HICEN Module 4 German 12 pt

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Modul 4 - Familie und psycho-pädagogische Unterstützung Autor: Guido Lichtert Kapitel 1 - Der Augenblick der Diagnose

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel Babies verbergen ihr Defizit Babies müssen bekennen Minimaler und einseitiger Hörverlust zeigen sich • Familien gehen unterschiedlich mit der Diagnose um • Die virtuelle Anwesenheit ist real • Die Diagnose als Wendepunkt im Leben Kontrollfragen

Kapitel 2 - Interaktion zwischen Kind und Bezugsperson

Ein Meinungswechsel Eine Doppelrolle spielen Angst und Unsicherheit machen Bezugspersonen beherrschend • Muttersprache kann man nicht beibringen • Kommunikatives Ungleichgewicht • Mahnung zur Vorsicht Kontrollfragen

Kapitel 3 - Wie kann man Eltern und Bezugspersonen unterstützen?

Direkte und indirekte Stimulation Von der Theorie zur Praxis Je später die Diagnose desto spezifischer die Erziehungsbedürfnisse • Elternunterstützung als „Empowerment“ (aktive Einbeziehung) der Eltern • Hilfreiche Strategien für das „Empowerment“ der Eltern • Hausbesuche • Videoanalysen • Elterngruppen • Externe Unterstützung für Tagesbetreuungseinrichtungen Kontrollfragen

Referenzen

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Empfohlene Literatur


Kapitel 1 - Der Augenblick der Diagnose Lernziele

• Wenn Eltern die Neuigkeit unterbreitet wird, dass ihr Kind ein erhebliches Hörproblem hat, reagieren sie oft ungläubig. Die Diagnose einer hochgradigen Hörschädigung kommt schließlich noch unerwarteter. Minimaler und einseitiger Hörverlust wird heute viel häufiger frühzeitig entdeckt als vor der Einführung des Neugeborenen-Hörscreening. Die Reaktionen auf die Diagnose können sehr unterschiedlich ausfallen. •

Dieses Kapitel wird helfen zu verstehen, warum der Augenblick der Diagnose – und die Art wie diese Situation (d.h. ein Kind mit Hörverlust zu haben) erlebt wird – sich dramatisch verändert hat, seit das Neugeborenen-Hörscreening eine frühe Diagnose ermöglicht hat. Es ist wichtig zu verstehen, dass es psychologisch genau so schwierig sein kann, mit minimalem oder einseitigem Hörverlust umzugehen wie mit einem hochgradigeren Hörverlust.

1.1 Wie ein Blitz aus heiterem Himmel Wenn Menschen plötzlich etwas verlieren, das ihnen emotional äußerst wertvoll ist, werden bestimmte psychologische Mechanismen ausgelöst, damit sie mit dieser Situation umgehen können. Wenn wir mit dem unerwarteten Verlust eines geliebten Menschen konfrontiert werden oder mit der Diagnose einer unheilbaren Krankheit, sind Verleugnung abwechselnd mit Trauer, Wut und Hadern ganz normale Reaktionen, mit denen wir versuchen, für die neue emotionale Situation einen Platz in unserem Leben zu finden. Dies ist also der Fall, wenn Eltern aus heiterem Himmel erfahren, dass ihr so perfekt aussehendes Baby taub zu sein scheint. Nun da das Neugeborenen-Hörscreening eingeführt worden ist (vgl. Modul 1), wird die Diagnose eines Hörverlustes viel früher gestellt als noch in jüngster Vergangenheit. Es ist nun nur eine Sache von Wochen oder sogar Tagen nach der Geburt und nicht mehr von Monaten oder Jahren. Viel öfter als je zuvor kommt die Diagnose von Taubheit wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Wieso ist sie so unerwartet, wenn sie kommt? Dafür gibt es viele Gründe. Erstens ist die Taubheit an sich eine „unsichtbare“ Behinderung. Zweitens ist den meisten hörenden Eltern diese Art von Behinderung ganz und gar nicht vertraut; ungefähr neunzig Prozent der tauben Kinder haben zwei normalhörende Elternteile. Drittens werden das Neugeborenen-Hörscreening und die Früherkennung in einem so frühen Entwicklungsstadium des Babies durchgeführt, dass die Eltern kaum die Zeit haben selbst herauszufinden, dass mit dem Gehör ihres Babies etwas nicht stimmen könnte. Meistens wird die Taubheit nicht von anderen offensichtlichen Behinderungen begleitet. Sie bleibt verborgen vor den Augen der Kindsmutter und des Kindsvaters – und so auch vor der ganzen Familie, die von seiner Geburt an das Baby ganz genau auf alles hin überwachen, was mit ihm nicht stimmen könnte, sei das auch noch so klein. Sogar wenn die Hörbehinderung Teil eines Syndroms ist oder durch nachgeburtliche Meningitis ausgelöst wurde, bleibt die Behinderung selbst als physische Behinderung „unsichtbar“. 1.2 Babies verbergen ihr Defizit Zudem werden Eltern, die versuchen herauszufinden, wie ihr Baby auf Geräusche reagiert, oft durch das Kind selbst “irregeführt”. Wenn die Geräuschquelle, die dem Baby “präsentiert” wird, ausreichend durch niederfrequenten Nachhall erzeugten zurückgeworfenen Schall enthält, ist es möglich, dass das Kind auf diesen Nachhall


reagiert, obwohl es taub ist. Dies ist oft der Fall, wenn jemand in die Hände klatscht oder auf ein Pult oder einen Tisch klopft. Das Kind kann die Schwingungen spüren, die von dem Möbelstück ausgehen oder es fühlt den Luftzug, der durch das Klatschen generiert wurde. Es ist auch möglich, dass das Baby die Bewegungen der Hände gesehen, den Schall dagegen aber gar nicht gehört hat. Reaktion auf Schall ist sogar noch komplexer als die bestehende Literatur nahelegt. Es ist möglich, dass ein Baby auf ein spezifisches Geräusch reagiert – sogar auf gesprochene Sprache sehr nahe bei seinen Ohren– aber keine ausreichend fein abgestimmten akustischen Informationen erhält, um zwischen diesen Geräuschen unterscheiden zu können. So kann der Erwachsene richtigerweise den Eindruck bekommen, das Kind könne hören, dies aber ohne zu wissen, dass es nicht genügend Informationen erhält, um verstehen lernen zu können. Dies kann den Eltern den Eindruck geben, das Kind reagiere angemessen auf Geräusche, oder worauf sie denken, dass es reagieren sollte. In Wirklichkeit aber könnte das Kind auf ganz andere Hinweise reagieren als die Eltern annehmen. Wenn ein Kind auf verschiedene Geräusche reagiert, bedeutet das nicht, dass es auch fähig ist, zwischen diesen Geräuschen zu entscheiden. Mittelgradiger Hörverlust kann ausreichen, um diese Möglichkeiten einzuschränken. Und – etwas, das dazu dient, uns noch mehr zu verwirren – auch taube Babies produzieren von Anfang an Töne und beteiligen sich an gegenseitigen Proto-Dialogen mit ihren Bezugspersonen, sogar wenn sie die Geräusche, die sie selber produzieren, nicht hören können. 1.3 Babies müssen bekennen Wenn aber ein Kind hochgradig schwerhörig ist, kann es sein Umfeld nicht endlos “irreführen”. In der Vergangenheit, bevor das Neugeborenen-Hörscreening eingeführt wurde, entdeckten die Mütter nach einigen Monaten, dass mit dem Hörvermögen ihres Kindes etwas nicht stimmte. Oft bemerkten sie durch Zufall, dass das Kind nicht reagierte oder nicht aufwachte, wenn es einem lauten, unerwarteten Geräusch ausgesetzt war. Diese Mütter berichten im Allgemeinen, dass sie sich mit ihren Besorgnis “allein gelassen”, wenn sowohl Familienmitglieder als auch Ärzte ihre Bedenken als unangebracht und übertrieben ansahen. Die Diagnose einer hochgradigen Schwerhörigkeit, die schließlich oft nach mehr als ein bis zwei Jahren gestellt wurde, war die Bestätigung dessen, was Mütter (und manchmal Väter) schon gewusst hatten, lange bevor die Behinderung offiziell bestätigt wurde, deren Befürchtungen aber selten ernst genommen worden waren. Es ist nicht schwierig sich vorzustellen, dass diese Situation bei der Mutter eine große Wut auslöste, weil man ihr so lange Zeit nicht geglaubt hatte, und weil so viel Zeit verloren gegangen war. Heutzutage sieht das Bild ganz anders aus. Die unerwartete frühe Diagnose wird die Eltern dazu bringen, in anderer Weise mit den schlechten Neuigkeiten umzugehen, die sie im Spital oder Audiologie- Zentrum erhalten. 1.4 Minimaler und einseitiger Hörverlust zeigen sich Die Möglichkeiten zur frühen Diagnose bedeuten nun, dass nicht nur hochgradige Schwerhörigkeit in frühester Kindheit entdeckt wird, sondern auch mittelgradige oder sogar einseitige Schwerhörigkeit. Ein einseitiger Hörverlust ist eine substantielle Hörbehinderung in einem Ohr. In jüngster Vergangenheit wurden nur schwere und hochgradige Schwerhörigkeit relativ früh (d.h. bis zum Alter von 1-1.5 Jahren) diagnostiziert. Mittelgradige und leichte Schwerhörigkeit wurden tendenziell erst viel später entdeckt, und einseitige Schwerhörigkeit wurde oft erst im Erwachsenenalter diagnostiziert, falls überhaupt. Diese neue Situation bedeutet, dass die Art, wie die Eltern auf die frühe Diagnose reagieren und mit ihr umgehen, sich im Vergleich zur Vergangenheit ebenfalls verändert hat. Während früher die medizinische Bestätigung eines substantiellen Hörverlustes oftmals eine Art Erleichterung brachte – den Beginn eines deutlich vorgezeichneten Leidenswegs – scheinen die psychologischen Reaktionen heutzutage


