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ART BASEL

Das Reichtum der Kunst

Schwerpunkt Montag, 10. Juni 2024 CH-8021 ZÜRICH TELEFON +41 44 258 11 11 NZZ.CH SIROUS NAMAZI: «PATTERN OF FAILURE». GALERIE NORDENHAKE. FOTO: PETER HANSEN

D I E S C H Ö N S T E N M E I S T E R W E R K E L I V E E I N Z I G A

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K U LT U R E L L E S J U W E L

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V E R D I I N S E I N E R H E I M AT

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RT I G E N AT U R K U L I S S E N

Eine Kunstmesse so üppig wie ein Weizenfeld

Philipp Meier Das hat es noch nie gegeben: Ein wogendes Weizenfeld empfängt die Besucher vor den Toren der Art Basel, die heuer vom 13. bis 16. Juni stattfindet. Das Weizenfeld ist Kunst. Nämlich Land Art. Zu der Kunstströmung, die Ende der 1960er Jahre in den USA entstanden war, gehört Agnes Denes. Von ihr stammt das ungewöhnliche Werk auf dem Basler Messeplatz. Erstmals hatte sie das Feld mit Tausenden von Ähren 1982 mitten in New York angelegt (siehe Foto). Die Basler Kunstaktion ruft die in ihrer Karriere viel zu wenig beachtete ungarische Künstlerin in Erinnerung. Das rekonstruierte Weizenfeld ist eine späte Ehrung der heute 93 Jahre alten Künstlerin. Und es steht natürlich auch symbolisch für den Basler Mega­Kunstmarkt. Dieser legt jedes Jahr im Juni Zeugnis ab von der mirakulösen Wertsteigerung, die Kunst erfahren kann, wenn sie am richtigen Ort von den richtigen Galerien vermarktet wird. Auch Weizen kann das: Er ist eine Superpflanze. Aus einem Korn wächst ein Halm mit zwei bis drei Ähren, die je bis zu 50 Körner haben können. Das ist eine geradezu magische Vermehrung.

Auch der Ertrag der Art Basel nimmt sich jeweils üppig aus. Dieses Jahr zeigen rund 280 Galerien Tausende von Kunstwerken. Im Bereich der modernen Kunst sind die hochpreisigen, längst etablierten Namen zu finden. Die international renommierten Kunsthandlungen sparen ihre wertvollsten Werke jeweils für die Messe in Basel auf. In den Sektoren mit Gegenwartskunst trifft man auf die Shooting Stars der aktuellen Kunstszenen der Welt. Die Art Basel ist nach wie vor der wichtigste Gradmesser des Kunstmarkts: Sie vermittelt einen zuverlässigen Überblick über das weltweite Top­Angebot. Aber Achtung: Die Messe der Superlative ist eine Kunstmesse. Und Kunst hinterfragt immer wieder auch Marktmechanis­

IMPRESSUM

men: So stand Agnes Denes’ Weizenfeld für den Protest gegen das Ungleichgewicht von Reichtum. Sie hatte «Wheatfield – A Confrontation» auf einem Stück Land von 8000 Quadratmetern im Herzen von Manhattan gleich gegenüber der Wall Street angelegt. Das Gelände soll damals rund 5 Milliarden Dollar wert gewesen sein. Die Ernte wurde weltweit an zahlreiche Städte verteilt, um den Hunger in der Welt zu bekämpfen.

An das politische Statement der Künstlerin erinnert jetzt ihre Kunstinstallation auf dem teuren Boden des Basler Messeplatzes. Und wirft damit Fragen nach Bodenspekulation, übersteigerten Marktpreisen und Immobilienblasen auf – Fragen übrigens, die auch den Kunstmarkt betreffen. Dies nicht nur, was Standorte von Galerien an teuren Lagen in Innenstädten betrifft. Auch die Kunst selber wird immer wieder und gerade auf Messen wie der Art Basel zum Spekulationsobjekt.

Agnes Denes’ Arbeit ist relevanter denn je: Denes war vor allem auch eine Pionierin der Umweltkunst. Sie hat Themen wie Klimawandel und menschliche Naturzerstörung aufgegriffen, lange bevor diese ihre heutige Dringlichkeit erhielten. Ihr Weizenfeld regt zum Nachdenken an, wie weit sich das städtische Leben von der natürlichen Umwelt entfernt hat. Fragestellungen nach einer nachhaltigen Lebensweise beschäftigen gerade auch viele junge Kunstschaffende, wie man sie an der Art Basel im Sektor Statements finden kann. Nicht zuletzt weist Agnes Denes’ Weizenfeld einen ästhetischen Wert auf. Es ist ein schönes Kunstwerk, eines, das sich im Wind bewegt und das mit dem Reifen der Pflanzen seine Farbe ändert. Und es ist ein riesiges, raumgreifendes Werk, wie es sonst kaum auf einer Kunstmesse zu sehen ist. Die Art Basel berücksichtigt auch diesmal in ihrem bereits legendär gewordenen Sektor Unlimited wieder besonders grosse Installationskunst.

Agnes Denes: «Wheatfield – A Confrontation: Park Landfill, Lower Manhattan»; mit der Künstlerin beim Fotografieren im Feld, 1982. AGNES DENES,

Art Basel ist ein Schwerpunkt des Unternehmens NZZ. Beilagen werden nicht von der Redaktion produziert, sondern bei NZZone von unserem Dienstleister für journalistisches Storytelling: NZZ Content Creation. Hinweis: Nicht gekennzeichnete Inhalte sind publizistisch unabhängig entstanden; bei Gastbeiträgen handelt es sich um kommerziell erworbene Inhalte. Konzept: Philipp Meier (Redaktor, «Neue Zürcher Zeitung»).

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Montag, 10. Juni 2024 Art Basel 3 NZZ-Schwerpunkt Zu rü c kl e h n e n . Zu h ö re n . G e n i e ss e n . K L AS S I K E N T S C H L E U N I G T tonhalle-orchester ch/probe-abo Probe-Abo 4 Konzerte abCHF 80
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Die Berliner Kunstszene tickt anders

Die schönste «Kunstmesse» sei das Gallery Weekend, sagen viele. In der deutschen Hauptstadt leben mehr prominente Kunstschaffende als in vielen anderen europäischen Metropolen. Und die wichtigsten Galerien folgen ihnen nach Berlin.

DAGHILD BARTELS, BERLIN

Wer die Stadt Berlin als Kunstmetropole bezeichnet, erhält meist vehementen Widerspruch. Der Hype sei längst vorbei. Es möge ja stimmen, dass in Berlin viele Künstler wohnten, zehntausend sollen es sein. Eingeräumt wird auch, dass es viele Galerien gebe, um die 300 an der Zahl. Aber der Markt! Ein Trauerspiel – kein Vergleich mit London, New York und Paris.

Wie steht es nun wirklich um die Kunststadt Berlin? In der deutschen Hauptstadt leben tatsächlich Tausende Künstler, darunter internationale Superstars, die sich ohne weiteres teure Ateliers in New York oder London leisten könnten. Darunter Olafur Eliasson, Tacita Dean, Douglas Gordon, Tomás Saraceno, Chiharu Shiota

oder Adrian Ghenie. Aber wie kam es überhaupt zum Berlin­Hype?

In den 1990er­Jahren begann der Run auswärtiger Galeristen auf Berlin. Gewichtige Namen wie Max Hetzler, Sprüth Magers, Daniel Buchholz, Peres Projekt, Plan B, Judin, Esther Schipper siedelten sich an der Spree an. Zum veritablen Tsunami kam es Anfang der 2000er­Jahre. Der Berlin­Hype war geboren. Als 2007 auch Konrad Fischer in der Stadt eine Niederlassung eröffnete, fiel das Rheinland in eine Depression. Berlin avancierte zur Kunstmetropole Nummer eins in Deutschland.

