mosaik
neutral wie üblich
Ausgabe 29 • Sommer 2019 • Salzburg
Zeitschrift für Literatur und Kultur
Kostenoffenlegung
Ausgabe 29 – Sommer 2019 mosaik - Verein zur Förderung neuer Literatur und Kultur (ZVR: 036974145) Herausgeber*in: Josef Kirchner, Sarah Oswald Textauswahl: Felicitas Biller, Marlen Mairhofer, Andreas Neuhauser, Manuel Riemelmoser Layout/Satz/Grafik/Illustration: Sarah Oswald Korrektorat: Manuel Riemelmoser mosaikzeitschrift.at liberladen.org Auflage: 1500 Stück Erscheinungsweise: 3 Ausgaben pro Jahr Erscheinungsort: Salzburg ISSN 2409-0220 mosaik ist eine Plattform zur Vermittlung und Vernetzung gegenwärtiger Literaturen. Print- und Onlinepublikationen sowie Veranstaltungen treten in Synergie mit anderen Kunstformen und zielen auf die Förderung aktueller Stimmen und deren Vielfalt. Hierbei steht das Werk im Zentrum. mosaik will Räume schaffen, um den Literatur- und Kunstdiskurs zu hinterfragen und neue Zugänge zu ermöglichen. Aus der Gesamtheit dieser Aktivitäten entsteht das namensgebende Bild.
Du willst ein Teil des mosaik werden? schreib@mosaikzeitschrift.at Einsendeschluss Ausgabe 30: 04.09.19 Details zu den Einsenderichtlinien findest du auf: mosaikzeitschrift.at
Das mosaik ist kostenlos erhältlich. Das bedeutet jedoch nicht, dass bei der Produktion keine Kosten anfallen. Die (fiktive) Entlohnung der Arbeitsstunden im Team haben wir nach den fair-pay-Empfehlungen der IG Kultur Österreich bemessen, die Arbeitszeit der Autor*innen und Künstler*innen können wir weder ermessen noch angemessen entlohnen. Das mosaik finanziert sich großteils über Förderung der Stadt und des Landes Salzburg sowie des Bundeskanzleramtes Österreich. Wenn du unsere Arbeit schätzt, kannst du uns auch monetär unterstützen: Mit einem Abo, einer Mitgliedschaft oder einer einmaligen Förderung. Mehr Infos dazu: mosaikzeitschrift.at/geld
mosaik29 Redaktion (74h à 17€) *
1258,00€
Organisation (44h à 16€) *
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Korrektorat (22h à 17€) *
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Grafik & Satz (18h à 17€) *
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2722,83€ 385,46€ 320,00€ unbezahlbar
Summe
6070,29€
Auflage
1500
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4,05€
INHALT 4
INTRO
5
FERNREISENDE Christiane Quandt – Chak Mool Daniel Klaus – Angeln Paul Jennerjahn – fensterstudie Thomas Ballhausen – Stormy Miranda Anne Laubner – so gut wie wir
13 ARTGENOSSEN Anne Martin – sanft Christoph Schwarz – Der Kanzler Camilla Schütz – manchmal wird es
wenigstens abend
35 BABEL
Knut Birkholz – Ausflug
Jerzy Jarniewicz – Drzwi zamyka kto ostatni /
John Sauter – Flaggen
Der Letzte schließt die Tür Camelia Iuliana Radu – Îmbrățișare / Umarmung
21 VIERZEHN FREMDE
Alen Besic – Poezija nastaje / Die Poesie entsteht
Martin Peichl – Evolution Gloria Ballhause – Rendezvous mit Vogel Thordis Wolf – 48komma3 gigabyte du Thyra Thorn – Kakerlake Stefanie Schweizer – Nachricht nach
dem Tonsignal
Peter Spafford – People with kids / Leute mit Kindern
43 VANESSA STEINER 51 KULTURSZENE Peter.W. – Hanuschplatz #17:
Katherina Braschel – Die Wippe als Metapher
für einen Frühstücks-
Andreas Neuhauser – „Das Problem
Gedanken.