komplexer zu sein, abhängig von Grad und Art des Hörverlustes des Babies. Mütter von Kindern mit leichtem bis mittelgradigem oder mit einseitigem Hörverlust können mit der Diagnose oft schlechter umgehen als Mütter, deren Kinder unter einem hochgradigeren Hörverlust2,4,18 leiden. Obwohl die Angehörigen letzterer Gruppe zweifellos sehr bestürzt und traurig über die Diagnose sind, sind sie doch dankbar, dass die Diagnose zu einem frühen Zeitpunkt in der kindlichen Entwicklung gestellt wurde. Dies gibt ihnen das Gefühl, keine Zeit verschwendet zu haben, etwas bewegen zu können und von Anfang an ihr Bestes zu geben. Es ist nicht schwierig zu verstehen, dass diese Reaktionen je nach Grad des Hörverlustes unterschiedlich ausfallen. Im Falle eines leichten oder einseitigen Hörverlustes, wo keine weitere Unterstützung angeboten wird, empfinden die Eltern das Hörscreening und den frühen Diagnoseprozess als aufdringlich und als Eindringen in eine “geheiligte” und glückliche Zeit, die Eltern und Kind in ungestörter Beziehung zusammen verbringen sollten. Dennoch ist es für Eltern von Kindern, bei denen eine mittel- oder hochgradige Hörschädigung diagnostiziert wurde und die die notwendige Unterstützung in Form von frühzeitiger Nutzung von Hörgeräten und Frühförderung erhalten, oft schwierig, mit dieser Unterstützung umzugehen. Man kann davon ausgehen, dass Eltern, Großeltern und alle Verwandten, die in näherer Beziehung zur Familie stehen, das Kind konstant “testen” werden. Wie bereits oben beschrieben wurde, können Kinder in zweideutiger und nicht konstanter Weise auf Geräusche reagieren. Nicht nur Eltern, sondern auch professionelle Betreuer können bei Kindern in diesem Alter nicht immer den Unterschied zwischen der Fähigkeit Geräusche wahrzunehmen und zwischen verschiedenen Geräuschen zu unterscheiden erkennen, Bei ganz kleinen Kindern nehmen die Eltern eher die Nachteile von Hörgeraten als deren Vorteile wahr. Diese Hörhilfen mit ihren schrillen Tönen, sind der einzige offensichtliche Hinweis für die Umgebung der Kinder, dass mit dem Baby etwas nicht in Ordnung sein könnte. Die Eltern müssen hoch motiviert und emotional stark sein, um mit diesen Situationen umzugehen. Sie werden wahrscheinlich weniger Lust zu einem gesunden Spaziergang an der frischen Luft mit ihrem Kind haben, wenn seine Hörgeräte konstant pfeifen und sie sich mit den Reaktionen von Nachbarn und Freunden auseinandersetzen müssen, deren Lächeln von einem Ausdruck der Überraschung oder des Schocks abgelöst wird, sobald sie sich das Baby im Kinderwagen ansehen. Es erscheint paradox, aber je geringer der Hörverlust des Kindes ist, desto schwieriger scheint es zu sein, ihn zu akzeptieren und desto fachkundiger und routinierter sollte die frühzeitige Beratung sein, um angemessene Unterstützung zu bieten. Wenn ein Baby hochgradig schwerhörig ist, ist es weniger schwierig für die Eltern Hilfe zu akzeptieren, da sie sich sehr schnell bewusst werden, dass ihr Baby ohne ein starkes Hörgerät oder Cochlea Implantat (CI) nicht hören kann. Dagegen sagen Eltern in Fällen von leichtem oder mittelgradigem Hörverlust, wo der Nutzen der Hörhilfe nicht so offensichtlich ist, dass es besser gewesen wäre, wenn sie die Diagnose nicht so früh erhalten hätten. Sie wünschten, sie hätten eine längere “unbeschwerte Zeit” mit ihrem Kind verbringen können. 1.5 Familien gehen unterschiedlich mit der Diagnose um Obwohl Eltern von Kindern mit schwerem oder hochgradigem Hörverlust Zufriedenheit mit der frühen Diagnose bekunden, kommt die Diagnose selbst völlig unerwartet. Es bleiben Hunderte unbeantworteter Fragen, weil die Eltern von Kindern mit Hörverlust normalerweise innerhalb der Familie keinerlei Erfahrung im Umgang mit dieser Art von Behinderung haben. Diese Eltern sind oft voller Kummer, wenn sie daran denken, was ihr Kind verloren hat und was es niemals haben wird. Eltern brauchen Zeit um sich mit diesen Gefühlen auseinander zu setzen. Sie brauchen Zeit, um auf ihre eigene Art mit dem Verlust, den sie erlitten haben, zurechtzukommen. Sie brauchen ihren eigenen “Rhythmus” in ihrer Trauer, um ihre Wut auszudrücken, sich mit den Tatsachen abzufinden und dieser Erfahrung einen Platz in ihrem Leben einzuräumen.


Es ist verständlich, dass die Reaktion auf die frühe Diagnose von Hörverlust von Familie zu Familie verschieden sein kann, und es spielen eine Menge Variablen eine Rolle. Stabile Familien mit einem guten sozialen und familiären Netzwerk werden in anderer Weise reagieren und sich damit auseinandersetzen als alleinerziehende Eltern, die nicht viel Unterstützung haben. Manchmal zeigen Großfamilien aus niedrigeren sozialen Schichten mehr Unterstützung in der neuen Situation als Eltern mit einer hohen Ausbildung. Wie bereits erwähnt, können sowohl der Grad als auch die Ursache des Hörverlustes verschiedene Reaktionen auslösen. Es ist auch bekannt, dass die Art, wie Leute auf eine Behinderung reagieren, mit dem kulturellen Hintergrund zusammenhängt. Christliche, jüdische und islamische Kulturen haben eine unterschiedliche Auffassung von Behinderung, Invalidität und Leiden. Es ist allerdings gefährlich in Stereotypen zu denken. Unsere Erfahrung zeigt, dass sogar innerhalb einzelner Kulturen jede Familie und sogar die einzelnen Familienmitglieder unterschiedliche Ansichten und Gefühle haben. 1.6 Die virtuelle Anwesenheit ist real Dies bedeutet, dass die Basis für gute Anleitung der Eltern immer auch die sorgfältige Anhörung jedes einzelnen Familienmitgliedes beinhalten muss, und nicht einfach eine universelle Standard-Anleitung als Programm zur Anwendung kommen darf. Die Realität lehrt uns, dass auch heute noch ein großer Teil der Anweisungen für zuhause hauptsächlich in Zusammenarbeit mit der Mutter erarbeitet wird. Dies bedeutet aber nicht, dass Vater, Großeltern oder andere Kinder nicht miteinbezogen werden sollten. Im Gespräch mit der Mutter können wir sie fragen, wie ihr Mann ihrer Meinung nach mit der Diagnose des Kindes umgeht oder wie die Großeltern darauf reagieren. Die “virtuelle Anwesenheit” eines Familienmitgliedes kann manchmal eine größere Auswirkung haben als eine reale Präsenz. Eine Anzahl schwieriger Gespräche mit einer Mutter, die ein CI für ihr Kind verweigerte, kann dies veranschaulichen. Nach zahlreichen Gesprächen, und ohne die Möglichkeit, mit dem Vater Kontakt aufzunehmen, erklärte die Mutter endlich, dass ihr Mann sehr viel Angst vor jeglichen chirurgischen Eingriffen an seinem Kind habe. Sie sagte, sein Bruder sei während einer Operation verstorben, als ihr Mann vier Jahre alt gewesen sei und dass er deshalb gegen jede Operation sei, auch wenn sie seinem Kind helfen würde zu hören. 1.7 Die Diagnose als Wendepunkt im Leben Um auf unser ursprüngliches Thema zurückzukommen, eine Sache ist gewiss: Frühe Diagnose von Hörverlust verändert die Art, wie die Eltern ihr Kind wahrnehmen. Der Zeitpunkt der Diagnose ist effektiv ein “vorher-nachher Moment” im Leben von Kind und Familie. Die Diagnose markiert einen Wendepunkt, und im Falle von Taubheit, bedeutet dies oft das Ende der bestehenden, relativ sorgenfreien Situation. Sie verändert für immer die Art, wie die Eltern ihr Kind wahrnehmen und meist auch die Weise, wie sie mit ihrem Kind umgehen. Dieser Moment verändert auch die gesamte Organisation des Familienlebens. Abhängig vom Ausmaß des Hörverlustes werden die Eltern von diesem Zeitpunkt an in mehr oder weniger konstantem Kontakt zu Ärzten, Audiologen, Therapeuten und Elternberatern stehen, und durch Teilnahme an Elterngruppen oder –organisationen vermutlich auch mit anderen Eltern hörbehinderter Kinder. Sie werden andere Websites als früher besuchen, andere Bücher lesen, und in den frühen Stadien – alles in ihrem sozialen Umfeld registrieren, das mit Hörverlust zu tun hat. Von nun an werden sie jeden Erwachsenen und jedes Kind mit Hörgerät in ihrer Umgebung erspähen. Sie werden sie in Zeitschriften und im Fernsehen bemerken. Sie werden zurückkommen auf die Auffassung von Taubheit, die sie in ihrer Jugend hatten. Alles ist überwältigend, und sie können sich nicht versöhnen mit ihrem eigenen Baby und ihrem eigenen Leben. Es ist nicht schwierig zu verstehen, dass professionelle Hilfe sehr nützlich sein kann, um Eltern zu helfen, alle diese Eindrücke zu


verarbeiten und ihnen den richtigen Platz in ihrem Leben zu geben. Kontrollfragen 1. Babies mit Hörverlust führen Erwachsene hinsichtlich ihrer Hörfähigkeit oft in die Irre, weil: o sie schon früh zwischen Sprache und Geräuschen unterscheiden können; o

sie lediglich auf Nachhall reagieren könnten;

o

sie auf einen Neugeborenen-Screening Test ansprechen

o

sie in frühem Alter weniger „vokalisieren“ als hörende Kinder.

2. Nach dem Neugeborenen-Hörscreening kommen Eltern von Kindern mit hochgradigem Hörverlust psychologisch oft besser mit der Behinderung ihres Kindes zu Recht als Eltern mit Kindern mit einer leichterem Hörverlust, weil: o sie weniger wütend darüber sind, dass sie nicht Ernst genommen wurden; o sie offensichtlicheren Nutzen durch das frühe Einschreiten verspüren; o o

die Diagnose sofort auf das Screening folgt. sie emotional belastbarer sind.

Richtige Antworten: q3'ɐ2'q1 Zum Inhalt


Kapitel 2 - Interaktion zwischen Kind und Bezugsperson Lernziele Wenn die Sprachentwicklung bei einem Kind nicht wie erwartet verläuft, pflegen Eltern und andere Bezugspersonen oft einen kontrollierenden – im Gegensatz zu einem unterstützenden – kommunikativen Interaktionsstil. • In diesem Kapitel werden die Leser lernen, zwischen diesen beiden Interaktionsstilen zu unterscheiden. • Sie werden verstehen, weshalb Eltern oder andere Bezugspersonen mit einem hör- oder sprachbehinderten Kind oft zu einem befehlenden und kontrollierenden (eher als einem unterstützendem) linguistischen Verhalten tendieren. • Sie werden lernen, warum ein unterstützender Stil besser funktioniert als ein kontrollierender. • Die Leser werden verstehen, was mit dem Konzept des “kommunikativen Ungleichgewichtes“ in Bezug auf Hörbehinderung gemeint ist. •

Sie werden sehen, warum die Auswirkungen dieses Ungleichgewichtes im Bereich des Neugeborenen Hörscreening und adäquater Frühförderung dramatisch sein können.

