Broschüre NS Erinnerungsorte im Montafon

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NS-Erinnerungsorte im Montafon



NS-Erinnerungsorte im Montafon

Unter Mitarbeit von Alexander Sturn und Daniela Vogt-Marent Texte von Schülerinnen und Schülern der Klassen 4a und 4b

Herausgegeben von Michael Kasper Heimatschutzverein Montafon, Kirchplatz 15, 6780 Schruns © Schruns, 2015 ISBN: 978-3-902225-66-5


Die Zusammenarbeit zwischen der Mittelschule SchrunsDorf und den Montafoner Museen wird im Rahmen des Programms p[ART] – Partnerschaften zwischen Schulen und Kultureinrichtungen durchgeführt und von KulturKontakt Austria und dem Bundesministerium für Bildung und Frauen unterstützt.

ULTUR

AUSTRIA

ontakt

Gestaltung und Herstellung: Grafik-Design Frei, Götzis


Inhalt

Einleitung 4 Euthanasie (Altersheim Bartholomäberg)

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Aufbau im Bergland (Gemeindeamt Bartholomäberg)

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Zwangsarbeit (Lager Silbertal)

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Nikolaus Telitschko

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Zwangsarbeit (Lager Suggadin/St. Gallenkirch)

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Verfolgung und Flucht (Gargellen)

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Meinrad Juen

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Gescheiterte Grenzüber­schreitungen

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Jura Soyfers Fluchtversuch über Gargellen

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Der verratene Flüchtling vom Gafierjoch

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Die erhängten Jüdinnen in der St. Gallenkirchner ,,Kiecha‘‘

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Widerstand (Maisäß Tanafreida/St. Gallenkirch)

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Jakob Netzer

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Umgang mit der NS-Zeit (Erinnerungsplatz Silbertal)

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Josef Vallaster

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Literaturhinweise 30 Weiterführende Kontakte

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Einleitung

Im Rahmen des gemeinsamen Projektes der Mittelschule Schruns-Dorf und der Montafoner Museen begaben sich Schülerinnen und Schüler auf Spurensuche nach Erinnerungsorten an die NS-Zeit im Montafon. Zusammen mit ihren Lehrpersonen Daniela Vogt-Marent und Alexander Sturn setzten sich die Jugendlichen intensiv mit der Zeit des Nationalsozialismus in ihrer näheren Umgebung auseinander. Die Erinnerungsarbeit führte sie unter anderem nach Silbertal, wo sie den Erinnerungsplatz bei der Kirche besichtigten. Bruno Winkler und Sarah Schlatter gaben vor Ort Einblick in die Hintergründe, die zur Neugestaltung des Platzes geführt hatten. Hans Netzer brachte den Schülerinnen und Schülern in Silbertal die Geschichte des Zwangsarbeiterlagers näher und erzählte von den Schicksalen der dort untergebrachten Menschen.

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In Gargellen berichtete Friedrich Juen auf einer Führung durch den Ort spannende Geschichten über Meinrad Juen, der etliche jüdische Flüchtlinge in die Schweiz geschmuggelt hatte, sowie über tragisch gescheiterte Fluchtversuche aus dem Dritten Reich. Um ein ehemaliges Zwangsarbeiterlager ging es auch auf der Rüti in St. Gallenkirch. Zeitzeuge Gebhard Marlin berichtete von seiner Jugendzeit, die er dort im Frühjahr 1945 im sogenannten „Wehrertüchtigungslager“ verbracht hatte. Außerdem beteiligten sich zahlreiche Jugendliche am archäologischen Survey, der dort im Juni unter der Leitung von Isabella Greußing und Barbara Hausmair stattfand.