mit der Geschichte“
Das halbe Glas
(Zeitschriftenschau)
Josef Kirchner – Dadasophie & Deutschland (Rezension) Marko Dinić – Lyrik für 1354 Menschen (Interview mit Daniela Seel)
Martin Sieber – Morieux (Neuerscheinung edition mosaik)
64 KREATIVRAUM Zoltán Lesi
INTRO
„alles wird neu alles wird stolz alles wird win win wer weint kontaminiert den boden“ – Anne Laubner, S. 12 zivilisatorischer Fortschritt. Solche Randbereiche In unseren Tagen wird viel poliert, konfektioniert,
– Übersehenes, Vergessenes, Verdrängtes – zu
optimiert. Das Leben wird in schönen, sterilen
erforschen sehen wir als Aufgabe einer Litera-
Ideal-Bildern gezeigt, gedacht, gemessen und
turzeitschrift, als Aufgabe von Kulturvermittlung
in diese enger werdenden Normvorstellungen
generell.
gegossen. Dazu gehört auch die glatte Oberflä-
4
che: Nicht definieren, sich nicht festlegen. Neut-
„Mich interessieren vor allem Stimmen und
ral bleiben – wie üblich.
Texte, die Sprache nicht als Werkzeug be-
In unserer Gesellschaft will (fast) jede*r Mittel-
greifen, um etwas oder sich auszudrücken,
schicht sein, (fast) jede politische Partei gibt vor,
sondern als, sagen wir mal, Material, in dem
die sogenannte Mitte zu vertreten. Mitte wird
sich Kollektivität und Individualität derart
gleichgesetzt mit Normalität: Etwas Gewöhnli-
durchdringen, dass ihre Wahrheit mein Ver-
ches, Übliches, Neutrales wird konstruiert, das
stehen übersteigt, mich zugleich aber über-
Sicherheit zu geben vorgibt inmitten des un-
setzt.“
wägbaren Lebens, der unübersichtlichen Welt.
– Daniela Seel im Interview, S. 60
Nur nicht zu weit abweichen, sonst könnte man plötzlich interessant werden.
Kunst ist daher notgedrungen provokant, irritie-
Aber gerade die Kanten und Furchen und Ab-
rend – und manchmal ist sie auch „neutral wie
gründe sind die spannenden Orte: Im Kontakt
üblich“. Denn auch wenn der Waffenstillstand
mit unbekanntem, unbequemem Terrain können
ausgerufen ist, der pH-Wert bei 7 liegt und
wir Neues entstehen und wachsen lassen, dort
scheinbar wissenschaftliche Objektivität vor-
kann echte Innovation entstehen: sozialer und
herrscht, reflektiert sie weiter munter unser Leben – wie es ist und wie es (offenbar!) sein soll. Wir können, müssen, dürfen jedenfalls so widersprüchlich, verschoben und unpassend bleiben, wie wir sind. Viel Freude mit der neuen Ausgabe,
euer mosaik
Fernreisende
Chak Mool
6
Ich erwache teigig weich, molluskenhaft ausge-
Magnesium-Ammonium-Phosphat, Zystin, bildet
blichen, als wäre jede Struktur über Nacht ver-
eine Kruste, will schützen, schützen. Es entsteht
schwunden, hätte sich aufgelöst in Gelatine.
ein Exoskelett, stabil, hart wie Stein, gelblich
Bin wassersüchtig, wo ist das Glas, die Flasche,
braun, verdeckt das Licht der Sonne, macht mir
ich trinke, trinke, kann nicht genug bekommen,
Schatten, schützt, schützt. Um mich harte Scha-
Schluck um Schluck, Liter um Liter fließt es in mich
le, hüllt den schwammigen Leib ein; ich schwim-
hinein, bis es spannt, Membranen reißen und das
me in Liquor. Um mich Hülle ohne Kerben, ohne
Innere löst sich allmählich auf; das Zwerchfell hält
Abteile, einziger Raum, den ich vollständig fülle:
nichts mehr, Sehnen, Muskeln, Knochen, Zähne,
weich und teigig, homogene Masse, pulsierend,
Haare, Nägel werden wässrig weich, schmelzen
atmend, weich. Meine Außenhülle ist stabil. Se-
nach und nach; Kalzium, Magnesium, Kalium,
mipermeabel hält sie den pH-Wert konstant bei
Phosphor, Nitrat, Schwefel werden in ungleichen
5,5, die Temperatur bei 37,5 Grad Celsius, den
Schichten von Fleisch und Haut allmählich resor-
Innendruck bei 10 mmHg, verhindert Flüssig-
biert.
keitsverlust durch Verdunstung oder Ablauf und hält den Wasseranteil stabil bei 88,5 %.
