OKTOBER 2015
NEXTHAMBURG THEMA
HAMBURG WÄCHST. ABER WIE? DOSSIER NO.1: SZENARIEN DER BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG
Durch Zuwanderung aus Deutschland, der EU und den Krisengebieten der Welt wächst Hamburg aktuell so stark wie lange nicht mehr. Endlich, sagen die einen. Das wird sich wieder legen, sagen andere. Sicher ist: die Prognosen von gestern, die von einem moderaten Bevölkerungswachstum von etwa 5000 Einwohnern pro Jahr ausgingen1, sind zumindest für die nächsten Jahre überholt. Allein im Jahr 2015 könnte die Zuwanderung bis zu 50.000 Personen betragen2. Ist das aktuelle „Hoch“ ein einmaliges Phänomen, oder stehen wir vor einem Stadtwachstum wie in „Gründerzeit“? Damals, vor 120 Jahren, in der Zeit der Industrialisierung, wuchsen Deutschlands Städte in bis dahin nicht gekannter Weise. Wohin die Reise geht, ist mit Sicherheit nicht zu beantworten. Zu unwägbar sind die politischen Entwicklungen, denen die Wanderungsströme folgen. Um so nötiger ist eine Debatte darüber, wie die Stadt auf unterschiedliche Wachstumsszenarien reagieren kann.
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siehe: http://www.statistik-nord.de/fileadmin/Dokumente/Presseinformationen/SI15_139_Korrektur.pdf
Nach dem Königsteiner Schlüssel muss Hamburg etwa 2,5 Prozent der in Deutschland registrierten Asylbewerber aufnehmen. Bei 800.000 Asylbewerbern in Deutschland bedeutet das 20.000 Zuwanderer, bei 1,5 Mio. Asylbewerbern 37.500 Zuwanderer. Zuzüglich der Zuwanderung aus Süd- und Südosteuropas und anderen Bundesländern sind 50.000 Zuwanderer durchaus ein denkbares Szenario. 2
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WARUM SZENARIEN? KEINER WEIß, WIE VIELE WOHNUNGEN WIRKLICH GEBRAUCHT WERDEN. Mit dem vorliegenden Themenschwerpunkt will Nexthamburg Szenarien und Modelle des Stadtwachstums ausloten – gemeinsam mit den Bürgern der Stadt, als Anstoß für eine Stadtentwicklung, die Zukunft in Varianten denkt. Anhaltende Krisen in Nahost, die EU-Finanzkrise, schwache globale Konjunkturaussichten und zunehmende politische Instabilität auch in Europa: Vieles spricht dafür, dass Hamburg in den nächsten zehn Jahren eine deutlich stärkere Zuwanderung als in den vergangenen zehn Jahren erleben wird. Viele Akteure der Stadt bereiten sich auf ein deutlich steigendes Bevölkerungswachstum vor. Die Stadt plant, die Zielzahlen für den Wohnungsbau kurzfristig auf bis zu 12.000 Wohnungen pro Jahr zu erhöhen. Aber genügt das? Wie viele Wohnungen werden tatsächlich gebraucht? Reichen die aktuell zur Verfügung stehenden Entwicklungsgebiete der Stadt aus? Oder muss es eine Renaissance der Stadterweiterung „auf der grünen Wiese“ geben, von der man sich vor zwanzig Jahren aus guten Gründen verabschiedet hatte? Wie kann man schnell neue Stadtteile und Nachbarschaften bauen, ohne die Fehler der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre zu wiederholen? Nach dem Krieg wurden im großen Stil Siedlungen gebaut, die heute als sozial und baulich problematisch gelten – monofunktional, oft eintönig, zu wenig flexibel, zu weitab gelegen. Kann man das heute anders machen? Solchen Fragen will der Themenschwerpunkt nachgehen. Wie viel und welche neue Stadt gebraucht wird, möchte Nexthamburg in Szenarien ausloten. Deshalb startet der Themenraum zum Stadtwachstum mit einer Analyse des historischen Bevölkerungswachstums und einem Versuch, aktuelle Szenarien für die künftige Bevölkerungsentwicklung zu entwickeln – als Grundlage für die weitere Arbeit an Entwicklungswegen.
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WACHSTUMSSCHÜBE: DREI SZENARIEN DES STADTWACHSTUMS BIS 2035
Einwohner
70
14
00
0 00
0
0 00
15
51
00
00 0 18
0
0
00
00
14
70
00
0
0
23
00 60
30
60
00
00
Das Wachstum Hamburgs von der kleinen Hafensiedlung bis zur Metropole mit fast zwei Millionen Einwohnern ist nicht kontinuierlich verlaufen. Immer wieder in der Geschichte der Stadt hat es starke Wachstumsschübe gegeben, insbesondere in den vergangenen 150 Jahren. Das abgebildete Diagramm zeigt das Bevölkerungswachstum seit 1800, wobei für die Phasen des Bevölkerungswachstums auch die gerundeten durchschnittlichen jährlichen Einwohnerzuwächse dargestellt sind.