2.1 Ein Meinungswechsel Eltern fühlen sich am wohlsten beim Neugeborenen Hörscreening, wenn schnelle Folgemaßnahmen in Form von guter medizinischer und audiologischer Betreuung geboten werden.4,18 Dies bedeutet nicht, dass die frühe, unerwartete Diagnose von Taubheit und deren vorgeschlagene frühe Behandlung nicht trotzdem sehr überwältigend sein wird, wie wir gesehen haben. In der Vergangenheit beschrieben viele Forschungsberichte, wie die Diagnose von Taubheit den natürlichen kommunikativen Interaktionsstil zwischen Müttern und deren Kindern veränderte. Diese eher empirischen Studienergebnisse sind in eher autobiographischen Büchern oftmals gut illustriert und in einer erzählenden Art und Weise beschrieben. Mrs Robinson zum Beispiel, die Mutter der beiden tauben Töchter Sarah und Joanne, beschrieb in ihrem Buch, wie sie ihre elterliche Intuition in der Kommunikation mit ihrer Tochter verlor, sobald sie hörte, dass sie taub war. Sie hatte das Gefühl, sich nicht länger auf die Sarahs Gefühle einstellen zu können und dass ein seltsames Leben hinter den Augen ihrer Tochter abliefe, das sie niemals würde verstehen können. 11 Diese Gedanken zeigen sehr gut auf, wie Taubheit zunächst ein Gefühl der Nähe, aber auch gleichzeitig ein Gefühl von Distanz zu Anderen hervorruft, ein Gefühl des Unvermögens und der Unfähigkeit zu gegenseitiger Interaktion. Helen Keller, die in sehr jungen Jahren taub und blind wurde, sagte Berichten zufolge, dass Blindheit uns von den Dingen um uns herum entfremde, während Taubheit uns von anderen Menschen entfremde. Es überrascht nicht, dass Eltern automatisch aufhören, mit ihren Kindern zu sprechen oder mit ihnen zu singen. Einerseits denken sie, dass es keinen Sinn mehr mache dies zu tun, und andererseits verlieren sie oft jeglichen Spaß an dieser Art von Interaktion mit ihrem Kind. Oft hören sie auf, zuhause Musik laufen zu lassen. Es ist, als ob sie sich schuldig fühlten, Dinge zu genießen, an denen ihr Kind nicht teilnehmen kann. Ein wichtiges Ziel früher Elternanleitung ist es, ihnen zu helfen, diese Freude wieder zurückzugewinnen und zu entdecken, dass ihr Kind die Dinge, die sie aufgegeben hatten, tatsächlich genießen kann. In jüngster Vergangenheit, als Rehabilitation noch nicht so


erfolgreich war, wie sie heute sein kann, war es noch nicht ganz so einfach, den Glauben an die Idee zu bewahren, dass das Resthörvermögen eines hochgradig schwerhörigen Kindes entwickelt werden kann. Obwohl es beispielsweise bekannt war, dass sogar hochgradig schwerhörige Kinder mit ernsthaften zusätzlichen Problemen es genossen Musik zu hören oder zu machen, beschrieben viele Fachleute diese Aktivitäten als eher unnütz oder sogar als Zeitverschwendung. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, was passieren kann, wenn wir die Verantwortung für die Erziehung eines behinderten Kindes übernehmen müssen. Es besteht immer die Gefahr, dass wir eine Menge Grenzen und Beschränkungen für das Kind errichten, die eher „intellektuell abgeleitet“ sind, als dass sie auf realen Beobachtungen des wirklichen kindlichen Verhaltens basieren. Eine Mutter erzählte uns mit Tränen in den Augen, wie schwierig es für sie gewesen sei, ein Telefon zu benutzen, nachdem sie die furchtbare Diagnose erhalten hätte, dass ihre Tochter taub sei. Sie konnte nicht aufhören daran zu denken, dass dies für ihr taubes Kind in seinem späteren Leben niemals möglich sein würde. Heute ist das Mädchen acht Jahre alt. Trotz ihrer Hörbehinderung übertrifft sie ihre Altersgenossen in der gesprochen Sprache und hat keine Probleme jemanden anzurufen. Auf der anderen Seite ist es auch möglich, dass wir Dinge fordern und für unser Kind gewisse Ziele im Auge haben, die es durch seine Behinderung niemals erreichen kann. Einige taube Erwachsene sind heute wütend auf normalhörende Menschen, sogar auf ihre eigenen hörenden Eltern, weil sie nicht genügend Zugang zur Gebärdensprache hatten und stattdessen dazu gedrängt wurden, Dinge zu lernen, die ihnen keinerlei Nutzen brachten. Der einzige Weg, die richtige Balance zu finden und die wahren Bedürfnisse des Kindes zu erkennen, ist zu lernen sensibel-responsiv zu werden. Dies bedeutet, dass wir lernen müssen, sehr genau auf die Entwicklungssignale zu achten, die das Kind aussendet und entsprechend auf sie zu reagieren. Dies ist von großer Wichtigkeit für die Sprachentwicklung tauber Kinder. Es gibt eine Menge Hinweise aus der Forschung, dass die Eltern eines behinderten Kinders in ihrem Interaktionsverhalten befehlender und kontrollierender werden und dass sie Schwierigkeiten haben, sich richtig auf die realen Bedürfnisse der Sprachentwicklung ihres Kindes einzustellen. Eltern entwickeln oft einen kontrollieren sprachlehrenden Stil statt eines unterstützenden sprachfördernden Stils. Sie nehmen im Sprachlernprozess eher die Rolle eines Lehrers an und sprechen zu ihrem Kind, anders als die Rolle einer Mutter, die intuitiv in einer angenehmen und entspannten Weise mit ihrem Kind12 spricht. Ein wichtiger Grund für dieses Verhalten ist die Befürchtung der Eltern, ihr Kind könnte niemals sprechen lernen. So möchten sie sozusagen oft sofort den „Output“ ihres „Inputs“ überprüfen, (also die Reaktion des Kindes darauf, was die Eltern sagen). Dieses Phänomen zeigt sich häufiger, wenn die Kinder bereits das Sprachalter erreicht haben, aber noch nicht sprechen. 2.2 Eine Doppelrolle spielen Es ist eine tiefgreifende Erkenntnis, dass Mütter von Kindern, die sich nach typischem Muster entwickeln, ihr Baby ganz von Anfang an viel eher als wirklichen Konversationspartner ansehen denn als Schüler, dem eine Sprache beigebracht werden muss. Wenn eine Mutter einen Proto-Dialog mit ihrem einige Monate alten Baby führt, stellt sie sich ein auf die Signale ihres Kindes. Sie wiederholt die gurrenden Laute ihres Babies und geht darauf ein. Ein sehr bedeutsamer Aspekt dessen, was als “Motherese” (‚Mutterisch‘) oder kindgerichtete Sprache 3 bezeichnet wurde, ist die Art, in welcher Mütter in der Unterhaltung mit ihren Babies oder Kleinkindern eine Doppelrolle 16 zu spielen scheinen. Wenn ein Baby eine Absicht durch Weinen oder andere Laute kommuniziert, übersetzt die Mutter diese Äußerungen automatisch in konventionelle Sprache. Wenn ihr


Baby weint, kann sie diese Laute interpretieren und übersetzen indem sie sagt: “Bist Du hungrig, mein Liebling? Sschhh, Mama ist sofort bei Dir.” Durch diese Äußerung versucht die Mutter nicht nur ihr Kind zu beruhigen; sie leistet ganz intuitiv und ohne es zu realisieren auch exzellente Arbeit, indem sie ihrem Kind hilft, Sprache zu erlernen. Zunächst übersetzt sie die Kommunikationsabsicht des Kindes in die konventionelle Sprache der Leute im Umfeld des Babies. Die Mutter kann Englisch, Flämisch, Deutsch, Spanisch oder irgendeine andere Sprache sprechen, die das Kind sprechen möchte, aber nicht kann. Sie sagt, “Bist Du hungrig?” und drückt damit genau die Wünsche des Kindes aus: das Kind will sagen „Ich habe Hunger.“ Es ist sehr wichtig, das zu verstehen. Die Mutter braucht ihrem Kind die Bedeutung der Worte “Ich habe Hunger” nicht beizubringen. Sie stellt dem Kind vielmehr die Worte für eine Bedeutung zur Verfügung, die es bereits kennt. Und dann, nachdem sie dem Kind zuerst die Worte, die es noch nicht sagen kann, zur Verfügung gestellt hat, gibt sie ihre eigene Antwort: “Schhh, Mama ist sofort bei Dir.” Es entspricht dem Mutterinstinkt, die Bedürfnisse des Kindes immer an erste Stelle zu setzen – und die Sprache macht hier keine Ausnahme. Sie wird zuerst ihr hungriges Baby füttern, bevor sie selbst etwas isst. So wird sie dem Kind zuerst die notwendige Sprache zur Verfügung stellen, bevor sie die entsprechende Antwort gibt. Unter diesem Aspekt sehen wir, dass eine Mutter eine reale Konversation aufbaut, indem sie gleichzeitig die Rolle der Sprecherin und der Zuhörerin annimmt. In dieser Doppelfunktion spielt sie einerseits die Rolle des Kindes als Urheber der Unterhaltung und andererseits ihre eigene als Zuhörerin in diesem Austausch, indem sie sowohl für das Kind spricht als auch die kommunikativen Äußerungen des Kindes beantwortet. Dieses wichtige Merkmal in der Mutter-Kind Konversation bleibt während der Sprachentwicklung des Kindes für lange Zeit bestehen – vermutlich so lange wie die sprachlichen Fähigkeiten des Kindes sich noch verbessern. Was im Zusammenhang mit diesem unterstützenden mütterlichen Sprachstil wichtig ist, ist dass Sprache selten „erzwungen“ wird. Mütter stellen das korrekte Sprachmodell zur Verfügung, ohne dass sie das Kind explizit zur Wiederholung anhalten. Und, wie durch ein Wunder, fangen die Kinder ab einem bestimmten Alter freiwillig und ohne Aufforderung an zu wiederholen, was die Eltern sagen – obwohl sie sich, wenn sie direkt dazu angehalten werden, oft weigern. Wie wir also sehen können, sind Kinder in dieser Beziehung nicht anders als Erwachsene. Es scheint, dass Menschen schon ganz von Anfang ihres Lebens an ihre Freiheit schätzen und es vorziehen, sich selber zu kontrollieren als kontrolliert zu werden oder zumindest die Illusion haben möchten, dies zu tun. 2.3 Angst und Unsicherheit machen Bezugspersonen beherrschend Forschungsarbeiten auf dem Gebiet des Interaktionsstils von hörenden Eltern mit ihren tauben und sprachbehinderten Kindern zeigen aber, dass diese oft in erster Linie das Sprachergebnis für ihre Kinder kontrollieren möchten. Die Art wie sie die Äußerungen ihres Kindes ausformulieren, steht nicht in Relation zum realen Potential und wachsenden Bedürfnis des Kindes Sprache zu verwenden. Nienhuys, Cross und Horsborough, Pioniere auf diesem Gebiet, fanden heraus, dass Mütter von tauben Kindern ab zwei Jahren diesen mehr Befehle gaben und ihnen weniger Fragen stellten, um das richtige Verständnis herauszulocken als dies hörende Mütter von hörenden Kindern in diesem Alter taten. Diese Autoren warnten allerdings, dass es gefährlich sei, den Interaktionsstil von hörenden Müttern tauber oder hörender Kinder zu vergleichen, indem man ausschließlich die chronologischen Altersstufen der Kinder aufeinander abstimmt. Es ist viel sinnvoller, das Sprachalter der tauben und hörenden Kinder aneinander anzupassen. Als sie dies taten, fanden diese Autoren heraus, dass viele (wenn auch nicht alle) Unterschiede zwischen den beiden Gruppen von Müttern verschwanden. Als sie zweijährige taube Kinder mit einjährigen hörenden Kindern verglichen, fanden die Autoren keinerlei Unterschiede in den Sprachstilen der normalhörenden Mütter. Als fünfjährige taube Kinder mit sprachlich auf