Ich weiche auf, werde flüssig fast, wie ein MolEngerling,
Gliedmaßen habe ich nicht mehr. Keine Saug-
Blutegel, Oktopus bewege mich in Wellen aus
näpfe, Tentakel, Arme, kann mich nicht mehr
wässrigem Gewebe, gehalten durch ein dünnes,
fortbewegen, von außen kaum erkennbar pul-
durchscheinend weißes Epithel, schleimig softe
siert es im Inneren unter harter Hülle. Um mich
Mukosa-Haut, glatt und feucht, ich schlängle,
gewölbt wie das Firmament die Schale, drinnen
winde mich auf einem nassen Boden, alle Behält-
weiches Wabern. Die Bedingungen sind ideal.
nisse gekippt, Flüssiges überall, ich in meinem
Der Zustand endlich stabil.
lusk,
Weichtier,
Nacktschnecke,
Element, nehme das Wasser in mich auf, schwelle an zu meiner vollen Größe und bin hier: farblose Masse, speckig glatt, Wasser tropft, verdunstet. Licht kommt. Sonne steht am Himmel. Luft trocknet. Die Hülle wird empfindlich, der neue Organismus schickt Signale. Haut wird rissig, Blut quillt hier und da aus Spalten, Rissen, Schwielen. Krusten bilden sich, dunkelrot auf teigig weißem Grund. In mir arbeitet die neu erdachte Maschinerie aus Nass, schickt Mineralien nach draußen, Hydrogencarbonat, Kalzium, Phosphor, Dentin,
Christiane Quandt
ARTGENOSSEN
sanft eskortierte mich der baumarktmitarbeiter kurz vor ladenschluss am unterarm geführt vorbei an den stiefmütterchen für eins neunundneunzig im topf in den zittrigen abend. ich stand. skeptisch beäugt. ich konnte nicht gehen. aber ich sollte. denn ich hatte – wie man der polizei erklärte, die alles ruhig vernahm – eine szene in der dekoabteilung gemacht.
14
einen apfel zum anlass genommen. einen dekoapfel aus kunststoff für vierzehn neunundneunzig mattgrau. von einer kundin in einen warenkorb gelegt, aus eben jenem entwendet. ich hatte scheiße gebrüllt und gegen die spachtelmasse gekickt dass das sünde ist. dekoäpfel in mattgrau in gärten. damit riss ich die schraubzwingen von der stange. an einem solarbuddha mit eingebautem LED machte ich halt und fing zu weinen an. ich konnte nicht mehr bestreiten, dass vierundzwanzig fünfzig für einen erleuchteten weg ein irres angebot ist.
Anne Martin
vierzehn fremde
evolution admire me, admire my clones habe mich wiederholt an dir Hand angelegt, Hände habe mich verschüttet in deine Richtung I‘m the first mammal to wear pants
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aber meine Hosen lieben deinen Parkettboden schon im Lift beginnen sie zu rutschen noch bevor ich deine angelehnte Wohnungstür aufstoße, zustoße it‘s herd behavior du und ich: ein Rudel, wir lauern beim Wasserloch, wir lauern bis der andere durstig geworden ist bis der andere hineinfällt in unsere Zähne it‘s evolution, baby du bist der Chemiebaukasten den ich zu Weihnachten jedes Jahr aufs Neue nicht geschenkt bekommen habe ich experimentiere
Martin Peichl
BABEL Gibt es den falschen Vater oder die falsche Mutter? Oder umgekehrt: Gibt es die richtigen Kinder? Was, wenn eines von ebendiesen ausbüchst, sich querstellt, randaliert? Und wer ist eigentlich Tito? Allen diesen Fragen und vielem mehr gehen die Texte nach, die wir diesmal für unsere Rubrik BABEL ausgesucht haben. Die Elternschaft und das Kindsein – sie sind zeitlose Themen und immer ein guter Anlass für gute Literatur.