Einwohnerzuwachs pro Jahr in einzelnen Phasen der Stadtgeschichte
2.500.000 17000
27000
6000 1
15000
2.000.000
2 3
Korrektur Einwohnerzahl durch Zensus
1.500.000
1800
1825
1850
1875
1900
1925
Wiedervereinigung
Ende 2. Weltkrieg
Ende 1. Weltkrieg
500.000
Jahr
Groß-Hamburg-Gesetz
1.000.000
1950
1975
2000
2015
2025
Von 1800 an lassen sich unterschiedliche Wachstumsniveaus unterscheiden: ‣ Leichtes Wachstum unter 5.000 Einwohnern pro Jahr zwischen 1812 und dem Beginn der Industrialisierung Hamburgs um 1865. ‣ Mäßiges Wachstum zwischen 5.000 und 10.000 Einwohnern pro Jahr in der ersten Phase der Industrialisierung bis etwa 1890 und seit 2000. ‣ Starkes Wachstum über 10.000 Einwohner pro Jahr während der späten Industrialisierung (1890 bis 1930, unterbrochen vom ersten Weltkrieg), sowie nach 1950 bis 1965. ‣ Sehr starkes Wachstum von über 50.000 Einwohnern pro Jahr in kurzen Phasen um 1890 und 1950 herum. 3
2050
DAS STÄRKSTE WACHSTUM FAND IN DER NACHKRIEGSZEIT STATT Die einzelnen „Wachstumsschübe“ lassen sich zu drei groben Phasen zusammenfassen: ‣ Das Stadtwachstum in der Zeit der Industrialisierung, ‣ das Nachkriegs-Stadtwachstum ‣ und das Stadtwachstum in der Zeit nach der Wiedervereinigung. Bemerkenswert ist, dass bei dieser gröberen Betrachtung nicht etwa die Industrialisierungsphase die höchsten jährlichen Zuwächse brachte (etwa 15.000 Einwohner), sondern die Nachkriegszeit mit im Schnitt 27.000 Einwohnern pro Jahr. Dabei wurde die steile „Erholung“ der Bevölkerungszahl in den ersten zwei Jahren nach dem Kriegsende 1945 nicht eingerechnet. Selbst wenn man anerkennt, dass das Bevölkerungswachstum in den zwei Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg insgesamt eher eine „Erholung“ der Bevölkerungszahl darstellte und maßgeblich durch Heimkehrer und Aussiedler bewirkt wurde, so steht dahinter doch eine Wohnungsbau- und Integrationsleistung der Stadt, die in der Geschichte Hamburgs bisher unübertroffen ist. Der Blick in die Geschichte zeigt: Hamburg hat immer wieder starkes Wachstum bewältigt. Das für dieses Jahr erwartete Bevölkerungswachstum von über 20.000 Einwohnern (bis zu vielleicht 50.000 Einwohnern) treibt die Stadt aber durchaus an die Grenze ihrer historischen Erfahrungen und reiht sich in die absoluten Spitzenphasen des Stadtwachstums ein. Wenn man bedenkt, dass das ähnlich hohe Stadtwachstum von einst mit enormen „Wachstumsschmerzen“ einher ging (soziale Zustände in den frisch erbauten Gründerzeitquartieren sowie mangelnde bauliche und funktionale Qualitäten im NachkriegsWohnungsbau), wird deutlich, vor welcher Herausforderung Hamburg in den nächsten Jahren steht. Die Stadt steht möglicherweise vor einer neuen Gründerzeit, muss diese aber mit den Mitteln und Ansprüchen heutiger Stadtentwicklung bewältigen.