Michael Kasper verdeutlichte in St. Gallenkirch das Thema Widerstand gegen das NS-Regime am Beispiel der „Waldhocker“ auf Tanafreida und Zamang. Gerhard Siegl erklärte in Bartholomäberg den Gemeinschaftsaufbau im Bergland und schließlich sprach Michael Kasper mit den Schülerinnen und Schülern beim Altersheim Bartholomäberg über die Euthanasieopfer in Vorarlberg. Für die Jugendlichen waren die Exkursionen eine spannende und interessante Abwechslung. Im Unterricht wurde die Arbeit fortgesetzt und das Gehörte zusätzlich vertieft und bearbeitet. Im Zuge des Kulturmonats SEPTIMO werden die Ergebnisse des umfangreichen Unterrichtsprojekts im Rahmen einer Broschüre sowie einer Ausstellung der Öffentlichkeit vorgestellt.

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Euthanasie (Altersheim Bartholomäberg)

In Vorarlberg gab es die Anstalt Valduna. Hier wurden die Menschen zwar untergebracht, doch nicht umgebracht. Meistens wurden die „Patienten“ danach nach Hall (Tirol) oder Hartheim (OÖ) transportiert, wo sie dann getötet wurden.

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Ehemaliges Armenhaus Barholomäberg


Um die Menschen zu ermorden, wandte man verschiedene Methoden an: Die Menschen wurden durch Gas, Überdosierung von Medikamenten oder durch systematisches Aushungern umgebracht. Insgesamt wurden ca. 450 Personen aus Vorarlberg im Rahmen der sogenannten Euthanasie getötet. Auch im Montafon gab es Euthanasie-Opfer, welche aus dem damaligen Armenhaus (heute: Seniorenheim) abgeholt wurden. Zuvor besuchte ein Arzt, Dr. Vonbun, das Armenhaus und wählte 13 Personen aus, die dann von einem Bus abgeholt wurden. Sechs der Opfer kamen wieder zurück, da sich eine der betreuenden Barmherzigen Schwestern sehr für sie einsetzte, doch die anderen wurden deportiert. Den Familien der Opfer wurde mitgeteilt, dass die Menschen eines natürlichen Todes gestorben seien.

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Aufbau im Bergland (Gemeindeamt Bartholomäberg)

Die Bergbauern waren in den Augen der Nationalsozialisten ein zähes, widerstandsfähiges Volk und wurden speziell gefördert, weil sie sehr gut in die Rassenideologie der Nazis passten. Insgesamt wurden im Gau Tirol-Vorarlberg in 62 Gemeinden zwischen 198,4 bis 316.2 Millionen Reichsmark in fünf Jahren investiert. Durch „intensive propagandistische Bearbeitung“ sollten sich die Bauern „freiwillig“ dem Willen des Regimes unterwerfen. Diese Methode kam aber eher einem „freiwilligen Zwang“ näher. Wer nicht mitmachen wollte, wurde von dem Ortsbauernführer „überredet“. Außerdem wurden die Bauern in Gruppen eingeteilt, die verschiedene Maschinen (z.B. eine Mähmaschine) miteinander teilen mussten, um Geld zu sparen. Die Aufgabe der Bergbauern wäre in weiterer Folge, neu erobertes Land zu besiedeln und es für das deutsche Volk nutzbar zu machen. Außerdem sollte das neu erschlossene Land gefördert und mit dessen Besiedelung die Landflucht dezimiert werden. Die Besiedlung von Vorarlberg und Tirol war laut einem SS-Offizier ein Musterbeispiel für andere Erschließungen im Osten des Reichs. 8

Erstmals erlangte man Erfolge in der Landwirtschaft mit dem Einsatz von Kunstdünger. In einigen Gemeinden


erreichte man dadurch Ertragssteigerungen von bis zu 400%.

Inszenierte Berglandwirtschaft in der NS-Zeit

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Zwangsarbeit (Lager Silbertal)

Die im Silbertal eingesetzten Zwangsarbeiter stammten hauptsächlich aus der Ukraine, vereinzelt auch aus Serbien. Sie mussten Zwangsarbeit leisten. Manche Lageraufseher waren Einheimische. Diese waren laut zahlreicher Aussagen bei weitem nicht so streng wie die deutschen Wärter. Nach dem Krieg wurde das Zwangsarbeiterlager rasch dem Erdboden gleichgemacht und das Thema wur-

