erfolgsroman zu vergleichen – nicht weil Hegemanns Roman besser wäre als Weidmanns Text (im Gegenteil), sondern weil es um etwas ganz anderes geht. Um nichts Geringeres als – und das reicht dann schon wieder nahe an das Problem mit dem Weltraum – einen literarischen Kommentar, eine künstlerische Erwiderung, eine Übersetzung vielleicht sogar. Damit ist die Aufgabe delirium mehr als erfüllt. Dann wären Weidmanns drei Aufgaben in ihrer ganzen Verspieltheit auch als Persiflage auf die Ernsthaftigkeit und die – durchaus männliche – intellektuelle Kraftmeierei von delirium N°01 zu verstehen – wie grandios die dort festgehaltenen Gedanken auch gewesen sein mögen. Denn natürlich weiss man nichts Genaues. Da hat sich wohl urplötzlich die Richtung geändert. Einiges lässt sich also vermuten. Und wenn das Experiment nicht geglückt ist, so ist zumindest etwas passiert. Es ist nur zu hoffen, dass das Eintauchen ins delirium zum Auftauchen mit grösserer Klarheit geführt hat: Aber wer János ist, bleibt – nein, keine Aufgabe, sondern – ein Rätsel. Und wenn es nicht Weidmanns Katze ist, dann vielleicht ein Hamster im Rad oder doch János Bolyai, einer der Mitbegründer der nicht-euklidischen Geometrie? Das wäre dann schon fast wieder ein wenig vermessen.

Kritik

Fabian Schwitter


34

Elsbeth Zweifel

35

L I T E R AT U R

n e l l o r g s a d …es ist der tot en das … n e k l o w r e d seuf zen

KRITIK

36 Hannes Sättele


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und höre und höre alles liegt blass in grau und der holunder trägt schnee und höre die flocken fallen und ich denke es sei das echo der glocken im tal und höre die flocken fallen und es ist das grollen der toten das seufzen der wolken und höre

Literatur

Elsbeth Zweifel


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Die Dichtung und ihre Kritik – und ein überlebender Mythos Vor allem bei Gedichten scheint sich die Frage aufzudrängen, wie eine literarische Kritik zu ihnen Stellung nehmen kann. Die Problematik rührt zumindest teilweise daher, dass Gedichte nicht an-sich lesbare Textgestalten sind, sondern als Für-sich zu etwas Gedichtetem und Lesbarem werden, das erst in der Folge davon eine Kritik erfahren kann. Eine Gedichtkritik hat deshalb ihr ‹ursprüngliches› Objekt, das Gedicht selbst, notwendigerweise verloren, und kann diesem gegenüber nur noch einen fragwürdigen Geltungsanspruch stellen. Die Gedichtkritik kann aber auch diese notwendige Verschiebung erkennen und sich selber ein entsprechendes Gesetz geben, nämlich an das Gedichtete und Lesbare heranzutreten. Ein solches Gesetz kann die Gedichtkritik vorantreiben: Es legitimiert sie, weil sie sich ein neues Objekt gegeben hat, das nicht mehr gänzlich unter dem Einfluss des Gedichts als schwer zugängliche oder verloren gegangene Textgestalt steht. Nichts kann mehr dagegen sprechen, dass die Gedichtkritik das neue Objekt, das sie sich als ein eigenes gegeben hat, genau befragt oder sogar peinlich genau inquiriert. Umso weniger steht der Gedichtkritik und ihrem neuen Objekt etwas im Wege, wenn schon das Gedicht selbst ein Bewusstsein für das Gedichtete und Lesbare entfaltet und die nötigen Vorkehrungen vom Leser beziehungsweise Kritiker explizit einfordert, wie das bei Elsbeth Zweifels «und höre» der Fall ist.