Drzwi zamyka
der letzte
kto ostatni
schließt die tür
Kiedy kilka lat po śmierci matki
Als ich einige Jahre nach dem Tod der Mutter
zobaczyłem u ojca, który też nie żyje,
beim Vater, der auch nicht mehr lebt,
inną kobietę, nie mogłem mu tego wybaczyć
eine andere Frau erblickte,
konnte ich ihm das nicht verzeihen.
Mimo że sypiałem w tym czasie
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z trzema równocześnie. Jedną
Obwohl ich in dieser Zeit mit dreien
zabiłem we śnie, drugą sprzedałem na targu
gleichzeitig schlief. Die eine
niewolników w Stambule, trzecią zamieniłem
erschlug ich im Schlaf, die zweite verkaufte ich
w słup soli. Ta, co przyszła po nich,
auf dem Sklavenmarkt in Istanbul, die dritte
była Szeherazadą. Wymyślając baśnie,
verwandelte ich in eine Salzsäule. Die nach ihnen kam,
wymyślała siebie. Kiedy sułtan
war eine Sheherazade. Während sie Märchen erdachte,
poprosił ją wreszcie o rękę,
erdachte sie sich selbst. Als der Sultan
poderżnęła mi gardło nożykiem
endlich um ihre Hand anhielt,
do papieru. Nie mam jej tego za złe, bo
schlitzte sie mir die Kehle durch
dobrze wiem, do czego prowadzą opowieści
mit dem Papiermesser. Ich nehme es ihr nicht übel,
o latającym dywanie. Ojcu mam za złe, że
weil ich genau weiß, wozu Geschichten über
wpuścił obcą do kuchni, w której
fliegende Teppiche führen. Dem Vater nahm ich übel,
z matką, gdy żyła, lepiliśmy pierogi.
dass er eine Fremde in die Küche ließ, in der wir mit der Mutter, als sie lebte, Piroggen klebten
aus: Woda na Marsie [Wasser auf dem Mars], Biuro Literackie, Wrocław 2015.
Jerzy Jarniewicz
aus dem Polnischen von
Michael Pietrucha
Vanessa Steiner Ich nähere mich auf kßnstlerische und kreative Weise meiner Umwelt und umgebenden Gesellschaft an. Besonders interessieren mich haptische Erfahrungen, das Erleben von Materialien und Stimmungen. Meine Arbeit bezieht den Betrachter immer stark ein. Kunst im generellen Sinne ist fßr mich gezieltes Wahrnehmen, andere Sichtweisen kennenzulernen, Gedanken zu visualisieren und andere Personen am eigenen Prozess teilhaben zu lassen.
Apt. 79 Airbnb-Apartment in Stockholm – meine erste Erfahrung in einem sehr privaten und fremden Wohnraum, der mir offengelegt wurde, ohne die Besitzerin vorher kennengelernt zu haben. Der Wohnraum und die Kombination der Objekte waren sehr faszinierend für mich, darum fing ich an, die Gegenstände zu zeichnen.
Giftfläschchen, Risografie auf Tapete, 2019
kulturszene Weil nichts nur schwarz oder weiß ist, hat Peter.W. sich Gedanken über den präzisen und sensiblen Gebrauch von Sprache gemacht. Weil zu wenig Literaturzeitschriften rezensiert werden, hat sich Andreas Neuhauser die neueste Ausgabe der Bella Triste einmal genauer angesehen. Dazu ein kurzer Überblick, was sich sonst so tut in der Zeitschriften-Szene, von Josef Kirchner. Weil wir Daniela Seel und ihren Verlag kookbooks sehr schätzen, hat Marko Dinić ihr einige Fragen zur Entstehungsgeschichte und zum Stellenwert zeitgenössischer Lyrik gestellt. Weil wir selbst auch nicht untätig waren, stellen wir euch den neuesten Band der edition mosaik vor: Morieux von Martin Sieber. Und weil es uns interessiert, haben wir uns im Kreativraum von Zoltán Lesi erklären lassen, wie und wo er schreibt.