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Blick auf das Areal des ehemaligen Lagers Silbertal


de totgeschwiegen. Untergebracht waren die Zwangsarbeiter meistens in Baracken, in denen keine oder mangelhafte hygienischen Einrichtungen vorhanden waren. Es gab eine Köchin für die Aufseher und eine andere nur für die Zwangsarbeiter, weil die Küche für die Arbeiter nicht so gut und gesund sein sollte. Die Zwangsarbeiter errichteten z.B. die Materialseilbahn von Silbertal auf den Kristberg. Die Flucht aus dem Lager gelang niemandem. Einige die es versuchten, kamen ums Leben oder wurden ins „Arbeitserziehungslager Reichenau“ bei Innsbruck geschickt. Den Zwangsarbeitern, die auf den Montafoner Bauernhöfen eingesetzt wurden, erging es teilweise besser. Das Lager selbst befand sich im Gebiet des heutigen Gemeindebauhofes.

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Nikolaus Telitschko

Nikolaus wurde am 22.Dezember 1925 in der ukrainischen Kleinstadt Horodyska geboren und erlebte als Kind eine Hungersnot. Ein Jahr vor seinem Schulabschluss kam er in die Maschinerie der deutschen Rekrutierung. Nikolaus wurde mit 14 Jahren in das Arbeitslager Silber-

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Zwangsarbeitskräfte im Lager Silbertal


tal gebracht. Als Nikolaus in das Lager kam, war es noch nicht fertig. Er und die Mitgefangenen wurden einen Monat lang in einem Stall untergebracht. Er wurde bei verschieden Baustellen eingesetzt, hauptsächlich aber beim Bau von Güterwegen oder beim Bau der Kristbergbahn. Nikolaus war oft krank, bekam Abszesse, die immer wieder aufbrachen. Wer Glück hatte, konnte hin und wieder bei Bauern arbeiten und dort zusätzliche Lebensmittel erhalten. Das tägliche Frühstück bestand aus Kaffee und einem Wecken Brot für vier Personen, mittags gab es Kraut und abends Futterrüben. Neben dem Hunger litten die Zwangsarbeiter im Winter unter der Kälte, da keine bzw. zu wenig passende Kleidung vorhanden war. Als der Krieg zu Ende war, gingen fast alle Zwangsarbeiter zurück in die Sowjetunion, aber N. Telitschko blieb im Dorf zurück, weil der Bürgermeister ihm diesen Rat gab. Als er dann viele Jahre später um Rente ansuchte, wurden ihm die Jahre als Zwangsarbeiter nicht angerechnet.

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Zwangsarbeit (Lager Suggadin/ St. Gallenkirch)

In diesem Lager waren ausländische Zivilarbeiter („Fremdarbeiter“), sowjetische Zivilarbeiter („Ostarbeiter“) und Kriegsgefangene untergebracht. Sie lebten unter widrigsten Bedingungen, oft auf kleinstem Raum. Die

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Reste des ehemaligen Lagers Suggadin


Zivilarbeiter spielten eine starke wirtschaftliche Rolle für die Illwerke, größere Betriebe, aber auch für die Landwirtschaft. Da sie billige Arbeitskräfte waren, nützten die Fremdarbeiter besonders beim Ausbau der Stromgewinnung und der damit verbundenen Errichtung des Silvrettastausees, des Obervermunt-, Latschau- und Rodundwerks. Dabei wurden insgesamt 207 Mio. Reichsmark in den Ausbau der regionalen Wasserkraft gesteckt. Das Lager Suggadin ist 1939 über dem Suggadinbach errichtet worden. Das ehemalige Lagerareal liegt auf rund 1000m Seehöhe. Angeblich wurde das Gebiet gegen Ende der NS-Herrschaft als „Wehrertüchtigungslager“ der HJ genutzt. Im Juni 2015 fand die erste Untersuchung des bewaldeten Terrains statt, um einen besseren Einblick in die Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter im alpinen Raum zu bekommen.