der gleichen Stufe stehenden zweijährigen hörenden Kindern verglichen wurden, zeigten sich jedoch wichtige Unterschiede. Ein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Gruppen war, dass Mütter von tauben Kindern viel weniger geneigt waren, die sprachlichen Äußerungen ihrer Kinder auszuformulieren als Mütter von hörenden Kindern. Die Mütter griffen die Sprache der Kinder nicht länger auf und führten sie nicht weiter aus, wie es Mütter instinktiv mit jüngeren Kindern tun, die nicht taub sind. Dies bedeutet, dass diese tauben Kinder in Bezug auf ihre Sprachentwicklung 10 nicht angemessen gefördert werden. Diese Studie ist insofern wichtig als sie andeutet, dass eine Art intuitive kindgerichtete Sprache existiert, sie aber nicht perfekt im Gleichgewicht ist. Es ist ein wichtiges Ziel des Frühförderungs-Angebotes, den Eltern zu helfen, das Gleichgewicht zwischen Über- und Unterstimulation zu finden und sich präzise auf den Entwicklungsstand ihres Kindes einzustellen. Verschiedene Forscher geben an, dass hörende Mütter einen äußerst kontrollierenden und manchmal aufdringlichen Interaktionsstil zeigen. Man kann oft sehen, dass die Eltern eines tauben Kindes in einer Spielsituation versuchen, das Thema der Unterhaltung zu bestimmen – viel mehr als dies Eltern von hörenden Kindern tun – und, in diesem Zusammenhang auch dazu tendieren, den Verlauf der Spielsituation vorzuschreiben. In Videoanalysen ist oft zu sehen, wie Eltern und ihre Kinder zusammen mit einem Spielzeug-Bauernhof spielen. Meistens fangen Kinder damit an auszukundschaften, wie sich die Türen der Farm öffnen und schließen lassen. Anstatt sich den Interessen des Kindes anzuschließen, fragen Eltern ihre Kinder oft umgehend nach den Namen der einzelnen Tiere. Sie fragen “Was ist das für ein Tier?” “Und was ist das für ein Tier?” anstatt abzuwarten, was das Kind zu ihnen sagen möchte, während es die Türen erforscht. Wood und seine Mitarbeiter beschreiben fünf Stufen sprachlicher Kontrolle. 17 Die höchste Kontrollstufe ist, die Kinder anzuhalten, ein Wort, das man sagt, exakt zu wiederholen: “Sag ‘Pferd’“. Dies ist die stärkste Form sprachlicher Kontrolle, weil die Mutter genau weiß, was das Kind sagen soll. Auf der zweiten Stufe muss das Kind zwischen zwei Worten, die ihm vom Erwachsenen präsentiert werden, aussuchen – war es schwarz oder grün, süß oder sauer, Mama oder Papa? Die dritte Stufe ist die Stufe der „W“-Fragen – der Fragen nach dem wo, warum, wer, wann und wie. Auf dieser Stufe ist der Erwachsene weniger kontrollierend, aber immer noch wird die Antwort des Kindes irgendwie in eine bestimmte Richtung gelenkt. Auf die Frage nach dem ‚wann‘ kann man unmöglich mit einem Ort antworten (wie wenn es eine Frage nach dem ‚wo‘ gewesen wäre). Auf der vierten Stufe, beteiligt der Erwachsene sich am Austausch, lässt das Kind aber frei bestimmen, in welche Richtung die Unterhaltung gehen soll. Auf der fünften Stufe, der Stufe der geringsten Kontrolle, tut der Erwachsene nichts anders als das Kind zu ermutigen, seine eigene Geschichte fortzuführen, indem er von Zeit zu Zeit einen Einwurf macht wie z.B. „ok“ oder „Hmm“. Das Problem ist, dass wenn Eltern die Stufe der höchsten sprachlichen Kontrolle verwenden und die Kinder fähig zu einer niedrigen Stufe wären, das Kurzzeitgedächtnis nicht ausreichend stimuliert wird, um sprachliche Information verarbeiten zu können. Die Kinder lernen auch nicht, ihre Ideen zu formulieren und ihre Gedanken in präzise Sprache zu fassen und so werden sie „nicht-reale“ Konversationspartner. Wir müssen begreifen, dass dieser kontrollierende, weniger unterstützende Interaktionsstil kein unvermeidlicher Bestandteil des Interaktionsstils von hörenden Eltern mit einem tauben Kind ist 1. Der kontrollierende Interaktionsstil wird vermutlich oft durch die Angst, die Besorgnis und den Mangel an Glauben hervorgerufen, dass das Kind Sprache auf eine spontane und natürliche Art erlernen kann. Um eine Metapher zu verwenden: anstatt zu glauben, dass Blumen wachsen, während wir schlafen, fangen wir an, an ihnen zu ziehen, um ihnen wachsen zu helfen. Die Gefahr ist jedoch, dass die Blume dabei abknickt. So müssen wir den Eltern zuerst beibringen, ihren Kindern sorgfältig zuzuhören und die kommunikativen Absichten des Kindes in gute konventionelle Sprache zu übersetzen, was Eltern im Umgang mit sich typisch


entwickelnden Kindern intuitiv tun. 2.4 Muttersprache kann man nicht beibringen Eine Muttersprache wird nicht erlernt, indem man einen gut strukturierten Sprachlehrplan durcharbeitet. Kein Elternteil hat je einen Kurs dafür belegt, wie man seinen Kindern beibringt zu sprechen. In erster Linie entwickelt das Kind die Kompetenz in seiner Muttersprache, wenn seine nicht-sprachlichen kommunikativen Absichten in eine sprachliche Nachricht übersetzt werden oder wenn die nicht vollständige Sprache des Kindes näher ausgeführt wird. Der technische Ausdruck dafür ist “recasting” (Umgießen). Obwohl der Begriff des recasting etwas unterschiedlich definiert wird, indem einige Kommentatoren die Begriffe recasting und Expansion als Synonyme behandeln, handelt es sich hauptsächlich um “Antworten, die die Grundbedeutung und Referenz einer kindlichen Äußerung bewahren, aber eine Erweiterungsmöglichkeit einbauen, weil die Antwort eine komplexere Sprachstruktur aufweist als die vorgängige Äußerung des Kindes.“ (Nelson, Heimann, Abuelhaija, und Wroblewski, 1989, S. 136) Viele ausführliche Beispiele dafür werden im nächsten Modul gegeben. Was wir hier betonen wollen, ist dass die kommunikativen Signale des Kindes selbst den Ausgangspunkt bilden müssen. Dies bedeutet auch, dass wir uns sehr genau ansehen müssen, wie das Kind auf unsere unterstützende Stimulation reagiert und dass wir erwarten müssen, dass das Kind daraus lernen wird. Wir müssen genau überwachen, was das Kind mit der “umgegossenen/umformulierten” Sprache der Eltern tut. Schaut das Kind die Eltern an, wenn es spricht? Legt das Kind dieses „geteilte Aufmerksamkeitsverhalten” immer öfter an den Tag? Ist das Kind bereit, spontan die gesprochene Sprache der Eltern zu imitieren, oder braucht und imitiert das Kind nur nicht-sprachliche Gebärden für die Kommunikation? Es gibt viele Gründe, weshalb ein unterstützender Stil besser ist als ein kontrollierender. Ein unterstützender Sprachinteraktionsstil ist von Natur aus dialogisch. Die Eltern führen eine wirkliche Unterhaltung mit ihrem Kind und spielen nicht die Rolle eines Lehrers. Sie reichern den Sprachinput durch eine wirkliche, unbeschwerte Unterhaltung an, ohne Druck auf das Kind auszuüben. Diese harmonische und natürliche Atmosphäre, in der Sprache präsentiert wird, fördert die Beziehung und Bindung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. Sie hilft dem Kind, aufgeschlossen und willig zu werden, diese neue sprachliche Information aufzunehmen. Linguistisch gesprochen besteht ein perfektes Gleichgewicht zwischen Referent und sprachlicher Bedeutung, wenn Eltern die nicht verbalen Absichten in verbale übersetzen. Wenn Eltern Sprache benutzen, um zu kommentieren, was das Kind gerade macht, besteht ebenfalls eine größere Chance, dass das „Mapping“ – die Verbindung zwischen der von den Eltern gelieferten Sprache und der Bedeutung, die das Kind vermutet, korrekt ist. Wenn Eltern sich locker mit dem Kind über ein Thema unterhalten, das das Kind interessiert, verwenden sie ebenfalls Sprachcharakteristiken, die sprachvereinfachend wirken. Eine ausdrucksstärkere Satzmelodie, mehr Wiederholungen und ein besser definierter Sprachrhythmus scheinen dem Gedächtnis den Spracherwerb zu erleichtern. In der Vergangenheit schien diese ideale Konversation zwischen hörenden Eltern und hochgradig schwerhörigen Kindern aber die Ausnahme und nicht die Regel zu bestätigen. Forscher empfanden die Eltern nicht nur oft kontrollierend und aufdringlich im Spracherwerb; sie fanden auch, dass normalhörenden Eltern die notwendigen Aufmerksamkeitsstrategien fehlten, um einen mehr auf visuellen Reizen basierenden Konversationsstil mit Lippenlesen oder Gebärdensprache aufzubauen. Einige Sprachwissenschaftler waren der Meinung, dass ein fundamentales kommunikatives Ungleichgewicht zwischen hörenden Eltern und tauben Kindern bestehe 8,13. Wir werden diesen wichtigen Aspekt im nächsten Kapital besprechen. Wir werden auch auf die Veränderungen eingehen, die durch das kürzlich eingeführte Neugeborenen-Hörscreening


und die nachfolgende audiologische und pädagogische Unterstützung hervorgerufen wurden. 2.5 Kommunikatives Ungleichgewicht Viele Studien, die am Gallaudet College, der weltweit einzigen Universität für taube Studenten, durchgeführt wurden, beschreiben die Kommunikation zwischen hörenden Eltern und ihren tauben Kindern als kommunikatives Ungleichgewicht.8,13 Sie vergleichen oft die „taube Mutter-taubes Kind“ Zweier-Konstellation mit der „hörende Mutter – taubes Kind“. Konstellation. Am Gallaudet College wird die Gebärdensprache als die primäre Sprache tauber Menschen betrachtet, und es wird weniger Aufmerksamkeit auf die Resthörigkeit gerichtet. In den meisten Studien trugen die Kinder keine Cochlea Implantate (CIs), auf keinen Fall in jungen Jahren. Obwohl sich die Zeiten geändert haben, und Implantate tauben Kindern die Möglichkeit gegeben haben, schon in sehr frühen Jahren zu hören, sind diese Ergebnisse bis heute hoch relevant geblieben. Sie berichten, dass die meisten hörenden Eltern tauber Kinder (und mehr als 90 Prozent der tauben Kinder haben hörende Eltern) offenbar Probleme haben, die Gebärdensprache fließend zu erlernen. Einerseits bleibt ihr Vokabular dürftig verglichen mit demjenigen von muttersprachlichen Verwendern der Gebärdensprache. Andererseits verwenden hörende Eltern die meiste Zeit über eine Art von Kommunikationsstrategie genannt “simultane Kommunikation“ (‘SimCom’). Sie sprechen und benutzen Gebärden, um ihre gesprochene Sprache zu bekräftigen. Die Eltern haben normalerweise nicht das Bewusstsein oder das Wissen über die spezifische intrinsische Grammatik einer Gebärdensprache. Viele Studien zeigen auf, dass hörende Eltern nicht über die pragmatischen Strategien verfügen, die Aufmerksamkeit zu erlangen, um ein visuelles im Gegensatz zu einem mündlichen Gespräch zu beginnen. Die pragmatischen Regeln für Erfolg in der visuellen Konversation sind sehr unterschiedlich zu denen für die „auditiv-orale“ Konversation. Es ist beispielsweise nicht schwierig zu verstehen, dass es etwas anderes ist, einem tauben Kind, dass keine gesprochene Sprache hören kann, Geschichten zu erzählen als einem hörenden Kind oder einem tauben Kind, das durch seine CIs Zugang zu gesprochener Sprache hat. Während ein hörendes Kind auf dem Schoss seiner Mutter sitzen kann, während sie ihm über die Bilder, die das Kind sich ansieht, erzählt, muss ein taubes Kind abwechselnd seine Mutter und das Buch ansehen, um verstehen zu können, worüber sie spricht. Während ein Kind mit normalem Gehör gleichzeitig hören und schauen kann, ist für ein Kind, das entweder die Fähigkeit des Gebärdens oder Lippenlesens braucht, um die Nachricht zu verstehen, eine „sukzessive“ visuelle Strategie erforderlich, die den oben beschriebenen alternierenden Ansatz mit einschließt. Forscher haben gezeigt, dass dies für hörende Mütter nicht selbstverständlich ist und dass sie viele Ausfälle in der Kommunikation mit ihrem Kind erleben. Die Forschung zeigt auch auf, dass taube Mütter oft versuchen, ihre Gebärden im Blickfeld des Kindes zu machen, wenn es etwas anschaut. Sie machen zum Beispiel das Zeichen für “Ball” oberhalb einer Abbildung von einem Ball im Blickfeld des Kindes. Diese spezifischen Anpassungen im Gebrauch der Gebärden im Umgang mit sehr kleinen Kindern werden auch als „Motherese“ (‚Mutterisch‘) oder “kindgerichtete Sprache” bezeichnet, die intuitiv von tauben Müttern nicht aber von hörenden Müttern verwendet wird. Diese Studien legen nahe, dass es für viele hörende Eltern nicht einfach ist, tauben Kindern einen hohen Standard in der Gebärdensprache zu vermitteln. Sie empfehlen oft, taube Erwachsene als Vorbilder für hörende Mütter mit einzubeziehen, um diesen Müttern zu ermöglichen, sowohl die Gebärdensprache als auch spezifische Strategien von diesen zu erlernen, um statt einem auditiven ein visuelles Kommunikationssystem aufbauen und implementieren zu können. Diese Vorbilder sollten auch einen positiven psychologischen Effekt auf die hörenden Mütter haben, dadurch, dass die Mütter sehen können, dass taube Erwachsene als selbständige Menschen funktionieren können. Es ist noch viel Forschungsarbeit notwendig, um stichhaltige