Günstige Ateliers

Befragt, weshalb sie nach Berlin gekommen sind, antworteten viele Galeris ten überraschend: Es seien

ihre Künstler, die unbedingt hier ausstellen wollten. Denn sie hatten längst erfahren, dass Museumsdirektoren, Kunsthallen­ und Kunstvereinsleiter aus Deutschland, Europa und Übersee nur noch nach Berlin schauten, um neue Talente und Trends für ihre Ausstellungen zu entdecken. Ausstellungen in Instituten aber sind für junge Kunstschaffende Gold wert, da meist verbunden mit einem Katalog. Solche

Gelegenheiten sind für Künstler häufig wichtiger als Verkäufe.

Dass die Künstler auch in der Stadt blieben, so verrieten einige, lag nicht nur an den damals günstigen Ateliermieten, sondern auch daran, dass sie hier hoch qualifizierte Mitarbeiter und Assistenten finden. Dies nicht selten in Gestalt von Künstlern, die noch nicht von ihrer eigenen künstlerischen Arbeit leben können, aber wissen,

worauf es ankommt. Andere erwähnten als Grund fürs Bleiben schlicht den «Spirit of Berlin». Es waren schliesslich drei Galeristen – Max Hetzler, Tim Neuger und Esther Schipper –, die 2004 ein Galerienwochenende gründeten mit damals 21 teilnehmenden Galerien. Das Experiment klappte auf Anhieb, wurde zum erfolgreichen Event. Kürzlich feierte das Gallery Weekend mit in­

4 NZZ-Schwerpunkt Montag, 10. Juni 2024 Art Basel
«From Dusk Till Dawn» von Eliza Douglas, 2024. CONTEMPORARY FINE ARTS/ NICK ASH

zwischen 55 ausgewählten Galerien seinen zwanzigsten Geburtstag. Highlights im kreuz und quer durch Berlin führenden Kunstparcours waren Shows mit Künstlerinnen wie zum Beispiel Rachel Harrison bei Konrad Fischer oder Eliza Douglas bei CFA.

Die Idee war eigentlich aus der Not entstanden, erinnert sich Esther Schipper: «Als wir begannen, sah die Kunstwelt ganz anders aus. Es gab

weniger Messen, weniger Biennalen. Der Kunstkalender war noch nicht so voll, nicht so international. Auch die Medienaufmerksamkeit war geringer. Damals musste man was machen, damit die Leute kommen.» Und so startete man ins Ungewisse und hatte unverhofften Erfolg, sodass das Modell «Berliner Gallery Weekend» international kopiert wurde. Selbst der kleine Katalog in Din­A6­Format, den

es damals gab, fand Nachahmer. Fortan

strömte die internationale Sammlergemeinde samt Prominenz wie die Rubells aus Miami, die Horts aus New York oder Michael Ringier aus Zürich nach Berlin.

Das Singuläre des Gallery Weekend beschreibt der Galerist Judy Lübke von der Galerie Eigen+Art (Berlin, Leipzig) so: «Die Besonderheit der ganzen Sache ist, dass sie von und für die Galerien organisiert ist. Jede Galerie spricht ihre Sammler, Kuratoren und Interessenten direkt an. Dadurch bekommt der Anlass eine wahnsinnige Reichweite. Die Kunstliebhaber stehen im Vordergrund. Es ist eben nicht nur einfach ein Event, sondern die persönlichen Beziehungen sind hier das Wichtige.»

Spezielle Zusatzattraktivität erhält das Berliner Gallery Weekend noch dadurch, dass VIP­Gäste zu Atelierbesuchen eingeladen werden. So lief alles wie am Schnürchen. Dann kam 2008 die internationale Finanzkrise. «Unkenrufe verkündeten das Ende der Kunstmessen, das Ende der erreichten Internationalität. Alles werde lokaler, bescheidener werden», erinnert sich Esther Schipper. Das Gegenteil traf ein: Das Gallery Weekend und die Berliner Kunstszene entwickelten sich weiterhin prächtig. Die nächste Gefahr kam in Gestalt der Pandemie. Doch auch das hat der internationale wie der Berliner Kunstmarkt weitgehend gut umschifft.

Wachsende Marktpotenz

Die heutige Situation beschreibt Schipper so: «Es gibt auf dem Kunstmarkt immer Zyklen. Wenn man auf die letzten Jahre in Berlin zurückblickt, muss man feststellen, die Lage hat sich enorm verbessert. Die Prominenz aus den USA kommt zwar nicht mehr, dafür viele Sammler aus Asien,

aus Europa sowieso. Der Markt in Berlin hat sich ebenfalls gemausert. Eine neue Sammlergeneration hat die Szene betreten. Sie rekrutiert sich aus Berlinern und Zugezogenen mit guten Gehältern.»

Ähnliches berichtete kürzlich der Chef einer Privatbank: «Es kommen immer noch viele neue Leute nach Berlin, die tolle Jobs haben. Ausserdem die Startups , die ihre Firma für Millionen verkaufen – all diese Leute suchen dann eine Bank.» Und sie suchen sehr oft auch Kunst. Da die Marktpotenz Berlins gesteigert wurde, blieben viele der TopGaleristen, die auch auf anderen Kontinenten aktiv sind, in Berlin. 38 davon wurden zur Teilnahme an der Art Basel ausgewählt. Das ist ein Gütesiegel für Berlin. Auch die Künstler behalten ihr Domizil an der Spree. Die Künstlerliste der Galerie Esther Schipper (Berlin, Paris, Seoul) nennt 51 Kunstschaffende, davon leben 20 in Berlin, darunter Hito Steyerl, Thomas Demand, Tino Sehgal, Anri Sala oder Rosa Barba. Elf grosse Namen mit Berlin­Adresse sind es auch in der Mannschaft von Galerist Daniel Buchholz: darunter Anne Imhof, Isa Genzken oder Wolfgang Tillmans, der Turner­Preisträger, der sich gerade in Berlin­Kreuzberg ein Haus baut und sich in der aktuellen Ausstellung bei Buchholz wieder einmal als genialer Ausnahmekünstler erweist.

Die Attraktivität der Kunststadt Berlin scheint ungebrochen. Wohl deshalb kündete jüngst die weltweit agierende Galerie Pace an, dass sie in Berlin ein Büro eröffnet. Die Direktorin Laura Attanasio soll Kontakt mit den hier ansässigen Künstlern aufnehmen – darunter Elmgreen+Dragset oder Alicja Kwade – und auch womöglich neue Kunstschaffende entdecken. Sofort meldete auch die New Yorker Galerie Lehmann Maupin, nun ein Büro in Berlin zu unterhalten, um mit

hiesigen Künstlern die Betreuung zu intensivieren, darunter Kader Attia und Robin Rhode.

Für die Rolle Berlins spricht auch, dass die langjährige Direktorin des Gallery Weekend, Maike Cruse, letztes Jahr zur Direktorin der Messe aller Messen, der Art Basel, ernannt wurde. Der wohl treueste Besucher des Berliner Gallery Weekend ist der Norweger Rolf Hoff, dessen viel gerühmtes Privatmuseum sich auf den Lofoten befindet. Keinen einzigen der Anlässe soll der Kunstsammler versäumt haben. Denn «der Berliner Event ist für mich die wichtigste und schönste <Kunstmesse>, die es gibt», sagt er. Da spiele es keine Rolle, dass die Stadt Berlin mit ihren diversen Versuchen, auch eine Kunstmesse zu etablieren, gescheitert ist.