Das halbe Glas Hanuschplatz #17
52
Ob man ein Glas Wasser als halbleer oder halb-
tigen Maßstäben läppisch klingen, aber früher,
voll bezeichnet, ist keine Frage der Einstellung,
als es noch tabu war sie auszusprechen, ganze
sondern des Kontexts: Ob es zur Hälfte gefüllt
Grafschaften bestürzt in Ohnmacht fallen lie-
oder geleert worden ist! Wer das nicht weiß, sagt
ßen. Niemand zerdeppert dieser Tage noch ein
halt „ein halbes Glas Wasser“ und rollt mit den
Teeservice, weil jemand den Teufel zur Sprache
Augen, wenn einer fragt, wie man sich ein halbes
bringt! Das Wörtchen „queer“ wurde früher zur
Glas vorzustellen hat. Sprechen sich Menschen
Diskriminierung der LGBT-Gemeinde verwen-
dunkleren Hauttyps slangbedingt mit „Nigger“
det. Bis diese es sich unter den Nagel riss, um
an, wird nicht so oft die Nase gerümpft, wie in
es sich als schmuckes Mäntelchen umzuhängen,
Fällen, da Weiße dieses geschichtlich belastete
an dem der Hass und die Intoleranz einfach ab-
Wort in den Mund nehmen. Was auch verständ-
perlen: „Ja, wir SIND queer! Und weiter...?!“ Ist
lich ist! Es wird eher toleriert, wenn eine gewisse
diese Art von Re-Empowerment auch mit dem
Vertrautheit da und der Kontext unmissverständ-
N-Wort möglich? Nicht so bald, fürchte ich, dafür
lich ist. Doch was ist, wenn Unklarheit über die
sind die Wunden noch zu tief. Ja, Wörter haben
Farbe der Haut besteht, z.B. am Telefon oder
die Macht Menschen in ihren Grundfesten zu
im Chatroom? Im Idealfall konzentriert man sich
erschüttern – ich als dicker Wahlwiener hadere
auf den größten gemeinsamen Nenner, das
z.B. mit dem Begriff „Mezzanin“...! Aber eine
halbe Glas: Dass es sich auf beiden Seiten um
Zensur zugunsten der Political Correctness kann
Menschen handelt!
einer vernünftigen Auseinandersetzung nicht das
Nun gibt es aber Verfechter der Political Cor-
Wasser reichen.
rectness, die der Meinung sind, man solle das
Was allerdings dabei hilft, ist der Humor! Come-
N-Wort generell nicht mehr benutzen, da es be-
dians und Kabarettisten, die Witze über Rand-
stimmte Leute als anstößig und verletzend emp-
gruppen machen, sind nicht automatisch böse.
finden könnten. Ihr Schrei nach Gerechtigkeit ist
Sie können die Menschen auch zum Diskutieren
aber ein halbgarer, denn tatsächliche Gerechtig-
bringen, machen nicht selten überhaupt erst auf
keit bedarf des Kontexts, nicht des Konjunktivs!
Missstände aufmerksam und helfen Betroffe-
Natürlich würde ich nicht im Traum daran den-
nen, ihnen mit dickerem Fell entgegentreten zu
ken, jemanden unnötig zu quälen, nur um mein
können. Humor kann also unglaublich befreiend
Recht auf freie Lautäußerung zu verteidigen. Ich
wirken – und herzlich über etwas zu lachen ist ein
gebe aber auch zu bedenken, dass eine Zensur
schmuckes Mäntelchen, das jedem steht!
das Problem nicht löst, sondern im Gegenteil die Wörter in ihrer Schlagkraft nur verstärkt. Es gibt eine Vielzahl an Schimpfwörtern, die nach heu-
Peter.W.
Lyrik für 1354 Menschen Daniela Seel gründete vor mehr als fünfzehn Jahren den Lyrikverlag kookbooks und leitet ihn zusammen mit dem Grafiker Andreas Töpfer bis heute. Im Gespräch mit Marko Dinić spricht sie über die umtriebige Szene, aus der heraus der Verlag entstanden ist, wie es der deutschsprachigen Lyrikszene geht und welche Herausforderungen die Zukunft bringen wird.
Kookbooks gibt es nun seit mehr als fünfzehn
Gestaltung verantwortet, 2003 kookbooks. Als
Jahren. Wie darf man sich die Anfänge des
Autor*innen waren zu der Zeit u. a. schon Uljana
Verlages vorstellen? Was war die Motivation,
Wolf, Steffen Popp, Alexander Gumz, Hendrik
gerade einen Lyrikverlag zu gründen?