Beweise für diese und andere Aussagen zu liefern. Es sollte interessant sein, den Einfluss solcher Vorbilder auf das Vertrauen der Mütter in ihre eigenen Fähigkeiten als Mutter zu untersuchen: in ihre Fähigkeit, ein taubes Kind großzuziehen. Wie beeinflusst die Erkenntnis, dass die eigene Mutter weit weniger flüssig mit ihnen kommunizieren kann als eine taube Erwachsene, ihre Beziehung zur Mutter? Die Forschung weist darauf hin, dass sich die Lage dramatisch verändert hat, seit das Neugeborenen-Hörscreening und die Frühförderung 6 Einzug gehalten haben. Hörende Mütter fühlen sich wohler, effizienter und selbstbewusster im Umgang mit ihrem tauben implantierten Baby oder Kleinkind als hörende Mütter mit tauben Kindern, die nicht implantiert wurden. Wir sehen, dass hörende Mütter auf ihre intuitiven natürlichen Interaktionsstrategien zurückgreifen, wenn sie mit ihrem tauben Kind spielen oder ihm Geschichten erzählen. Eltern lernen, dass ihr Kind angemessen reagiert auf das, was sie sagen, ohne dass es sie ansieht, wenn es “im der richtigen Stimmung ist zuzuhören”. Ihre Kinder verwenden nun sogenannte “Stimmen-Wechsel”, wozu sie früher nie fähig gewesen wären. Die Kinder fragen auch eher nach Klärung, wenn sie eine Aussage nicht verstanden haben. Die Forschung scheint zu zeigen, dass es einfacher für hörende Mütter und Familien ist, ihrem tauben Kind zu helfen, “mehr wie ein normales Kind” zu werden, als hörende Eltern und ihre Familien dazu zu bringen, “mehr wie taube Menschen” zu werden. Das Umgekehrte trifft vermutlich auf taube Eltern mit hörenden Kindern zu. Sie fühlen sich oft wohler, selbstbewusster und erfolgreicher, wenn sie ihre Kinder in der Gebärdensprache aufziehen. 2.6 Mahnung zur Vorsicht Dies ist ein passender Augenblick, um zur Vorsicht zu mahnen und über gewisse Aspekte nachzudenken. Es ist richtig, das CIs einen Quantensprung für das Hörpotential von tauben Kindern bewirkt haben. Es bleibt dennoch eine große “Diversität in der Taubheit” erhalten. Sogar noch heute werden nicht alle Kinder einem Neugeborenen-Hörscreening unterzogen und frühzeitig mit passenden Hörprothesen versorgt. Nicht alle Kinder kommen gut mit ihrem Implantat zurecht, und etwa ein Drittel aller tauben Kinder haben zusätzliche Probleme. Sogar früh implantierte Kinder sind nicht genau gleich wie normalhörende Kinder. Es verfügen auch nicht alle Eltern über die gleiche Kompetenz in der Kindererziehung und Kommunikation. Wir leben in einer Welt, die sehr vielfältig ist. Das bedeutet, dass wir bei der Anleitung für zuhause die Interaktion zwischen Betreuungsperson und Kind sehr genau überwachen müssen. Wie Mayberry in ihrer Untersuchung anführte, spielt es keine Rolle, in welcher Sprache ein Kind zuerst denkt. Was wichtig ist, ist dass es eine Sprache ist, in welcher es qualitativ hochwertigen Input erhält und zu der es vollen Zugang hat 7. Kinder mit einer gut entwickelten Erstsprache werden auch die Möglichkeit haben, in einer zweiten Sprache kompetent zu werden, indem sie auf ihrer Erstsprache aufbauen. Es ist daher sehr wichtig geworden zu bestimmen, zu welcher Sprache, d.h. also Gebärdensprache oder gesprochene Sprache, ein taubes Kind den besseren Zugang hat, um es so auszudrücken. Es ist einfach zu verstehen, dass dies sowohl von den Fähigkeiten des Kindes als auch von der Art des sozialen Umfelds abhängt. Ist das Kind fähig, mithilfe seiner Hörgeräte oder CIs zwischen Sprachlauten zu unterscheiden? Ist das Kind in einem Umfeld, das ihm erlaubt, Sprachlaute zu hören? Hat das Kind zusätzliche Schwierigkeiten beim Spracherwerb oder nicht? Verwenden die Leute in der Umgebung des Kindes Lautsprache oder Gebärden, oder eine Kombination von beiden? Alle diese Faktoren sind wichtig um zu entscheiden, welche Anleitung für das Kind und seine Familie am hilfreichsten sein wird.


Kontrollfragen 1. Ein unterstützender Kommunikationsstil (im Gegensatz zu einem kontrollierenden Stil) bezieht die Eltern in die Sprachentwicklung des Kindes mit ein durch: o

Überwachung des Kindes;

o

Tägliches Erlernen einiger neuer, geplanter Vokabeln;

o sagen;

Anspruch an das Kind, alles zu wiederholen, was sie zu ihm

o Umgießen oder ausformulieren der kommunikativen Absicht des Kindes in konventioneller Sprache. 2. Wenn Eltern wissen, dass ihr Kind taub ist, benutzen sie öfter einen direktiven, kontrollierenden interaktiven Kommunikationsstil als Eltern von sich typisch entwickelnden Kindern, weil: o ein direktiver Stil hilfreicher für die kommunikative Entwicklung eines tauben Kindes ist; o dies der natürliche Stil der Eltern ist, intuitiv Sprache beizubringen; o

sie den Spracherfolg ihres Kindes direkt kontrollieren wollen;

o Eltern von tauben Kindern die kommunikativen Absichten ihres tauben Kindes nicht verstehen können. 3.

Ein kommunikatives Ungleichgewicht bedeutet: o dass ein taubes Kind in einem tauben Umfeld nicht lernen kann zu sprechen; o dass hörende und taube Menschen sich auf unterschiedliche kommunikative Strategien stützen; o dass ein taubes Kind in einem hörenden Umfeld Gebärdensprache braucht; dass hörende Mütter für ihr taubes Kind Gebärdensprache erlernen

o müssen.

Richtige Antworten: q3'ɔ2'p1 Zum Inhalt


Kapitel 3 - Wie kann man Eltern und Bezugspersonen unterstützen? Lernziele • Dieses Kapitel untersucht den Unterschied zwischen direkter und indirekter Sprachstimulation Bei der direkten Stimulation wird das Kind mehr oder weniger künstlich durch einen professionellen Therapeuten stimuliert Bei der indirekten Stimulation wird ein Fachmann miteinbezogen, um den Eltern und anderen Bezugspersonen zu helfen, ein kommunikatives Umfeld zu erarbeiten, in dem das Kind Sprache so natürlich wie möglich erlernen kann. • Leser werden auch lernen, was es heißt, ein positives “kommunikatives Grundklima” für taube Kinder aufzubauen. • Sie werden lernen und verstehen, dass Unterstützung mit „Empowerment“ (aktiven Einbeziehen) der Betreuungsperson und mit der erzieherischen Umgebung des Kindes als solches zu tun hat. •

Zuletzt werden die Leser dieses Kapitels einige Grundstrategien erlernen, die in Anleitungsprogrammen für zuhause verwendet werden können, um Eltern und andere Betreuungspersonen in ihrer Rolle als erfolgreiche Sprachförderer zu unterstützen.

3.1 Direkte und indirekt Stimulation Bevor wir bestimmte Aspekte und Strategien für die elterliche Unterstützung besprechen können, ist es wichtig zu erkennen, dass Eltern und Therapeuten unterschiedliche Rollen beim Spracherwerb eines tauben Kindes spielen. Eltern sollten nicht die Rolle des Therapeuten spielen und umgekehrt der Therapeut nicht diejenige der Eltern. Beide haben ihre spezifische und komplementäre Funktion, in welcher sie dem tauben Kind helfen Sprache zu erlernen und zu erwerben. In diesem Kapitel wird die Rolle der Betreuungspersonen in engen Zusammenhang mit derjenigen der Eltern gesetzt und deutlich abgegrenzt von der Rolle des Therapeuten. Der Grund, warum es wichtig ist, diese Unterscheidung zu machen, wird mithilfe eines pädagogischen Modells erklärt, das teilweise auf den Erkenntnissen von Kok basiert, einem niederländischen speziell-edukativen Psychologen 5. Dieses Modell wird also hilfreich sein, um die Rolle des Elternberaters innerhalb des Programmes für Frühförderung besser zu verstehen. Kok führt aus, dass jedes Kind mit spezifischen Problemen, wie zum Beispiel geistige Entwicklungsverzögerung, Autismus, Verhaltensstörungen, Sehbehinderung, Taubheit, etc. spezielle pädagogische Lösungsansätze für seine spezifischen pädagogischen Herausforderungen benötigt. Während die Erziehung bei sich typisch entwickelnden Kindern normalerweise intuitiv abläuft, ist diejenige von Kindern mit spezifischen Problemen von zielorientierterer oder „beabsichtigterer“ Natur. Die Antworten auf diese spezifischen pädagogischen Fragen bilden ein drei-gliedriges System (Figur 1). Die erste Ebene wird das „erzieherische Grundklima“ genannt. Die zweite Ebene bildet die Therapie, und die dritte repräsentiert den individuellen Aktionsplan maßgeschneidert für jedes individuelle Kind und dessen Familie. Wenn wir ein Kind auf eine förderliche Weise erziehen wollen, das seinen spezifischen erzieherischen Anforderungen entspricht, müssen wir als erstes ein erzieherisches Grundklima schaffen, das zu den Grundbedürfnissen des Kindes passt. Es ist allgemein