Montag, 10. Juni 2024 Art Basel 5 NZZ-Schwerpunkt
Esther Schipper Galeristin und Mitbegründerin des Berliner Gallery Weekend ANDREA ROSETTI Wolfgang Tillmans Künstler, Fotograf und Turner-Preisträger, lebt in Berlin und London. WILL RAGOZZINO Werke der Künstlerin Rachel Harrisson. KONRAD FISCHER GALERIE/ROMAN MÄRZ

Das Fremde ist Teil der Schönheit von Simone Fattals keramischer Kunst

Die 1942 in Syrien geborene Künstlerin ist gefragt wie noch nie. An der Biennale von Venedig sind ihre archaisch anmutenden Keramikskulpturen im Frauengefängnis auf der Giudecca zu sehen.

SUSANNA KOEBERLE

Beim Betrachten dieser Arbeiten weicht der erste Eindruck des Unfertigen und Prekären alsbald einem Gefühl der Stimmigkeit und Schönheit. Die fast lebensgrossen stehenden Figuren sind nicht gleich als Darstellungen von Menschen zu identifizieren. Sie sehen vielmehr aus wie Körperfragmente oder Teile von Tempeln. Und dennoch fehlt diesen Skulpturen nichts. Die teils farbig glasierten, teils roh belassenen Keramikskulpturen scheinen uns einen Blick in den Ursprung der menschlichen Kultur zu gewähren. Diese Wirkung lässt sich zunächst mit dem Material erklären, mit dem die Künstlerin mehrheitlich arbeitet: Erde. Fattals Keramikskulpturen könnten aus einer archäologischen Ausgrabungsstätte stammen und sind dennoch in der Gegenwart verankert. Keramik ist zwar die älteste Kulturtechnik der Menschheit. Doch es ist gerade ihr universeller Charakter, der diesem archaischen Handwerk zyklisch eine Renaissance beschert. Eine solche ist seit einigen Jahren im Gang – gerade auch in der Kunst.

Ton veränderte ihre Praxis Davon zeugt die Aktualität von Simone Fattals Werk; die 1942 in Syrien geborene Künstlerin ist gerade sehr gefragt. An der Biennale von Venedig sind ihre Arbeiten in einem Frauengefängnis auf der Giudecca zu sehen. Der Vatikan nutzt für seinen Beitrag die Haftanstalt als Ausstellungsort. Fattals Werke werden zurzeit auch im Dialog mit Objekten aus der Abteilung für orientalische Antiquitäten im Louvre präsentiert. Im Juni

eröffnet eine Einzelausstellung in der Secession in Wien und nächstes Jahr wird sie im Kunsthaus Bregenz ausstellen. Wiederholt wurden Simone Fattals Werke zusammen mit Arbeiten der Künstlerin und Dichterin Etel Adnan (1925–2021) gezeigt. Die beiden Frauen waren fast 50 Jahre lang ein Paar. Sie lernten sich in den Siebzigerjahren in Beirut kennen und flohen später zusammen vor dem libanesischen Bürgerkrieg nach Kalifornien. Dort gründete Fattal den Verlag Post­Apollo Press. Während sie im Libanon vor allem gemalt hatte, begann sie 1987, mit Ton zu arbeiten. Die Entdeckung dieses Materials veränderte ihre Praxis grundlegend.

Vom Transkulturellen geprägt

Zusammen mit Adnan zog sie schliesslich von den Vereinigten Staaten nach Paris, wo Fattal bereits als junge Frau an der Sorbonne Philosophie studiert hatte. Beide Künstlerinnen waren und sind in vielen geografischen Zonen und Sprachen – künstlerischen und gesprochenen – zu Hause. Das Transkulturelle prägt auch Fattals Arbeit. Ihre Werke sind Zeugen der Geschichte der menschlichen Kultur. Man vergisst tendenziell: Menschen lebten schon lange vor der Globalisierung vom Austausch von Dingen und Wissen. Genau das führen die häufig thematischen Ausstellungen der Künstlerin anschaulich vor Augen. Sie schaffen Brücken von der Antike in die Gegenwart. Als Fattal vor einigen Jahren erstmals die Ausgrabungsstätten von Pompeij besuchte, sei das für sie eine Offenbarung gewesen. Die ganze mediterrane Kultur, die sich von Kleinasien über Ägypten und Zypern bis zu Griechenland

und Italien erstreckte, sei dort vereint, sagt sie im Gespräch. Bestes Beispiel für dieses Zusammenfliessen von Kulturen und Epochen war eine Ausstellung, die 2023 im Ocean Space, einer Ausstellungsstätte der TBA21­Academy, in einer ehemaligen Kirche in Venedig stattfand. Der Titel «Thus waves come in pairs» stammt aus einem Gedicht von Etel Adnan. Für die Arbeiten der mehrteiligen Installation «Sempre il mare, uomo libero, amerai!» im hinteren Teil der Chiesa di San Lorenzo verwendete Fattal nicht nur das Material Keramik, sondern passend zu Venedig auch Glas. Sie liess aus diesem Werkstoff mehrere überdimensionale Perlen anfertigen und versah die Kugeln mit Texten in «Lingua franca», einer Art Verkehrssprache, die früher unter Handelsleuten gesprochen wurde. Damit erinnerte sie an den Perlenhandel mit dem Orient, dessen Zentrum Venedig einst gewesen war. Mit den beiden Keramikfiguren «Ghaylan et Mayya» schuf sie zudem eine Verbindung zur arabischen Poesie. Inspiration findet Fattal denn auch vor allem in der Literatur. Ihr galt ihre erste Liebe, sagt sie. So fliessen etwa mythologische Texte oder alte Legenden aus mediterranen und orientalischen Kulturen in ihre Arbeiten ein.

Auch ihre aktuelle Ausstellung im Louvre lässt Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmelzen. Die japanische Dichterin und Kunsthistorikerin Ryoko Sekiguchi meinte bei einem Louvre­Besuch im Jahr 2011 sogar, in den Vitrinen des Museums Arbeiten von Simone Fattal zu entdecken, obwohl es sich dabei um antike Artefakte handelte. Nun können Besucher den Vergleich zwischen den zeitgenössischen Kunstwerken Fattals und

den frühzeitlichen Exponaten tatsächlich machen. Die Künstlerin betont allerdings, dass sie die Antike keineswegs reproduzieren wolle. Solche Referenzen geschehen bei ihr unbewusst, sie seien vielmehr Beweis für die Kontinuität der Geschichte und der Kultur. Doch leider sei es gelungen, ein Narrativ zu etablieren, das die vielfältigen Verbindungen zwischen Orient und Okzident zerschnitten habe, sagt sie. Das sei auch in der Philosophie sichtbar. Schon die vorsokratische Schule oder die platonische Philosophie gehen nämlich auf ferne Quellen zurück. Bis heute liest die belesene und mehrsprachige Künstlerin philosophische Schriften und schöpft daraus Ideen für ihre Arbeit.

