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Direkte Demokratie in den Gemeinden

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG

Lektorat: Christoph Meyer, Basel

Korrektorat: Susanne Schneider, München

Umschlag: icona basel, Basel

Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz

Druck: Hubert & Co., Göttingen

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN Print 978-3-907396-24-7

ISBN E-Book 978-3-907396-25-4 www.nzz-libro.ch

NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.

Vorwort

Das vorliegende Buch widmet sich als eines der wenigen exklusiv der direkten Demokratie in der Schweiz auf der kommunalen Ebene. Es entstand im Verlauf der letzten Jahre im Rahmen unserer Datenerhebungen, Recherchen und Analysen zu den Instrumenten und der Praxis der Volksrechte in den Schweizer Gemeinden und Städten. All denen, die uns beim Zustandekommen des Werks an der Universität Bern geholfen haben, sind wir sehr verbunden. An erster Stelle möchten wir uns herzlich bei denjenigen Gemeinden bedanken, die uns durch ihre Kooperation überhaupt erst die Möglichkeit zur Auswertung ihrer Daten gegeben haben. Besonders hilfreich für unsere Analysen war der Datensatz von Michael Bützer, der im Rahmen des SNF-Forschungsprojekts «La démocratie communale en Suisse: vue générale, institutions et expériences dans les villes 1990–2000» (Projektnummer 59366) entstanden ist und den uns Uwe Serdült vom Zentrum für Demokratie Aarau dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat. Die Angaben aus den Gemeindeschreiberbefragungen von Andreas Ladner, Reto Steiner und anderen haben uns vielfältige Informationen über die direktdemokratischen Beteiligungsformen in den Gemeinden und ihren Gebrauch geliefert. Ein grosses Merci geht an Madleina Ganzeboom und Nina Fink für die Erstellung von Abbildungen und insbesondere für ihre aufwendigen Erhebungen der Daten bei rund 70 Gemeinden der Schweiz über ihre unterschiedlichen Rechtsformen der direkten Demokratie und über die Nutzung von obligatorischen und fakultativen Referenden sowie Volksinitiativen für den Untersuchungszeitraum von 2001 bis 2021. Rahel Freiburghaus, Madleina Ganzeboom und Pierre Lüssi, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Lehrstuhls für Schweizer Politik am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern, danken wir für das Korrekturlesen der einzelnen Kapitel unter erheblichem Zeitdruck. Dem Verlag NZZ Libro sind wir für die konstruktive und langjährige Zusammenarbeit und das Co-Lektorat verbunden.

Der UniBern Forschungsstiftung danken wir schliesslich für ihre grosszügige Bereitschaft, einen Grossteil der Druckkosten dieses Buchs zu übernehmen.

Bern, im Februar 2023 Martina Flick Witzig und Adrian Vatter

1 Einleitung

1.1 Einstieg

Die Schweiz gilt als unangefochtene Weltmeisterin der direkten Demokratie (Altman 2011: 49). In keinem anderen Staat sind die unmittelbaren Entscheidungsbefugnisse der Bürgerinnen und Bürger bei Sachgeschäften so stark ausgebaut und werden so intensiv praktiziert wie in der Schweizer Eidgenossenschaft. Bis heute hat weltweit rund die Hälfte aller nationaler Volksabstimmungen in diesem kleinen europäischen Land stattgefunden (Milic et al. 2014: 21). Entsprechend bietet die Schweiz einen einmaligen Bestand an empirischen Daten und Befunden zur Funktionsund Wirkungsweise der direkten Demokratie. Während sich zahlreiche Studien mit den Volksrechten auf nationaler und kantonaler Ebene im schweizerischen Bundesstaat auseinandergesetzt haben, bestehen aber kaum Untersuchungen zur direkten Demokratie auf lokaler Ebene. Es fehlt bis heute ein Grundlagen- und Übersichtswerk über die Institutionen und die Praxis der unmittelbaren Sachbefugnisse der Bürger in den Gemeinden und Städten der Schweiz. Dies erstaunt umso mehr, als der kommunalen Ebene als eigentlicher «Schule der Demokratie» eine besondere Bedeutung bei der Bürgerbeteiligung zukommt. «Sie erscheint wie ein ursprüngliches Feld für eine politische Betätigung des Bürgers. Die örtlichen Verhältnisse gelten als überschaubar, die Problemlagen als durchschaubar, die Entscheidungsprozesse als unmittelbar beeinflussbar und Massnahmen in der Kommunalpolitik als persönlich erfahrbar» (Kost 2013: 34). Hinzu kommt, dass die Möglichkeiten der unmittelbaren Betroffenheit und direkten Beeinflussbarkeit politischer Entscheidungen durch das Volk im stark föderalen schweizerischen Bundesstaat auf lokaler Ebene besonders ausgeprägt sind, da die Gemeinden als eigene politische Ebene eine im internationalen Vergleich sehr bedeutende Stellung einnehmen (Vatter 2018, 2020). Gemäss einem Ranking von Ladner et al.