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Verfolgung und Flucht (Gargellen)

Von 1933 – 1945 versuchten von den Nazis Verfolgte in die Schweiz zu flüchten. Die Schweiz versuchte sich aber möglichst effizient abzuschotten. Zuerst wurde die Visumspflicht wieder eingeführt, ab August 1938 wurde die

16 Ehemaliger Zollwachstützpunkt im Wintertal


Grenze überhaupt geschlossen und illegal Eingereiste wieder ausgewiesen. Einige versuchten dies auf eigene Faust, andere vertrauten sich professionellen Menschenschmugglern an, die sie für Geld über die grüne Grenze brachten. Ein genauer Preis ist nicht bekannt. Eine Verhaftung in der Schweiz zog lediglich eine Buße und eine Haftstrafe von einigen Wochen bis Monaten nach sich, während eine Verhaftung auf deutschem Gebiet die Deportation in ein Konzentrationslager – und seltener auch die sofortige Erschießung – bedeuten konnte. Die Schweizer Behörden begannen 1942 systematisch nach Schleppern und Flüchtlingen zu suchen. Es kam vor, dass die Passeure den Flüchtlingen das gesamte Geld, ihre Wertsachen und Nahrungsmittel abnahmen und sie vor der Grenze stehen ließen. Manche Flüchtlinge wurden von den Schleppern den Grenzwachen ausgeliefert, weil Belohnungen versprochen worden waren.

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Meinrad Juen

Geboren 1886 in St. Gallenkirch, wuchs Meinrad Juen in einer Landwirtschaft auf, in der er später auch arbeitete. Er interessierte sich schon früh für zusätzliche Einkommensquellen: Im Alter von 15 Jahren begann Meinrad Juen Waren zu schmuggeln. Er versammelte eine ganze Gruppe von Kollegen und Helfern. Einige Male wurde er erwischt und eingesperrt. So lang er konnte, verweigerte er den Kriegsdienst, doch 1915 wurde er schlussendlich im Ersten Weltkrieg zur Front abkommandiert. 1920 heiratete Meinrad Ida Fiel. 1921 bekamen sie den gemeinsamen Sohn Ernst. Sie pachteten eine Landwirtschaft und führten eine Kantine für die Bahnarbeiter der Illwerke. 1931 trennte sich das Ehepaar.

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Meinrad Juen im Ersten Weltkrieg

Am 10. April 1938 stimmten Meinrad Juen und


Pfarrer Josef Stoppel bei der Volksabstimmung gegen Hitler. Juen ging weiterhin illegalen Geschäften nach. Er schmuggelte jetzt nicht nur mehr Waren, sondern auch Juden über die Schweizer Grenze. Es ist von 42 Juden auszugehen, denen Meinrad über die Schweizer Grenzer verholfen hat. Im Oktober 1942 wurde er verhaftet. Seine Geschäftsbeziehungen retteten ihm das Leben. Mit seiner Flucht begann für ihn ein zweieinhalbjähriges Versteckspiel. Bis zu seinem Lebensende führte er den Schwarzhandel fort. Am 3. März 1949 wurde er im Alter von 63 Jahren tot neben seinem Bett aufgefunden. Die Todesursache war jedoch unklar. Es wird spekuliert, dass er sich erschossen hat oder vergiftet wurde, die meisten aber nehmen an, dass er einem Herzinfarkt erlegen war.

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Gescheiterte Grenzüber­schreitungen

Die Grenze zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich war in den Jahren 1938 bis 1945 Schauplatz zahlreicher dramatischer Ereignisse. Hunderte von Flüchtlingen, darunter vor allem Juden, politisch Verfolgte, Intellektuelle und Zwangsarbeiter hatten nicht die Möglichkeit, legal in die Schweiz auszureisen und ergriffen deshalb die Flucht über die Berge. Die ,,Juden-Schmuggler‘‘ wussten sich zu tarnen und deshalb sind kaum schriftliche oder mündliche Quellen zu den genaueren Umständen vorhanden. Von Zeitzeugen hingegen kann man Einiges erfahren. Zu diesen immer weiter erzählten Schicksalen zählen zum Beispiel die ,,Geschichte vom verratenen Flüchtling‘‘ und jene der ,,Erhängten Jüdinnen‘‘.