Hand und Kopf

Fattal nutzt Erde als Materia prima allerdings nicht, um eine Idee über ein Material zu stülpen; sie arbeitet anders. Das hierarchische Verhältnis von formloser Materie und immaterieller Form ist eine aristotelische Vorstellung. Doch gerade der Ton erlaubt durch seine unmittelbare gestische Handhabung eine Beziehung zwischen Hand und Kopf, zwischen Machen und Denken also, die man als gleich ursprünglich bezeichnen müsste. Es gehe beim Arbeiten mit Erde um eine Kreation durch Transformation, sagt die Künstlerin. Mit Keramik bezeichnet man interessanterweise sowohl den Stoff selbst als auch das, was der Mensch damit macht. Diese beiden Ebenen sind nicht so klar voneinander zu trennen. Dieser Eindruck bestärkt sich, wenn man die Arbeiten von Simone Fattal betrachtet. Ihre Keramikskulpturen sehen wie natürlich gewachsen aus. Wenn Fattal auf Darstellungen von architektonischen Struktu­

Bis heute liest die mehrsprachige Künstlerin philosophische Schriften und schöpft daraus Ideen für ihre Arbeit.

ren zurückgreift, dann haben diese meist etwas von Tempeln oder Ruinen. Doch egal wie versehrt diese erscheinen mögen: Die Künstlerin nennt diese Architekturen stets «maisons»; sie bleiben für sie Häuser, mit anderen Worten Schutzstätten. Sogar ihre menschlichen Figuren haben etwas von Architekturen: Die Beine haben Ähnlichkeiten mit Säulen. In den stehenden Keramikskulpturen kommen der mineralische Ursprung von Bauwerken, die Erde als Urmaterie sowie die Figur des Menschen zusammen. Dabei versinnbildlicht der Ton sowohl die Verletzlichkeit der Materie als auch den Kampf damit. Denn was die Grösse betrifft, treibt die Künstlerin das Material an seine Grenze. Schon nur beim Trocken der grossen Tonfiguren kann vieles kaputtgehen. Und erst recht beim Brennen. Dennoch wollte Fattal von Anfang an grosse Keramiken machen. Deswegen arbeitet sie immer mit den Meistern ihres Fachs. Mit Hans Spinner, der schon für Joan Miró, Antoni Tàpies, Eduardo Chillida oder Pierre Alechinsky gearbeitet hatte, fand sie jemanden, der technisch mit ihren grossformatigen Werken umgehen konnte. Als sie ihn das erste Mal in seiner Werkstatt in Grasse besuchte, habe sie ihn gleich gefragt, wie gross sein Ofen sei. Vor kurzem ging der Handwerker in Pension, nun arbeitet sie mit anderen Betrieben zusammen, unter anderem mit der Kunstgiesserei St. Gallen. Es erstaunt nicht, dass die Kosmopolitin zur Keramik fand. Sie blickt gleichsam als Fremde auf etwas Vertrautes. Das Motto der diesjährigen Biennale in Venedig «Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere» trifft auch auf sie zu. Das Fremde ist Teil der Schönheit von Simone Fattals Kunst.

6 NZZ-Schwerpunkt Montag, 10. Juni 2024 Art Basel
Die ursprünglich aus Syrien stammende und heute in Frankreich lebende Künstlerin Simone Fattal im Louvre in Paris, 2023. OLIVIER OUADAH/MUSÉE DU LOUVRE

«An der Art Basel finden die wichtigsten Verkäufe statt»

Maike Cruse, die neue Leiterin der Art Basel, erzählt im Interview mit Philipp Meier, was die Art Basel zur wichtigsten Kunstmesse der Welt macht, in welche Richtung sich die Messe entwickeln soll und welche Kunst sie kaufen würde, wenn sie eine Sammlerin wäre.

Frau Cruse, Sie waren von 2008 bis 2011 Kommunikationsdirektorin der Art Basel. Nun sind Sie zurückgekehrt. Ist es für Sie ein Nachhausekommen?

Schon, allerdings bin ich zurück in ganz anderer Funktion.

Sie waren in Berlin Leiterin des Gallery Weekend. Jetzt leiten Sie eine internationale Messe. Was genau ist Ihre Aufgabe?

Dass die Art Basel in Basel die bedeutendste Messe der Welt bleibt und dabei eine lokale Identität erhält. Basel soll sich unterscheiden von den Ausgaben in Miami, Paris oder Hongkong.

Was unterscheidet denn Basel von den anderen Standorten der Messe in Paris, Miami Beach und Hongkong?

Wir machen vier Messen, aber die Ausgabe in Basel bleibt die Muttermesse. Hier zeigen die Galerien ihr bestes Angebot. Für die Art Basel halten sie jeweils ihre bedeutendsten Werke zurück. Hier finden die wichtigsten Verkäufe in den ganz hochpreisigen Segmenten statt. Nur hier gibt es einen so breit aufgestellten Sektor für die Kunst der klassischen Moderne. Auch im Umfang ist Basel an der Spitze: Es nehmen über 280 Galerien aus 40 Ländern teil, in Paris sind es 190. Auch das Programm in Basel ist einzigartig, mit einer kuratierten Grossausstellung wie der Unlimited. Überdies ist die enge Zusammenarbeit mit der Stadt und den Institutionen einzigartig.

Was ist denn die Stärke des Standorts Basel?

Eine Messe profitiert zuallererst immer vom lokalen Markt. Das ist auch in Basel so. Die meisten Besucher kommen aus der Schweiz. Die zweitstärkste Besuchergruppe sind die Deutschen, die drittstärkste Sammlerschaft reist aus den USA an. Darunter in diesem Jahr besonders viele Museumsgruppen, was auch stark mit der Biennale in Venedig zu tun hat. Insgesamt haben sich für dieses Jahr Sammler aus 88 Ländern angekündigt, also auch aus Grossbritannien, Japan, Senegal, Brasilien und Mexiko. Unsere Gäste kommen aus der ganzen Welt. Die Messe in Basel ist immer noch der wichtigste Gradmesser für den Markt.

Sie hatten in Berlin versucht, eine Kunstmesse zu etablieren. Warum ist das gescheitert?

Wir haben uns entschieden, nur noch das erfolgreiche Gallery Weekend weiterzuführen. Einer der Gründe, warum das besser funktioniert als eine klassische Kunstmesse, ist, dass Berlin keinen traditionellen Kunstmarkt hat. Die Kunstschaffenden sind dort, die wichtigen Galerien sind dort. Wegen ihnen kommt zum Gallery Weekend auch die ganze internationale Klientel. Für eine Messe melden sich aber nur wenige internationale Galerien an, weil es keine breite lokale Sammlergemeinde gibt.

Die Art Basel ist eine Erfolgsgeschichte. Was muss sich verändern, damit das so bleibt?

Die Art Basel war immer erfolgreich, weil sie genau beobachtet hat, was im Kunstmarkt vor sich geht. Sie hat auf das Marktgeschehen immer rechtzeitig

reagiert. So hat sie als erste Messe mit Unlimited einen Sektor für gross dimensionierte Installationskunst eingerichtet oder die Diskussionsplattform Conversations eingeführt.

Was wird es unter Ihrer Direktion Neues geben?

Wichtig ist, den Generationenwechsel gut zu begleiten. Wir haben dieses Jahr über zwanzig neue Galerien, das ist viel. Ganz wichtig sind uns die jungen Sammlerinnen und Sammler. Wir integrieren sie in unser Programm und haben einen neuen Begegnungsort im Hotel Merian mit performativen Events am Abend geschaffen.

Sie leiten nun als Frau die Art Basel. Wird sich das bemerkbar machen?

Klar, die Diversifizierung ist mir ein besonderes Anliegen. Im Statement­Sektor mit jungen Kunstschaffenden haben wir diesmal mehr weibliche als männliche Positionen. Auf dem Messeplatz zeigen wir ein Werk einer 93­jährigen Künstlerin, die in ihrer Karriere viel zu wenig Beachtung fand: eines der berühmten Weizenfelder von Agnes Denes, einer ungarischen Künstlerin, die als Pionierin der Land Art in New York aktiv ist. Das originale Werk mit dem Titel «Wheatfield – A Confrontation» stammt aus den Achtzigerjahren.

Was begeistert Sie selber am meisten an der diesjährigen Ausgabe?