(2019) besitzen die Gemeinden in keinem anderen Land Europas mehr Autonomie als in der Schweiz, obwohl sie vergleichsweise klein sind. Besonders herauszustreichen sind die stark ausgebaute lokale Selbstständigkeit und die vielfältigen Zuständigkeiten der Schweizer Kommunen, die ihren sichtbaren Ausdruck in der Existenz einer eigenständigen Finanzhaushalt- und Steuerhoheit sowie der eigenen Selbstverwaltung und -gesetzgebung finden (Ladner & Keuffer 2021). Insgesamt handelt es sich bei den Schweizer Gemeinden um historisch gewachsene und politisch eigenständig handelnde Gebietskörperschaften mit beträchtlichen Kompetenzen in einzelnen Politikfeldern und ausgebauten Mitwirkungsrechten, die als wichtiger sozialer Bezugsrahmen zweifellos die bürgernächste Einheit bilden (Freitag et al. 2019). «The combination of great regional and local autonomy on the one hand and extensive opportunities for direct democratic participation on the other has led over time to a colourful bouquet of local direct democracy» (Rochat 2022: 1 f.). In aller Kürze wird damit deutlich, dass offenbar eine grosse Kluft zwischen der hohen Bekanntheit und Bedeutung der stark ausgebauten Schweizer Direktdemokratie und Gemeindeautonomie einerseits und den fehlenden Grundlagen und Kenntnissen über die kommunalen Volksrechte im Schweizer Bundesstaat andererseits besteht. Diese Lücke möchte das vorliegende Buch mit einer vertieften Darstellung und Analyse der direkten Demokratie in den Gemeinden und Städten der Schweiz schliessen, womit auch ein Beitrag zur Verbesserung der Qualität demokratischer Entscheidungsstrukturen und zur Erreichung demokratiepolitischer Ziele im lokalen Raum angestrebt wird. «In this way, local direct participation can also contribute to more acceptance, effectiveness and legitimacy of local governance, and serve as an area of learning and experiencing democratic decision-making for democracy at large» (Schiller 2011a: 10).

1.2 Forschungsstand

Die lokale direkte Demokratie in der Schweiz stellt erstaunlicherweise bis heute ein wenig erforschtes Feld im Vergleich zur Beschreibung und Analyse der Volksrechte auf kantonaler (Eder 2010; Fatke 2014; Trechsel 2000; Trechsel & Serdült 1999; Vatter 2002, 2020) und nationaler Stufe (Schaub & Bühlmann 2022; Fossedal 2018; Kriesi 2005; Milic et al. 2014) dar. Das zeigt sich insbesondere darin, dass bis heute hierzulande kein Übersichts- werk über die kommunale Direktdemokratie in Buchform existiert. Die bisher einzige grössere Studie bildet die Dissertation von Michael Bützer (2007a). In seiner Untersuchung wurden erstmalig die direktdemokratischen Institutionen von 118 Schweizer Städten rechtsvergleichend erfasst. Darüber hinaus analysierte er auch den Gebrauch der Volksrechte in diesen Städten für die Periode von 1990 bis 2000. Bützer (2007a) kommt für die untersuchten Schweizer Städte zum Schluss, dass es beträchtliche Unterschiede zwischen der Deutsch- und der Westschweiz gibt und die Nutzung von fakultativen Referenden und Initiativen weniger durch politische und institutionelle Grössen wie etwa die Höhe der Unterschriftenhürden, sondern vor allem durch die soziale Komplexität und den wirtschaftlichen Problemdruck des lokalen Kontexts beeinflusst wird. Die Pionierarbeit von Bützer (2007a) liefert einen ersten wichtigen Einblick in die vielfältige Praxis der städtischen Volksentscheide der Schweiz und gibt uns wichtige Hinweise für die weitere Forschung. Die Studie beschränkt sich aber auf die grösseren Städte, untersucht nur einen kurzen, schon etwas länger zurückliegenden Zeitraum und verzichtet auf eine Analyse der direkten Demokratie in den sehr zahlreichen mittleren und kleinen Gemeinden der Schweiz.