Kritik

Das Objekt der Kritik Das erste «und höre» des Gedichts ist eine Forderung an mich, der ich zwar bereits dieses Gedicht lese, indem ich seinen Versen mit meinem Blick folge, aber nicht deswegen schon das Gedichtete lese, indem ich es mir als Für-sich zum eigenen Objekt der Kritik mache. Auf dem Weg zu einem solchen kritischen Standpunkt wird als erste explizite Forderung ein lesendes Folgen verlangt, das sich von demjenigen meiner Augen unterscheidet: «und höre». Es soll ein Ge-horchen zum Dazu-ge-hören sein, das heisst, ein Sich-versetzen-lassen an einen Ort, der nicht mehr derjenige des Gedichts, sondern derjenige der durch es gedichteten

Welt ist. Diese gedichtete Welt ist dort, wo «alles liegt», «blass in grau». Es handelt sich um eine vereinsamte Welt, die von der Stimme eines lyrischen Ichs ausgeht, das sich noch nicht in ihr verortet hat. Als stilles Wesen ist lediglich «der holunder» in ihr, und er «trägt Schnee». Aus dieser Einsamkeit heraus tritt die gedichtete Welt durch das Gedicht an einen aussenstehenden Hörenden wie mich heran. Das zweite «und höre» des Gedichts ist eine weitere Forderung an mich als einen, der schon wahrhaftig liest. Es braucht jetzt die Atempause nicht mehr, die nach dem vorherigen «und höre» notwendig gewesen war, um mit dem Gedicht auf-zu-hören und eine durch es gedichtete Welt sich eröffnen zu lassen. Ich muss nicht mehr anhalten, auf-horchen und ge-horchen, sondern ich bin bereits hier in dieser gedichteten Welt. Ich werde nun auf meinem Weg zum kritischen Für-sich des Gedichteten mit einer zweiten expliziten Forderung konfrontiert. Ich soll innerhalb dieser gedichteten Welt auf etwas hören, das sich hier ereignet: «die flocken fallen». Ich soll aber auch jemandem zuhören, dem lyrischen Ich, das jetzt auch hier in dieser gedichteten Welt ist und das Gehörte reflektiert: «ich denke es sei». Ich höre also das Heil, das sich dieses lyrische Ich vom Gehörten her verspricht und mit dem es die Stille dieser uns gemeinsam vereinsamten Welt füllen möchte. Das lyrische Ich erdenkt sich Heil, das von einer Gemeinschaft Gottesfürchtiger, Gottes Wort ge-horchenden Menschen, durch die dafür konventionell festgelegten Klänge heraufbeschworen wird: «echo der glocken» «im tal». Das dritte «und höre» des Gedichts bedeutet endlich die Einladung des kritischen Lesers. Ich habe auf meinem Weg dahin zuerst das Gedicht dadurch verlassen, dass ich durch eine erste explizite Forderung in die von ihm gedichtete Welt hineingerufen worden bin. Durch eine zweite explizite Forderung wurde ich dazu angehalten, diese gedichtete Welt durch die Gedanken des lyrischen Ichs zu hören und zu denken. Erst jetzt mit dem dritten «und höre» wird das Ereignis in dieser gedichteten Welt, dass «die flocken fallen», unvermittelt und ungedacht für mich hörbar, in der Form eines reinen «es ist». Das lyrische Ich, das hörte, sowie die von ihm erdachten Gottesfürchtigen mit ihren Klängen haben mich verlassen. Ich höre nur noch deren unheimlichen Nachhall: Sie «sind» jetzt die «toten» und als solche sind sie für mich Dinge dieser gedichteten Welt geworden, in der ich ganz alleine dastehe. Diese Dinge einer für mich zunächst fremden und mittlerweile eigenen – aber immer noch vereinsamten, eigenartigen und somit entfremdenden – Welt


38 Annehmlichkeit durch konventionelles Ge-horchen von Gottes Wort oder durch konventionelles Dazu-gehören zur sprachlichen Gemeinschaft. Das besondere Glück dieses neuen und eigenen Bezugs zu einer Welt ist lediglich das Entsetzen, mit dem uns unvermittelte Dinge hörbar entgegentreten. Ein riskantes Glück wird also dem Leser oder dem Kritiker durch das Gedichtete suggeriert, ein Glück, das auch für die Dichtung selber – als literarisches Unterfangen, das als solches und zugunsten der poetischen Bildhaftigkeit notwendigerweise auf spirituelles Heil und gesellschaftliche Annehmlichkeiten verzichten muss – riskant bleibt.

