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IMMENSE Nelleke Beltjens
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MacDowell
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Complex
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Incomplete Completion
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Fragments of the Parts
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Was heiĂ&#x;t: sich im Zeichnen orientieren? Anmerkungen zu den Zeichnungen von Nelleke Beltjens Von Peter Lodermeyer
(Im)possibilities
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What does it mean to orient oneself in drawing? Remarks on the drawings of Nelleke Beltjens By Peter Lodermeyer
Instance
34 40
Nelleke Beltjens und die verborgenen Dimensionen der Zeichnung Von Jonathon Keats
AnyWay
44 46
Nelleke Beltjens and the Hidden Dimensions of Drawing By Jonathon Keats
Uncut
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Shift
50
Apparently
52
Mahler Double
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Overlap
60
Divided Divisions
62
Cluster
64 66
3
Impressum/Imprint
MacDowell MacDowell #3 | 2003 | 56 x 76 cm
MacDowell #2 | 2003 | 56 x 76 cm
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Complex Complex #1 | 2006 | Detail
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Complex #1 | 2005 | 93 x 157 cm
7
Complex #3 | 2005 | 93 x 157 cm
8
Complex #4 | 2005 | 93 x 157 cm
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Incomplete Completion Incomplete Completion #2 | 2006 | Detail
Incomplete Completion #2 | 2006 | 114 x 152 cm
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Was heißt: sich im Zeichnen orientieren? Anmerkungen zu den Zeichnungen von Nelleke Beltjens Von Peter Lodermeyer Incomplete Completion #4 | 2007 | Detail
I. Sich orientieren heißt, in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont einteilen) die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden. Sehe ich nun die Sonne am Himmel und weiß, daß es nun die Mittagszeit ist, so weiß ich Süden, Westen, Norden und Osten zu finden. Immanuel Kant, Was heißt: sich im Denken orientieren?1
Der Anspruch ist hoch: „Ich übe mich im Leben, und meine Arbeit ist eine großartige Orientierungshilfe dabei, während alles in ständiger Veränderung ist. [...] Meine Arbeit belehrt mich. Sie ist mir gewissermaßen voraus. Sie bringt mich zum nächsten Schritt, einer ‚höheren’ Ebene und lässt mich wachsen.“2 Diese Sätze, die Nelleke Beltjens anlässlich eines Interviews 2009 äußerte, lassen ein erstaunliches Vertrauen in die Kraft der Kunst erkennen, auch wenn sie die Avantgarde-Utopie einer Verschmelzung von Kunst und Leben hinter sich lässt (und das schlichte Verständnis von Kunst als bloßem Reflex des Lebens sowieso). So überraschend das Statement klingen mag, es kann kaum verwundern, dass es sich auf Zeichnung bezieht, ist diese Kunstgattung doch immer schon in besonderem Maße ein Orientierungsmedium gewesen. Wer, auf welchem schöpferischen Feld auch immer, Orientierung sucht, um „den nächsten Schritt“ zu tun, greift bevorzugt zum Medium der Zeichnung. Mit zeichnerischen Mitteln vergewissert man sich der Proportionen eines zu entwerfenden Objekts, der Anlage eines Gebäudes, des Schnitts eines Kleidungsstücks, der Tanzschritte einer Choreografie ...
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Das klassische visuelle Mittel, sich Orientierung im engeren räumlichen Sinne zu verschaffen, sind Karten und Pläne. In ihnen werden die „vier Weltgegenden“ Norden, Süden, Westen und Osten in die Erstreckungen der Fläche übersetzt: oben, unten, links und rechts. Nelleke Beltjens ist von Karten aller Art fasziniert, weil diese in der Lage sind, ein Gelände zu beschreiben, ohne es im Geringsten realistisch abzubilden. Dieses abstrakte kartografische Element ist eine Eigenschaft, die sie in ihre Arbeit übertragen möchte. Das gilt für ihre am Boden ausgebreiteten Skulpturen-Installationen ebenso wie für ihre neueren Zeichnungen. „Mapping the invisible“, das „Kartografieren des Unsichtbaren“ nennt sie ihre Intention.3 Intuitiv nimmt man gewisse kartografische Anmutungen in vielen ihrer Zeichnungen durchaus wahr. Nicht zufällig lassen z. B. die implementierten Rechtecke der Serie Uncut von 2009 an übereinander projizierte Gebäudegrundrisse denken, während andere Zeichnungen an Verkehrswegenetze erinnern. Mit Blick auf die Complex-Zeichnungen (2005/06) kann man sich einen Moment lang vorstellen, es handelte sich um Luftaufnahmen unglaublich dicht bebauter Städte, die an ein Meeresufer grenzen ...
Incomplete Completion #4 | 2007| 114 x 152 cm
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II. Zu diesem Behuf bedarf ich aber durchaus das Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigenen Subjekt, nämlich der rechten und linken Hand. Ich nenne es ein Gefühl: weil diese zwei Seiten äußerlich in der Anschauung keinen merklichen Unterschied zeigen. Immanuel Kant
Ist es ein Zufall, dass vier der fünf Complex-Zeichnungen eine Leerstelle rechts unten aufweisen? Wir sind es im indoeuropäischen Sprachraum gewohnt, Schriftzeilen von links nach rechts und Seiten von oben nach unten zu lesen. Heißt dies, da wir diesen Richtungssinn auch beim Betrachten von Bildern unvermeidlich unterstellen, dass die ungemein dichten schwarzen Strichballungen in Complex – die Kombination aus „rationalen“, mit dem Lineal gezogenen Parallelen und „emotionalen“ Kritzeleien – diese freien Areale noch nicht überwuchert haben? Die Leerstellen als ein letzter Widerstand gegen die sich ausbreitenden dramatisch geballten Strichwolken, die an die Dunkelzonen der Radierungen Piranesis oder – eher noch – Rembrandts erinnern? Wie sehr die Zeichnung ihren Charakter verändert, wenn auch noch die letzte freie Fläche von den Liniengeflechten überwuchert ist, kann man in Complex #5 sehen. Mit dieser Arbeit schließt die Serie konsequent ab: Der Leerraum, ein so ungemein wichtiges Element in der gesamten künstlerischen Arbeit von Nelleke Beltjens, scheint hier von dem überaus komplexen All-over der gezeichneten „Realität“ erstickt worden zu sein; hier ist keine Bewegung mehr vorstellbar, höchstens noch eine Intensivierung des Dichtegrads in einigen Arealen der Zeichnung. Ein Neuanfang war nach Complex #5 unumgänglich.
Mit ihrer eindeutigen Gewichtung von links und rechts und ihrer subtilen Narrativität ist Complex eine Ausnahme im zeichnerischen Werk von Nelleke Beltjens. Die Linienstrukturen der nachfolgenden Zeichnungs-Serien sind richtungsindifferent, die kurzen Striche stehen ohnehin quer zu den Linien, die sich aus ihnen ergeben. Diese Linien verlaufen in unterschiedlichste Richtungen und knicken in zahlreichen Zeichnungen unversehens um 90 Grad ab. Die Formen wirken oft so, als hätte ein starker Wind die Linien zerstreut und in einen unregelmäßig zerstiebenden Partikelschauer zerlegt. Mit Bezug auf das Thema der Richtungswerte ihrer Zeichnungen ist es womöglich weit mehr als ein unbedeutendes biografisches Detail, dass Nelleke Beltjens Linkshänderin ist, viele Tätigkeiten aber beidhändig ausüben kann – auch das Zeichnen, falls nötig: Gewisse Partien von Incomplete Completion #1 von 2006 sind nach einem Fahrradunfall, der die Bewegung ihres linken Arms vorübergehend erschwerte, mit rechts ausgeführt worden. Wenn sie, wie gewöhnlich, mit der linken Hand zeichnet, dann vertauscht sie jedoch die Richtung gegenüber der Schreibbewegung und setzt ihre Striche von rechts nach links.