Der aufregendste Moment ist die Eröffnung, wenn man sieht, was die Galerien alles an wichtigen Werken mitgebracht haben. An der Unlimited wird ein einzigartiger Raum von Donald Judd eingerichtet, der voraussichtlich eines der teuersten Werke der Messe sein wird. Es wird auch einen exquisiten Raum von Dan Flavin geben, der ja gerade im Kunstmuseum Basel zu sehen ist.

Dann wird der Parcours mit Kunst im öffentlichen Raum in die Ladenstrasse der Clarastrasse verlegt und dadurch noch verstärkt im öffentlichen Raum verankert. Es werden Läden und ein Einkaufszentrum mit Kunst von Alvaro Barrington, Lap See Lam und Rirkrit Tiravanija bespielt. Darauf freue ich mich auch sehr.

Was sind Ihre Vorlieben in der Kunst, was würden Sie sammeln?

Wenn ich Sammlerin wäre, würde ich junge Kunst sammeln und damit ganz junge Künstler und Künstlerinnen unterstützen.

Sie hatten eine Ausbildung in bildender Kunst. Wollten Sie selber einmal Künstlerin werden?

Ich wusste gar nicht, was ich werden wollte, ich hatte kein konkretes Ziel, dachte mir natürlich auch nie, Direktorin der Art Basel zu werden. Ich komme aber aus einer kunstsinnigen Familie.

Nach der Schule habe ich Kunst in London studiert, was Spass gemacht hat. Meine eigenen Ausstellungen waren mir aber nie gut genug. Nach dem Studiumsabschluss bin ich nach Berlin gezogen und habe ein Praktikum bei den Kunst­Werken Berlin, einer Institution für Gegenwartskunst, begonnen. So hat sich alles ergeben.

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DEBORA MITTELSTAEDT / ART BASEL
Maike Cruse, Leiterin der Art Basel. ANZEIGE

ANNEGRET ERHARD

Eigentlich sind es nur Sammlungen von Männern, die legendär sind. Manchmal auch die von Ehepaaren. Wobei in diesem Fall die Gattin in der Regel bestensfalls die (wichtige) Position der kenntnis­ und einflussreichen Partnerin innehat. Das mag ein bisschen pauschal formuliert sein, aber falsch ist es nicht: Sammlungen von Frauen machen selten Furore. Woran liegt das? Sind die Kollektionen nicht gut, nicht wertvoll genug?

Jedenfalls gibt es sie, mit Wissen und Kunstsinn zusammengetragen, meist nur zu Lebzeiten der Sammlerinnen. Nach deren Tod werden sie häufig von grossen, oft staatlichen Institutionen einverleibt. Oder die Erben einigen sich rasch auf eine Auflösung. In der Regel und aufgrund ihrer namhaften Provenienz durch den lukrativen Verkauf in alle Winde.

Der Eindruck entsteht, dass das Sammeln eine den Männern dezidiert zugeschriebene Eigenschaft sei. Eine Eigenschaft, die Ehrgeiz umfasst, Jagdinstinkt, Perfektionismus, gepaart mit Fachkenntnis, Ernsthaftigkeit und Aggression, einhergehend mit Lust an Rivalität und nicht zu vergessen: einer guten Portion von elitärem Snobismus. Klingt, als ob Frauen nur Kokolores kauften und ihnen diese «männlichen» Charaktereigenschaften absolut fremd wären. Richtig ist, dass Sammlerinnen sehr wohl über sie verfügen müssen. Es kommt hinzu, dass die ihrem Geschlecht zugeschriebenen Persönlichkeitsmerkmale Kreativität, Sorgsamkeit, der Wunsch zu bewahren, so stereotyp sie auch sind, den sammelnden Männern nicht fremd sein sollten.

Verbindend ist der geschlechterübergreifende Wunsch, möglichst in alle Ewigkeit weiterzuleben – durch die philanthropische Leistung, die zusammengetragenen Werke der Nachwelt als kulturelles Legat zu übergeben.

Helene Kröller­Müller war förmlich getrieben vom Gedanken, ein Monument zu hinterlassen. Ende des 19. Jahrhunderts und bis Anfang des 20. Jahrhunderts war es zudem Mode, seinen Reichtum mit dem Anlegen von anspruchsvollen Sammlungen auf höchst kultivierte Weise zu demonstrieren und – als Krönung – der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Das vom Architekten Henry van de Velde für Kröller­Müllers Sammlung errichtete Museum bei Otterlo mit seinem heute 25 Hektar umfassenden bewaldeten Skulpturengarten im niederländischen Nationalpark Hoge Veluwe erzählt nicht nur die Geschichte einer mit grösster Beharrlichkeit verfolgten Idee, sondern auch von Aufstieg und Niedergang einer der zu Beginn des 20. Jahrhunderts reichsten Industriellenfamilien der Niederlande. Aber auch von deren kreativem Umgang mit Behörden und Banken, vom Geschick, sich in politisch brisanten Zeiten bei allem Patriotismus und allen erdenklichen Anfeindungen zu behaupten. Und nicht zuletzt, wie man eine Sammlung durch schwieriges Fahrwasser steuern kann.

Sie legte die grösste private Van-Gogh-Sammlung

Helene Kröller-Müller hatte einen hervorragenden Kunstsinn und ein ausserordentliches Sendungsbewusstsein. Ihr Museum mit seinem Skulpturengarten in den Niederlanden ist eine Oase der Kunst.

Vor allem aber erfährt man viel über Enthusiasmus und die beglückende Beschäftigung mit der Kunst und dem Kunsterwerb. Über 270 Werke von Vincent van Gogh hat Helene Kröller­Müller gekauft, davon neunzig Gemälde, und damit die nach dem VanGogh­Museum in Amsterdam zweitgrösste Sammlung etabliert.

Spinoza statt Religion

Helene Kröller­Müller wurde 1869 in eine Essener Industriellenfamilie geboren und bekam die stereotyp engstirnige Ausbildung einer Tochter des wohlhabenden Bildungsbürgertums. Sie war eine eigenständige, eher zurückgezogene junge Frau und wandte sich bald entschieden von der religiösen Erziehung und Sozialisierung ab. Schon in jungen Jahren folgte sie – zum Missfallen ihrer Familie – den religionskritischen Lehren des niederländischen Philosophen Spinoza.

In Auktionen überboten zu werden, war ihr ein Greuel.

Im Jahr 1888 heiratete sie den Reederssohn Anton Müller, der ein Jahr später Leiter des florierenden Kröller’schen Familienunternehmens wurde. Unter seiner Leitung wurde die Firma mit zahlreichen internationalen Niederlassungen bald Marktführer im Rotterdamer Hafen und importierte beispielsweise 1895 doppelt so viel Erze, wie der grösste Konkurrent, der deutsche Stahlfabrikant Friedrich Krupp. 1907 begann die Direktorengattin und Mutter von drei Söhnen und einer Tochter, Kunst zu sammeln. Dies unter dem Einfluss des gesellschaftlich rührigen H. P. Bremmer, eines reichlich exzentrischen Kunsttheoretikers, charismatisch und mit beträchtlichem Hang zu mystischer Kunstbetrachtung. Er begleitete und leitete ihre Ankäufe noch jahrelang. Bremmer verankerte den Begriff der Spiritualität in ihren Kaufentscheidungen, wobei Van Gogh das Zentrum bildete. Etwa ab 1911, nach einer le­

bensbedrohlichen Erkrankung und dem aus unterschiedlichen Gründen aufkeimenden Zerwürfnis mit ihren Kindern, begann Helene Kröller­Müller, im grossen Stil zu kaufen. Geld spielte keine Rolle, ohnehin hatten Helene und Anton, was damals noch sehr unüblich war, bei der Eheschliessung Gütertrennung vereinbart. Helene hatte also volle Verfügungsgewalt über ihr Vermögen. 1912, anlässlich eines Besuchs von etlichen Pariser Galerien, erwarb sie allein 15 Van­Gogh­Werke an einem einzigen Tag. In Auktionen überboten zu werden war ihr grundsätzlich ein Greuel. Kaufrausch und Courage Nach jahrelangem Kaufrausch mit ausgeprägtem Qualitätssinn kamen an die 12 000 Werke zusammen. Aber auch Courage gehörte zu dieser Sammelleidenschaft, denn Helene wandte sich neben den legendären Werken aller Schaffens­