Abgesehen von Bützer (2007a) liegen einige wenige Beiträge aus rechtswissenschaftlicher, insbesondere rechtsvergleichender Perspektive vor, die sich mit einzelnen Formen der kommunalen Volksrechte in der Schweiz wie dem Behördenreferendum, der Planungsinitiative und weiteren Initiativ- und Referendumsformen beschäftigen (Bätschmann 2017; Bisaz 2016, 2020; Karr 2003; Lafitte 1987; Saile 2011; Schaffhauser 1978; Schneider Fellmann 2013), während sich die Geschichtswissenschaft bisher noch kaum mit dem Thema auseinandergesetzt hat (vgl. aber Hatz 2016; Meyer 2007; Suter 2012). Wie erwähnt, behandelt auch die politikwissenschaftliche Forschung die kommunale Bürgermitsprache anhand von Initiativen und Referenden bis heute stiefmütterlich. Politologische Analysen sind nach wie vor rar und beschränken sich in der Regel auf einzelne Handbuchartikel (Ladner 2011; Rochat 2022) sowie wissenschaftliche Beiträge, die sich vor allem mit dem politischen Interesse, der Beteiligung und der Gemeindegrösse bei lokalen Abstimmungen in der Schweiz beschäftigen (Bühlmann 2006; Bützer 2007b, 2011; Huissoud & Joye 1991; Kübler & Dlabac 2015; Kübler et al. 2020; Ladner 1991, 2002; Ladner & Bühlmann 2007; Ladner & Fiechter 2012; Stadelmann-Steffen & Dermont 2015). Auch die Besonderheit, dass in der Schweiz lange Zeit die Einbürgerungsanträge in vielen Fällen durch kommunale Volksabstimmungen entschieden wurden, fand in der Forschung ihren Niederschlag (Hainmüller & Hangartner 2019). Erwähnenswert sind schliesslich auch die verschiedenen polit-ökonomischen Studien, die anhand lokaler Abstimmungen die Wirkungen der direkten Demokratie auf die Verschuldung, die öffentlichen Ausgaben und die Steuerlast analysiert haben (Feld & Kirchgässner 2001, 2002; Frey & Stutzer 2004), sowie die mehrfach durchgeführten, breit abgestützten nationalen Gemeindeschreiberbefragungen (Ladner 1991, 2002, 2008, 2016; Steiner et al. 2019, 2021), bei denen unter anderem Auskunft über die direktdemokratischen Beteiligungsformen in den Gemeinden und ihre Nutzung zu unterschiedlichen Zeitpunkten gegeben wurde. Die neuesten Befunde des nationalen Gemeindemonitorings bestätigen, dass nach wie vor beträchtliche Unterschiede in der Nutzung der Volksrechte (Initiative, Referendum) zwischen bevölkerungsschwachen und -starken Gemeinden sowie zwischen der Deutschschweiz und der lateinischen Schweiz bestehen (Steiner et al. 2021: 54 ff.).