Die Autonomie der Dichtung Wir haben nun ein ‹glückliches Hören› – ein Hören der Dinge, so wie sie gerade sind und uns entgegentreten – als unser neues und eigenes Objekt der literarischen Kritik gewonnen. Nun kann dieses Objekt befragt werden. Falls ein solches glückliches Hören tatsächlich ein Fundament von authentisch literarischer Dichtung sein sollte, müsste dann diese nicht einfach implizit von ihm ausgehen, anstatt es als Fundament erst explizit zu konstruieren? Wir können dasselbe auch anders fragen: Verbleibt eine Dichtung, die vor allem darauf ausgerichtet ist, ihr Fundament explizit zu konstruieren – als glückliches Hören, das sich im Gedichteten durch wachsende Insistenz behauptet – nicht gerade deshalb auf einer Vorstufe des eigentlich in der Dichtung allgemein Intendierten – der poetischen Bildhaftigkeit, die sich erst gegen Schluss des entsprechenden Gedichts behauptet, um dann sogar ganz zurückzutreten? Daraus folgt auch die zweite Frage: Was könnten allfällige Motive einer solchen – scheinbar unvollständigen – Ausführung von Dichtung sein? Auf der Ebene des einzelnen Gedichts «und höre» und seiner unmittelbaren literarischen Kontextualisierung können wir diese Fragen wie folgt erörtern: Die Aussage des Gedichteten kann dahin gehend gelesen werden, dass authentisch literarische Dichtung und ihre Kritik sich ihreigenes sprachliches Gesetz geben sollten, dass sie autonom sein sollten und dass sie Letzteres vor allem durch glückliches Hören erreichen. Das Aussagen des Gedichteten kann als durchaus kongruent zu dieser Autonomie gelesen werden, denn ein solches Hören kann dann keineswegs als äusseres, regulierendes Fundamentalgesetz einfach übernommen oder vorausgesetzt werden, sondern muss als innerliches und konstitutives selber entfaltet werden. Es stellt sich aber sodann die Frage, ob eine solch intensive Beschäftigung mit der Autonomie von

Kritik

überfallen mich mit ihrer hörbaren Feindseligkeit: «das grollen». Sie überfallen mich also mit einem hörbaren Seinsmodus, der sich den zähmenden Konventionen der Sprache – denjenigen, die es normalerweise ermöglichen, Fremdes durch das Gemeinsame eigen zu machen – entzieht. Zu diesem hörbaren Seinsmodus, der sich den zähmenden Konventionen entzieht, zählt jedoch nicht nur «das grollen» «der toten» als unheimliche Feindseligkeit. Auch das «seufzen der wolken» als melancholische Zärtlichkeit ge-hört dazu. Es handelt sich offensichtlich um einen hörbaren Seinsmodus der Dinge und der Welt, dessen Unvermitteltheit sich nur noch durch poetische Bildhaftigkeit repräsentieren lässt. Erst in dieser Situation also, in der es mir nicht mehr durch die zähmenden Konventionen der Sprache heimelig gemacht wird, in der ich aber immer noch in der gedichteten Welt daheim bin, kann mir auch Folgendes nicht mehr verheimlicht werden: ein Seinsmodus der Dinge, in dem diese so sind, wie sie sind und wie sie mir gerade hörbar entgegentreten; ein unvermittelter Seinsmodus, der nur in poetischer Bildhaftigkeit durch die Sprache repräsentiert und aufbewahrt werden kann; ein Seinsmodus, der auch ein potenzielles Für-sich ausmacht und somit die Kritik einlädt. Mit anderen Worten scheint sich hier zu zeigen, dass ein ungezähmtes und unvermitteltes Hören auf die Dinge ganz im Sinne einer poetischen Bildhaftigkeit und ihrer potenziellen Lesbarkeit ist, dass dies also eine fundamentale Bedingung sowohl für die Möglichkeit authentisch literarischer Dichtung als auch ihrer Kritik ist. In seinen letzten Versen stellt das Gedicht genau diese Bedingung – und es erfüllt sie zugleich. Das letzte «und höre» des Gedichts ist eine Bestätigung dafür, dass das neue Objekt des Kritikers auch sein eigenes Objekt ist. Ich bin durch das Lesen des Gedichts zum Kritiker geworden, weil mich dieses durch die poetische Bildhaftigkeit in einen eigenen oder unvermittelten Bezug zur gedichteten Welt treten liess, deren Dinge in der Folge direkt zu mir ‹gesprochen› haben. Das letzte «und höre», dem eine Leere folgt, ist ein Zeichen dafür, dass sich nun sogar die poetische Bildhaftigkeit zurückzieht, dass sie also nur noch als Abwesenheit anwesend sein soll. Das suggeriert, dass ein unvermittelter Bezug zu Dingen von mir auch jenseits der gedichteten Welt, also in jeder erdenkbaren Welt, weitergeführt werden könnte, wozu ich eigentlich nur auf eine bestimmte Weise zu hören bräuchte. Dieser besondere Bezug zu Dingen beinhaltet nicht das spirituelle Heil oder die gesellschaftliche