Jackson, Monika Rinck, Daniel Falb und Karla Reimert dabei. Das Label KOOK gibt es nicht mehr,
Das hat sich nach und nach sehr organisch ent-
aber als gemeinnütziger Literaturverein KOOK
wickelt. Junge Menschen, die Kunst machen
e.V. existiert neben dem Verlag kookbooks weiter-
wollten, sei es als Autor*in, Musiker*in, bilden-
hin unser Netzwerk für Festivals, Projekte, Werk-
de Künstler*in, lernten sich kennen und fingen
stätten, Lesereihen usw.
an, Dinge zusammen zu machen. Musiker*innen gründeten um 1999 herum das Texttonlabel KOOK, Autor*innen trafen sich in Wohnzimmern, Küchen oder Kneipen zu Textwerkstätten, bildende Künstler*innen organisierten Ausstellungen und gestalteten Flyer, CD-Cover, Plakate. Zweimal bespielten wir als KOOK ein ganzes Haus je einen Monat lang mit Lesungen, Konzerten, Diskussionen, Bar, Tanz und, und, und. Von Anfang an geis-
„Mich interessieren Stimmen und Texte, deren Wahrheit mein Verstehen übersteigt.”
terte dabei der Traum einer eigenen Zeitschrift, eines Publikationsortes, vielleicht sogar in einem
Dass kookbooks ein Lyrikverlag wurde, liegt
offenen Kunsthaus für alle herum. Und irgend-
schlicht daran, dass die Autor*innen, für die kook-
wann lagen dann so starke Manuskripte vor, dass
books gegründet wurde, und natürlich auch ich
sich die Frage, ob es denn nun auch einen Verlag
selbst, Gedichte schrieben und schreiben und
dafür geben sollte, gar nicht mehr stellte, sondern
sich in großer Mehrheit für andere Formen des
nur noch: wie? Und so gründete ich gemeinsam
Erzählens als die am Markt üblichen Prosaformen
mit Andreas Töpfer, der seither die wunderbare
interessieren.
59
„Von 200 bis 500 verkauften Exemplaren kann kein Verlag überleben.“
Laut Hans Magnus Enzensberger gibt es ja plusminus 1354 Menschen im deutschsprachigen Raum, die Lyrik lesen. Bedient die Lyrik nach wie vor eine Nischenleser*innenschaft oder ist der Lyrik-Boom, von dem in letzter Zeit so viel die Rede ist, Realität?
Des Öfteren hörte ich in Zusammenhang mit dem Verlag die Bezeichnung „Kook-Autor“
Lyrik ist schon sehr präsent, in den sozialen Me-
und einmal sogar „Kookie“. Gibt es eine be-
dien, auf Festivals, natürlich in der Musik. Weni-
stimmte Art von Lyrik, auf die sich der Verlag
ger was Rezensionen betrifft. Und wenn es um
spezialisiert hat?
Buchkäufer*innen geht, kommt man noch immer kaum über die 1354 Menschen hinaus – wenn
60
Ich sage selbst gerne „Kookie“. Ob es eine
überhaupt. Und das ist ein großes Problem.
bestimmte Art von Kook-Lyrik gibt, können
Denn von 200 bis 500 verkauften Exemplaren,
Literaturwissenschaftler*innen in der Zukunft si-
was realistische Größenordnungen für die aller-
cher besser beantworten als ich. Am Anfang gab
meisten Lyrikbände im deutschsprachigen Raum
es kein spezialisiertes Programm, sondern eben
sind, kann kein Verlag überleben. Immerhin soll
die Autor*innen, aus deren Schaffen kookbooks
es 2019 zum ersten Mal auch in Deutschland eine
hervorgegangen ist. Mit der Zeit und den dazu-
Verlagsförderung in Form von Verlagspreisen des
stoßenden Stimmen hat sich vielleicht schon ein
Bundes geben. Ich bin gespannt, wie viel davon
spezifischeres Profil herausgebildet, auch in Ab-
der Lyrik zugute kommen wird.