Incomplete Completion #7 | 2007 | 114 x 152 cm
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III. Also orientiere ich mich geographisch bei allen objektiven Datis am Himmel doch nur durch einen subjektiven Unterscheidungsgrund; und, wenn in einem Tage durch ein Wunder alle Sternbilder zwar übrigens dieselbe Gestalt und eben dieselbe Stellung gegen einander behielten, nur daß die Richtung derselben, die sonst östlich war, jetzt westlich geworden wäre, so würde in der nächsten sternhellen Nacht zwar kein menschliches Auge die geringste Veränderung bemerken, und selbst der Astronom, wenn er bloß auf das, was er sieht und nicht zugleich, was er fühlt, achtgäbe, würde sich unvermeidlich desorientieren. Immanuel Kant
Die Incomplete Completion-Zeichnungen (2006–08) lenken den Blick durch eine Reihe von ungleich großen, unregelmäßig über die Blätter verteilten Dunkelzonen. Diese ungemein verdichteten Zentren sind meist von einem lockeren Strichgefüge umgeben wie Sterne von leuchtenden Gaswolken. Es ist fast unvermeidlich, angesichts dieser Arbeiten kosmische Assoziationen zu entwickeln – umso eher, wenn man weiß, dass es in der wissenschaftlichen Astronomie durchaus üblich ist, mit Fotonegativen zu arbeiten, sodass also die Sterne schwarze Flecken auf weißem Grund bilden. Bis zu einem halben Dutzend dieser quasistellaren Formen befinden sich auf einem Incomplete Completion-Blatt und bilden für den Blick des Betrachters so etwas wie eine Sternkonstellation, insbesondere wenn man sie aus einigem Abstand betrachtet. Sternbilder sind bekanntlich gestaltpsychologische Gruppierungsleistungen der menschlichen Wahrnehmung, keine objektiven Gegebenheiten. In gleichem Sinne funktionieren Skulpturen-Installationen von Nelleke Beltjens als sorgsame, nichthierarchische Anordnungen einzelner Elemente im Raum, die vom Betrachter als zusammengehörige Gruppen wahrgenommen werden. Die bisher letzte größere Serie von Skulpturen, die 2005 entstand und den unaussprechlichen Titel * trägt, verweist offenbar schon mit diesem Zeichen auf Sterne und ihre Anordnung in „Sternbildern“. Vielleicht ist es dieser letzte verbliebene formale Zusammenhang mit ihren Skulpturen, dieser im weitesten Sinne figurative Aspekt von Incomplete Completion, der die Künstlerin veranlasst hat, in den nachfolgenden Zeichnungs-Serien auf solche Aufmerksamkeitszentren zu verzichten. In Fragments of the Parts (2008) bereits lösten sich diese Linienverdichtungen auf, das lineare Gefüge wurde leichter, luftiger, erinnerte an zarte textile Gewebe, an Wolken, schwebende Formen, möglichst ungreifbar, undefinierbar in ihrer formalen Eigenart und stets mit den Freiflächen des weißen Papiers kommunizierend. Dabei reicht die Spannweite von ausgesprochen lapidaren und ephemeren Gebilden wie in (Im)possibilities (2008), die vom leisesten Lufthauch verweht zu werden drohen, bis zu den markanten, kraftvollen und assoziationsträchtigen Formwiederholungen in Overlap #1 (2010).
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Dass die Idee einer universalen Vernunft, wie sie Kant vorschwebte, heute, im Zeitalter von Postmoderne, Globalisierung und Postkolonialismus, einem Pluralismus von Rationalitätsmodellen und, damit einhergehend, einer irreduziblen Verschiedenheit von Lebens- und Weltentwürfen gewichen ist, ist hinreichend bekannt. In der Kunst zeigt sich dies in der unüberschaubaren Vielfalt der Stile, der Gleichzeitigkeit heterogenster Ansätze, Methoden, Medien und Intentionen. Was heißt in diesem Zusammenhang, sich durch Zeichnen zu orientieren? Nelleke Beltjens wurde 1974 geboren, fünf Jahre bevor Jean-François Lyotard den Begriff der Postmoderne zu einem die Epoche prägenden Schlagwort machte und das „Ende der großen Erzählungen“ postulierte (zu denen man auch die „Erzählungen“ von der Orientierung durch reine Vernunft und die Utopien der Moderne wie etwa die Idee eines folgerichtig stattfindenden Fortschritts der Kunst zählen muss).4 Die gegenwärtige gesellschaftliche Situation, die man mit soziologischen Schlagwörtern wie „neue Unübersichtlichkeit“ (Habermas), „Zerschlagung von Gewissheit“ (Zygmunt Bauman) oder „Hyperkomplexität“ (Peter Fuchs) charakterisieren kann5, wird sich in irgendeiner Weise in jedem künstlerischen Ansatz reflektiert finden, der mit dem Anspruch auftritt, Gegenwartskunst zu sein.
Incomplete Completion #3 | 2007 | Detail
IV. Endlich kann ich diesen Begriff noch mehr erweitern, da er denn in dem Vermögen bestände, sich nicht bloß im Raume, d. i. mathematisch, sondern überhaupt im Denken, d. i. logisch zu orientieren. Man kann nach der Analogie leicht erraten, daß dieses ein Geschäft der reinen Vernunft sein werde, ihren Gebrauch zu lenken [...]. Immanuel Kant
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Man kann Complex als eine Auseinandersetzung mit der Komplexität des Lebens unter den heutigen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen beschreiben. Die Künstlerin selbst sieht es so. Nachdem sie viele Jahre lang, seit der frühesten Zeit ihres Kunststudiums, mit (post-)minimalistischen Skulpturen beschäftigt war, stellte sich für sie die Notwendigkeit, sich mit künstlerischen Mitteln der überkomplexen Wirklichkeit zu konfrontieren, mit aller Macht ein: „Wie kann ich weiterhin minimalistische Skulpturen ma-
chen, wenn das Leben so extrem komplex ist? Noch die scheinbar einfachste ‚Sache’ ist komplex – und das alles zu empfinden, macht sie noch komplexer.“6 Interessante Frage, man möchte die Gegenfrage stellen: Warum ist es denn zuvor möglich gewesen? Auf die Gefahr hin, die komplizierten Zusammenhänge künstlerischer Entwicklung übermäßig zu schematisieren, lässt sich sagen, dass die Skulpturen von Nelleke Beltjens für den Versuch stehen, sich im Rahmen der persönlichen Aneignung und Durcharbeitung eines modernistischen Kunstverständnisses die Gewissheit künstlerischen Gestaltens zu bewahren. Formvereinfachung, Repetition und klare Linienführung stehen in der Tradition der geometrischen Abstraktion und des Minimalismus, einer Tradition also, die in den Niederlanden, wo Nelleke Beltjens aufwuchs und zunächst die Kunstschule besuchte, eine starke Position hat. Die Verlässlichkeit dieser Auffassung gab der Bildhauerin Gelegenheit, innerhalb eines festen formalen Rahmens subjektive Interventionen vorzunehmen, ungewöhnliche Materialkombinationen etwa oder das Experimentieren mit der Wirkung von Farbe mittels Pigmentierung der Materialien. Das Liniensystem ihrer Skulpturen ist klassisch, es handelt sich um klare Umrisslinien, die das skulpturale Volumen begrenzen und definieren, ein Volumen, welches selbst bei deutlicher Abweichung vom rechten Winkel noch erkennbar auf die Idealform des Kubus bezogen bleibt. Mit den Complex-Zeichnungen beginnt 2005 die Auseinandersetzung mit der „Zerschlagung der Gewissheit“ einer formalen Absicherung und die Suche nach Gestaltungsmöglichkeiten abseits aller Konventionen und Verlässlichkeiten in einer gesellschaftlichen und kulturellen Situation, die man aus Bequemlichkeit spät- oder postmodern nennen kann – oder vielleicht verzwickter und also treffender: post-postmodern.