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Jura Soyfers Fluchtversuch über Gargellen

Bereits in den ersten Tagen nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich am 12. März 1938 wurden ca. 76.000 Österreicher festgenommen und binnen kürzester Zeit in Konzentrationslager deportiert. Zahlreiche bekannte Persönlichkeiten versuchten gleich in den ersten Tagen nach dem 12. März in die Schweiz zu fliehen, was für viele über Feldkirch möglich war. Unter ihnen Jura Soyfer, der als Dichter und Autor bekannt war. Soyfer musste schon aufgrund seiner politischen Tätigkeit befürchten, auf der NS- Fahndungsliste zu stehen. Deshalb versuchte er mit seinem Freund Hugo Ebner über die Montafoner-Prättigauer Grenze zu fliehen. Sie fuhren mit einem überfüllten D-Zug von Wien nach Bludenz und mit dem Bus weiter nach Schruns. Auf Skiern stiegen sie nach Gargellen, wurden aber von Uniformierten angehalten. Sie wurden verhaftet und später starb Jura Soyfer an Typhus im Konzentrationslager Dachau. Er wurde durch das dort mündlich übertragene ,,Dachaulied‘‘ weltbekannt.

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Der verratene Flüchtling vom Gafierjoch

Es gibt viele Versionen vom verratenen Flüchtling, aber zusammengefasst könnte es so passiert sein:

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Ein Flüchtling namens Nikolaus Staudt wollte über Feldkirch nach Bludenz reisen. Die Kontrolleure haben dies akzeptiert und Nikolaus konnte weiter nach St. Gallenkirch fahren. Die Polizei habe dann einem Einheimischen (einem beliebten Touristenführer und damals fanatischen Nazi) gesagt, dass er ihn abfangen und zum Gafierjoch brinNikolaus Staudt auf einer Zeichnung gen soll. Zwei anum 1938 dere haben diesem Führer geholfen und Staudt beim Gandasee erschossen und anschließend zur Madrisahütte geschleppt. Er wurde dann in Gargellen begraben. Der Touristenführer, der ihn zum Gafierjoch gebracht hatte, kam nicht mehr aus dem Krieg zurück.


Die erhängten Jüdinnen in der St. Gallenkirchner ,,Kiecha‘‘

Den Berichten zufolge kamen im Sommer 1941 zwei jüdische Frauen ins Montafon. Ihre Namen sind, ebenso wie ihre Herkunft, bis heute unbekannt. Manche meinen sich zu erinnern, dass sie Schwestern waren, andere behaupten, es waren junge Lehrerinnen. Wer sie auch waren, sie waren gezwungen, die Flucht über die Berge in die neutrale Schweiz zu wagen. Man hat sie aber erwischt und sie wurden in die St. Gallenkirchner „Kiecha“ (Arrest) überstellt, um dort eine Nacht zu verbringen und dann nach Bludenz verlegt zu werden. Die beiden Jüdinnen wussten, dass sie in ein Konzentrationslager verschleppt werden würden und erhängten sich in der Kiecha.

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Widerstand (Maisäß Tanafreida/ St. Gallenkirch)

In der Nacht vom 19. auf den 20. April 1945 klebte die Widerstandsbewegung in ganz St. Gallenkirch rot-weißrote Papierstreifen an die Gebäude. Am 30. April übernahmen Anton Düngler, Jakob Netzer und ein Luftbeobachter die Flugmeldestelle in St. Gallenkirch. Am 1. Mai trat die Gruppe an die Öffentlichkeit und führte die ersten Schritte zur Befreiung des Innermontafons aus. Noch am selben Tag wurde eine Vierlings-Flak des Militärs übernommen. Die Flak wurde im Bereich Valatscha aufgestellt, zudem wurden viele Soldaten entwaffnet. Der Arzt Dr. Walter Newesely hatte zuvor schon die „Patrioten“ (die Angehörigen der Widerstandsbewegung) krankgeschrieben, damit sie nicht mehr zum Wehrdienst einberufen werden konnten. Unter dem Kommando von Fähnrich Elmar Ganahl wurden Angehörige der SS aus dem Montafon ferngehalten. Am 16. Mai kamen endlich die Franzosen nach St. Gallenkirch.