grenzung zu den anderen auf Lyrik fokussierten Verlagen, die sich in den letzten 15 bis 20 Jahren gegründet haben. Mich als Programmchefin inte-
Was sind eurer Meinung nach die größten Hin-
ressieren dabei vor allem Stimmen und Texte, die
dernisse bei der Lyrikvermittlung, sowohl bei
Sprache nicht als Werkzeug begreifen, um etwas
Jugendlichen als auch bei Erwachsenen?
oder sich auszudrücken, sondern als, sagen wir mal, Material, in dem sich Kollektivität und Indivi-
Der passive Zugang. Dass es viel zu oft noch im-
dualität derart durchdringen, dass ihre Wahrheit
mer um die Frage geht: Was will der Autor damit
mein Verstehen übersteigt, mich zugleich aber
sagen? Und nicht darum: Was kann ich damit an-
übersetzt. Dennoch geht es in unseren Büchern
fangen? Wie verhält sich der Text zu Fragen, die
oft auch um handfeste Themen: die Pflege tod-
mich angehen? Was von der Welt kann ich mir
kranker Angehöriger, Migration und Rassismus,
damit erschließen? Selber machen, ein eigenes
verlorene Kinder, den Umgang mit Selbstmord,
Verständnis entwickeln, Lust am Sprachhandeln
katholischen Feminismus, die Folgen von Klima-
und Sprachspielen fördern wären viel bessere,
wandel und Kapitalismus usw.
aktivierende Wege.
Foto: Axel Kahrs
61
„Was kann ich damit anfangen? Wie verhält sich der Text zu Fragen, die mich angehen?“
und Technofossil von Daniel Falb aus, vier lange Gedichte „als Hort und Brutstätte neuer Intuitionen und Widerstandsformen für die neue, geologische Zeit“, wie er selbst formuliert. Im Herbst gibt es dann lang erwartete neue Gedichtbände
Wie sieht die Zukunft von kookbooks aus? Auf
von Dagmara Kraus und Charlotte Warsen – und
welche spannenden neuen Titel dürfen wir uns
aus dem Schwedischen Athena Farrokzhads ful-
freuen?
minantes Langgedicht Bleiweiß (Vitsvit, übersetzt von Clara Sondermann). 2020 geht es u. a. wei-
Die Zukunft sieht hoffentlich gut aus! Aus unse-
ter mit Uljana Wolf, Yevgeniy Breyger, Sonja vom
rem Frühjahrsprogramm steht noch Orchidee
Brocke, Robert Stripling und Farhad Showghi.
martin sieber – morieux Alles fängt an mit diesem Alptraum: Während einer Wanderung an der bretonischen Küste türmt sich plötzlich ein Tsunami auf und droht den Träumer mitsamt seinen Eltern zu verschlingen. Bei dem schreckhaft Erwachten wird so eine Flut an Assoziationen ausgelöst, die alle um jene Zeit kreisen, die er in seiner Kindheit und Jugend in der Bretagne verbracht hat. Entlang von Wegmarken im Rhythmus der Wanderung zweigt die Erzählung immer wieder in verschlungene Seitenpfade ab. Vielleicht geht nur die Erinnerung solche Schleichwege. Und vielleicht kann letztlich nur aus einem ursprünglichen Vergessen heraus erzählt werden.
62
(...) Nach der Pause in Jospinet liefen Papa und Heiner den Landweg zurück, um den Wagen zu holen; wir anderen brachen in die entgegengesetzte Richtung auf. Obwohl es von nun an nicht länger als eine Stunde dauerte, bis wir an der Kapelle sein würden, zog sich das letzte Stück noch endlos hin. Als ich mir die Strecke einmal auf der Karte ansah, war ich natürlich erstaunt darüber, welch geringe Entfernung wir zurückgelegt hatten, eine bloße Fingerspanne breit. Vor allem wunderte mich, dass der Strand einen Namen trug: Plage de Béliard. Ich fand seinen Klang schön, Béliard, verheißungsvoll wie so viele französische Ortsnamen, aber mit der Gegend konnte ich ihn nicht in Verbindung bringen. Es hätte ein Name mit einem dunkleren Klang sein müssen, einer, der alle Pastellfarben, die sich in Béliard so anmutig auffächern, in jenes graubraune Einerlei einMartin Sieber – Morieux, edition mosaik 2019,
trübt, das von dem öden Küstenstrich ausging.