V. Was auch immer die Ursachen für den explosionsartigen Ausbruch und die geradezu dramatische Anmutung der Complex-Zeichnungen gewesen sind, er war in jedem Fall Folge einer künstlerischen und intellektuellen Weiterentwicklung, die ja durchaus auch krisenhaft verlaufen kann. Interessant ist, dass solche Entwicklungen „somatisiert“ werden können: 2005 entwickelte die Künstlerin eine starke allergische Reaktion gegen einige Materialien, mit denen sie als Bildhauerein zu arbeiten gewohnt war. Dies war einer der Anlässe für einen radikalen Neuanfang, der auf den Minimalismus der Skulpturen den „Maximalismus“ der Complex-Zeichnungen mit ihrem Übermaß an visueller Information hervorbrachte. Die Zeichnungen dieser Folge konstatieren Komplexität, aber suchen noch nicht nach einer neuen zeichnerischen Sprache, die es erlaubte, Komplexität soweit zu reduzieren, dass damit ein neuer, gangbarer Weg für ihre zukünftige Arbeit aufgezeigt würde. Nach der vollständigen Bedeckung der Zeichenfläche in Complex #5, die dem Zeichenblatt einen formalen „Erstickungstod“ zu bereiten drohte, war es für Nelleke Beltjens notwendig, sich wieder Freiräume zu verschaffen. Leerflächen als Räume des Denkens und des Vorstellens – für die Künstlerin selbst und ebenso für den Betrachter – waren nicht nur auf der Makroebene der Gesamtzeichnung, sondern bereits auf der Mikroebene der Linienbildung in ihr Recht zu setzen. Dafür griff Nelleke Beltjens auf eine Zeichentechnik zurück, die sie bereits 2003 während eines Arbeitsaufenthalts in der MacDowell Colony in Peterborough,
New Hampshire (USA), in drei kleinformatigen Arbeiten ausprobiert, zunächst aber nicht weiterverfolgt hatte: Indem sie ein Hilfspapier benutzte, über dessen Kante hinweg sie kurze Striche nebeneinandersetzte, vermochte sie Linien zu zeichnen, die aus positiven und negativen Elementen zugleich bestehen, aus Anwesenheit und Abwesenheit. Und dies in doppelter Hinsicht, denn die Hilfspapiere tragen an ihren Rändern gut 50 % der Zeichnung wie ein Speicherelement in sich. Mit dieser Zeichentechnik, die Nelleke Beltjens bis heute weiterentwickelt, erhielten die Zeichnungen, verglichen mit Complex, eine viel größere Leichtigkeit und Offenheit, verstärkt noch durch die nun häufige Verwendung von optisch leichteren Farben (meist Blau oder Grün, gelegentlich auch Grau). Mit dem formalen Material dieser Linien ist Nelleke Beltjens ganz auf der Höhe der heutigen Problemlage. Die soziologische und kulturelle Situation unserer spät- oder postmodernen Gegenwart ist wesentlich durch Fragmentarisierung der sozialen Systeme (auch des Systems „Kunst“), durch Heterogenität und Komplexität aller Lebensbereiche sowie die gesteigerte Mobilität von Personen, Waren und Informationen gekennzeichnet. Apropos Mobilität: Es sei nur beiläufig darauf hingewiesen, dass Beltjens’ Zeichnungen zwischen 2005 und 2010 an so unterschiedlichen Orten wie ‘s-Hertogenbosch (Niederlande), Gent (Belgien), Chico (Kalifornien), Bozeman (Montana) und Berkeley (Kalifornien) entstanden sind.
Fragmentarisierung ist das durchgehende Prinzip der Zeichnungen nach Complex. Die Linienstruktur hat nichts mehr mit definitorischer Bestimmtheit zu tun. Das Stakkato der kurzen Strichfolgen hat eher dynamischen, rhythmischen Charakter. Doch nicht nur auf der basalen Ebene der gezeichneten Linien, sondern auch in der Gesamtanlage der Blätter ist das Fragmentarische unübersehbar. Sie zeigen zerteilte, zerklüftete Gebilde, die man kaum als „Formen“ ansprechen kann und sich schon in den Titeln als unvollständig (Incomplete Completion) und fragmentiert ankündigen: Ein Titel wie Fragments of the Parts verweist sogar auf eine zur zweiten Potenz erhobene Fragmentierung. Welches imaginäre Ganze hier zerteilt und dessen Teile weiter fragmentiert werden, bleibt offen. Ganzheit ist hier wie überall in Beltjens’ Zeichnungen nicht mehr gegeben: In der Wahrnehmung ist aus keiner möglichen Perspektive mehr der Eindruck von Vollständigkeit zu gewinnen. Aus einigem Abstand erscheinen die Formen als ungreifbare, wolkige Gebilde, beim Näherkommen zerfallen sie in ein Übermaß an Einzelinformationen. Spätere Serien wie Apparently (2009) oder Overlap (2010) sind auch auf der materiellen Ebene fragmentiert, aus den Blättern sind Teile herausgeschnitten, die manchmal ohne weitere Bearbeitung wieder ins Zeichenblatt zurückgesetzt, erneut zerschnitten werden usw. – also auch hier eine Fragmentierung der Fragmente ...
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Incomplete Completion #3 | 2007 | 114 x 152 cm
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Incomplete Completion #8 | 2008 | 130 x 218 cm
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VI.
VII.
Noch einmal die Frage: Was heißt in diesen Zusammenhängen: sich im Zeichnen orientieren? Es heißt ganz sicher nicht, sich länger auf formale oder inhaltliche Gewissheiten welcher Art auch immer zu verlassen. Orientierung muss man hier dynamisch, als einen offenen Prozess, verstehen. Dieser Prozess besteht darin, die einfachsten Mittel, die das Orientierungsmedium Zeichnung bietet, nämlich mit dem Stift kurze, an sich „bedeutungslose“ Striche aufs Papier zu setzen, so zu einem hochkomplexen Gebilde zu addieren (Stichwort: Emergenz), dass sich in der Wahrnehmung ein dynamisches Gebilde ergibt, das den Blick des Betrachters und ebenso sein Nachdenken zu packen und in Bewegung zu setzen vermag. In diesem Prozess werden Fragmentierung und Komplexität als absolut zeitgemäße Charakteristika bewusst eingesetzt, ohne dass sie zu einem Selbstzweck gemacht würden. Sie werden als Bedingungen akzeptiert, unter denen die Möglichkeit künstlerischer Tätigkeit neu zu entdecken ist. Dass die Formen, die sich dabei mehr ergeben als dass sie von der Künstlerin bewusst hervorgebracht würden, begrifflich und visuell ungreifbar sind, sich definitorischen Zugriffen entziehen, ist ganz und gar gewollt.
