Kerstin Maria Pรถhler
Einen Sommer lang Roman
Quell Verlag GmbH
Impressum 1. Auflage 2011 Š 2011 Quell Verlag GmbH, Saalgasse 12, 60311 Frankfurt, T 069 21 99 49 40, F 069 21 99 49 42, www.quell-online.de, info@quell-online.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Dr. Hilde Gahl Gestaltung: Monika Frei-Herrmann, www.frei-herrmann.de Titelfoto: Dr. Gerd Leidig Autorenfoto: Rudolf Mayer-Finkes Druck und Bindung: Printfinder, www.printfinder.lv Papier: Munken Print cream, FSC zertifiziert
$ %
& ' ( ) ) * ' , '- !"!#
ISBN 978-3-9812667-5-7 Das Buch ist auch als E-Book bei www.quell-online.de erhältlich
Ed ition
F端r Hilde und Gerd
1
Ich zog die Türe hinter mir zu, damals. Die Jahre der Pflicht lagen hinter mir. Der Augenblick, den ich in den letzten Jahren herbeigesehnt hatte, war da. Alles Schwere fiel von mir ab. Ich genoss das Gefühl der Leichtigkeit. Endlich frei! Leonhard stieg zügig die Treppe zum Betriebshof hinab. Auf der Hälfte der Stufen vertrat er sich, drohte zu fallen, konnte sich aber im letzten Moment noch am Geländer festhalten. Wie oft hatte er diesen Weg in den letzten fünfundvierzig Jahren genommen? Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals gestürzt zu sein. Er betrachtete die Treppe und suchte nach der Ursache. Zum ersten Mal in all den Jahren zählte er die einzelnen Stufen, es waren acht, einige ausgetreten. Er ging noch einmal hinauf und vergewisserte sich. Die dritte, fünfte und siebte Stufe waren tatsächlich uneben. All die Jahre hatte er das nicht bemerkt. Zwei Generationen hatten hier ihre Spuren hinterlassen, auch seine Tritte hatten sich Tag für Tag in den Stein gegraben. Wie groß mochte sein Anteil daran sein? Ein Millimeter, oder doch nur ein Zehntel Millimeter? Und warum fanden sich diese Unebenheiten nur in jeder zweiten Stufe? „Hörr Säöbb!“ Das Sächsisch von Gierke riss Leonhard aus seinen Gedanken. Ein breites ungestaltes „ Hörr Säöbb“ statt eines schlanken prägnanten „Herr Zepp“, fast eine Beleidigung. Leonhard ging schnell die Stufen hinab zum Betriebshof, ihm war die Vorstellung, beobachtet worden zu sein, unangenehm. Gierke begrüßte ihn mit Handschlag, Leonhard spürte das leichte Zittern in der feuchten, schlaffen Hand seines Gegenübers. Die Unruhe und die Nervosität des Mannes übertrugen sich auf ihn. Wortkaskaden stürzten in einem abgehackten staccato auf ihn ein, von denen nur ein Bruchteil in sein Bewusstsein vordrang. Gierke eilte seinen eigenen Worten mit gehetzten Blicken hinter her… geht jetzt alles klar… nicht meine Schuld… mit der Bank alles geregelt… Missverständnis… Verzögerung der Überweisung… nichts für Ungut… 7
Mit seinen fahrigen Gesten wirkte Gierke wie ein überforderter Kapellmeister, der sich bemühte, Herr über den Missklang seiner Worte zu werden. Leonhard verabschiedete sich schnell – „dann ist ja alles bestens“ – stieg in seinen schwarzen Volvo-Kombi und fuhr los. Bevor er den Betriebshof verlassen konnte, musste er am Tor anhalten, um einem Krankenwagen mit Blaulicht die Vorfahrt zu gewähren. Die Sirene war abgeschaltet. Er blickte kurz in den Rückspiegel. Gierke war verschwunden, der Betriebshof verwaist, nur ein zurückgelassener roter Plastikball lag am verrosteten Zaun in den vertrockneten Blättern der großen Eiche. Ein warmer Windstoß ließ das Laub auffliegen und kehrte es raschelnd über den Hof. Es war ein heißer Sommer gewesen. In den vergangenen Wochen hatte es kaum geregnet und die Bäume warfen ihr verdorrtes Grün ab. Der Ball gehörte der