8 NZZ-Schwerpunkt Montag, 10. Juni 2024 Art Basel 21.
HALLENSTADION
DIE HIGHLIGHTS DER TV-DOKUMENTATION –BEGLEITET VON EINEM LIVE-ORCHESTER
SEPTEMBER 2024
ZÜRICH
Der
des
1964–1965
Rietveld-Pavillon im Skulpturenpark
Kröller-Müller-Museums wurde
erbaut und 2010 erneuert. KRÖLLER-MÜLLER-MUSEUM/MARJON GEMMEKE

Van-Gogh-Sammlung an

phasen Van Goghs auch weniger etablierten zeitgenössischen Künstlern zu. Sie erwarb zudem Arbeiten von Mondrian, Picasso, Juan Gris und Georges Seurat. Antiken, asiatische Objekte, Delfter Blau spiegelten ihren zeitgemäss bürgerlichen Geschmack.

Die Allgemeinheit sollte an ihrem Schatz teilhaben. Also stellte sie in den Den Haager Büroräumen von Müller & Co. aus. «Ich glaube an ein höheres Weiterleben in meinem geistigen Leben mehr als in der Materie, die ich mit meinen Kindern hinterliess», liess sie Sam von Deventer, ihren weit jüngeren lebenslangen Vertrauten, in einem ihrer zahllosen Briefe wissen. Dieses von ausserordentlichem Selbst­ und Sendungsbewusstsein gespeiste Weiterleben muss sich durch ihre Sammlung manifestieren. Sie plant ein «Museumshaus». Ein teils recht ungemütlicher und langwieriger Reigen mit massgeblichen Architekten begann.

Nach jahrelangem Kaufrausch kamen an die 12 000 Werke zusammen.

Die Zusammenarbeit mit Peter Behrens scheiterte genauso wie mit dessen ehemaligem, noch jungen Mitarbeiter Mies van der Rohe. BaumeisterKoryphäe H. P. Berlage übernahm. Es gab Modelle im Massstab 1:1 und zunächst einmal ein geradezu grotesk überdimensioniertes, irgendwie symbolistisches Jagdhaus auf dem Gelände der Hoge Veluwe: ein Gesamtkunstwerk vom Besteck über die Wanddekoration und das Mobiliar bis zum hoch aufragenden Turm.

Helene Kröller­Müller sah sich stets als Co­Architektin. Keiner der Museumspläne stellte sie zufrieden, und auch Berlage schmiss schliesslich hin. Auftritt Henry van de Velde. Er modifizierte das Jagdhaus und lieferte Pläne für das Museum im vorderen Teil des Parks. 1921 wurde mit dem Bau begonnen, ein riesiges Gebäude sollte entstehen. Doch ein Jahr später war die Finanzsituation der Firma derart bedrohlich – kostspie­

AUKTIONEN

lige Expansion und die Weltwirtschaftskrise hatten das Unternehmen an den Rand des Ruins gebracht –, dass Helenes ehrgeizige Aktivitäten eingestellt werden mussten.

Sehnsucht nach Unsterblichkeit

Um diese Erfahrung reicher geworden, beschloss das Ehepaar KröllerMüller, die Sammlung und den Landbesitz 1928 vor Zugriffen der Gläubiger sowie der Mitinhaber des Unternehmens beziehungsweise zukünftiger Erben zu sichern und in eine Stiftung einzubringen. Van de Veldes Museumsentwurf wurde nie in seinen ursprünglichen Dimensionen gebaut. Ein Übergangsmuseum, bis zum letzten Augenblick überwacht von der unbequem meinungsstarken Helene, wurde 1938 fertiggestellt. Die Sammlung war inzwischen dem niederländischen Staat übereignet worden. Helene

Kröller­Müller starb, nachdem sie gerade noch ein knappes Jahr dem Museum vorstand. Zwei Jahre danach verstarb ihr Mann Anton. Den Krieg überdauerte das Kröller­Müller’sche Erbe ab 1941 in einem Bunker auf dem Gelände. Unter dem Direktor Bram Hammacher entstanden schliesslich kongeniale Anbauten. Ein Skulpturenpark nahm Gestalt an, er wurde 1961 offiziell eröffnet. Heute verschmilzt der leicht spirituelle Ansatz der Sammlerin mit sinnlichem Kunsterleben, mit einer Feier von Natur und Licht, von Form und Farbe. Die hellen Räume verströmen sublime Intimität. Das Zentrum, etwa zwanzig der massgeblichsten Van­GoghGemälde, verblüfft durch private Intimität, die weder Eitelkeit noch elitäres Prestige spüren lässt. Lucas Cranachs «Venus mit Amor als Honigdieb», einst zum Hitler’schen Gebrauch konfisziert, dann restituiert, fügt sich in den Kunstbegriff der Sammlerin und in die sehr persönliche Übersicht einer weitsichtigen, nie zufriedenen, stets mit sich und den Widrigkeiten, den Enttäuschungen des Lebens ringenden Persönlichkeit. Besänftigung fand sie in der Erfüllung ihrer Sehnsucht nach Unsterblichkeit.

Ein Glücksfall sind die wenigen, aber expliziten Vorschriften der Gründer, die die Sammlung weiterleben lassen: der strategische Ausbau und die Ankaufspolitik für den Skulpturengarten. Ein grosszügiges Budget und enormes Qualitätsbewusstsein haben zum Ankauf des wunderbar lichtdurchfluteten Rietveld­Pavillons geführt, in dem die Raumwirkung von Barbara Hepworths Grossskulpturen unübertroffen zur Geltung kommt.

Jean Dubuffet hat speziell für den Skulpturenpark 1972 den riesigen begehbaren Jardin d’Email entworfen. Und Richard Serra hat 1973 in einer von ihm gewählten verwunschenen Situation drei aufeinander zulaufende gebogene Cortenstahlscheiben im Waldboden verankert: eine atemberaubende Hommage an den Künstlerfreund Robert Smithson.

Drei Beispiele, die in Harmonie mit der Natur, einem riesigen Rhododendronhain, einem See, aufgeschütteten rätselhaften Sandhügeln von Pierre Huyghe, einer goldglänzenden Bronze von Jean Arp und vielen anderen, teils versteckten Meisterwerken brillieren. Viele der wenigen privaten Sammlungen, die den Tod ihrer Urheber überdauert haben, fristen ihr Dasein in einer Art Mausoleum, als Heiligtum bewahrt und erstarrt in historischer, oft lahmer Bedeutsamkeit. Helene Kröller­Müllers Vermächtnis lebt, niemand kann ihr den Rang als grösste private Sammlerin Van Goghs streitig machen. Mit dem Skulpturengarten hätte sie ihren Wunsch nach Innigkeit von Kunst und Natur erfüllt gesehen. Dass kleine, hochkarätige Sonderausstellungen sich den ultimativen Leistungen zeitgenössischer Künstler widmen, hätte sie genauso begeistert wie die zeitweise Fokussierung ihrer Sammlung auf zugespitzte Aspekte.