Würde man die Künstlerin nach Analogien für ihre Auffassung von Kunst fragen, würde sie zweifellos auf die Musik verweisen. In der Tat entstehen alle Zeichnungen stets beim Hören von Musik. Das Musikhören ist unverzichtbare Bedingung der Möglichkeit ihrer Arbeiten. Die jeweilige Musik hat auf die rhythmische Struktur der Striche Einfluss, ohne dass sie in irgendeiner Weise „abgebildet“ würde. Daher ist es auch nicht wichtig zu wissen, welche Musik welche Zeichnungen begleitet hat. (Aber interessant ist es doch, zu erfahren, dass Complex beim Hören von Beethoven entstanden ist und die dicht gefügten Strichlagen von Cluster (2010) auf die Tablas des indischen Perkussionisten Zakir Hussain reagieren). Bisher verweist nur ein einziges Werk mit seinem Titel direkt auf die Musik, die beim Produktionsprozess erklang; es handelt sich um die zweiteilige Arbeit Mahler Double (2010). Nach allem Gesagten ist es nicht schwer zu erraten, welche Eigenschaft der Musik Gustav Mahlers das Interesse der Künstlerin auf sich zieht: „Die Komplexität ist sein Geheimnis“, wie der Komponist und Dirigent Pierre Boulez über Mahler gesagt hat.7 Mir scheint jedoch, dass es im Zeichenprozess von Nelleke Beltjens auch Analogien zum Akt des Schreibens gibt. Die Striche, die sie zieht, sind entlang gerader Linien gesetzt wie geschriebene Wörter. Sie sind durch Leerstellen voneinander getrennt wie Druckbuchstaben. Der Vorgang des Zeichnens gleicht hier einer Niederschrift, die allerdings nicht literarisch ist, denn es gibt keine Lesbarkeit, nur den materiellen Vorgang des Zeichen-Setzens und abstrakten Aufschreibens. In seinem Buch über die französische Schriftstellerin Marguerite Duras hat der Philosoph Marcus Steinweg auf den Unterschied zwischen Literatur und Schreiben verwiesen: „Die Differenz von Literatur und Schreiben ist die Differenz von
Verständlichkeit und Klarheit. Literatur zielt auf Verständlichkeit, Schreiben auf Klarheit. [...] Im Schreiben vollzieht das Subjekt eine Sinnüberschreitung, die aus ihm ein Subjekt der Selbstüberschreitung macht.“8 Man kann diese Sätze durchaus auch auf eine Künstlerin beziehen, die von ihrer Arbeit sagte: „Das Ego erzeugt Konstruktionen. Es ist das Ego, was ich in meiner Arbeit überwinden möchte. Ich möchte gewissermaßen mich selbst überwinden, das ‚kleine Ich’ überwinden. Wenn ich ganz und gar in meine Arbeit eintauche (was natürlich nicht immer geschieht), kann ich in ‚unbekannten’ oder eher unbewussten Regionen arbeiten. Es scheint, dass dort die wahren Informationen sprießen.“9 Von daher ließe sich über die Zeichnungen von Nelleke Beltjens auch sagen, was Yann Andréa über das Schreiben von Marguerite Duras äußerte: „Sie sucht etwas Unbenanntes und Unbenennbares zu berühren.“10
1 Immanuel Kant, Was heißt: sich im Denken orientieren? [1786],
in: ders.: Ausgewählte kleine Schriften, Hamburg 1969, S. 10–26.
Die vier Mottos: S. 12, S. 12, S. 12f. und S. 13.
2 Nelleke Beltjens in conversation with Peter Lodermeyer,
in: Peter Lodermeyer, Karlyn De Jongh & Sarah Gold,
Personal Structures: Time – Space – Existence, Köln 2009,
S. 298–301. Zitat S. 300 u. 301.
3 Mündliche Mitteilung, Gent, Juli 2010. 4 Jean-François Lyotard, La condition postmoderne, Paris 1979.
Deutsche Übersetzung: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht
(hg. von Peter Engelmann), Wien 2006, S. 112.
5 Jürgen Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit:
Kleine politische Schriften V, Frankfurt a. M. 1985;
Zygmunt Bauman, Postmoderne Ethik, Hamburg 1995, S. 332;
Peter Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion
und Imaginaton gesellschaftlicher Einheit,
Frankfurt a. M. 1992, S. 39 ff.
6 Beltjens (Anm. 2), S. 298. 7 Pierre Boulez, Mahler geht nur mit guten Orchestern,
Berliner Morgenpost, 5. Juni 2008.
8 Marcus Steinweg/Rosemarie Trockel, Duras, Berlin 2008, S. 27 9 Beltjens (Anm. 2), S. 300. 10 Yann Andréa, Une solitude essentielle. Entretiens avec
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Yann Andréa, in: Le Magazine Littéraire N° 452, April 2006, S. 51.
Hier zitiert nach: Steinweg (Anm. 9), S. 36.
Fragments of the Parts Fragments of the Parts #3 | 2008 | Detail
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Fragments of the Parts #3
2008 | 140 x 224 cm
What does it mean to orient oneself in drawing? Remarks on the drawings of Nelleke Beltjens By Peter Lodermeyer
I. In the proper meaning of the word, to orient oneself means to use a given direction (when we divide the horizon into four of them) in order to find the others— literally to find the sunrise. Now if I see the sun in the sky and I know it is now midday, then I know how to find south, west, north, and east. Immanuel Kant, What does it mean to orient oneself in thinking?1
The aspirations are high: “I am practicing life, and my own work is a great ‘guide’ while everything is in continuous movement. [...] My work teaches me. It is ahead of me in a way. It brings me to the next step, a ‚higher’ level, makes me grow.”2 This statement by Nelleke Beltjens in an interview of 2009 suggests an astonishing trust in the power of art, even though she does not espouse the avant-garde utopia of the merging of art and life (let alone the simple understanding of art as a mere reflex of life). As surprising as the statement may sound, it can hardly surprise us that it refers to drawing, since this genre of art has always been a particularly suitable medium of orientation. A person looking for orientation in order to “take the next step”, regardless of the field of creativity, will have a preference for the medium of drawing. With draughtsman’s means, we satisfy ourselves concerning the proportions of an object to be designed, the structure of a building, the cut of a piece of clothing, the dance steps of choreography …
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The classical visual means for creating an orientation in a narrow spatial sense are maps and plans. Here the four directions north, south, west and east are translated into the extensions of the surface: top, bottom, left and right. Nelleke Beltjens is fascinated by all kinds of maps because by using them, we can describe a terrain without depicting it realistically in the least. This abstract cartographic element is a feature she would like to transpose to her work. This applies to her sculpture installations spread out on the floor as well as to her more recent drawings. “Mapping the invisible” is how she refers to this intention.3 We are indeed able to intuit certain cartographic phenomena in many of her drawings. It is no coincidence, for example, that the rectangles implemented in the series of 2009 called Uncut make us think of superimposed projections of building floor plans, whereas other drawings are redolent of traffic networks. With a view to the Complex drawings (2005/06) we may imagine for a moment that they are aerial photographs of cities built unbelievably densely, at the edge of the sea …
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Exhibition Fragments of the Parts
Galerie Christian Lethert, Köln/Cologne | 2009
II. For this, however, I also need the feeling of a difference in my own subject, namely the difference between my right and left hands. I call this a feeling because these two sides outwardly display no designatable difference in intuition. Immanuel Kant
Is it a coincidence that four of the five Complex drawings display an empty space at the lower right? Those of us living in the Indo-European region of languages are accustomed to reading lines of writing from left to right and pages from top to bottom. Does this mean, since we inevitably assume this direction when gazing at pictures as well, that the unusually dense black concentrations of strokes in Complex—a combination of “rational” parallel lines drawn with the ruler and “emotional” scribblings—have not yet grown over these free spaces? Are the empty spaces a last resistance to the dramatically gathered clouds of marks spreading out, which remind us of the dark areas in the etchings of Piranesi—or to an even greater extent—Rembrandt? Just how much the drawing has changed its character when even the last free space has been overgrown with networks of lines may be witnessed in Complex #5. It is only logical that this work concludes the series: The empty space, an immensely important element in Nelleke Beltjens’ overall artistic work, appears to have been suffocated here by the very complex all-over treatment of the drawn “reality”. No movement may be imagined here anymore, at most only a heightening of the degree of density in some areas of the drawing. After Complex #5, a fresh start was imperative.
Exhibition Fragments of the Parts
Galerie Christian Lethert, Köln/Cologne | 2009
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III. With its clear weighting of left and right and its subtle narrative quality, Complex is an exception in Nelleke Beltjens’ drawings. The line structures of the subsequent series of drawings are indifferent to direction, the short marks anyway standing crossways to the lines resulting from them. These lines run in extremely varying directions and, in numerous drawings, they unexpectedly turn at 90° angles. The forms often seem as if a strong wind had broken up the lines, scattering them in all directions in a shower of particles. With respect to the theme of the directional values of her drawings, it is possibly much more than an insignificant biographic detail that Nelleke Beltjens is left-handed, though she is able to carry out many activities ambidextrously—even drawing, if need be. Certain parts of Incomplete Completion #1, carried out in 2006, were done with the right hand after a cycling accident put her left arm temporarily out of commission. When she draws with the left hand as usual, then she changes the direction from that of writing, placing the marks from right to left.