Tochter von Frau Mittnacht, der Sekretärin, die gelegentlich die Kleine in den Ferien mit ins Büro brachte. Auf einmal war es still um ihn und in die Lautlosigkeit mischten sich Geräusche der Vergangenheit. Kindergeschrei, Lachen. Er spielte mit dem Nachbarsjungen Fußball auf dem Hof, obwohl die Mutter es ihnen verboten hatte. Die Mülltonnen dienten als Tore. Damals war der Boden noch nicht asphaltiert, sondern uneben durch das marode Kopfsteinpflaster. Es stand unentschieden, er wollte unbedingt gewinnen, stürmte vor, trat mit voller Wucht zu. Der Ball ging ins Tor, sprang auf einen der hervorstehenden Steine und wurde in das Küchenfenster ihrer Wohnung im ersten Stock katapultiert. Die Scheibe explodierte mit einem lauten Knall und die umher fliegenden Splitter verletzten seine Mutter, die gerade am Küchentisch Kartoffeln schälte, am Arm. „Warte nur bis Dein Vater nach Hause kommt!“, hörte er sie drohen. Er rannte ihr zu Hilfe, doch sie schickte ihn weg. Warum war sie so ablehnend? Als der Vater von der Arbeit kam, setzte er sich hungrig an den Mittagstisch und fand alles halb so schlimm. „Die trainieren für Bern“, sagte er, häufte sich den Teller voll und begann zu essen. Die Mutter stand auf und verschwand wortlos. Sie legte sich drei Tage ins Bett, ohne ein Wort mit jemandem zu sprechen. Danach verließ sie wieder ihre Klausur. Alles schien gut zu sein, wie immer. Ob sie damals weinte, in ihrer selbst gewählten Ein8
samkeit? Er war ihr einziges Kind, lang ersehnt, das einzige, das überlebt hatte. Sie liebte ihn über alles, nur in den Zeiten ihres inneren Rückzugs, wenn sie sich unverstanden fühlte, war sie unerreichbar für ihn und den Vater. Gierke stand hinter den Jalousien des Bürofensters und beobachtete Leonhard, der immer noch in der Einfahrt stand. Er mochte ihn nicht. Auch wenn er nicht viel sagte, fühlte er sich in seiner Gegenwart wie ein kleiner Angestellter vor der Kündigung. Warum fuhr er nicht endlich los? Der Krankenwagen war doch längst vorbeigefahren, die Straße war frei. Ob seine Erklärungen mit der Bank ihn nicht überzeugt hatten? Endlich gab er Gas. Gierke war erleichtert. Leonhard lenkte den Blick wieder in die Gegenwart. Eigentlich konnte er stolz auf sich sein: in den vergangenen fünfundvierzig Jahren hatte er aus dem kleinen Handwerksbetrieb seines Vaters eine florierende Firma gemacht. Seine Erfolge waren sichtbar, hatten sich materialisiert. Schon zu Lebzeiten hatte man eine Straße nach ihm benannt. Das Wichtigste aber war für ihn, sich nicht mehr sorgen zu müssen. Der Lebensabend lag vor ihm. Wenn er starb, hinterließ er seiner Frau und seinen beiden Kindern ein schönes Haus mit Blick in das Rheintal, zudem ein ansehnliches Vermögen, das ihre Zukunft sicherte. Auch diverse Nachrufe im Generalanzeiger waren ihm sicher – ein Gedanke, der ihn schmunzeln ließ. Hätte er sich seinen Jugendtraum erfüllt und Philosophie studiert, wäre ihm diese posthume Anerkennung sicherlich verwehrt geblieben. Betrachtete er sein Leben so, hatte er zweifelsohne die richtigen Entscheidungen getroffen. Leonhard beschleunigte und sank in den Ledersitz seines Volvos zurück. Ingrid saß auf der Terrasse und nahm einen Schluck San Pellegrino. Sie trank nur diese Sorte, gerne im Sommer auch mit einem Spritzer Zitrone. Die Säure erfrischte sie, und sie genoss, wie der Speichel in ihrem Mund zusammenfloss. Der Lokalteil der Zeitung lag aufgeschlagen auf dem Teakholztisch. Mit prüfendem Blick betrachtete sie Leonhards Bild. Er war gut getroffen: Groß und stattlich, sein grau meliertes, gewelltes Haar war oberhalb der Schläfen ausgedünnt, das gab ihm etwas Würdevolles. Die getönte Brille schirmte seine überhängenden Augenlider vorteilhaft ab. Er 9