978-3-9504466-2-3, UVP: 10€.
Irgendwann gab ich es auf, nach der Kapelle
Erhältlich ab sofort im Buchhandel und auf
Ausschau zu halten und lief mit gesenktem
liberladen.org
Kopf weiter den Strand entlang, auf dem ich
Katsushika Hokusai „Die große Woge“
hin und wieder eine abgestorbene Alge oder die rosa Splitter eines zerstörten Araignée-Panzers umherliegen sah. An vielen Stellen war der Boden mit seltsamen Arabesken übersät, die irgendwelche Steine oder Muscheln, von der Ebbe mitgerissen, dem sandigen Untergrund eingeschrieben hatten. Meine Beine wurden mit jedem Schritt schwerer und schwerer. Ich wollte an etwas Schönes denken und schloss für ein paar Sekunden die Augen. Aber meine Erschöpfung hatte zugleich von der Phantasie Besitz ergriffen: In meiner Vorstellung kam ich nie weiter als bis zum Abendessen; alles drehte sich nur darum, zu Hause anzukommen, die nassen Schuhe auszuziehen und nach dem Du-
Foto: Martin Sieber
schen am gedeckten Tisch zu sitzen. Manchmal verblassten auch diese Bilder. Dann trieb ich wie ein Schiffbrüchiger auf einem Meer ohne
Martin Alexander Sieber, frankophiles Bür-
Ufer in dumpfer Empfindungslosigkeit über
gersöhnchen aus dem Ruhrgebiet, arbeitet
den plage des pas perdus, bis mir ganz plötz-
als Psychotherapeut in München. Sonntags
lich ein wütender Blitz in die Glieder fuhr: „Ich
verwandelt er sich. Dann zieht er einen Anzug
gehe nicht weiter“, sagte ich mir; doch im glei-
an, um feinziselierte Prosa und gedankenvolle
chen Moment war mir klar, wie vergeblich dies
Essais zu schreiben.
sein würde, sodass ich den trotzigen Entschluss
„Der Teufel ist bloß der Müßiggang Gottes an
sofort wieder fallen ließ. (...)
jedem siebenten Tage.“ (Friedrich Nietzsche)
KREATIVRAUM Zoltán Lesi
Kreativraum ist eine Reihe mit Fokus auf Orte, an denen Kunst geschaffen wird – und Personen, die ebendiese Räume nutzen.
Ich schreibe stets dort, wo ich bin. Und ich bin sehr viel unterwegs. Fast jede Woche muss ich irgendwohin fahren und schreibe dann im Flugzeug oder im Zug. Für In Frauenkleidung war ich sehr viel in Bibliotheken und Archiven unterwegs und hab dann eben dort geschrieben. Gleichzeitig habe ich
Fertigstellen kann ich die Texte nur zu Hause. Dafür
einen ‚normalen‘ Job, weswegen ich meist nur am
brauche ich Ruhe und eine bestimmte Art von Auf-
Abend schreiben kann.
regung oder Motivation. Ich schreibe meine Texte
Genauso wie mein Job ist auch das Schreiben un-
auch sehr oft um, beziehungsweise neu: Dabei ent-
terschiedlicher Textsorten ein Ausgleich für mich.
steht immer wieder ein neuer Text. Ich glaube, die-
Wenn ich zum Beispiel einen Essay schreibe, kann
ser Prozess endet nie.
Text: Josef Kirchner, Foto: Zoltán Lesi
ich meine Gedanken zu einem Thema anders ordnen als bei einem Gedicht. Dann entscheidet sich
Zoltán Lesi (geb. 1982 in Ungarn) veröffentlichte
schnell, welche Form zu welchem Inhalt passt.
zwei Gedichtbände auf Ungarisch und übersetzt
Der ungarische Schriftsteller Sándor Weöres hat
deutschsprachige Literatur. 2019 erschien sein ers-
einmal in einem Interview gesagt: Man schreibt
tes deutschsprachiges Buch In Frauenkleidern in
auch, wenn man nicht schreibt. Das denke ich auch.
der edition mosaik.