Kritik

39 Dichtung und Kritik nicht verhindert, dass authentisch literarische Dichtung und Kritik tatsächlich stattfinden – im Sinne der Ausführung und Diskussion von poetischer Bildhaftigkeit, die zwar in der Autonomie ihr Fundament hat, aber doch etwas anderes als dieses Fundament ist. Die Beantwortung dieser Frage kann auch gleich von der Beantwortung der zweiten Frage abhängig gemacht werden, nämlich welche Motive es für diese scheinbare Unvollständigkeit der Dichtung geben könnte. Ein Motiv wäre beispielsweise der Stellenwert des entsprechenden Gedichts in seinem unmittelbaren literarischen Kontext. Wenn das Gedicht bewusst als eine poetologische Reflexion funktionieren sollte, dadurch, dass es in einem entsprechenden literarischen Kontext platziert wäre, so käme es bestimmt zu seinem Recht und würde auf keinen Fall als etwas Unvollständiges erscheinen. Anders müssen diese Fragen erörtert werden, wenn wir sie auf der allgemeineren Ebene der Literatur oder der Dichtung als kulturellen Bereich in Betracht ziehen, wenn wir also den Stellenwert des vom Gedicht Gedichteten nicht bezüglich seines unmittelbaren literarischen Kontextes, sondern bezüglich des Kontextes der gegenwärtigen Kultur meinen. Das Gedichtete, ein autonomes Hören als Fundament authentisch literarischer Dichtung und ihrer Kritik, das explizit behauptet und sozusagen deklariert wird, könnte dann andere Gründe als die literarisch internen und sozusagen ästhetisch funktionalen haben. Es könnte sich beispielsweise um eine Positionsverteidigung gegenüber einer kulturellen Gegenwart handeln, die als tendenziell feindlich empfunden wird, weil sie – so die hypothetische Empfindung – die Autonomie der Literatur oder der Dichtung, und ihrer Kritiken, gegenüber anderen Kulturbereichen strittig macht, sie also nur noch als authentisch betrachtet, wenn sie sich mittels normaler und normierter Sprache auf andere Kulturbereiche beziehen und diese miteinbeziehen: kurz, eine Politisierung, Vergesellschaftlichung und schliesslich Zähmung von Literatur und Dichtung, und ihren Kritiken, welche die poetische Bildhaftigkeit und Potenzialität der Sprache im Allgemeinen bedrohen würde. Der Leser dieser Kritik mag sich bezüglich der zwei Erörterungen ganz unterschiedlich positionieren: es kann durchaus strittig bleiben, welchen Stellenwert genau eine poetologisch reflektierte Autonomie innerhalb eines literarischen Werks nach ästhetischfunktionalen Kriterien einnehmen kann, soll oder muss; es kann auch strittig bleiben, ob die gegenwärtige Kultur die Politisierung von Literatur und

Dichtung, und ihrer Kritiken, als Zähmung derselben überhaupt verlangt; weiter, ob die Literatur gegebenenfalls dagegen bereits ankämpft oder diesen Kampf überhaupt aufnehmen sollte. Was aber für den Leser dieser Kritik durchgehend unverändert bleiben kann, ist dasjenige, was als oft unbemerktes Fundament alle diese Fragen vonseiten der Literatur und ihrer Kritik stellen lässt: die Idee einer Autonomie der Literatur – ob sie nun wirklich ein Fundament von Authentizität ist oder nicht – als überlebender und fruchtbarer Mythos aus dem Okzident.