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Thus even with all the objective data of the sky, I orient myself geographically only through a subjective ground of differentiation; and if all the constellations, though keeping the same shape and position relative to one another, were one day by a miracle to be reversed in their direction, so that what was east now became west, no human eye would notice the slightest alteration on the next bright starlit night, and even the astronomer—if he pays attention only to what he sees and not at the same time to what he feels—would inevitably become disoriented. Immanuel Kant
Exhibition Fragments of the Parts
Galerie Christian Lethert, Köln/Cologne | 2009
The Incomplete Completion drawings (2006–08) direct our view to and through a number of dark zones, uneven in size, that have been irregularly distributed across the paper. These greatly condensed centers are mostly surrounded by a loose network of marks, like stars with their shining clouds of gas. It is virtually inevitable that these works conjure up cosmic associations—in particular if you know that working with photograph negatives is a customary procedure in the astronomy sciences, which means that the stars form black spots on a white ground. Up to half a dozen of these quasi-stellar forms may be found on an Incomplete Completion drawing, thus forming something akin to a constellation of stars before the viewer’s gaze, especially when looked at from a little distance. It is well known that, in terms of Gestalt psychology, constellations are groupings reached by our human perception, and are not objective facts. By the same token, the sculpture installations of Nelleke Beltjens function as careful, non-hierarchic arrangements of individual elements in space, which are perceived by
IV. Finally, I can extend this concept even further, since it could be taken as consisting in the faculty of orienting myself not merely in space, i. e. mathematically, but in thinking in general, i. e. logically. By analogy, one can easily guess that it will be a concern of pure reason to guide its use [...]. Immanuel Kant
the viewer as coherent groups. Her latest larger series of sculptures to date, done in 2005 and bearing the unspeakable title of *, apparently already refers with this asterisk sign to the stars and their arrangement in the form of “constellations”. Perhaps it is this last remaining formal connection with her sculptures— this figurative aspect of Incomplete Completion in the broadest sense—which caused the artist to forego such centers of attention in her subsequent series of drawings. In Fragments of the Parts (2008), these condensations of lines had already dissolved, the linear texture becoming lighter, airier, reminiscent of delicate textile fabrics, clouds, floating forms, almost intangible, indefinable in terms of their formal features, and always in communication with the free surfaces of the white paper. Here, the range extends from markedly terse and ephemeral forms such as in (Im)possibilities (2008), seemingly in danger of being blown away by the slightest breeze, up to the striking, energetic repetitions of forms so rich in association in Overlap #1 (2010)
It is a sufficiently known fact that the notion of a universal reason such as Kant envisioned has nowadays—in the era of post-modernism, globalization, and post-colonialism—given way to a pluralism of rationality models and, in conjunction with this, an irreducible difference of lifestyle designs and notions of the world. In art, this reveals itself in the vast diversity of styles, in the simultaneousness of the most heterogeneous approaches, methods, media and intentions. What does it mean in this connection, to orient oneself in drawing? Nelleke Beltjens was born in 1974, five years before Jean-François Lyotard established the term “post-modern” as a concept that stood for an entire era and postulated the “end of grand narratives” (to which we must also reckon the “narratives” of orientation by means of pure reason and the utopias of the modern era such as, for example, the idea of a progress of art that consequentially takes place).4 The present social situation, which we can characterize with sociological catchwords such as “the new obscurity” (Habermas), the “frustration of certainty” (Zygmunt Bauman) or “hypercomplexity” (Peter Fuchs)5, is somehow reflected in every artistic approach that claims to being contemporary art.
We might describe Complex as coming to grips with the complexity of life under today’s social and cultural conditions. The artist herself views it like this. After many years of grappling with (post)-minimalist sculptures, since the earliest time of her studies of art, it became a sheer necessity for her to devote all her efforts to confronting the overly complex reality with artistic means: “How can I keep making minimalist sculptures when life is so extremely complex? Even the seemingly simplest ‘thing’ is complex, and feeling it all is even more complex.”6 This is an interesting question we might counter with: Why then was it possible for you to do this earlier on? At the risk of overly schematizing the complicated relationships of artistic development, we can state that Nelleke Beltjens’s sculptures stand for the attempt to maintain the certainty of artistic creation within the framework of a personal assimilation and an elaboration of a modern understanding of art. The simplification of forms, repetition, and clearly executed lines are in keeping with the tradition of geometric abstraction and minimalism, i.e. a tradition that enjoys a strong position in the Netherlands where Nelleke Beltjens grew up and first attended art school. Departing from this notion as a
Exhibition Fragments of the Parts Galerie Christian Lethert, Köln/Cologne | 2009
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V. firm and reliable basis, the sculptor used it as an opportunity for making subjective interventions within the framework of a fixed formal setting, e.g. by using unusual combinations of materials, experimenting with the effect of color by way of the pigmentation of the materials. The system of the lines of the sculptures is classic, being clear outlines that limit and define the sculptural volume, a volume that even when clearly deviating from the right angle, plainly refers back to the ideal form of the cube. The Complex drawings in 2005 mark the beginning of a confrontation with the “frustration of the certainty” of a formal safeguarding and the search for possibilities of creation beyond all conventions and securities in a social and cultural situation that we may, for reasons of simplicity, refer to as late- or postmodern—or perhaps even more complicatedly, and therefore more fittingly, as post-postmodern.
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Whatever the reasons were for the explosive breakout and virtually dramatic impression created by the Complex drawings, it was at any rate the consequence of a further artistic and intellectual development, which could—quite possibly—be susceptible to crises. It is interesting that such developments may become “somatic”: In 2005 the artist developed a violent allergic reaction against several materials she was used to working with as a sculptor. This was one of the reasons for a radical new beginning, which, after the minimalism of the sculptures, produced the “maximalism” of the Complex drawings with their excess of visual information. The drawings of this series confirm complexity but do not yet search for a new language of drawing that would allow for reducing complexity to the extent that it would show her a viable new path she could take for her future work.
After completely covering the drawing surface in Complex #5 that threatened to cause a formal “death by suffocation” to her drawing, it became necessary for Nelleke Beltjens to create free spaces for herself once again. Empty surfaces as spaces for thought and imagination—both for the artist herself as well as for the viewer—were to be established, not only on the macro level of the overall drawing, but already on the micro level in connection with forming the lines. For this, Nelleke Beltjens took recourse to a drawing technique she had already tried out in three small format works in 2003 during an artist residency at the MacDowell Colony in Peterborough, New Hampshire (USA), but which she initially did not pursue any further. By using an auxiliary paper aid, across whose edge she placed short pencil marks next to one another, she was able to draw lines consisting of positive and negative elements at the same time, of presence and absence. And this applies doubly since the edges of the papers she used to aid her in this bear a good 50% of the drawing like a storage element. By means of this drawing technique, which Nelleke Beltjens has continued to develop up to today, the drawings have taken on much more lightness and openness in comparison with Complex, heightened by the frequent use of optically lighter colors (mostly blue or green, sometimes also gray).
(Im)possibilities (Im)possibilities #16 | 2009 | Detail
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(Im)possibilities #16 | 2009 | 70 x 100 cm
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VI. In terms of the formal material of these lines, Nelleke Beltjens finds herself on the cutting edge of today’s issues. The sociological and cultural situation of our late- or postmodern contemporary era is essentially marked by the fragmentation of the social systems (including the “art” system), by the heterogeneousness and complexity of all areas of life as well as by the increased mobility of people, goods, and information. By the way, speaking of mobility: It must be mentioned in passing that Beltjens’ drawings between 2005 and 2010 were done at extremely different locations such as ‘s-Hertogenbosch (The Netherlands), Ghent (Belgium), Chico (California), Bozeman (Montana), and Berkeley (California). Fragmentation is the overriding principle of the drawings after Complex. The structure of lines has no longer anything to do with a firm definiteness. The staccato of the short successions of marks rather has a dynamic, rhythmic character. But not only on the basal level of the drawn lines, also in the overall design of the drawings, the fragmentary element is obvious. The works display split and fractured structures that may hardly be referred to as “forms”, and which have been heralded in the titles already as not being whole, as being fragmented, (Incomplete Completion). A title like Fragments of the Parts even indicates a fragmentation raised to the second power. What imaginary whole has been chopped up, its parts fragmented further, remains open. Here, as elsewhere in Beltjens’ drawings, wholeness no longer exists. In our perception of her works, there is no possible perspective anymore that would give us the impression of completeness. From a certain distance the forms seem like intangible, cloud structures. Coming closer, they disintegrate into an excess of individual information. Later series such as Apparently (2009) and Overlap (2010) are fragmented on the material level, pieces having been cut out of the paper, and then inserted into the sheet again, sometimes with no further treatment, or else they are cut up further, etc.—i.e., we witness here a fragmentation of the fragments as well …
Again we pose the question: What does it mean under these circumstances: to orient oneself in drawing? It certainly does not mean to rely any longer on certainties in terms of form or content, whatever these may be. Orientation is something we must conceive of here as being dynamic, as an open process. This process consists of adding the simplest means that drawing, the medium of orientation, offers, namely that of making short, actually “meaningless” pen marks on paper, adding them up to form highly complex structures, (catchword: emergence), so that a dynamic structure results in the perception, which is able to capture and stimulate the viewer’s gaze and contemplation. In this process, fragmentation and complexity are consciously employed as absolutely contemporary characteristics, without this becoming an end in itself. They are accepted as conditions, under which the possibility of artistic activity may be newly discovered. The fact that these forms, which simply emerge rather than being consciously produced by the artist, are intangible both visually and in terms of their concept, and thus evade a clear definition, is wholly intentional.