bekannt, dass das Hauptbedürfnis eines autistischen Kindes ein gut strukturiertes Leben ist, während ein blindes Kind in einer vorhersehbaren Umwelt leben muss. Und was ein taubes Kind vor allem benötigt, ist ein soziales Umfeld, das ihm erlaubt, sein ganzes kommunikatives Potential auszuschöpfen. Das Grundklima an sich schließt auf der einen Seite die spezifische Organisation von Raum und Zeit ein, und auf der anderen ein gutes pädagogisches Verhältnis mit den Haupterziehern. Was dies für taube Kinder bedeuten kann, wird weiter unten ausführlich erklärt. Die zweite Ebene ist diejenige der spezifischen Therapie. Diese zweite Ebene hat keine wirkliche Bedeutung oder echten Nutzen, wenn sie nicht fest in der ersten Ebene verankert ist. Ohne ein gutes erzieherisches Grundklima hat die Therapie keine zugrundeliegende Basis, um sie effektiv zu machen. Die dritte Ebene des individuellen Aktionspotentials baut notwendigerweise auf der ersten und zweiten Ebene auf. 3.2 Von der Theorie zur Praxis Wie dieser theoretische Hintergrund in die Praxis übertragen werden kann, wird nun Schritt für Schritt am Beispiel eines tauben Kindes illustriert. Ein therapeutischer Ansatz bei kleinen tauben Kindern ist die auditiv-verbale Therapie, die bedingt, dass das Kind trainiert wird, auf eine sehr systematische Weise zuzuhören. Die Kinder lernen, einzelne Laute, die sie um sich herum hören, zu erfassen, zwischen ihnen zu unterscheiden, sie zu lokalisieren und zu identifizieren (Sprachlaute miteingeschlossen). Diese Art von Therapie, die Koks zweiter Ebene5 entspricht, ist nicht sehr wertvoll, es sei denn, sie wird integriert in ein Grundklima, das, im Alltag dazu führt, dass die Kinder lernen zuhause zuzuhören. wie nützlich kann diese Art von Therapie letzten Endes sein, wenn die Eltern sich nicht täglich darum kümmern, ob die Hörhilfen benutzt oder gepflegt werden, oder wenn sie sich, noch immer von Sorge und Schmerz überwältigt, weigern, ihrem Kind die Hörgeräte oder den Sprachprozessor für das CI anzuziehen, oder die Batterien umgehend auszuwechseln, wenn es erforderlich ist? Figur 1: Drei-Ebenen Modell für spezifische Erziehung (nach Kok) 5 Diese Art von Therapie, die nur einige Male pro Woche stattfindet, wird auch nicht sehr förderlich sein, wenn das tägliche Umfeld des Kindes so laut ist, dass es die Sprachlaute weder hören noch zwischen ihnen unterscheiden kann, auch wenn es seine Hörhilfen richtig trägt. Wie man sehen kann, haben alle diese Aspekte mit der Qualität des Lebensraumes des Kindes zu tun, welcher oben als Bestandteil des erzieherischen Grundklimas des tauben Kindes beschrieben wurde. Während eines Hausbesuches wurde beobachtet, wie das taube Baby in einen Babysitz am Boden gesetzt wurde, der sich in der Nähe des Kühlgebläses eines Computers befand, der ebenfalls am Boden stand. Die Eltern realisierten nicht, dass das Hintergrundgeräusch an diesem Platz etwa 10 bis 15 Dezibel höher war als irgendwo sonst im Haus. Das Ausmaß der Hintergrundgeräusche in Tagesstätten wird sogar noch höher sein; es kann Kindergeschrei oder sonst laute Kinder haben, und dies in einer Umgebung mit oft hohem Grad an Halligkeit. Wenn man Kindern, die früh mit einer Hörhilfe oder einem Implantat ausgestattet wurden, vollen Zugang zu gesprochener Sprache gibt, bedeutet dies zuallererst und vor allem, dass wir sie einer Umgebung voller inhaltsreicher Sprachlaute aussetzen. Das Nachdenken und Sprechen über die lautliche Hygiene der Umgebung des tauben oder hörbehinderten Kindes wird ein wichtiges Thema für die Wegleitung für Zuhause sein. So lange wir nicht sicher sein können, dass das taube Kind ausreichend Sprache erwerben kann, wenn es ihr nur beiläufig ausgesetzt ist – das heißt, wenn es bedeutungsvolle Sprache in seinem Umfeld hört, die nicht spezifisch auf das Kind ausgerichtet ist – dann werden die Erwachsenen in seinem Umfeld dem Kind viel mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmen müssen, damit es Sprache erwerben kann. Es bedarf,


zumindest zu Anfang, eines größeren Aufwands, bis man das taube Kind in kommunikative Interaktion miteinbeziehen kann. Es ist offensichtlich, dass diese Interaktionen am effizientesten sind, wenn sie wirklich den kommunikativen Bedürfnissen des Kindes entsprechen. Wie wir bereits erwähnt haben, sind einige elterliche Interaktionsstile unterstützender und sprachefördernder als andere. Diese unterstützende interaktive Methode erfordert Eltern, die auf ihre Kinder reagieren und fähig sind, die kommunikativen Absichten des Kindes umzuformulieren oder die wissen, wie sie das Thema, für das sich das Kind interessiert, kommentieren sollen. Und dieses Ziel muss den ganzen Tag über erreicht werden. Jeder Handlungsablauf und jede Aktivität, an welcher das Kind teilnimmt, kann genutzt werden, um seine Sprache anzureichern. Eltern oder andere Betreuungspersonen müssen sich bewusst werden, dass die Sprache, die während gemeinsamen Aktivitäten benutzt wird, wichtiger wird als die Aktivität selbst. Während des Wickelns muss der Dialog mit dem Kind wichtiger sein als das Wickeln an sich. Wenn das Kind etwas älter wird, kann es förderlicher sein, wenn das Kind beim Herrichten der Mahlzeit miteinbezogen wird, als wenn der Betreuer schnell etwas zubereitet, während das Kind vor dem Fernseher sitzt. Dies macht den Prozess zwar zeitaufwändiger, aber dieser Zeiteinsatz lohnt sich und wird reich belohnt werden durch die verbesserte Kommunikation und Sprache des Kindes. Ein angemessenes kommunikatives Grundklima mit Erwachsenen, die in einem positiven Umfeld hilfreich und fördernd die notwendige Zeit einsetzen, bildet die erste Hilfsebene, die wir für das taube Kind errichten müssen. Dadurch bauen wir eine nährende Umgebung auf, in welcher Sprache weiter gedeihen kann, eine Umgebung, die einen fruchtbaren Nährboden bietet – und indem sie sich daraus entwickelt, kann die Sprachtherapie (oder eine Therapie, durch die das Kind lernt zu hören) – die größtmögliche Wirkung haben. Eltern, die auf die kommunikativen Signale, die ihre Kinder aussenden, achten und die sich bewusst sind, wie ihr Kind in der Welt der Laute und Geräusche funktioniert, werden auch Dinge in ihren Alltag einbauen, die sie in der Einzeltherapie mit Fachleuten beobachtet haben, und werden kreativ sein mit neuen Dingen, die sie zuhause, auf der Straße oder wo sie sonst mit ihrem Kind hingehen, sehen und hören. Die dritte Ebene, die bei Kok beschrieben wird, ist diejenige des individuellen Aktionsplans.5 Weil die individuellen und spezifischen Bedürfnisse jedes Kindes und jeder Familie unterschiedlich sind, muss das Förderprogramm entsprechend angepasst werden. Es ist auch klar, dass die Art der benötigten Unterstützung über die Zeit ebenfalls variiert, wenn das Kind älter wird. 3.3 Je später die Diagnose desto spezifischer die Erziehungsbedürfnisse Figur 1 verwendet verschiedene Farben und eine Linie, die die Zeit in Wochen (w) Monaten (m) und Jahren (y) anzeigt. Der Zeitpunkt der Diagnose, der durch die vertikale Linie angegeben ist, markiert den Übergang vom der intuitiven zur intentionalen Kindererziehung. Je jünger das Kind bei der Diagnose und ersten Behandlung desto mehr entsprechen jedoch die neurologischen Hörbahnen denjenigen von hörenden Kindern. Dies bedeutet, dass die Sprachentwicklung teilweise auch auf beiläufiges Lernen basieren und dass die Kindererziehung natürlicher und intuitiver ablaufen kann. Die ‚grüne Phase‘ bis zum Alter von 6 Jahren kann als ‚sicher‘ angesehen werden, während die ‚orange Phase‘ zwischen 6 Monaten und 5 Jahren ‚riskant‘ ist. Während der ‚roten Phase‘ ist es dem Kind nicht möglich, mit der derzeit verfügbaren Technologie sein gesamtes auditives Potential auszuschöpfen. Das taube Kind hörender Eltern wird eine spezielle Ausbildung benötigen, um ihm zu helfen, gesprochene Sprache und Gebärdensprache zu erwerben. 3.4 Elternunterstützung als „Empowerment“ (aktive Einbeziehung) der Eltern In Übereinstimmung mit obigem Text, kann das erste Ziel elterlicher Unterstützung


beschrieben werden als „Empowerment“ der Eltern, sich kommunikativ und emotional auf ihre Kinder einzustellen und ihnen zu helfen, ein passendes kommunikatives Grundklima aufzubauen. Dies ist notwendig, wenn das Kind sein linguistisches, intellektuelles und sozio-emotionales Potential entwickeln und ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, in der es lebt, werden soll. Während der letzten paar Jahre hat in der Elternberatung ein Paradigmawechsel stattgefunden (vgl. Modul 4). Elternberater sind sich bewusst geworden, dass die Eltern selber selbstsicher und eigenständig in Bezug auf die Erziehung des eigenen Kindes sein müssen, und dass Experten nicht ihren Platz einnehmen können. Es ist wichtig, dass Eltern selbst den Erfolg in der kommunikativen und sprachlichen Entwicklung ihres Kindes sehen. Ein guter Maßstab für die Erfolgsmessung der Elternanleitung ist es, wenn man beobachten kann, dass Eltern und Kind die Freude an den gegenseitigen kommunikativen Interaktionen wiedererlangen. Wenn sie die Interaktion miteinander wirklich genießen, kann man sicher sein, dass beide Seiten viel profitieren und dass das Kind daraus lernen wird. Bevor wir einige Strategien beschreiben, die nützlich sein können, um Eltern für ihre Aufgabe, ein kommunikatives Grundklima herzustellen, zu „empowern“, soll betont werden, dass die Arbeit mit dem Kind allein nie das Ziel der Elternanleitung sein kann. Es ist wahr, dass die Taubheit des Kindes die direkte ‘Ursache‘ für die Notwendigkeit von Frühförderung und elterlicher Anleitung ist. Aber das Kind ist Teil eines ganzen Systems. Es ist wichtig zu erkennen, dass Taubheit nicht nur das Kind betrifft, sondern die ganze Familie. Als Illustration stellen Sie sich bitte ein Mobile der Art vor, die oft über Babybetten hängen. Wenn wir ein Element des Mobiles berühren, beginnen auch alle anderen Elemente sich zu bewegen, weil sie alle miteinander verbunden sind. Auf die gleiche Weise, sind alle Mitglieder einer Familie untereinander verbunden – nicht mit Fäden, aber durch Interaktionen, Emotionen und Gedanken. Das Band zwischen Mutter und Baby ist sehr stark. Winnicott stellte schon vor zwanzig Jahren fest, dass es keine Babies gebe, sondern nur Kind-Baby Dyaden.15 Ein Baby ist ein existentieller Teil einer Beziehung. 14 Ohne einen Erwachsenen, der für es sorgt, insbesondere ohne die Mutter, wird ein Baby niemals alleine überleben. Es überrascht nicht, dass dieses enge Band durch den Schock, der durch die Taubheit des Kindes ausgelöst wird, am meisten in Mitleidenschaft gezogen wird, vor allem wenn die Mutter selbst nicht taub ist. Aber auch die Großeltern erfahren oft große Trauer und Sorge. Sie scheinen eine zweifache Bürde zu tragen. Sie fühlen zur gleichen Zeit Trauer für ihr Kind und ihr Enkelkind. Sehr oft beschweren sich die Eltern, dass ihre eigenen Eltern sowohl das Problem des Kindes als auch die Vorstellung, sie selber könnten übermäßig betroffen sein, verleugnen, sogar wenn sie sehen, dass das Kind Hörgeräte trägt. Dieser Verleugnungs-Mechanismus ist sehr ‚logisch‘. Wenn wir mit dem Schock des Verlustes von Dingen konfrontiert werden, die sehr wichtig für uns sind, wird als erster Hilfsmechanismus die Verleugnung ausgelöst. Die Großeltern haben ihr perfektes Enkelkind und gleichzeitig die sorglose Freude an ihrem eigenen Kind ‚verloren‘. Diese Verleugnung seitens der Großeltern ist eindeutig ihre Art, mit der schmerzvollen Diagnose umzugehen, aber sie ist weder für ihre eigenen Kinder noch für ihre Enkelkinder hilfreich. Die Geschwister des tauben Kindes sind ebenfalls betroffen, genauso wie ihre Tanten und Onkel. Einmal beschwerte sich die Mutter eines tauben Kindes, dass ihre eigene Schwester dieses Kind niemals einlade, über Nacht bei ihr zu bleiben, obwohl sie dies bei den anderen Kindern der Familie tue. Tatsächlich hatte die Tante ihr folgendes gesagt: „Ich bin besorgt, dass ich es nicht schaffe, mit dem Cochlea Implantat des Kindes richtig umzugehen.“ Ein taubes Kind zu haben, ist kein Problem, dass in einem Vakuum existiert. Es ist ein Problem, dass von einem kompletten sozialen Netzwerk geteilt wird, und primär vom weiteren Kreis der Familie. Später, wenn das Kind zur Schule geht, wird die Taubheit auch eine Auswirkung auf die Interaktion mit Lehrern und Klassenkameraden haben und auf Aspekte wie z.B. die Lehrmethode oder das zur Anwendung kommende Lernsystem.