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AN WELCHE HISTORISCHE WACHSTUMSERFAHRUNG KNÜPFT DAS AKTUELLE STADTWACHSTUM AN? Wie geht die Bevölkerungsentwicklung weiter? Die bisherigen Prognosen von Bertelsmann-Stiftung, Statistikamt Nord oder dem Bundesamt für Bauwesen, Stadt- und Raumforschung (BBSR) sind angesichts der aktuellen Zuwanderungswelle überholt. Neuere Prognosen zu machen, erscheint angesichts der Dynamik der politischen Situation wenig sinnvoll. Dennoch soll an dieser Stelle versucht werden, vor dem Hintergrund der aktuellen Zuwanderung zumindest grobe Szenarien der Bevölkerungsentwicklung aufzuspannen, die die neue Zuwanderungsdynamik für Hamburg berücksichtigen. Dabei geht es weniger um im Detail exakte Zahlen, als um Größenordnungen des jährlichen Bevölkerungswachstums, die an die historischen Größenordnungen des Stadtwachstums anknüpfen. Anders gesagt: An welche Epoche des Stadtwachstums knüpft das zu erwartende Wachstum der nächsten Jahre an? Im Diagramm werden drei Szenarien angeboten, die allesamt nicht auf der Grundlage statistischer Methoden entwickelt wurden, sondern durch Übertrag einer historischen Wachstumserfahrung Hamburgs auf die kommenden Jahre. ‣ Szenario 1 (anhaltender Zustrom) geht von weiter starkem Zuzug aus. Voraussetzung für dieses Szenario ist, dass die geopolitischen und ökonomischen Krisenherde nicht befriedet werden und die Wanderungsströme nach Europa anhalten – und Hamburg bzw. Deutschland sich nicht gegen den Zustrom abschotten. In Szenario 1 wird bis 2025 im Mittel ein Zuzug von jährlich 25.000 Einwohnern angenommen, was angesichts der aktuellen Spitzenwerte eher konservativ geschätzt ist. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass eine Einigung auf einen inneneuropäischen Verteilungsmodus den Zuwanderungsdruck in Deutschland etwas mindert. Nach 2025 flacht sich in diesem Szenario das Wachstum auf etwa 15.000 Einwohner pro Jahr ab, bleibt aber anhaltend hoch. 2025 würde Hamburg nach dieser Rechnung die zweiMillionen-Marke erreichen, 2035 hätte Hamburg etwa 2,15 Millionen Einwohner. ‣ Szenario 2 (mittleres Wachstum) geht von einem Rückgang des Flüchtlingszustroms nach 2017 aus und von einer Rückkehr zum Bevölkerungswachstum der vergangenen Jahre. Dieses Szenario tritt ein, wenn Europa den Zustrom der Flüchtlinge eindämmt oder sich die globalen Krisenherde beruhigen. Angenommen wird ein durchschnittliches Wachstum von 10.000 Einwohnern pro Jahr bis 2025 und ein Abflachen des Wachstums unter das durchschnittliche Wachstumsniveau nach dem Jahr 2000 (5.000 Einwohner). Dabei wird von einer anhaltenden wirtschaftlichen Anziehungskraft Hamburgs ausgegangen. Hamburg hätte in diesem Szenario 2025 knapp 1,9 Millionen Einwohner und 2035 etwa 1,95 Millionen Einwohner. 5
‣ Szenario 3 (geringes Wachstum) geht von einer überraschend schnellen Erholung der politischen und ökonomischen Konfliktherde aus – bzw. alternativ von einer radikalen Eindämmung des Zuzugs. In diesem Szenario geht das aktuell starke Bevölkerungswachstum in den nächsten Jahren auf Werte deutlich unter 10.000 Einwohner zurück und pendelt sich im Schnitt bei dem Wert der vergangenen 15 Jahre ein. Hamburg wächst so bis 2025 auf 1,85 Millionen Einwohner. Nach 2025 schlägt der demografische Wandel stärker durch, der in den anderen Szenarien durch Einwanderung überlagert wird. Die Stadt wächst in den zehn Jahren bis 2035 nur um etwa 3.000 Einwohner pro Jahr, was eine Bevölkerung von etwa 1,88 Millionen Einwohnern im Jahr 2035 zur Folge hat. Extremere Wachstumsszenarien wurden im Rahmen dieses Dossiers nicht berücksichtigt. Es wurde angenommen, dass noch extremeres Wachstum nur aufgrund katastrophaler Zuspitzung internationaler Krisen stattfinden würde, und dass in diesem Fall nicht mehr von einem Modus gesteuerter Stadtentwicklung ausgegangen werden kann. Die skizzierten Szenarien bewegen sich demnach in einem Korridor der nicht-katastrophalen Entwicklung, der gesteuertes planerisches Handeln weiter ermöglicht. Zudem wurde auf die Integration eines Schrumpfungsszenarios verzichtet, da dies für Hamburg in den nächsten zwanzig Jahren als extrem unwahrscheinlich eingeschätzt wird. Auch für das plötzliche Abbrechen des demografischen Wachstumspfades wären als Voraussetzungen eher katastrophale oder extrem disruptive Entwicklungen anzunehmen, die in dieser Betrachtung ausgeklammert bleiben müssen.
FAZIT
HAMBURG KÖNNTE IN DEN NÄCHSTEN JAHREN SO STARK WACHSEN, WIE NUR IN WENIGEN PHASEN SEINER STADTGESCHICHTE ZUVOR. ABER SELBST DAS STÄRKSTE WACHSTUMSSZENARIO BEWEGT SICH IM RAHMEN GELERNTER „WACHSTUMSERFAHRUNGEN“. VEREINFACHT GESAGT: HAMBURG KANN DAS. DIE OFFENE FRAGE IST BLOß: WIE KANN ES DIE STADT BESSER MACHEN ALS IN DEN ANDEREN HISTORISCHEN EPOCHEN? DAS WILL NEXTHAMBURG AUSLOTEN. GEMEINSAM MIT DIR. KONTAKT UND RÜCKFRAGEN: JULIAN PETRIN (V.I.S:D:P:) ODER MARKUS EWALD NEXTHAMBURG E.V. MAIL@NEXTHAMBURG.DE +49 40 74 392 632
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