(Im)possibilities #18 | 2009 | Detail
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VII. If we were to ask the artist for analogies for her notion of art, she would doubtlessly point towards music. As a matter of fact, all drawings come about while she listens to music. Listening to music is an indispensible condition of possibility for her works. The respective type of music she listens to influences the rhythmic structure of the marks, without it being “depicted” in any way. Therefore, it is also not important that we know what music accompanied which drawings. (Nevertheless, it is interesting to learn that Complex came about while listening to Beethoven and the densely wrought marks of Cluster (2010) react to the tablas of Indian percussionist Zakir Hussain.) To date, there is only one work that makes direct reference to the music she listened to during the production process: the two-part work Mahler Double (2010). After everything that has been said, it is not difficult to guess what characteristic of Gustav Mahler’s music it was that attracted the interest of the artist: “The complexity is his secret”, as composer and conductor Pierre Boulez has stated with respect to Mahler.7
It seems to me, however, that analogies to the act of writing also exist in the drawing process of Nelleke Beltjens. The marks she makes have been placed along straight lines, like written words. Like with printed letters, empty spaces separate them from one another. The process of drawing is similar here to recording notes, albeit in a sense that is not literary, since there is no legibility. It is merely the material process of placing signs and the abstract writing down. In his book about the French writer Marguerite Duras, philosopher Marcus Steinweg pointed out the difference between literature and writing: “The difference between literature and writing is the difference between understandability and clarity. Literature aims for understandability, writing for clarity. (…) In writing the subject goes beyond the meaning, which makes it a self-surpassing subject.”8 We may certainly apply this statement to an artist who says of her work: “The ego creates constructions. The ego is what I want to surpass in my work. In a way I want to surpass myself, surpass the ‘small me’. Getting completely into my work (which doesn’t always happen, of course) makes me work within regions ‘unknown’, or more unconscious. I feel like this is where the true information sprouts.”9 This is why we may also claim about Nelleke Beltjens’ drawings something Yann Andréa stated about the writing of Marguerite Duras: “She is trying to touch something unnamed and unnamable”.10
1 Immanuel Kant, What does it mean to orient oneself in
3 Verbal message, Ghent, July 2010.
6 Beltjens (footnote 2), p. 298.
thinking? [1786], in: I. K., Religion in the Boundaries of
4 Jean-François Lyotard, The Postmodern Condition:
7 Pierre Boulez, Mahler geht nur mit guten Orchestern,
Mere Reason. And Other Writings. Edited by Allen Wood and
A Report on Knowledge [1979]. Tr. Geoff Bennington and
George di Giovanni. Introduction by Robert Merrihew Adams,
Brian Massumi. Minneapolis 1984, p. XXIII, XXIV.
8 Marcus Steinweg/Rosemarie Trockel, Duras,
Cambridge/ New York 1998, p. 1-13;
5 Jürgen Habermas, The New Obscurity:
the four mottoes p. 4, p.4, p. 5, p. 5.
The Crisis of the Welfare State and the Exhaustion of Utopian
9 Beltjens (footnote 2), p. 300.
2 Nelleke Beltjens in conversation with Peter Lodermeyer,
Energies. The New Conservatism. Cambridge 1989;
10 Yann Andréa, Une solitude essentielle. Entretiens avec
in: Peter Lodermeyer, Karlyn De Jongh & Sarah Gold,
Zygmunt Bauman, Bauman, Postmodern Ethics,
Yann Andréa, in: Le Magazin Littéraire, N° 452, April 2006,
Personal Structures: Time – Space – Existence, Cologne 2009,
Oxford 1993, p. 223; Peter Fuchs, Die Erreichbarkeit der
p. 51. Quoted here in: Steinweg (footnote 8), p. 36.
pp. 298-301; quote p. 300 and 301.
Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imaginaton gesellschaftlicher
Einheit, Frankfurt a. M. 1992, p. 39 et sq.
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Berliner Morgenpost, 5 June 2008. Berlin 2008, p. 27.
Nelleke Beltjens und die verborgenen Dimensionen der Zeichnung Von Jonathon Keats
In der nordkalifornischen Stadt Chico teilte sich Nelleke Beltjens einst ihr Atelier mit einer fleißigen Schwarzen Witwe. Tief unten in einer Ecke ein Netz webend, feiner als die Linien eines Zeichenstifts, übte die Spinne lautlos eine Kunst aus, die zwischen Skulptur und Zeichnung schwankte. Einer stehenden Person erschien das Netz leicht wie eine Silberstiftskizze. Für ein gefangenes Insekt jedoch war es so gewichtig wie der Tod. Beltjens arbeitet ebenfalls im subtilen Raum zwischen Skulptur und Zeichnung, freilich ohne das tödliche Ziel der Spinne. Von der Ausbildung her Bildhauerin, widmet sie sich in letzter Zeit ganz dem Schaffen großformatiger Arbeiten auf Papier. Diese monumentalen Zeichnungen, die über Zeichnung im traditionellen Sinne hinausgehen, gehören zu den kraftvollsten und tiefgründigsten Arbeiten, die sie je verwirklicht hat. Mit den zarten Strichen ihres Tuschestifts zieht Beltjens die fragile Linie, die zwischen Präsenz und Absenz verläuft. Diese Linie kann man sogar bis zu den ersten Arbeiten der Künstlerin zurückverfolgen, diesen einfachen, unregelmäßig geformten Stahlblöcken, die so geschweißt, geschliffen und zurechtgefeilt waren, dass sie auf dem Boden beinahe zusammenpassten. Das offensichtliche Gewicht des Metalls betonte noch die Fugen zwischen den Skulpturenteilen: es sind Linien, die sich aus der Abwesenheit des Materials ergaben. Diese Lücken wurden unglaublicherweise zur Hauptsubstanz dieser Arbeiten.
Exhibition Apparently
(Im)possibilities #17 | 2009 | 70 x 100 cm
Hosfelt Gallery, San Francisco | 2009/2010
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(Im)possibilities #13 | 2009 | 70 x 100 cm
(Im)possibilities #14 | 2009 | 70 x 100 cm
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Nach und nach brachte Beltjens neue Materialien in ihr Œuvre ein. Hinzu kam die neue Technik, so unterschiedliche Werkstoffe wie Holz und Gips miteinander zu verbinden, um den Spalt zu schließen, den ihre Stahlarbeiten aufwiesen. Ihre Linien ergaben sich nun einfach aus den Unterschieden zwischen den Materialien. Von nun an hatten sie nicht einmal mehr die Substanz von Luft. Die nächste Phase dieser skulpturalen Entwicklung, die erfolgte, als Beltjens auch auf Papier zu zeichnen begann, bestand darin, ihre Linie durch ein einzelnes Material, weißen Gips, zu ziehen, indem sie einen Block zerschnitt oder zerbrach und anschließend wieder zusammenklebte. Der Leim war mit Pigment gefärbt. Die farbigen Fissuren verliefen durch den Gips hindurch. Die Skulptur war eine Zeichnung in drei Dimensionen. Eine Hybride. Zwischen Fläche und Substanz hängend wie ein Spinnennetz. Auch wenn Beltjens ihre erste größere Serie von Zeichnungen nicht Complex genannt hätte, wären ihre Betrachter vermutlich trotzdem auf dieses Wort gekommen. Sie bestehen aus unzähligen schwarzen Linien, die locker mit dem Tuschestift aufgetragen sind: eine überwältigende Menge ungefilterter visueller Information. Wenn man sie einzeln betrachtet, scheinen ihre Linien beinahe zufällig gezogen zu sein. Aus einigem Abstand lösen sie sich in Knäueln auf, die sich zusammenballen, als ob ihre Anordnung einem Naturgesetz folgte.