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Jakob Netzer

Der aus St. Gallenkirch stammende Jakob Netzer wurde nach der Schule im Jahr 1942 zusammen mit anderen Soldaten nach Tirol ins Stubaital einberufen. Nach der Grundausbildung verlegte man Jakob an die Front, wo er an den Kämpfen um das Kloster Monte Cassino teilnahm. Danach wurde er in der Anzio-Nettuno-Schlacht verletzt. Später wurde er nach Florenz gebracht und operiert. Nach einer Weile verlegte man ihn nach Feldkirch. Ihm gelang die Flucht nach St. Gallenkirch, wo er sich versteckte, um dem erneuten Wehrdienst zu entgehen. Seine Mutter versteckte Jakob Netzer im Stall. Er knüpfte Kontakte mit anderen flüchtigen Männern. Als der Schnee schmolz ging er mit den anderen Flüchtlingen auf den Maisäß Tanafreida. Unter anderem wurden auch Kontakte zu benachbarten Widerstandskämpfern geschlossen. Blick auf den Maiäß Tanafreida und Zamang

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Umgang mit der NS-Zeit (Erinnerungsplatz Silbertal)

Es blieb lange unbekannt, dass Josef Vallaster ein Kriegsverbrecher war. In seinem Geburtsort Silbertal wurde er vielmehr auf dem örtlichen Kriegerdenkmal als Gefallener des Zweiten Weltkriegs genannt und damit zum Kriegsopfer erklärt. Seine NS-Täterschaft war seit Ende der 1980er Jahre zunächst nur in Historikerkreisen bekannt. Die Gemeinde Silbertal richtete eine Geschichtswerkstatt ein, die von mehreren Institutionen getragen und vom Vorarlberger Landesarchiv fachlich begleitet wurde. Vallaster sei nach seiner Beisetzung in seiner Heimat als „gefallen“ gemeldet worden, was seine Aufnahme in die Gefallenenliste des Kriegerdenkmals erkläre. Schließlich wurde 2009 durch die Gemeinde Silbertal entschieden, das Silbertaler Kriegerdenkmal durch einen Erinnerungsplatz zu ersetzen. Dort sollte nicht nur der aus dem Ort stammenden Gefallenen der beiden Weltkriege gedacht werden, sondern auch der Flüchtlinge, Zwangsarbeiter und „Euthanasie“-Opfer. Das umstrittene Denkmal wurde von der Gemeinde Silbertal im Juni 2009 entfernt, wobei Drohungen von Neonazis gegen die Gemeinde und gegen einzelne Personen zu einer beschleunigten Entscheidung beigetragen hatten.

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Im November 2010 wurde der neue Gedenkplatz eröffnet. Die Denkmalfläche wurde in eine Ebene gelegt und unregelmäßig mit Steinplatten ausgelegt. Eine eigene


Steinplatte erwähnt Josef Vallaster als Grund für die Umgestaltung. Eine Steintafel listet die Soldaten des Ersten Weltkrieges auf, eine zweite die Soldaten des Zweiten Weltkrieges. Eine dritte Steintafel nennt namentlich weitere Opfer des Zweiten Weltkrieges, darunter mehrere Zwangsarbeiter, einen Flüchtling und zwei „Euthanasie“Opfer.

Erinnerungsplatz Silbertal im Frühjahr

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Josef Vallaster

Josef Vallaster wurde am 5. Februar 1910 in Silbertal geboren. Er war ab 1940 an den Verbrechen der NS„Euthanasie“ und dem Holocaust beteiligt. Er wurde unter anderem in der NS-Tötungsanstalt Hartheim sowie im Vernichtungslager Sobibór eingesetzt. Beim Aufstand von Sobibór wurde er am 14. Oktober 1940 von revoltierenden Häftlingen getötet.