Diese kurze Übersicht verdeutlicht, dass bis heute keine politikwissenschaftliche Übersichtsdarstellung zur direkten Demokratie in den Gemeinden der Schweiz vorliegt, obwohl sowohl die Volksrechte als auch die lokale Autonomie wichtige identitätsbildende Kernmerkmale des politischen Systems der Schweiz darstellen (Linder & Mueller 2017; Vatter 2020). Dies etwa im Gegensatz zu Nachschlagewerken, die zur lokalen Direktdemokratie in Europa (Schiller 2011b) und im internationalen Vergleich bestehen (Premat 2022). Bemerkenswert ist auch die vielfältige Literatur, die zu den kommunalen Verfahren von Bürgerbegehren und -entscheiden und ihrem Gebrauch in Deutschland vorliegt, wo in einzelnen Bundesländern wie Bayern, Berlin und Hamburg eine rege Praxis direkter Demokratie auf lokaler Ebene besteht (Gebhardt 2000; Heyne 2017; Holtkamp 2017; Kampwirth 2003; Kost 2013; Vetter & Velimsky 2019). Schliesslich fällt auf, dass in den letzten Jahren vermehrt auch politikwissenschaftliche Untersuchungen zum Gebrauch der kommunalen Volksrechte in anderen Ländern Europas (Geurtz & Wijdeven 2010; Jäske 2017; Karlsson 2012; Salvador & Ramió 2011; Smith 2011) als auch auf anderen Kontinenten (Garrett & McCubbins 2010; Kasymova & Schachter 2014; Lyon 2015) erschienen sind, was das gestiegene Interesse am Thema dokumentiert.

1.3 Ziele, Fragestellungen und Abgrenzungen

Das Ziel des vorliegenden Buchs ist es, mit einer breit angelegten Beschreibung und Analyse ein besseres Verständnis für die Verfahren und den Gebrauch der Volksrechte in den Schweizer Gemeinden zu erreichen. Im Mittelpunkt steht dabei eine politikwissenschaftliche Perspektive, indem zunächst die einzelnen Institutionen der direkten Demokratie auf lokaler Ebene als auch die Nutzung der Volksrechte deskriptiv erfasst werden. Im Weiteren will die vorliegende Studie aber auch empirische Analysen zu den unterschiedlichen Rechtsformen und zum Gebrauch der lokalen Bürgermitsprache vorlegen. So wird untersucht, welche institutionellen und kulturellen Faktoren mit der Existenz der verschiedenen direktdemokratischen Instrumente in Zusammenhang stehen. In Bezug auf die Nutzung der Instrumente beziehen wir darüber hinaus politische Variablen ein. Weitere Gegenstände der Untersuchung sind die Resultate und die Beteiligung bei kommunalen Abstimmungen sowie deren Erklärungsgrössen. Schliesslich liefert die vorliegende Untersuchung einen ersten umfassenden Überblick über die rechtliche Ausgestaltung der Instrumente der direkten Demokratie in den Gemeinden der 26 Kantone. Hingegen strebt die Studie keinen eigenständigen Beitrag für die zeithistorische Forschung an.

Konkret werden folgende Fragen in den einzelnen Kapiteln des Buches behandelt: Welche Instrumente der direkten Demokratie bestehen in den Schweizer Gemeinden und Städten? Wie häufig werden Initiativen und Referenden in den Schweizer Gemeinden und Städten in Anspruch genommen? Welche Themen stehen bei lokalen Urnenabstimmungen im Vordergrund, welche nicht? Wie fallen die Ergebnisse kommunaler Volksentscheide aus? Mit welchen Faktoren lassen sich die Häufigkeit, das Resultat und die Beteiligung bei kommunalen Volksabstimmungen erklären? Welche Veränderungen werden bei Abstimmungen in den Schweizer Grossstädten über einen Zeitraum von 30 Jahren sichtbar?