hatte etwas zu große Ohren, sicherlich, aber sie fanden in der langen und breiten Nase eine Entsprechung. Zwei tiefe Falten hatten sich rechts und links von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln gegraben. Sie meinte, Ansätze von Schwermut darin zu erkennen, doch sie wischte den Gedanken weg. Nein, es war die Last der Verantwortung, die sich in seinem Gesicht widerspiegelte. Stolz las sie den Artikel, der sie in ihrer Meinung bestärkte:
Ehrenbürgerschaft für Leonhard Zepp Im 68. Lebensjahr schied der verdiente Geschäftsmann auf eigenen Wunsch aus dem Stadtrat aus und machte Platz für einen Jüngeren. Ein Jahrzehnt lang schenkten die Bürger dem verdienten Mitglied der CDU-Fraktion das Vertrauen. In Anbetracht seiner großen Verdienste um seine Heimatstadt Godesberg wurde ihm der Ehrenring der Stadt verliehen. Im Stadtrat hatte sein Wort Gewicht, man schätzte sein bedachtes Abwägen verschiedener Argumente und sein objektives Urteilsvermögen, das stets der Sachlichkeit in der Auseinandersetzung verpflichtet war, sagte Bürgermeister Harald Schmitz in seiner Laudatio.
Leonhard fuhr den Wagen auf die Auffahrt. Ingrid hörte das knirschende Geräusch der Autoreifen auf dem feinen Kies, dann das sonore Zuschlagen der schweren Wagentür. Sie schaute auf die Uhr, es war bereits halb eins – er war eine halbe Stunde zu spät. Das Haus der Familie Zepp war ein Unikat, ein architektonisches Juwel. Manche Spaziergänger blieben bei Sonnenschein geblendet vor dem Kubus stehen und bewunderten Proportion und Ebenmaß der weißen Fassade vor dem stahlblauen Himmel. Auf der Rückseite, geschützt vor neugierigen Blicken, befanden sich zwei weitere Gebäude auf unterschiedlichen, in die steile Hanglage getriebenen Ebenen, die als Wohn- und Schlaftrakt dienten. Aus großer Entfernung, vom Rheintal aus betrachtet, stellte sich der Eindruck von Schwerelosigkeit ein: Drei über dem Abgrund schwebende weiße Würfel. 10
Vor dem Eingang, der Straße zugewandt, standen vier vereinzelte Trauerzypressen in gleichmäßigem Abstand nebeneinander. Sie warfen um die Mittagszeit, wenn die Sonne im Zenit stand, scharfe Schattenrisse auf das makellose Weiß der Hauswand. Leonhard fügte sich perfekt in den streng symmetrischen Anblick der Eingangsfront, deren Spiegelachse er bildete, als er den Schlüssel im Sicherheitsschloss umdrehte. Der Architekt schien nichts dem Zufall überlassen zu haben. Leonhard betrat die wohltuend kühle Eingangshalle. Die schmalen, hohen Fenster waren mit Jalousien abgedunkelt, durch die vereinzelte Lichtstrahlen in das Halbdunkel fielen. Wie immer streifte er sorgfältig seine Schuhe auf der im schwarzen Granit eingelassenen Fußmatte ab, um keine Staubspuren auf dem glänzenden Schwarz zu hinterlassen und legte seinen Schlüsselbund in die dafür vorgesehene Schale auf dem Sideboard. Zügig ging er die weitläufige Treppe in den mittleren Kubus hinunter. Seine Schritte hallten im gleichmäßigen Rhythmus durch den Raum. Diesmal kam er nicht aus dem Tritt wie vorhin. Wer zum ersten Mal vom Entrée auf den oberen Treppenabsatz trat, war beeindruckt von der Aussicht, die sich ihm bot: Der Blick fiel durch hohe Panoramafenster, die im Boden versanken, in das Rheintal. Auf dem Weg in die unteren Räumlichkeiten musste sich der Besucher – immer noch fasziniert von der überwältigenden Fernsicht – darauf konzentrieren, nicht eine Stufe zu verfehlen, wie es einige Male geschehen war, bei Einladungen, die Ingrid und Leonhard gerne für ihre langjährigen Kunden oder Freunde aus dem Stadtrat gaben. Ernsthafte Verletzungen gab es nie, zum Glück. Der Gast sah sich, nachdem er wohlbehalten unten angekommen war, von Großzügigkeit umgeben: Wohn- und Essbereich gingen fließend ineinander über, an den hohen Wänden hingen wenige, aber ausgewählte Werke zeitgenössischer Kunst, unter anderem ein großformatiger Baselitz, ein Alterswerk des Meisters. Es zeigte einen bizarr grinsenden Greis, seinem Maler-Schöpfer nicht unähnlich, der in einer Mischung aus infantilem Trotz und männlichem Größenwahn Sperma aus einem Riesenphallus in Richtung des Betrachters schleuderte. Trotz aller Provokation, die mancher Betrachter beim Anblick empfand, ging eine Melancholie von dem Alten aus, die Leonhard vom ersten Moment an berührte hatte – der alte Mann war allein. 11
So hatte auch er sich gefühlt, als er in den Ausstellungsräumen der renommierten Salzburger Galerie am Mirabellgarten umherlief und das Bild entdeckte. Der Blick des Greises traf ihn, forderte ihn heraus. Er versuchte ihm standzuhalten, wollte sich mit ihm messen, ihn besiegen. Als er unterlag, kaufte er das Bild. Im vergangenen Sommer war er ohne Ingrid ein paar Tage zu den Festspielen gefahren. Sie erlaubten es sich schon lange nicht mehr, gemeinsam in den Urlaub zu fahren, denn sie waren der Meinung, dass einer von ihnen als Ansprechpartner für Großkunden zur Verfügung stehen müsste. Ingrid fühlte sich brüskiert, als das Bild einige Wochen später angeliefert wurde. Sie fand es obszön und abstoßend. Auch einige ihrer kunstinteressierten Tennispartnerinnen waren irritiert, das spürte sie, dennoch lächelten sie höflich und sagten: „Das ist die Freiheit der Kunst“. Nur eine der Damen, die im Match immer gegen Ingrid verlor, meinte mit gespitztem Mund, der Maler habe sich wohl selbst portraitiert und ganz offensichtlich ein Problem mit dem Alter, aber vor allem mit Frauen. Ingrid empfand diese Kritik wie einen persönlichen Angriff und ließ das Bild sofort abhängen. Sie konnte erst ihren Frieden mit dem lüsternen Greis schließen, als ihr von einem bekannten Kunsthistoriker zum Erwerb dieses außergewöhnlichen Alterswerkes gratuliert wurde. Nach kurzer Bedenkzeit stimmte sie zu, es wieder an zentraler Stelle aufzuhängen und im Laufe des Jahres hatte sie es schätzen gelernt. Der Greis fing an, ihr zu gefallen. Ab und zu zwinkerte sie ihm sogar zu, wenn niemand sie beobachtete. Leonhards einflussreiche Freunde hielten sich gerne in dieser Kulisse moderner Großbürgerlichkeit auf. Die Szenenabfolge der Einladungen wiederholte sich immer aufs Gleiche und bekam dadurch etwas von einem Ritual, das es allen Beteiligten leicht machte, sich in ihrer Rolle sicher zu fühlen. Nach dem Aperitif führte Ingrid die Damen hinaus in den Garten, wo man die jahreszeitlich aufeinander abgestimmte Blütenpracht bewunderte. Die Herren blieben zurück und erlaubten sich einige deftige Scherze über den Alten an der Wand, das lockerte die Atmosphäre. Darauf folgte ein mehrgängiges Abendessen – Ingrid war eine ausgezeichnete Köchin – mit ausgesuchtem französischen Rotwein. Man speiste am imposanten Refektoriumstisch. Die Gespräche kreisten gewöhnlich um das Versagen der linken Opposition im Stadtrat, gewonnene Tennisturniere, verringerte Handicaps, begabte Kin12