3.5 Hilfreiche Strategien für das „Empowerment“ der Eltern 3.5.1.Hausbesuche Eltern und Kinder zuhause zu besuchen, kann eine starke Strategie sein, um die Eltern in ihrer Erziehungsrolle dazu zu „empowern“ (aktivieren/motivieren), eine stimulierende Sprachumgebung für ihr taubes Kind aufzubauen. Dies trifft auch auf Besuche in der Tagesstätte, bei der Tagesmutter, bei Großeltern oder bei sonstigen Betreuungspersonen zu. Während dieser Besuche kann der Elternberater verschiedene Funktionen erfüllen. Moeller führt sechs verschiedene Rollen auf. 9 • Informationsquelle: Für eine Fachperson ist es wichtig, Informationen in einer überschaubaren und objektiven Weise zu vermitteln, so dass Familien unabhängige Fürsprecher und Lerner werden. Wichtiger als spezifische Informationen zu geben ist es, den Eltern zu helfen, das was sie gelesen haben, kritisch zu reflektieren. • Rolle des Coaches: In dieser Rolle sitzt ein Elternteil im Fahrersitz, während der Coach hinter ihm sitzt (im Gegenteil zur umgekehrten Situation des ‘Experten Modells’) Der klinische Fachmann gebraucht seine Beobachtungsgabe, im richtigen Moment platzierte Input- und Ergebnisanalyse, um die Interaktion zu unterstützen und anzuleiten. • Gemeinsame Entdecker: Moeller beschreibt dies als Hauptzutat in einem Partnerschaftsmodell. Statt den Eltern zu sagen, was sie zu tun haben, kann der Berater seine oder ihre Idee als Experiment darstellen. Der Berater könnte sagen, “Ich frage mich, ob er Sie anschauen würde, wenn Sie seine Laute imitierten, während er spielt.“ In diesem Fall lassen wir Vater oder Mutter die Initiative ergreifen und auch das Lob ernten, wenn es funktioniert. Zweifellos wird es das Selbstvertrauen der Eltern stärken, wenn sich Erfolg einstellt. Wenn der Berater selbst das Modell anwendet, könnten die Eltern denken, sie würden nicht auf dieselbe Weise zum Erfolg kommen. • Nachrichtensprecher: Die ‘Nachrichtensprecher’-Rolle beinhaltet, objektive beschreibende Rückmeldungen zu Schlüsselverhalten zu liefern (wie z.B. „Mir fällt auf, dass sie, wenn Sie einen Kommentar abgeben, statt eine Frage zu stellen, mit längeren Äußerungen antwortet.“) Diese Strategie betont, was in einer bestimmten Familie gut läuft. • Spielgefährten: Manchmal möchte der Elternberater eine neue Fähigkeit demonstrieren. Dies wird die Eltern aber nur „empowern“, wenn sie sofort die Gelegenheit erhalten, die Strategie selber auszuprobieren und durch eigene direkte Erfahrung herauszufinden, dass sie funktioniert. •

Gleichzeitiger Reflektor und Planer: Nach einem Hausbesuch ist es wichtig, zusammen mit Eltern darüber zu reflektieren, “was wir heute gelernt haben.” Was hat funktioniert und was nicht? So kann man auf derzeitige Bedenken fokussieren und die Agenda für die nächste Sitzung zusammen bestimmen.

3.5.2. Videoanalyse Die Videoanalyse hat sich als extrem nützliches Werkzeug erwiesen, um Eltern anzuleiten. Sie macht es möglich, die kommunikative Entwicklung des Kindes und den Erfolg der gegenseitigen kommunikativen Interaktionsbemühungen objektiver mit den Eltern zu diskutieren. Wenn man das Video mit den Eltern zusammen diskutiert, haben die Eltern die Möglichkeit, zu ‚Nachrichtensprechern‘ zu werden und eigene Kommentare zum


Gesehenen abzugeben. Aus Erfahrung wissen wir, dass diese Arbeitsweise sehr viel effizienter ist als Modell-Interaktionen in Alltagssituationen. Grob gesprochen kann Videoanalyse für die Elternanleitung in zwei Hauptgruppen unterteilt werden. Die zwei Methoden können auch komplementär verwendet werden. Eine Gruppe beinhaltet Videoaufnahmen von Alltagshandlungen, die zuhause nicht standardisiert erledigt werden, mehr oder weniger in einer Art von ‚Heim-Labor-Situation‘. Beide Methoden haben Vor- und Nachteile. Zuhause gemachte Aufgaben sind sehr nützlich, um kommunikative Interaktionen aus dem wirklichen Leben zu diskutieren. Sie werden aber als intrusiver empfunden als Heim-Labor Aufnahmen. Wenn plötzlich eine Kamera auf einem Stativ im Wohnzimmer steht, oder jemand mit einer Kamera in der Hand die Mahlzeiten filmt, oder wenn Möbel verrückt werden müssen, damit man beim Filmen kein Gegenlicht hat, dann wird dies als störender empfunden als die Situation in einem Heim-Labor. Ein Heim-Labor ist ein künstliches Wohnzimmer mit spezieller Videoausrüstung. In so einer Situation wird die Qualität der aufgenommen Bilder zweifellos besser. Wenn man mit zwei oder mehr Kameras arbeitet (versteckt oder nicht, wie es der Fall sein kann) bedeutet das, dass Dinge detaillierter gesehen werden können als das mit normalen Aufnahmen möglich wäre. In diesem Heim-Labor sind die meisten Interaktionen Spiel-Interaktionen, weil in dieser Aufnahmesituation Aktivitäten, wie zum Beispiel das Servieren des Essens tendenziell als sehr künstlich empfunden werden. Es hängt alles davon ab, was mithilfe von Videoaufnahmen sehen und diskutieren möchten. Einige klinische Fachleute bezweifeln den Sinn von Videoanalysen, da sie denken, dass diese Idee den meisten Eltern widerstrebt (und dass sie sie vielleicht sogar schockieren könnte). Die Erfahrung hat uns dagegen gelehrt, dass das Gegenteil der Fall ist: Videoaufnahmen werden von den Eltern hoch eingestuft; sie empfinden sie als nützlich und informativ. Das heißt nicht, dass die Erfahrung für die Eltern sehr angenehm ist. Für ein Scanning ins Spital zu gehen, ist auch nicht angenehm, aber es ist oft eine notwendige (oder sogar die einzige) Methode für effiziente Diagnose und Behandlung. Und Video ist effektiv der Scanner par excellence für die kommunikative Entwicklung und Interaktion. Die Methode kann sofort zeigen, ob Eltern mit ihrem Kind harmonieren oder nicht. Videoanalyse verrät auch sofort, ob ihr interaktiver Stil effektiv ist und ob die Strategien, die sie benutzen sprachfördernd sind. Sie ist auch ein sehr nützlicher Weg, den Fortschritt in der nicht-sprachlichen und frühen sprachlichen Entwicklung des Kindes zu überwachen: recht oft ermöglichst die Videoanalyse zum Beispiel, ein Protowort früher zu entdecken als es sonst möglich gewesen wäre. Es ist wichtig, diese Aufnahmen immer mit den Eltern zu besprechen. Die Wahl von Zeit und Ort kann von der Zielsetzung abhängig sein. Es kann nützlich sein, die Ergebnisse zuhause sofort nach der Aufnahme einiger Alltagssituationen anzusehen. Es kann auch interessant sein, eine detailliertere Analyse durchzuführen und diese an einem ruhigeren Ort zu besprechen (dafür muss genügend Zeit eingerechnet werden). Videoanalyse ist natürlich zeitaufwändig. Eine Mikroanalyse einer einzigen Minute Filmmaterials kann leicht zwischen 45 Minuten und einer Stunde beanspruchen, abhängig davon, wie viele Elemente man analysiert. Mit den richtigen Werkzeugen und Erfahrung kann die für Analysen benötigte Zeit allerdings beträchtlich reduziert werden. Es ist also nicht notwendig, das gesamte Video zu analysieren (dies ist vergleichbar mit einem Bluttest im Labor, wo auch nur ein kleiner Teil des Blutes untersucht wird). Die Erfahrung zeigt, dass das gleiche bei der Analyse kommunikativer Interaktionen der Fall ist. Ein gut gewählter Ausschnitt genügt, um das gesamte Bild widerzugeben. 3.5.3. Elterngruppen Eine andere kraftvolle Strategie Eltern zu helfen, mit den neuen Problemen, mit denen sie konfrontiert werden, fertig zu werden ist, ihnen die Möglichkeit zu geben, andere Eltern mit ebenfalls hörgeschädigten Kindern zu treffen. Es gibt keine besseren Zuhörer, und es gibt