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Josef Vallaster verlor im Alter von sechs Jahren seinen Vater, der 1916 als Soldat des Ersten Weltkrieges in russischer Gefangenschaft starb. Nachdem die NSDAP am 19. Juni 1933 als Partei verboten wurde, verließ Vallaster Österreich und flüchtete nach Deutschland. Daher wurde ihm „wegen unerlaubtem Grenzübertritt nach Deutschland“ vom Bezirk Bludenz seine österreichische Staatsbürgerschaft aberkannt. Kurz darauf wurde Vallaster reichsdeutscher Staatsbürger. Vallaster wurde am 1. Mai 1938 als Parteimitglied in die NSDAP aufgenommen. Ab Mai 1940 war er in der Tötungsanstalt Hartheim (Oberösterreich) an der Vergasung und Verbrennung von behinderten und kranken Menschen beteiligt. Vallaster heiratete im September 1940 Elisabeth Gust, eine Krankenpflegerin des Tötungspersonals. Die Trauung von Josef und Elisabeth Vallaster erfolgte im regulären Standesamt der Gemeinde Alkoven, fand jedoch unter Ausschluss sämtlicher Verwandter statt. Als Elisabeth Vallaster 1941 schwanger wurde, beendete sie ihren Dienst in der Tötungsanstalt Hartheim und kehrte in ihre brandenburgische Heimat zurück. 1942 gebar sie dort den gemeinsamen Sohn.


Danach war Vallaster im Vernichtungslager Sobibór als Aufseher tätig und am Massenmord an hauptsächlich jüdischen Menschen aus ganz Europa beteiligt. Vallaster beaufsichtigte in Sobibór im Lager lll die Vergasung der Opfer und ihre Verbrennung. Insgesamt wird die Zahl der Ermordeten im Lager Sobibór auf 150.000 bis 250.000 Menschen geschätzt. Am 14. Oktober 1943 fand im Vernichtungslager eine Revolte und Massenflucht von hauptsächlich jüdischen Kriegsgefangenen aus Weißrussland statt. Bei diesem Aufstand von Sobibór wurde Vallaster, wie auch andere SS-Männer, getötet. Vallaster wurde am 17. Oktober 1943 auf dem Soldatenfriedhof in Chelm mit militärischen Ehren beerdigt.

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Literaturhinweise

Gernot Egger, Ausgrenzen – Erfassen – Vernichten. Arme und „Irre“ in Vorarlberg (Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 7), Bregenz 1990. Edith Hessenberger, Menschen-Schmuggler-Schlepper. Eine Annäherung an das Geschäft mit der Grenze am Beispiel der Biographie Meinrad Juens, in: Edith Hessenberger (Hg.), Grenzüberschreitungen. Von Schmugglern, Schleppern, Flüchtlingen. Aspekte einer Grenze am Beispiel Montafon-Prättigau (Sonderband 5 zur Montafoner Schriftenreihe), Schruns 2008, S. 147-175. Edith Hessenberger, Gescheiterte Grenzüberschreitungen. Geschichten, die man nicht vergisst, in: Edith Hessenberger (Hg.), Grenzüberschreitungen. Von Schmugglern, Schleppern, Flüchtlingen. Aspekte einer Grenze am Beispiel Montafon-Prättigau (Sonderband 5 zur Montafoner Schriftenreihe), Schruns 2008, S. 177-191. Michael Kasper, Kriegsende in St. Gallenkirch. Bericht eines Deserteurs und Widerstandskämpfers, in: Andreas Rudigier (Hg.), Jahresbericht 2007. Montafoner Museen, Heimatschutzverein Montafon, Montafon Archiv, Schruns 2008, S. 79-83. Michael Kasper, „Durchgang ist hier strengstens verboten.“ Die Grenze zwischen Montafon und Prättigau in der NS-Zeit 1939-1945, in: Edith Hessenberger (Hg.), Grenzüberschreitungen. Von Schmugglern, Schleppern, Flüchtlingen. Aspekte einer Grenze am Beispiel Montafon-Prättigau (Sonderband 5 zur Montafoner Schriftenreihe), Schruns 2008, S. 79-108. Michael Kasper, Zwangsarbeit auf den Baustellen der Vorarlberger Illwerke 1938-45, in: Michael Kasper (Hg.), Jahresbericht 2012. Montafoner Museen, Heimatschutzverein Montafon, Montafon Archiv, Schruns 2013, S. 67-70. Michael Kasper, Fahnenwechsel im Montafon – Frühjahr 1945, in: Michael Kasper (Hg.), Jahresbericht 2014. Montafoner Museen, Heimatschutzverein Montafon, Montafon Archiv, Schruns 2015, S. 57f.