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Replik auf delirium N°01 delirium N°01 wurde mit Editorial und theoretischer Reflexion programmatisch in einen schwitterschen Rahmen gefasst. Wider den Mythos des kreativen Dichtens beklagt sich der Initiator des neuen Literatur-Kritik-Magazins über den hartnäckigen Geniegestus, mit dem die Dichterinnen und Dichter ihre wortfeilschende Schwerstarbeit dekorierten. Kommt aus dem Busch, ihr Reimdiebe und Zeilenstrolche und lasst uns eure Werke mit Anspruch und Mass im Schweisse eurer Angesichter verhandeln! So in etwa liest sich Schwitters Kampfansage, welche sich an die Lyrikerinnen und Lyriker richtet. Wo frei draufsteht, ist nicht unbedingt Freiheit drin, mahnt Schwitter an, und nur wer die Form kenne, könne sich Freiräume in den Zeilen schaffen. Zwei Momente in diesem Programm möchte ich näher betrachten und ich fahre dafür nun zunächst mit einem Kritikmoment im theoretischen Essay, welche delirium N°01 beschloss, fort. Ein zweites Moment betrifft sodann das Editorial, mit welchem ich diese kurze Replik schliessen möchte. Wenden wir uns also dem dritten Teil von Schwitters Antwort auf die Frage nach dem Gedicht als Formsache oder Geschmacksfrage zu. In diesem dritten Abschnitt wendet sich der Autor der Literaturrezeption und -produktion zu. Während es der Leserin oder dem Leser stets um Erstere, also den Gefallen am Gedicht, gehe, müsse es der Autorin oder dem Autor um die Form des Gedichts zu tun sein. Ohne das schwittersche Programm als Ganzes fassen zu können, möchte ich an dieser Stelle auf die Instanz der Kritik verweisen, um welche die Beziehung zwischen Produktion und Rezeption meines Erachtens ergänzt werden muss. Daraus ergibt sich eine Triangulation, in welcher der Kritikerin als Lesende wie auch Schreibende eine kontroverse Rolle zukommt. Als Leserin wird ihre Aufmerksamkeit vor allem durch die Lust am Text gelenkt. Auch als Kritikerin richtet sie, ausgehend von diesem ersten Vertrauensmoment, ein wohlwollendes Auge auf das Geschriebene – dies belegen nicht zuletzt die Kritiken der Erstausgabe von delirium. Folgt man sodann Schwitters Argumentation, so muss dieser unmittelbare Zuspruch gerade in Bezug auf das freie Gedicht gelten. Im Zusammenhang mit der freien Dichtung ergibt sich für die Kritikerin nämlich ein prekäres Spiel mit ebendieser Freiheit oder «Selbstgesetzgebung», wie Schwitter schreibt. Erst diese Selbstgesetzgebung, basierend auf eingehender Reflexion des Dichtens selbst, legitimiere die Autorin bzw. den Autor in der Wahl der freien Form. Die Reflexion charakterisiert Schwitter als eine alternierende Bewegung von tastendem und formendem Zugriff auf das Gedicht, wobei die tastende Hand der Form in ihrem Werden nachspüre und korrigierend eingreife, während die andere Hand im Abgleich den Stoff gestalte. Das Wohlwollen der Kritikerin bedeutet nun zunächst, diesen beiden Händen, welche in der freien Dichtung am Werk waren, nachzuspüren. Die Reflexion der Kritikerin liegt jedoch nicht in diesem Oszillieren zwischen Form und Stoff, sondern darin, sich im Nachtasten der dichterischen Gestaltungskraft der eigenen Hände bewusst zu werden. In der Vergewisserung der kritischen Tätigkeit muss nach diesem ersten Mo-