Aufgrund des breiten und bisher wenig untersuchten Sachgegenstands sind zwangsläufig Ein- und Abgrenzungen notwendig. Eine erste Einschränkung liegt darin, dass sich die vorliegende Studie ausschliesslich auf die lokalen Urnenabstimmungen in der Schweiz beschränkt. Nicht Gegenstand sind demnach die Gemeindeversammlungen, die gerade in kleinen Gemeinden traditionell eine wichtige Rolle bei der sachunmittelbaren Volksentscheidung spielen, in jüngster Zeit jedoch etwas an Bedeu- tung verloren haben, da eine Reihe von Gemeinden von der Versammlungs- zur Urnendemokratie gewechselt hat (Kübler & Dlabac 2015; Ladner 2016; Rochat 2019). Diese Eingrenzung ist vor allem aus forschungspraktischen und -ökonomischen Gründen erfolgt. Bei Urnenabstimmungen werden die Beteiligung und die Ergebnisse (Ja- und NeinStimmen) viel genauer erfasst als bei Gemeindeversammlungen, was deutlich präzisere Bestandsaufnahmen und Analysen erlaubt. Zudem wäre der Erhebungsaufwand für die Gemeinden viel höher gewesen, wenn zusätzlich auch die Daten zu den Abstimmungen in Gemeindeversammlungen hätten erhoben werden müssen. In diesem Fall wären viele angefragte Kleingemeinden aufgrund ihrer begrenzten personellen Ressourcen nicht in der Lage gewesen, unsere Anfragen zu beantworten. Eine zweite Einschränkung bezieht sich darauf, dass bei unserer explorativen Studie nur die klassischen direktdemokratischen Instrumente, nämlich die Initiative1 sowie die dazu unterbreiteten Gegenvorschläge,2 das fakultative Referendum3 und das obligatorische Referendum4 «als der eigentliche Kern der politischen Rechte der Bürger» (Karr 2003: 40) berücksichtigt werden. Wir gehen damit von einem eher eng gefassten Begriffsverständnis von direkter Demokratie aus, analog zu den Studien auf lokaler Ebene von Bützer (2007a), Karr (2003) und Schiller (2011b, 2018). Neuere Formen der Partizipation wie etwa deliberative und digitalisierte Varianten (E-Democracy) der lokalen Bürgerbeteiligung oder sol- che mit besonderem Fokus auf den kommunalen Budget-, Stadtentwicklungs- oder Nachhaltigkeitsprozess wie Bürgerhaushalte und Mini-Publics, wie sie in jüngerer Zeit im In- und Ausland vermehrt eingesetzt werden, sind nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung (vgl. hierzu Agger 2021; Buček & Smith 2000; Godwin 2018; Kersting 2021; Saglie & Vabo 2009; Sintomer et al. 2016).

1 Die Initiative umfasst das Recht der Stimmberechtigten, eine bestimmte Anzahl von Unterschriften zu sammeln, um eine Volksabstimmung über ein eigenes Sachbegehren zu verlangen (Karr 2003: 90).

2 Beim Gegenvorschlag unterbreiten die Behörden als Antwort auf die Initiative einen (in der Regel etwas weniger weitgehenden) Gegenentwurf. Ziehen die Initianten ihre Initiative nicht zurück, so gelangt der Gegenvorschlag gleichzeitig mit der Initiative zur Abstimmung.

3 Beim fakultativen Referendum handelt es sich um eine durch das Sammeln einer bestimmten Anzahl von Unterschriften durch die Stimmberechtigten ausgelöste Volksabstimmung zu einem durch die Behörden verabschiedeten Sachgeschäft (Karr 2003: 88).

4 Beim obligatorischen Referendum handelt es sich um grundlegend wichtige Sachgeschäfte, die zwingend einer Volksabstimmung durch die Stimmberechtigten unterbreitet werden müssen. Eine vorgängige Unterschriftensammlung ist nicht notwendig (Karr 2003: 82).