nichts Heilsameres, als mit Leuten zu sprechen, die die gleiche Erfahrung gemacht haben. Wenn ein Kind als taub diagnostiziert wird, führt dies oft zu Veränderungen im sozialen Netzwerk der Eltern. Wenn Eltern trauern und bekümmert sind, besteht das Risiko, dass einige Freunde verloren gehen. Auch die Beziehungen zum weiteren Familienkreis können betroffen sein. Wenn es schwierig ist, über diese Probleme im bestehenden Netzwerk zu sprechen, kann es daher wichtig sein, sein Netzwerk um andere Eltern von tauben Kindern zu erweitern. Abgesehen von gegenseitiger psychologischer Unterstützung, können Eltern einander auch praktische Tipps geben, wie man mit alltäglichen kleinen Problemen umgehen kann, mit denen man konfrontiert wird. Ich erinnere mich an eine Gruppe von Eltern sehr kleiner Kinder, die eine Lösung gefunden hatten, die Spule des CIs zu befestigen, indem sie ein Kinderhaarband benutzten, und dass die Gruppe praktische Lösungen austauschte, wie man die Kinder davon überzeugt, ihren Sprachprozessor zu tragen, und ähnliches. Wir werden nun kurz einige „probiert-undgetestet“ Ideen für den Erfahrungsaustausch zwischen Eltern darlegen: • Eltern kontaktieren: Dieses Szenario bedingt erfahrenere Eltern, die willig sind, als Freiwillige zu fungieren und mit weniger erfahrenen Eltern eines tauben Kindes zu sprechen. Diese Eltern sind registriert und einem Elternbetreuungsdienst bekannt. Der Beraterstab dieses Dienstes wird versuchen, geeignete Elternpaare zusammenzuführen. Dieses Szenario ist ideal für Eltern, die nicht bei einer Elterngruppe mitmachen möchten, die aber dennoch den Kontakt mit Leidensgenossen suchen. Dies ist oft der Fall, wenn ein Kind an einem seltenen Syndrom mit multiplen Problemen leidet. • Formelle Elterngruppen: Damit meinen wir eine Gruppe von Eltern tauber Kinder, die sich regelmäßig treffen, und bei deren Treffen ein Fachmann den Vorsitz führt bzw. durch die Sitzung führt. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass diese Gruppen sehr erfolgreich sind, wenn die Kinder ähnliche Probleme haben und etwa gleich alt sind. Diese Gruppen bieten ein gutes Gleichgewicht zwischen fachlichem Input und mehr informellen Diskussionen über verschiedene Themen und sind sehr informativ und heilend. Wir haben gesehen, dass es oft weniger bedrohlich ist, etwas in der Gruppe zu teilen, als dasselbe im Alleingang zu tun. Jeder der mit tauben Menschen arbeitet, weiß, dass in vielen Bereichen ein präventiver Ansatz angewendet werden muss. Da es sich um ein ‘unsichtbares Problem’ handelt, sind die Konsequenzen von Taubheit den Eltern nicht immer klar. Wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass Elterngruppen ein gutes Forum sind, um die eigene ‚gute Praxis‘ mit anderen Eltern zu teilen. Gruppen sind ideal für den Austausch von Lehrmaterial, Erfahrungen, Büchern, die Eltern mit ihren Kindern geschrieben haben, oder sogar auch, um Videointeraktion zu besprechen. Manchmal sind Eltern offener und direkter als Fachleute, wenn sie die verschiedenen Ansichten zur Kindererziehung untereinander Infrage stellen. • Informelle Elterngruppe: Dies sind Elterngruppen, die sich regelmäßig treffen, jedoch ohne fachliche Leitung sind. Diese Gruppen entstehen oft aus früheren formellen Gruppen heraus, wenn sich ein besonders starker Zusammenhalt gebildet hat und jemand bereit ist, die Initiative zu ergreifen und die Gruppe zusammen zu bringen. Wenn sich auch die Kinder dieser Gruppen treffen, kann das die Chance, dass auch deren Eltern in Kontakt bleiben, vergrößern. Ich erinnere mich an eine Gruppe von tauben Teenagern, die regelmäßig zusammen ins Kino gingen, während die Eltern in der Cafeteria zusammen saßen und sich unterhielten. • Familienausflüge: Ein anderer Weg, Eltern in Kontakt zu bringen, ist Familienausflüge zu organisieren. Dies bietet Eltern und Fachleuten die Möglichkeit, auch andere Familienmitglieder kennenzulernen und ist eine gute


Gelegenheit für die Geschwister der tauben Kinder, sich in einem informellen Rahmen zu treffen. Es ist interessant, während dieser Ausflüge zu sehen, wie sich die Eltern verhalten und mit ihren Kindern während der Freizeit, während Mahlzeiten etc. kommunizieren. • Familienwochenenden: Seit heute 25 Jahren werden in Flandern spezielle Wochenenden für Eltern mit tauben Kleinindern organisiert, und es wird ihnen die Möglichkeit geboten, andere Eltern und Fachleute aus dem ganzen Land zu treffen. Die Eltern sind in Begleitung ihrer hörenden und ihrer tauben Kinder. Während der Elterntreffen werden auch Aktivitäten für die Kinder organisiert, normalerweise durch die tauben Jugendlichen. Diese Wochenenden bieten den Eltern die Chance, bezüglich einer großen Anzahl von Aspekten zur Erziehung von tauben Kindern (und verschiedenen Meinungen dazu) immer auf dem neuesten Stand zu sein, und in Kontakt zu bleiben mit verschiedenen tauben und hörenden Vorbildern. Für die meisten Eltern ist dieses Wochenende eine ziemliche Herausforderung und löst starke Emotionen aus. Trotzdem sagen die meisten Eltern, dass die Erfahrung lohnenswert ist. • Gegenseitige Besuche zuhause: Ein anderer Weg, wie Eltern zusammen kommen können, beinhaltet gegenseitige Besuche zuhause; zwei oder drei Familien kommen zusammen und nehmen Teil an vorbereiteten Aktivitäten mit den Kindern. Dies kann in Zusammenarbeit mit den klinischen Fachleuten des Zentrums für Wegleitung zuhause passieren. Elternberater können helfen, solche Aktivitäten zu organisieren. Dies bietet eine exzellente Gelegenheit, sowohl vorher als auch nachher, über verschiedene Aspekte der Erziehung eines tauben Kindes zu besprechen. •

Spezifische Elterngruppen: Manchmal kann es förderlich sein, Eltern mit spezifischem sozialem Hintergrund zusammenzubringen. Wir haben beispielsweise langjährige Erfahrung mit einer Gruppe, die sich ausschließlich aus Müttern ausländischer Herkunft zusammensetzt. Die Kultur dieser Mütter erlaubt ihnen, auf diese Weise zusammenzukommen, solange keine Männer anwesend sind. Diese Müttergruppe trifft sich einmal die Woche morgens im Beisein einer Fachfrau. Das Ziel der Gruppe ist es, diese Mütter zu „empowern“, eine Beziehung zu ihrem behinderten Kind aufzubauen, und sie soll auch einen emanzipatorischen Effekt haben.

3.6 Externe Unterstützung für Tagesbetreuungseinrichtungen Es scheint sehr wichtig zu sein, dass Eltern und Tagesbetreuungspersonen zusammen an einem gemeinsamen übereinstimmenden Erziehungsprojekt für das taube Kind mit spezifischen Bedürfnissen arbeiten können. In immer mehr europäischen Ländern werden Institutionen für alles umfassende Tagesbetreuungsprogramme ins Leben gerufen. Es ist wichtig, dass Tagesbetreuer genügend Zeit zur Verfügung haben, um sich mit den aktiv involvierten Eltern zu besprechen und mit ihnen zu diskutieren, wie tägliche Belange bezüglich der Taubheit des Kindes gehandhabt werden sollen. Es ist selbsterklärend, dass auch die Tagesbetreuer die Kompetenz haben, ein sprachförderndes Umfeld aufzubauen. In den meisten europäischen Ländern haben Tagesbetreuer auch den gleichen Zugang zu professioneller Unterstützung wie die Eltern. Dies bedeutet, dass auch Tagesstätten und Tageseltern von einem professionellen Lehrer für Taube besucht werden können. Sie können diejenige Unterstützungsstrategie auswählen, die für das spezifische Umfeld der Tagesbetreuung am geeignetsten ist. In einigen Fällen kann empfohlen werden, mit den Eltern zusammen einen individuellen Aktionsplan aufzustellen.


Kontrollfragen 1. Welches Element ist nicht Teil des erzieherischen Grundklimas des tauben Kindes? o Spezifische Sprachtherapie angepasst an die spezifischen Bedürfnisse des Kindes o Besonderer Focus auf die Hintergrundgeräusche im akustischen Umfeld des Kindes o Sich mehr Zeit nehmen, um während den Alltagsaufgaben zu kommunizieren o Ein responsiver und unterstützender kommunikativer Interaktionsstil 2. Welche Rolle des Elternberaters dient nicht dazu, die Eltern für ihre erzieherische Rolle bei ihrem tauben Kindes zu „empowern“? o

Partnerrolle im Spiel

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Rolle des Coaches

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Rolle des Nachrichtensprechers

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Rolle des Modells

3. Welche Art von „Familientreffen“ scheint der ideale Rahmen zu sein, um Präventivinformationen auszutauschen?

o

o

Eine formelle Elterngruppe

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Eine informelle Elterngruppe

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Gegenseitige Hausbesuche Ein Familienausflug

Richtige Antworten: ɐ3'p2'ɐ1 Zum Inhalt


Referenzen 1. Eddy, J.R. (1999). Mother’s topic-control behaviors during play interaction with hearing-impaired and normally hearing preschoolers. Volta Review, 99, 171183. 2. Fitzpatrick et al. (2007). Parent’s perspectives on the impact of the early diagnosis of childhood hearing loss. International Journal of Audiology, 46, 97-106. 3. Gallaway, C. & Richards, B.J. (1997). (Eds.) Input and interaction in language acquisition. Cambridge: Cambridge University Press. 4. Hergils, L. & Hergils, A., (2000). Universal neonatal hearing screeningparental attitudes and concern. British Journal of Audiology, 34, 321-327. 5. Kok, J.F.W. (1991). Specifiek opvoeden. Orthopedagogische theorie en praktijk. Leuven/ Amersfoort: Acco. 6. Lichtert, G. (2005). Neonatal screening and early intervention: methods and educational consequences. In: Program and Abstract book, ICED, Maastricht, Netherlands, July 17-20, 2005, 49-51. 7. Mayberry, R.I. (2003). Beyond Babble: Early linguistic experience and language learning ability. In: Spaai te al. (Red.) Vijftig jaar NSDSK: met een knipoog naar de toekomst.Utrecht, Lemma, 39-46. 8. Meadow-Orlans, K.P. (1997). Effects of mothers and infant hearing status on interactions at twelve and eighteen months. Journal of Deaf Studies and Deaf Education, 2, 26-36. 9. Moeller, M. P., (2004). The changing face of early intervention: outcomes and challenges. NHS-conference, Como, May 27-29,75-81. 10. Nienhuys,T.G., Cross,T.G. & Horsborough, K.M., (1984). Child variables influencing maternal speech style: deaf and hearing children. Journal of Communicative Disorders, 1984 (17), 189-207. 11. Robinson, K. (1987/1989), Kinderen van de stilte. Sarah’s en Joannes’s triomf over doofheid (Vert., L. Schreuder-Klijzing, Children of silence : the story of Sarah and Joanne’s triumph over deafness ,1987). Baarn: De Kern. 12. Snow, C. E. (1977). Mothers' speech research: from input to interaction. In C.E. Snow & C.A. Ferguson (Eds.), Talking to children. Language input and acquisition (pp. 31-49). Cambridge: Cambridge University Press. 13. Spencer, P.E., & Gutfreund, M. K. (1990). Directiveness in mother-infant interactions. In F. Moores & K.P. Meadow-Orlans, Educational and developmental aspects of deafness. (pp.350-365), Washinghton : Gallaudet University Press. 14. Winnicott, D.W., (1987). The Child, The Family and the Outside World (1964). Reading, Mass.: Addison-Wesley. 15. Winnicott, D.W., (1988). ‘Communication between infant and mother, and mother and infant, compared and contrasted'. Reading, Mass.: Addison-Wesley. 16. van Uden, A. (1991). ’doven in gesprek’. De reflecterende moedertaal methode (R.M.M.) voor de opvoeding van dove kinderen. Sint-Michielsgestel: Instituut voor Doven. 17. Wood, D., Wood, H., Griffiths, A., & Howarth, I. (with Tait, M. & Lewis, S.) (1986). Teaching and talking with deaf children. Chichester, New York: John Wiley &


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Empfohlene Literatur Bodner-Johnson, B. & Sass-Lehrer, M., (2003). The young deaf or hard of hearing child. A family-centred approach to early education. London, Paul. H. Brookes Publishing. Zum Inhalt


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