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Diese Zeichnungen sind so komplex wie atmosphärische Gegebenheiten. Die Struktur einer Wolke kann durch die Messung einzelner Teilchen so wenig vorausgesagt werden wie die spezifischen Positionen dieser Teilchen aus dem Studium der Gesamtstruktur der Wolke abgeleitet werden können. Und ebenso wenig existiert ein Mittelwert, der die Beziehung zwischen dem Mikroskopischen und dem Makroskopischen einsichtig machte. Das Klima ist eine Art physikalischer „Gestalt“. Die Complex-Zeichnungen aktivieren diese Gestalt visuell. Jede dieser Zeichnungen ist ein irreduzibler Komplex von Komplexen. Der Betrachter wird hineinund herausgezogen, bewegt sich abwechselnd vor und zurück, unsicher zwischen der Komplexität der Linien und der Komplexität der Form schwankend. Auch wenn die Linien alle auf eine flache Ebene gesetzt sind, werden sie doch nicht als solche gelesen. Ihre Komplexität ist dynamisch, ein ambulantes Zusammentreffen. Beltjens, die frühere Bildhauerin, modelliert das Erleben des Betrachters. „Absenz erzeugt Präsenz“, wie Nelleke Beltjens 2009 in einem Interview bemerkte. Ihre Complex-Zeichnungen illustrieren diese Idee effektvoll, da sich die Kraft dieser Zeichnungen aus dem unerreichbaren Mittelgrund zwischen Linie und Form ableitet: dem nicht wahrnehmbaren Komplex von Komplexen.
In ihren nachfolgenden Arbeiten erhob Beltjens dieses Wahrnehmungsrätsel zum Konzept. Dies gelang ihr durch den Einsatz eines täuschend einfachen Hilfsmittels: eines kleinen Stücks Papier, das die Herstellung ihrer monumentalen Zeichnungen leitet, indem es als Lineal benutzt wird. Ungewöhnlich ist dieses Hilfsmittel durch die Art seines Gebrauchs. Anstatt ihre Tuschestift-Linien an seiner Kante entlanglaufen zu lassen, zieht sie diese gegen den Strich, indem sie ihren Stift immer wieder so über seinen Rand hinweg auf das darunterliegende Papier setzt, als ob sie das Papierstück und den Bildträger mit dünnem Faden zusammennähte. Dann verschiebt sie das Papier an eine andere Stelle und macht weiter. Nach einigen Stunden ist das Hilfspapier schwer gezeichnet. In der Tat trägt es ebensoviel Tinte wie der Abschnitt der Zeichnung, den sie damit bearbeitet hat, da es ja die Hälfte all der kurzen Striche enthält. Wenn Beltjens es zur Seite legt, nimmt sie damit zugleich die Hälfte der Zeichnung weg. Im Hinblick auf die abgelegten Hilfspapiere sind die Linien ihres fertigen Werks zur Hälfte Präsenz, zur Hälfte Absenz – doch paradoxerweise ist die Absenz ganz und gar präsent: Was in diesen Zeichnungen nicht zu sehen ist, ist für die fertige Komposition genauso wesentlich wie das Sichtbare. Die langen Linien, die sie mit ihren kurzen Tuschestrichen zieht, bestehen aus dem Komplex von Präsenz und Absenz.
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Von den ersten Serien, in denen Beltjens diese Technik benutzte, erkunden zwei ihr Potenzial auf beinahe gegensätzliche Weise. Die Linien ihrer Incomplete Completion-Zeichnungen ballen sich zu multiplen Formen, die kompositionell auf der Bildebene ausbalanciert sind. Der Betrachter ist anfangs von der Gesamtheit absorbiert und wird sich nur schrittweise der Wichtigkeit dessen bewusst, was fehlt. Ihre (Im)possibilities sind eine größere Herausforderung. Jede dieser Zeichnungen zeigt nur eine einzige Linienballung, die oft ganz prekär auf das fast gänzlich leere Blatt gesetzt ist, wodurch die Qualität der Abwesenheit noch betont wird. Nur durch Umkehrung der Figur-GrundBeziehung findet der Betrachter eine heikle Balance, indem er (in einem gestalthaften Augenblick) erkennt, dass zu der Zeichnung auch all das gehört, was nicht zu sehen ist.
(Im)possibilities #12 | 2009 | 56 x 76 cm
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Damit stellt sich natürlich die Frage: Was geschieht mit den Hilfspapieren? Auf vieldeutige Weise fehlend in Incomplete Completion, Fragments of the Parts und (Im)possibilities, kommen sie in ihrer neuesten Serie Apparently (und verwandten Werken wie Uncut und Instance) ins Bild. Für diese Arbeiten schneidet Beltjens das Hilfspapier aus dem Zeichenblatt aus und setzt es nach seiner Verwendung wieder ordentlich mit Klebstreifen zurück an seinen Platz. Dieser Akt der Entfernung setzt den Mechanismus in Gang, aus dem heraus das Bild entsteht. Auf Messers Schneide zwischen Präsenz und Absenz balancierend, wird die Zeichnung somit zum Werkzeug ihrer eigenen Hervorbringung.
Apparently ist nicht das erste Beispiel dafür, dass Beltjens ein Werk schafft, das aus sich selbst heraus Kunst hervorbringt. Ganz früh in ihrer Karriere, als sie noch ihre Stahlskulpturen schweißte, ließ sie manche der Arbeiten rosten. Die Flecken, die diese aufgrund des Rostvorgangs auf Papier hinterließen, wurden zu Zeichnungen. Der Rost bildete die Oberfläche der Skulptur ab. Ihre Abbildung ließ die Struktur der Skulptur in sich zusammenstürzen. Die Zeichnungen der Apparently-Serie bilden ihre eigene Fläche ab und lassen ihre eigene Struktur kollabieren. Es sind die am meisten skulpturalen Zeichnungen von Nelleke Beltjens. Aufgrund der vielfältigen Dimensionen ihres Herstellungsprozesses sind sie gezeichnete Skulpturen.
(Im)possibilities #19 | 2009 | 56 x 53 cm
Instance Instance #3 | 2009 | Detail
Instance #6 | 2009 | 70 x 100 cm
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Instance #1 | 2009 | 56 x 76 cm
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Instance #5 | 2009 | 76 x 56 cm
Instance #3 | 2009 | 76 x 56 cm
Nelleke Beltjens and the Hidden Dimensions of Drawing By Jonathon Keats
In the Northern California town of Chico, Nelleke Beltjens once shared her studio with an industrious black widow. Low down in a corner, spinning a web finer than the line of a pen, the spider silently practiced an art wavering between sculpture and drawing. To a person standing, the web looked as slight as a silverpoint sketch. To a trapped insect, though, it was as weighty as death. Beltjens likewise works in the subtle space between sculpture and drawing, albeit without the spider‘s lethal objective. A sculptor by training, she has recently devoted herself wholly to creating large-scale works on paper. These monumental drawings are some of the most powerful and profound works she has yet achieved, transcending drawing in the traditional sense: With the delicate marks of her rapidograph, Beltjens draws the fragile line between presence and absence. This line can be traced back even to the artist‘s earliest works, simple irregularly-shaped blocks of steel welded, ground, and sanded to almost fit together on the floor. The evident weight of the metal accentuated the crevices between the sculpted pieces, lines drawn by the absence of material. The gaps improbably became the primary substance of the work.