1.4 Gegenstand, Daten und Vorgehen

Im Zentrum des Buches stehen die direktdemokratischen Instrumente und Volksabstimmungen in den politischen Gemeinden der Schweiz. Bei den politischen Gemeinden (bzw. Einwohnergemeinden) handelt es sich um öffentlich-rechtliche Gebietskörperschaften mit eigenem Territorium und selbstständigen Behörden, die in allgemeingültigen Kompetenzbereichen ihre Entscheidungen eigenständig fällen (Karr 2003: 40; Ladner & Keuffer 2021). Direktdemokratische Institutionen und Abstimmungen in anderen Gemeindeformen mit in der Regel spezifischen Aufgabenbereichen wie Kirch-, Schul- und Burgergemeinden bleiben in unserer Studie unberücksichtigt. Dasselbe gilt für Abstimmungen in Gemeindequartieren und solchen, die auf Ebenen zwischen Gemeinden und Kantonen angesiedelt sind (Bezirke, Distrikte, Kreise). «Im Gegensatz zu Bezirken oder Distrikten handelt es sich bei den Gemeinden nicht um künstliche administrative Subsysteme, sondern um genuin politische Gebilde mit eigener Rechtspersönlichkeit und einer oft viel älteren Geschichte als die übergeordneten politischen Ebenen» (Vatter 2020: 440). Insgesamt verfügen die politischen Gemeinden in der Schweiz wie erwähnt über eine im internationalen Vergleich sehr starke Stellung und eine sehr hohe Autonomie (Ladner et al. 2019), die sich auch dadurch ausdrückt, dass die Kommunen rund einen Viertel aller öffentlichen Ausgaben tragen, über eine weitreichende Finanz- und Steuerhoheit verfügen und insbesondere in wichtigen Politikbereichen wie Verkehr, Energie, soziale Fürsorge, Gesundheit, Infrastruktur, Umwelt, Kultur und Freizeit selbstständige Entscheidungen treffen können.

Die für das vorliegende Buch verwendeten Informationen und Daten stammen aus verschiedenen Quellen. Die rechtsvergleichenden Informationen und Analysen (vgl. hierzu insbesondere den Anhang A2) stützen sich auf kantonale Verfassungen und Gemeindegesetze sowie auf weitere kantonale Gesetze und kommunale Reglemente und Verordnungen, die für politische Gemeinden in der Schweiz relevant sind. Die sehr hohe Zahl von über 2000 Gemeinden in der Schweiz hat es dabei verunmöglicht, alle kommunalen Volksabstimmungen eigenständig zu erheben. Hingegen erlauben die aussagekräftigen Erhebungen des nationalen Gemeindemonitorings (Steiner et al. 2019), einen schweizweiten Überblick über die Verbreitung direktdemokratischer Instrumente auf Gemeindeebene vorzulegen.5 Für die Auswertungen zur Existenz der direktdemokratischen Instrumente (Kapitel 2) haben wir deshalb den Datensatz zur derzeit jüngsten Gemeindeschreiberbefragung von 2017 herangezogen, die eine Rücklaufquote von mehr als 80 Prozent aufweist (Steiner et al. 2019, 2021). Die übrigen Kapitel 3 bis 5 beruhen dagegen auf einer eigenen, breit angelegten Primärerhebung bei ausgewählten Gemeinden zu ihren lokalen Volksabstimmungen. Dazu wurde die Grundgesamtheit aller Schweizer Gemeinden in vier Grössenkategorien eingeteilt. Für die Kategorie der grossen Schweizer Städte mit mehr als 50 000 Einwohnern wurde eine Vollerhebung durchgeführt, wodurch ein Vergleich mit den Daten von 1990 bis 2000 aus der Studie von Bützer (2007a) möglich wurde. Für die übrigen drei Grössenkategorien (bis 2000 Einwohner, 2001 bis 7000 Einwohner, 7001 bis 50 000 Einwohner) wurde eine geschichtete Zufallsstichprobe durchgeführt mit dem Ziel, jeden Kanton durch je eine Gemeinde der drei Grössenordnungen zu repräsentieren. Ausnahmen wurden für jene Kantone gemacht, die aus höchstens 30 Gemeinden bestehen. Diese kleinen Kantone sind in unserer Stichprobe nur mit einer Gemeinde vertreten, die jene Grössenkategorie repräsentiert, die im jeweiligen Kanton am häufigsten vorkommt. Alle bei den Gemeinden erhobenen Daten betreffen den Untersuchungszeitraum von 2001 bis 2021. Ausnahme bildet das Kapitel 6 zu den Volksabstimmungen in den grossen Schweizer Städten, das den erweiterten Zeitraum von 1990 bis 2021 umfasst. Bei unserer eigenen Erhebung wurden die ausgewählten Gemeinden um die Zusendung der Angaben zu den eigenen Urnenabstimmungen im Untersuchungszeitraum gebeten. Zu den erhobenen Angaben gehören beispielsweise der Titel der Vorlage, ihre Rechtsform sowie Zahlen zu den Stimmberechtigten, den abgegebenen (gültigen, ungültigen und leeren) Stimmen, den Ja- und Nein-Stimmen sowie zur Beteiligung. Wenn eine Gemeinde unsere Anfrage trotz mehrfacher Erinnerung nicht beantwortet hatte, wurde eine Ersatzgemeinde ausgelost, die denselben Kanton und dieselbe Grössenkategorie repräsentiert. Auf diese Weise konnten für 67 Gemeinden Daten erhoben werden, die der vorliegenden Auswertung zugrunde liegen (vgl. Anhang A1).