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Hans Netzer, Silbertaler Soldaten im Zweiten Weltkrieg (Montafoner Schriftenreihe 8), Schruns 2003.


Hans Netzer, Das Kriegsgefangenenlager Silbertal. Ein Exkursionsbericht, in: Andreas Rudigier (Hg.), Jahresbericht 2008. Montafoner Museen, Heimatschutzverein Montafon, Montafon Archiv, Schruns 2009, S. 100-102. Meinrad Pichler, Nationalsozialismus in Vorarlberg. Opfer . Täter . Gegner (Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern 3), Innsbruck/Wien/Bozen 2012. Margarethe Ruff, „Um ihre Jugend betrogen“. Ukrainische Zwangsarbeiter/innen in Vorarlberg 1942-1945 (Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 13), Bregenz 1996. Margarethe Ruff, Minderjährige Gefangene des Faschismus. Lebensgeschichten polnischer und ukrainischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Vorarlberg. Unter Mitarbeit von Werner Bundschuh, Innsbruck 2014. Gerhard Siegl, Griff nach dem letzten Strohhalm? Der nationalsozialistische „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“ am Beispiel des Reichsgaues Tirol-Vorarlberg, in: Jahrbuch für die Geschichte des ländlichen Raumes 2 (2005), S. 161-169. Wolfgang Weber, Nationalsozialismus und Kriegsende 1945 in den Vorarlberger Gemeinden des Bezirks Bludenz. Ein Quellenband (Quellen zur Geschichte Vorarlbergs 2), Regensburg 2001. Wolfang Weber, Von Silbertal nach Sobibor. Über Josef Vallaster und den Nationalsozialismus im Montafon (Schriftenreihe der RheticusGesellschaft 48), Feldkirch 2008. Bruno Winkler, Spurensuche in einer Gedächtnislandschaft – Zwischenbericht der Silbertaler Geschichtswerkstatt zum Stand der Arbeit, in: Kultur 7 (2008), S. 38-40. Bruno Winkler, Erinnerungskultur in Silbertal, rund um eine Täterbiografie, in: Andreas Rudigier (Hg.), Jahresbericht 2008. Montafoner Museen, Heimatschutzverein Montafon, Montafon Archiv, Schruns 2009, S. 97-100. Bruno Winkler, Textur des Erinnerns. Gestaltungskonzept für einen Erinnerungsplatz in Silbertal, in: Andreas Rudigier (Hg.), Jahresbericht 2009. Montafoner Museen, Heimatschutzverein Montafon, Montafon Archiv, Schruns 2010, S. 122f.

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Bruno Winkler, Geschichtswerkstatt und Erinnerungsplatz Silbertal, in: Andreas Rudigier (Hg.), Jahresbericht 2010. Montafoner Museen, Heimatschutzverein Montafon, Montafon Archiv, Schruns 2011, S. 8789. Bruno Winkler, Bodennahes Erinnern. Aspekte zum Gestaltungskonzept des Erinnerungsplatzes in Silbertal, in: Andreas Rudigier (Hg.), Jahresbericht 2010. Montafoner Museen, Heimatschutzverein Montafon, Montafon Archiv, Schruns 2011, S. 90. Internet http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/lernmaterialunterricht/zwangsarbeit-in-vorarlberg http://www.illwerke.at/inhalt/at/1563.htm

WeiterfĂźhrende Kontakte

Montafoner Museen Kirchplatz 15 6780 Schruns 05556/74723 info@montafoner-museen.at

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Verein Nationalsozialismus und Holocaust: Gedächtnis und Gegenwart Kirchstrasse 9/2 A-6900 Bregenz 05574/52416 office@erinnern.at



ISBN: 978-3-902225-66-5


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