41 ment des Nachtastens wenigstens eine Hand freigemacht werden, um die Freiheit in der Selbstbestimmung der Dichterin oder des Dichters zu fassen. Und dieses Frei-Machen wiederum bedeutet die Autonomie der Kritikerin – denn erst mit freier Hand kann sie die Autonomie des Gegenstandes fassen. Der anfänglich wohlwollende Zuspruch wird ja nicht selten bereut und eben darum ist man als Kritikerin gut beraten, sich wenigstens eine Hand frei zu halten. Der autonome, kritische Zugriff auf das freie Gedicht kann jedoch nur bedeuten, die Selbstgesetzgebung der Dichterin bzw. des Dichters zu massregeln. Den Abgrund dieser Anmassung zu überspringen, ist eine Aufgabe, welche dem Mut der Dichtung in nichts nachsteht, denn sie erfordert das Vertrauen in das Gedicht ebenso wie in das sekundäre Nachtasten und -fragen. Um diesen kritischen Zugriff zu üben, braucht es Schreibräume. Es gilt in diesen Räumen jedoch auch, die Position der Kritik zu verhandeln, die wohl durchaus näher beschrieben werden kann, als dass sie lediglich zwischen Literaturproduktion und -rezeption liegt. Als Letztes möchte ich nun zum Anfang des Heftes springen und also den Bogen zurückspannen: von der Übung und Arbeit am Gedicht und der Reflexion des Kritisierens zum Editorial und seinem Imperativ der Produktivität. Die Kontinuität liegt dabei in der Dekonstruktion des Mythos Kreativität, welcher im Editorial jedoch in einen anderen Zusammenhang gestellt wird, als jener der Gesetze von Literaturproduktion und -rezeption. Denn delirium N°01 schreit mit seinem ersten Atemzug nach neuen Bedingungen derselben – zappelt jedoch, wie mir scheint, noch an der Nabelschnur der Mutterstadt. Es geht mir um den «Geist der Limmatstadt», der wohl in vielen Belangen jene klebrige Behäbigkeit an den Tag legt, gegen die Schwitter im Editorial anschreibt. Nun hat sich aber ein ganz anderes Charakteristikum ebendieses Zürcher Geistes durch die Hintertüre eingeschlichen. Denn nicht nur die Behäbigkeit, sondern vor allem ihr hässlicher Bruder – der Wille zur Arbeit – zieht durch die hiesigen Häuserschluchten. Er wütet in Gottsnamen mit unermüdlicher Produktions- und Konsumationskraft und beseelt das wirtschaftliche wie auch das kulturelle Leben unserer Kleinstadt. Der überproduktive Leerlauf, welcher die Zürcher Kunst- und Kulturszene prägt, ist wohl nicht zu stoppen, indem man einfach einen Gang tiefer schaltet – inhaltlich wäre damit aber zumeist schon viel getan. Mit nacktem Zeigefinger gen Norden zu zeigen, schickt sich also ganz und gar nicht, wenn unsere einzige Antwort auf die Berliner Sexyness jene der Produktivität ist. Vielmehr müssen wir uns ernsthaft fragen, wie wir den Mythos der Kreativität hier in Zürich neu besetzen können. Revolutionäre Überlegungen sind in Zürich nur schwer zu finden, aber mutige haben seit Jahrzehnten Bestand. Darum, ja, erhalten, erweitern und erschaffen wir literarische Orte der Auseinandersetzung mit «dem Mut zum Urteil und dem Mut zum Widerruf» – aber bitte ohne Profilierungsneurosen und Marktgeschrei! Dolores Zoe


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44 Impressum Herausgeber: Verein delirium Bremgartnerstr. 80 8003 Zürich Redaktion: Fabian Schwitter Laura Basso Samuel Prenner Layout: Mauro Schönenberger www.captns.ch Illustration: Leonie Eichin leonie.eichin@gmail.com Druck: Zentralstelle der Studentenschaft der Universität Zürich Druckerei Irchel Winterthurerstr. 190 8057 Zürich Auflage: 500 Kontakt: www.delirium-magazin.ch info@delirium-magazin.ch facebook.com/Magazindelirium © 2014 delirium Beitragende: Literatur: Sebastien Fanzun, Andreas Fischer, Cédric Weidmann, Elsbeth Zweifel Kritik: Dalibor Suchanek, Dolores Zoe, Fabian Schwitter, Hannes Sättele Mit freundlicher Unterstützung Universität Zürich Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (AVL)


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