12. UND 13. SEPTEMBER 2024

KUNST DES 19. BIS

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21.
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W. KORNFELD
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PAUL GAUGUIN. POMMES ET BOL. 1888 Werke von Bart van der Leck im Blick. KRÖLLER-MÜLLER-MUSEUM/ WIENEKE HOFLAND Vincent van Gogh: «Caféterrasse bei Nacht», 1888 KRÖLLER-MÜLLER-MUSEUM/MICHEL HOOGERWAARD Claes Oldenburg: «Kelle», 1971. KRÖLLER-MÜLLER-MUSEUM/VALERIE SPANJERS

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Junge Galerien bringen neue Visionen in die Ewige Stadt

Auch in Rom sind Kunstgalerien in ständigem Wandel: Sie verändern oder vergrössern sich, ziehen um, eröffnen einen zweiten Standort oder verschwinden gar. Doch alle haben sie irgendwann angefangen. Vier spannende Junggalerien im Fokus.

MADELEINE SCHUPPLI, ROM

Die Via Raimondo Montecuccoli im Arbeiterviertel Pigneto war 1945 Drehort einer legendären Szene der italienischen Filmgeschichte: Im «Roma, città aperta» von Roberto Rossellini rennt Anna Magnani hinter einem Lastwagen her, mit dem die deutschen Besatzer ihren Verlobten wegbringen. Von einem Schuss getroffen, bricht sie tot zusammen.

Heute findet man an dieser mittlerweile beschaulichen Wohnstrasse den Galeristen Roberto Scalmana, der sich mit seiner Galerie Baleno International vor zwei Jahren, aus Norditalien kommend, hier niederliess. Er schätzt das Viertel Pigneto mit seiner langjährigen Verankerung in der Film­ und Kulturszene – es stimuliere ihn und erzähle eine andere Geschichte von Rom als jene der Palazzi und Palmen des Stadtzentrums.

Die in einer ehemaligen Werkstatt untergebrachte Galerie zeigt Positionen, die Themen eines aktuellen jungen Kunstdiskurses widerspiegeln: Identität, Transformation, Fluidität oder kapitalismuskritische Haltungen. In seinem Programm schlägt Roberto Scalmano einen Bogen von italienischen zu internationalen Künstlerinnen und vertritt auch die in Zürich ansässige Caterina de Nicola (geb. 1991) oder die Basler Malerin Isadora Vogt (geb. 1992). Beide gehören zu den Finalistinnen der diesjährigen Swiss Art Awards, die während der Art Basel verliehen werden.

Die Galerie arbeitet auch mit der in Amsterdam lebenden Künstlerin Eleonora Luccarini (geb. 1993), die in ihren multidisziplinären Arbeiten fiktionale und autobiografische Erzählungen verbindet und bereits in mehreren Museen vertreten ist. Im Frühling zeigte Baleno International die italienische Fotografin Lina Pallotta (geb. 1955), die in den 1990er­Jahren die alternative Kreativszene des New Yorker East Village fotografierte. Sonst arbeitet Roberto Scalmano mit Künstlern seiner eigenen Generation, mit denen er – wie er im Gespräch betont – zeigen möchte, was relevante Kunst heute sein kann. Das junge Römer Kunstpublikum zeigt Interesse am engagierten Programm und strömt an den Vernissagen so zahlreich, dass die Galerie die Gäste kaum fassen kann und die Scharen die Strasse blockieren. Potenzielle Käufer kommen an diesem Standort jedoch kaum per Zufall vorbei, der junge Galerist muss sie proaktiv zu Baleno International einladen. Den Kontakt zu den Sammlern knüpft er vor allem an Messen, an der Miart in Mailand oder an der Turiner Artissima, wo er sich in der Sektion der Nachwuchsgalerien mit sorgfältig kuratierten Auftritten in der Szene vorstellt.

Wichtige Aufbauarbeit

Nachwuchsgalerien wie Baleno International leisten wichtige Aufbauarbeit, bringen neue Kunstschaffende auf den Markt und schliesslich auch in die Sammlungen und Museen. Sie pflegen enge Beziehungen zu ihren Künstlerinnen und Künstlern, begleiten und fördern sie, was die Grossen im Geschäft in dieser intensiven, persönlichen Form nicht leisten können. Die wirtschaftliche Situation, selbst bei tiefen Fixkosten, ist jedoch von Anfang an eine Herausforderung, gerade auch im wenig auf zeitgenössische Kunst ausgerichteten Umfeld von Rom. Die Stadt hat eine überschaubare und vielfältige Galerienszene, in der es für Neues Platz hat, was in einem gesättigten Umfeld wie Paris oder London weniger der Fall ist. Drei andere junge Galerien findet man im Stadtzentrum. An ihren zentralen Standorten können sie sich aller­

dings nur etwa halb so grosse Ausstellungsräume wie Baleno International leisten. Eugenia Delfini betreibt ihre gleichnamige Galerie seit Herbst 2022. Im Centro storico bespielt sie einen schönen, schlichten Raum in einem Palazzo. Die Galeristin ist nach Lehr­ und Wanderjahren in New York, wo sie Curatorial Studies am renommierten Bard Collage studierte und am Guggenheim Museum arbeitete, in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Dem Kunstmarkt gegenüber war sie lange kritisch eingestellt, aber die Leidenschaft für das Kuratieren war am Ende doch stärker. In der Galerie begegnet man ihr fast immer, es sei denn, sie reise gerade an eine Messe – vorerst an italienische, aber mit dem Ziel, später auch international präsent zu werden. Bereits bei ihrer ersten Beteiligung an der Artissima im letzten Jahr wurde ihr Stand ausgezeichnet. Sie präsentierte sich in Turin mit dem Südtiroler Fotografen Nicolò Degiorgis (geb. 1985). Der mit gesellschaftspolitischen Themen arbeitende Künstler beschäftigt sich etwa mit der Grenze als natürlicher, politischer und kultureller

Trennlinie. Mit der jungen Römer Galerie hat Degiorgis nun eine erste Vertretung im Kunstmarkt, nachdem er sich in den italienischen Museen bereits gut etablieren konnte. Weiter ist im Programm die Sardin Narcisa Monni (geb. 1981) zu finden, die mit Übermalungen von Fotografien sehr körperliche Porträts schafft, die einem nicht mehr so schnell aus dem Kopf gehen. Aktuell repräsentiert Eugenia Delfini erst fünf Positionen. Das Programm ist im Aufbau begriffen und die Galeristin fortlaufend am Recherchieren – in Ateliers oder etwa an Abschlussausstellungen von Kunstakademien. Ihr Interesse gilt sozialen und politischen Positionen, und wenn sie sich für die Zusammenarbeit mit einer Künstlerin entscheidet, will sie dies exklusiv tun. Die alleinige Vertretung ist für sie die Basis einer engen Zusammenarbeit und einer gemeinsamen Entwicklung. Eugenia Delfini schaut mit Befriedigung auf das bisher Erreichte zurück, allerdings, so gesteht sie lächelnd ein, sei der Aufbau einer Galerie in Rom nicht gerade ein Spaziergang. Nur ein paar Gehminuten südlich kann man durch das

Schaufenster eines ehemaligen Ladenlokals den stimmungsvollen kleinen Raum der Galerie Ermes Ermes überblicken. Zuletzt war dort eine Präsentation von Beatrice Bonino ( geb. 1992) zu sehen. Die in Paris lebende Künstlerin arbeitet mit Alltagsgegenständen, mit denen sie in einer zurückhaltenden, durchgängig helltonigen Installation ein Spiel der Erinnerungen anklingen lässt.

