Npz 04 2014 lammert

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Politik & GESELLSCHAFT

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„Diese für uns selbstverständlich gewordene Zusammenarbeit in Europa ist historisch spektakulär.“ Norbert Lammert leitet als Präsident des Deutschen Bundestages das mächtigste nationale Parlament innerhalb der Europäischen Union. Auf Einladung des slowakischen Parlamentspräsidenten Pavol Paška besuchte er im März die Slowakei und sprach mit der „NPZ - Neue Pressburger Zeitung“ über Parlamentarismus im Allgemeinen und über die bevorstehenden Wahlen zum EU-Parlament. Text: Christoph Thanei, Fotos: Tomáš Benedikovič

NPZ: Herr Bundestagspräsident, relativ kurz vor den im Mai anstehenden Wahlen für das Europäische Parlament hat das deutsche Verfassungsgericht in Karlsruhe die bisher in Deutschland für EUWahlen geltende Dreiprozenthürde für verfassungswidrig erklärt. Das erleichtert die Chancen von kleinen Parteien - auch zum

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Beispiel für die rechtsextreme NPD. Welches Risiko kann daraus entstehen? Droht mehr Instabilität im EU-Parlament? Norbert Lammert: Ich persönlich bedauere ebenso wie wohl die überwiegende Mehrheit des Deutschen Bundestages die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. In der Tat führt das Streichen der Dreiprozentklausel zu einer sehr viel grö-

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ßeren Erfolgswahrscheinlichkeit auch sehr kleiner politischer Gruppierungen. Wie viele dann am Ende über die mindestens ein oder eineinhalb Prozentpunkte verfügen werden, die ihnen einen Sitz im Europäischen Parlament bringen, muss man abwarten. Aber eine besonders günstige Rahmenbedingung für die stärkere Handlungsfähigkeit des Europäischen Parlaments stellt diese Entscheidung sicher nicht dar.

Viele dieser Kleinparteien, die jetzt ihre Chance wittern, aus Deutschland leichter ins EU-Parlament zu kommen, treten ja sehr populistisch auf. Sie werden aber nicht nur deshalb stärker, weil jetzt ihre gesetzliche Hürde niedriger geworden ist, sondern weil die Wähler immer unzufriedener mit den etablierten Parteien sind. Was machen die falsch? Ich finde es nicht weiter erstaunlich, dass in komplizierten Situationen sowohl im nationalen wie auch im europäischen Rahmen die in Verantwortung befindlichen Parteien an Zustimmung verlieren. In Deutschland sind wir übrigens in wesentlich geringerem Maß als in vielen anderen Ländern von dem Problem betroffen, dass sich das in einer Zersplitterung des Parteiensystems und in der Stärkung von radikalen und fundamental euroskeptischen Gruppierungen niederschlägt. Ein Patentrezept gibt es dagegen nicht. Aber solange sich alternative Gruppierungen an die jeweiligen Verfassungsregeln halten, sind sie auch zu respektieren. Ein Grund für die Unzufriedenheit vieler Wähler mit den traditionellen Parteien ist doch sicher auch, dass die wichtigen Entscheidungen in Ländern wie Deutschland oder der Slowakei gar nicht wirklich im Parlament fallen. Das wird doch alles vorher in Parteigremien abgesprochen und das Parlament ist dann nur so eine Art Abstimmungsautomat, in dem die Abgeordneten blind für das stimmen, was ihre Parteien schon vorher beschlossen haben. Frustriert das nicht gerade Sie als Parlamentsvorsitzenden? Das ist als Pauschalierung einfach falsch. Bei Wahlen treten in der Regel Parteien und deren Kandidaten an und werben für ihr Konzept und ihre Vorstellungen um Zustimmung. Über die Wahlen schlägt sich das dann darin nieder, wie viele Abgeordnete die jeweiligen Parteien haben. Nirgendwo in Europa werden in freien Wahlen Solisten gewählt, sondern

immer politische Gruppierungen und deren Repräsentanten. Deshalb ist es nicht weiter erläuterungsbedürftig, dass sich dann im parlamentarischen Diskussionsprozess in der Regel die Auffassungen niederschlagen, die diese Parteien schon vorher in Wahlkämpfen vertreten haben. Das schließt aber nicht aus, dass es in der konkreten gesetzlichen Ausgestaltung von angekündigten Absichten einen erheblichen Diskussionsprozess gibt. In Deutschland führen wir zum Beispiel gerade so eine Diskussion über das Rentenrecht. Noch eine bilaterale Frage zum Verhältnis Deutschland-Slowakei: Herr Bundestagspräsident, Sie haben erst gerade den slowakischen Präsidenten Ivan Gasparovic in Berlin getroffen und besuchen jetzt die Slowakei. Ist das nur eine zufällige Terminabfolge oder lässt sich das auch so interpretieren, dass die Slowakei für Deutschland ein immer wichtigerer Partner ist? Ich habe heute bei meinem Besuch im slowakischen Präsidentenamt auch gesagt, wie eng und komplikationslos unsere Beziehungen geworden sind, zeigt sich auch daran, dass ich den deutschen Bundespräsidenten seit drei oder vier Wochen nicht mehr gesehen habe, aber den slowakischen Staatspräsidenten schon

zum zweiten Mal innerhalb einer Woche treffe. Niemand käme auf die Idee, daraus etwas Besonderes abzuleiten. Es ergibt sich einfach aus der Selbstverständlichkeit einer Zusammenarbeit innerhalb Europas, die wir als selbstverständlich empfinden, obwohl sie historisch betrachtet natürlich spektakulär ist. Das hätten sich frühere Generationen so gar nicht vorstellen können! Gilt das auch für die Bevölkerung in Deutschland? Wie wird von ihr die Slowakei wahr genommen? Wie selbstverständlich ist es schon, sie überhaupt zu kennen? Was kennen Durchschnittsbürger wohl am ehesten von der Slowakei? Das ist natürlich sehr unterschiedlich, gerade auch regional: Die Hamburger oder Schleswig-Holsteiner haben naturgemäß viel weniger Bezug zu Österreich als die Bayern. Und während die BadenWürttemberger in der Regel eine natürliche Affinität zur Schweiz haben, haben die Nordrhein-Westfalener sie eher zu den Niederlanden. Die Intensität der Kontakte und die Kenntnisse voneinander sind natürlich von der Geografie abhängig. Dennoch bleibt aber der Befund richtig: Wir haben die Slowakei in den vergangen zehn Jahren seit dem Beitritt als verlässlichen Partner kennen gelernt und setzen diese Zusammenarbeit gerne fort.

Norbert Lammert, geboren am 16. November 1948 in Bochum, ist seit 2005 Präsident des Deutschen Bundestages. Dass der Christdemokrat auch über Parteigrenzen hinweg Anerkennung findet, zeigt sich unter anderem daran, dass er in diese Funktion alle bisher drei Male (2005, 2009, 2013) mit überwältigender Mehrheit gewählt wurde, zuletzt sogar mit fast 95 Prozent der Abgeordnetenstimmen.

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