5 Im Mittelpunkt des seit 1988 rund alle sechs Jahre durchgeführten nationalen Gemeindemonitorings steht eine schriftliche Befragung der Gemeindeschreiberinnen und Gemeindeschreiber in allen Schweizer Gemeinden (Steiner et al. 2021). Die Daten der Gemeindeschreiberbefragungen sind verfügbar unter: https://www.swissubase.ch/en/catalogue/studies/13514/16135/overview.

Im Weiteren wurde für die Erhebung der zahlreichen politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Kontextmerkmale der Gemeinden auf verschiedene Datenbanken wie auf die Kennzahlen in den Gemeindeporträts des Bundesamtes für Statistik, die Statistiken des schweizerischen Gemeindeverbandes, die statistischen Jahrbücher des schweizerischen Städteverbandes (Statistik der Schweizer Städte) und die Internetseiten der Gemeinden zurückgegriffen. Weitere wichtige Quellen bildeten die Gemeindeordnungen, die vorliegende Forschungsliteratur zur Thematik aus dem In- und Ausland sowie zahlreiche Medienbeiträge aus der Mediendatenbank Swissdox. Methodisch stützen sich die Ausführungen in den folgenden Kapiteln sowohl auf beschreibende Statistik mit der Erfassung, Auswertung und Darstellung von empirisch gewonnenen Daten (z. B. Tabellen und Grafiken auf der Basis von Häufigkeiten, Varianz und Mittelwerte) als auch auf analytische statistische Methoden, mit denen kausale Zusammenhänge zwischen verschiedenen Merkmalen untersucht werden (z. B. Mehrebenenanalysen6).