Instance #2 | 2009 | 56 x 76 cm
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Gradually Beltjens introduced new materials into her oeuvre. She also added a new technique, binding together stuff as disparate as wood and plaster, closing the gap that had featured in her steel pieces. Her lines were delineated simply by the differences between the materials. They‘d no longer even the substance of air. The next stage in this sculptural evolution, undertaken as Beltjens was also starting to draw on paper, was to lace her line through a single material, white plaster, by cutting or breaking a block and then gluing it back together. The glue was colored with pigment. The colored fissures ran through the plaster. The sculpture was a drawing in three dimensions. A hybrid. Suspended between surface and substance, like a spider‘s web. Even if Beltjens had not named her first major series of drawings Complex, the word would likely have occurred to viewers. They‘re made up of countless black lines loosely inscribed with a rapidograph: an overwhelming quantity of unfiltered visual information. Individually examined, her lines appear to be drawn almost at random. At a distance, they resolve into clusters, massing together as if arranged by a law of nature.
These drawings are complex in the manner of atmospheric conditions. The structure of a cloud cannot be predicted by measuring individual particles any more than the specific positions of those particles can be deduced by studying the overall cloud structure. Nor is there a midpoint at which the relationship between the microscopic and macroscopic becomes apparent: The climate is a sort of physical gestalt. The Complex drawings activate this gestalt visually. Each of these drawings is an irreducible complex of complexes. The viewer is drawn in and out, moving forward and back repeatedly, hovering tenuously between the complexity of lines and the complexity of form. The lines may all be drawn on a flat plane, but that‘s not how they‘re read. Their complexity is dynamic, an ambulatory encounter. Beltjens the former sculptor sculpts the viewer‘s experience. “It is the absence that creates the presence,” Nelleke Beltjens observed in a 2009 interview. Her Complex drawings effectively illustrate this idea, for the power of these drawings derives from the unreachable middle ground between line and form: the imperceptible complex of complexes.
In the works that have followed, Beltjens has made this perceptual conundrum conceptual. She has accomplished this by the introduction of a deceptively simple tool: a small piece of paper used as a straightedge, guiding the creation of her monumental drawings. What makes the tool unusual is the way in which she uses it. Rather than making her lines by running her rapidograph along an edge, she draws against the grain, repeatedly stroking her pen over the side of the tool onto the paper below, as if she were stitching tool and support together with fine thread. Then she moves the tool to another angle, and does it again. After a couple hours, the tool is heavily marked. In fact, it carries as much ink as the section of drawing she‘s made, containing half of each short line. As Beltjens sets it aside, she takes away half the drawing with it. Considered in terms of the discarded tool, the lines of her finished work are half presence and half absence – yet paradoxically the absence is entirely present: What does not appear in these drawings is as essential to the finished composition as what does. The long lines delineated with her short penstrokes are comprised of the complex of presence and absence.
Instance #6 | 2009 | Detail
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AnyWay AnyWay #1 | 2009 | 173 x 114 cm
AnyWay #2 | 2009 | 173 x 114 cm
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Among those first sets of series Nelleke Beltjens made, two used this technique to explore the potential in almost opposite ways. The lines in her Incomplete Completion drawings mass into multiple forms which are compositionally balanced on the picture plane. The viewer is initially absorbed in the whole, only gradually coming to terms with the significance of what‘s missing. Her (Im)possibilities are more challenging. Each drawing has only a single mass of lines, often precariously placed on the almost entirely blank page, accentuating the quality of absence. Only by reversing the figure-ground relationship does the viewer find a tenuous balance, recognizing (in a gestalt instant) that the drawing is also all that isn‘t visible. Which naturally provokes a question: What about the tools? Ambiguously missing from Incomplete Completion, Fragments of the Parts, and (Im)possibilities, they explicitly enter into the picture with her newest series, Apparently (and the related works like Uncut and Instance). To make these pieces, Beltjens cuts the tool out of her drawing paper, and neatly tapes it back in place when she‘s done using it. The act of removal is the mechanism by which the image is created. Poised on the razor‘s edge between presence and absence, the drawing becomes the implement of its own making. Apparently is not the first instance in which Beltjens has created work that makes art in its own right. Early in her career, when she was welding her sculptures in steel, some of these were allowed to rust and the marks made on paper by their rusting became drawings. The rust mapped the sculpture‘s surface. The map collapsed the sculpture‘s structure. The drawings in the Apparently series map their own surface and collapse their own structure. They are Beltjens’s most sculptural drawings. Manifold dimensions in the making, they are drawn sculpture. AnyWay #3 | 2009 | 173 x 114 cm
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Uncut
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Uncut #1 | 2009 | 56 x 76 cm
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Uncut #2 | 2009 | 56 x 76 cm
Shift
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Shift #2 | 2009 | 76 x 56 cm
Shift #1 | 2009 | 76 x 56 cm
Apparently
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Apparently #4 | 2009 | Detail
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Apparently #1 | 2009 | 56 x 76 cm
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Apparently #2 | 2009 | 56 x 76 cm
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Apparently #3 | 2009 | 56 x 76 cm
Apparently #9 | 2009 | 56 x 76 cm
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Apparently #6 | 2009 | 56 x 76 cm
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Mahler Double Mahler Double #1 | 2010 | 125 x 293 cm/125 x 293 cm
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Overlap Overlap #1 | 2010 | Detail
Overlap #1 | 2010 | 130 x 218 cm
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Divided Divisions
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Divided Divisions #1–12 | 2010 | je/each 56 x 76 cm
Cluster
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Cluster #1–8 | 2010 | je/each 56 x 76 cm
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Nelleke Beltjens
Authors/Autoren
Impressum/Imprint
Nelleke Beltjens wurde 1974 in den Niederlanden geboren. Sie machte ihren Abschluss an der Kunstakademie in Tilburg, Niederlande, erhielt ihren M.A. in Bildhauerei von der Northern Illinois University, DeKalb, und ihren M.F.A. in Bildender Kunst an der University of California, Davis. Sie ist zurzeit Dozentin für Skulptur und leitet die Abteilung Skulptur an der Montana State University, Bozeman, USA.
Peter Lodermeyer, Kunsthistoriker, Kritiker und freier Autor, lebt und arbeitet in Bonn.
Übersetzung/Translation Elizabeth Volk Peter Lodermeyer
Peter Lodermeyer is an art historian, art critic, and author living and working in Bonn, Germany.
Gestaltung/Design art_work_buero, Köln/Cologne
Nelleke Beltjens was born in the Netherlands in 1974. She graduated from the Academy of Art, Tilburg, the Netherlands. She received an M.A. in sculpture from Northern Illinois University, DeKalb, and an M.F.A. in Art Studio from the University of California, Davis. She is currently assistant professor of sculpture and chair of the Sculpture Department at Montana State University, Bozeman, USA.
Jonathon Keats ist Experimentalphilosoph und Künstler sowie Kritiker des „San Francisco“-Magazins.
Fotos/Photos Simon Vogel Jay Jones
Jonathon Keats is an experimental philosopher and artist, and the art critic for San Francisco Magazine.
Umschlag/Cover Divided Divisions Druck/Print Courir Print Media GmbH, Bonn Printed in Germany
Galerievertretung/gallery representation
Erschienen November 2010 bei Published November 2010 by GlobalArtAffairs Publishing Bonn, Germany
Galerie Christian Lethert, Köln/Cologne, Germany Hosfelt Gallery, San Francisco/New York, USA
Vertrieb/Distribution Cornerhouse Publications Manchester, England www.cornerhouse.org/books
Besonderen Dank an/special thanks to Rollin Beamish, Koen Beltjens, Todd Hosfelt, Merle Reker, Thomas Wachholz, Susanne Wedewer-Pampus, und insbesondere/and especially Christian Lethert für seine stetige Unterstützung/for his ongoing support
ISBN 978-3-941763-06-7
Cluster #3 | 2010 | Detail
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Nelleke Beltjens