1.5 Aufbau und Gliederung

Das Buch besteht aus sieben Kapiteln und ist wie folgt aufgebaut: Nach der Einleitung stellt das zweite Kapitel das direktdemokratische Instrumentarium auf der Gemeindeebene in der Schweiz vor. Das bewusst kurz gehaltene Kapitel liefert einen ersten Überblick über die Rechtsformen der Volksrechte in den Gemeinden und analysiert, welche Bedeutung kantonalen Vorgaben im Rahmen der Gemeindegesetze zukommt. Ausführliche rechtsvergleichende Erläuterungen zu den direktdemokrati- schen Institutionen der Gemeinden in den 26 Kantonen finden sich im Anhang A2. Das zweite Kapitel schliesst mit einer empirischen Analyse, welche Faktoren einen Einfluss auf das Vorhandensein der einzelnen direktdemokratischen Rechtsformen auf Gemeindeebene ausüben. Im Zentrum des dritten Kapitels steht zunächst eine deskriptive Darstellung des Gebrauchs der direkten Demokratie in den befragten Gemeinden für den Zeitraum von 2001 bis 2021. Es werden im Einzelnen die Häufigkeit und Verteilung von Initiativen, Gegenvorschlägen sowie fakultativen und obligatorischen Referenden auf kommunaler Ebene beschrieben. Danach folgt eine ausführliche empirische Analyse der Ursachen für die unterschiedliche Nutzung der einzelnen lokalen Volksrechte, wobei der Fokus auf den Einfluss institutioneller Merkmale gelegt wird. Das vierte Kapitel liefert zunächst einen Überblick über die Themenbereiche und Ergebnisse der kommunalen Abstimmungsvorlagen zwischen 2001 und 2021, wobei bei der Präsentation der Resultate der lokalen Volksentscheide zwischen den Erfolgsquoten und den Ja-Stimmen-Anteilen unterschieden wird. Im Weiteren geht das vierte Kapitel den Gründen für die unterschiedlichen Zustimmungswerte der lokalen Volksentscheide nach und erläutert die verschiedenen Faktoren, die für den Erfolg oder Misserfolg eines kommunalen Volksbeschlusses in der Schweiz ausschlaggebend sind. Das fünfte Kapitel beschreibt und untersucht die Stimmbeteiligung bei kommunalen Volksabstimmungen. Nach einer Darstellung der unterschiedlichen Partizipation der Bürger bei lokalen Volksentscheiden wird darauf aufbauend die beobachtete Varianz der Stimmbeteiligung mit einer Reihe von Faktoren statistisch erklärt. Das sechste Kapitel legt einen etwas anderen Fokus und beschäftigt sich mit der Beschreibung und Analyse direktdemokratischer Abstimmungen in den Schweizer Grossstädten für den erweiterten Zeitraum von 1990 bis 2021, wobei dabei die eigene Datenerhebung mit derjenigen von Bützer (2007a) kombiniert wird. Die Schlussbetrachtung im siebten Kapitel fasst ausgewählte Befunde und Folgerungen zusammen, bettet sie in die aktuelle internationale Forschung ein und diskutiert die aktuellen Herausforderungen.

6 Detaillierte Ergebnisse dazu sind unter https://github.com/flickwitzig zu finden.

2 Die Instrumente der direkten Demokratie in den Schweizer Gemeinden

2.1 Einleitung

Bevor wir uns in den folgenden Kapiteln mit der Nutzung, den Themen und den Ergebnissen von Abstimmungen in den Schweizer Gemeinden beschäftigen, lohnt es sich, zunächst die Frage nach der Ausprägung der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene zu stellen: Wie stark bestimmt der jeweilige Kanton die direktdemokratische Landschaft seiner Gemeinden? Stehen die verschiedenen Instrumente allen Gemeinden zur Verfügung? Sehen wir Zusammenhänge zwischen der Gemeindeautonomie und der Ausgestaltung der Volksrechte? Diesen Fragen wird das vorliegende Kapitel nachgehen. Die Ausführungen zu den kantonalen Vorgaben im Rahmen der Gemeindegesetze bzw. der Gesetze über die politischen Rechte beschränken wir an dieser Stelle bewusst auf das Nötigste. Interessierte finden im Anhang A2 detailliertere Angaben dazu. Schliesslich analysieren wir, welche weiteren Variablen neben den kantonalen Rechtsvorgaben einen Einfluss auf die Existenz direktdemokratischer Instrumente auf Gemeindeebene haben. Im Mittelpunkt stehen dabei die Gemeindeorganisation, die sprachregionale Zugehörigkeit und die Grösse der Gemeinden. Die Datengrundlage bildet die Erhebung von Steiner et al. (2019), die sich auf das Jahr 2017 bezieht. In einem ersten Schritt geht es darum, die Verbreitung der direktdemokratischen Instrumente auf Gemeindeebene darzustellen. In einem zweiten Schritt zeigen wir, wie ausgeprägt die kantonalen Vorgaben und weitere Einflussgrössen insoweit sind. Das Fazit fasst die gewonnenen Erkenntnisse zusammen.

Im Wesentlichen lassen sich für die Gemeindeebene dieselben drei direktdemokratischen Instrumente unterscheiden wie für die eidgenössische Ebene: obligatorische und fakultative Referenden sowie Initiati-

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