Intuitiver Zugang zur Kunst

Bevor die Galeristin Ilaria Leoni an diesem Standort 2021 ihre Galerie eröffnete, war Ermes Ermes ein nomadisches Format, das zeitweise in privaten Räumen der Galeristin und vorübergehend auch in Wien Ausstellungen präsentierte. Ihren Zugang zur Kunst beschreibt Ilaria Leoni als intuitiv und das Programm sei ein sehr persönliches Narrativ, vergleichbar den Kapiteln eines Buches. Zentral für sie ist die emotionale Kraft eines Werks und die Poesie, die sie in den Arbeiten spürt. So hat sie Diego Marcon (geb. 1985) aufgebaut, der seit seinem Auftritt an der Bien­

nale in Venedig von Cecilia Allemani (2022) und einer Einzelausstellung in der Kunsthalle Basel (2023) mit seinen surreal­poetischen Videoarbeiten unterdessen zu den grossen Namen gehört. Auch Ilaria Leoni bemüht sich, lokal ein Netzwerk und einen Freundeskreis rund um die Galerie aufzubauen, und dies mit Erfolg. Die Sammler und Käufer kommen jedoch vorwiegend von ausserhalb, aus Norditalien oder aus dem Ausland. Sie kommen für ein Wochenende, geniessen die «esperienza di Roma», während die Galeristin ihnen ihre zeitgenössischen Künstler näherbringt.

Die Künstlerhände spüren Sonst kommt auch Ilaria Leoni ihren Sammlern entgegen und präsentiert Ermes Ermes etwa an der aufregenden Nachwuchsmesse Paris International, wo sie letzten Herbst die virtuosen Gemälde auseinanderfallender Blumensträusse der New Yorker Künstlerin Dana DeGiulio (geb. 1978) dabei hatte. Für das lokale Publikum kuratiert die Galeristin eine Reihe thematischer Gruppenausstellungen, die von Filmen inspiriert sind; die aktuelle Schau bezieht sich auf Jean­Pierre Melvilles Film noir «Le samouraï» (1967). Nicht vergessen gehen darf die «älteste» der vier Galerien, die ADA. Carla Chiarchiaros Programm hat nochmals eine andere Ausrichtung als dasjenige ihrer Kolleginnen. Sie interessiert sich vor allem für performative Praktiken, für das Haptische und den Bezug des Körpers zur Arbeit. So vertritt sie die ukrainische Künstlerin Anna Perach ( geb. 1985), die Performances mit textilen Arbeiten kombiniert. Perachs grossformatige Knüpfbilder und lebensgrosse Textilpuppen und Masken werden diesen Sommer auch in der Fondation Carmignac in Südfrankreich gezeigt. Die Galeristin betont, sie wolle vor allem Werke zeigen, in denen man gleichsam die Hände der Künstlerin, des Künstlers spüre, was sowohl bei den Arbeiten des Italieners Jacopo Belloni (geb. 1992) als auch der Französin Lou Masduraud (geb. 1990) der Fall ist. Beide haben in Genf studiert und sind in der Schweiz gut bekannt. Das Körperliche spielt in beiden Werken eine wichtige Rolle, genauso wie ein lustvoller Umgang mit dem Arbeitsmaterial. Die Galerie hat sich im lebendigen Ausgehviertel Trastevere niedergelassen. Das junge Kunstpublikum strömt zahlreich an die Vernissagen. Bevor sie sich selbständig gemacht hat, sammelte Carla Chiarchiaro Erfahrungen in verschiedenen namhaften Galerien und verfügt damit über ein während Jahren aufgebautes Netzwerk zu Sammlern. Aber auch sie muss für neue Kontakte stets an Messen präsent sein und schaffte 2021 sogar den Einzug in die Liste der Basler Kunstmesse.. Obschon sie einen substanziellen Beitrag zum zeitgenössischen Kulturangebot der Stadt leisten, sind die Galerien auf sich selber gestellt. Ankäufe, die von Museen oder der öffentlichen Hand getätigt werden – das gibt es in Rom nicht, geschweige denn Förderung. Eine gute Zusammenarbeit ist daher überlebenswichtig, und so rief man 2023 ein Gallery Weekend ins Leben; mit dabei sind neben den jungen Galerien auch etablierte wie zum Beispiel Gagosian, Galleria Lorcan O’Neill, Magazzino oder Tornabuoni. Norberto Ruggeri von Studio Sales der 1994 gemeinsam mit Massimo Minini seine erste Galerie in Trastevere mit Werken von Cy Twombly eröffnete, betont, es sei viel anspruchsvoller, junge Kunst zu verkaufen als einen Warhol. Die neue Energie hingegen, die Inspiration und die Visionen, die durch die jungen Galerien in die Stadt kämen, seien sehr wichtig und bereichernd.

Montag, 10. Juni 2024 Art Basel 11 NZZ-Schwerpunkt
Narcisa Monni: «Ciao Marie, Madri di Dio» (2023) bei Eugenia Delfini. GALERIE EUGENIA DELFINI Selbstporträt von Eleonora Luccarini. BALNEO INTERNATIONAL Yuchu Gao bei Ermes Ermes. ERMES ERMES/DAVIDE MOLAJOLI

Im Osten viel Neues – die Kunstszene boomt in

Museen wie der Louvre Abu Dhabi sowie private Stiftungen, Kunstzentren und kommerzielle Galerien sorgen für eine vibrierende Kunstlandschaft am Persischen Golf. Nicht zu vergessen die international viel beachtete Biennale sowie die Kunstmesse in Abu Dhabi.

Als der segelförmige Burj Al Arab 1999 in Dubai eröffnet wurde, wunderte man sich, ob die Wüstenstadt am Persischen Golf je genug Reiche anziehen würde, um das neue, 321 Meter hohe Luxushotel der Superlative zu füllen. Ausser einer Bootsfahrt auf dem Creek, einem Bummel durch den Goldsouk oder dem Besuch einer der Shopping Malls gab es wenig zu tun in der damals erst eine Million Menschen zählenden Stadt. Doch dann wuchsen an der Marina die ersten Wohntürme in den Himmel und SOM Architekten planten den 828 Meter hohen Burj Khalifa. Nach dessen Einweihung 2010 wurde Dubai schnell zur Bling­Bling­City, die zahllose Influencerinnen und Influencer anlockte, was das Image der nun dreieinhalb Millionen Einwohner zählenden Metropole als kulturelle Einöde nur noch förderte. In Abu Dhabi, der Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), gab man sich stilvoll zurückhaltend, erklärte die märchenhaft weisse ScheichZayid­Moschee zum neuen Wahrzeichen und suchte in der Hochkunst ein Alleinstellungsmerkmal. Geschickt fädelte man 2006 Verträge mit dem Pariser Louvre und dem New Yorker Guggenheim Museum ein. 2017 konnte auf Abu Dhabis zentrumsnaher Kulturinsel Saadiyat Jean Nouvels monumentaler Louvre Abu Dhabi als erstes Universalmuseum im arabischen Raum eingeweiht werden. Frank Gehrys Guggenheim Abu Dhabi hingegen, eine wilde Pyramide aus Würfeln, Quadern, Dreiecksprismen und Halbzylindern, in der neben internationaler neuer Kunst vor allem Meisterwerke aus Nahost, Nordafrika und Südasien gezeigt werden sollen, kam nicht über das 2011 gegossene Fundament hinaus. Erst nach zehnjähriger Pause wurden die Bauarbeiten mit der Zielvorgabe wieder aufgenommen, das Museum 2025 in Betrieb zu nehmen.

Förderung der Kunst

Mit dem Aufbau einer eigenen Sammlung für das Guggenheim Abu Dhabi aber hatte man schon 2006 angefangen. Die schnell wachsenden Bestände an «Art of the Middle East and North Africa» (MENA) wurden 2015 und 2017 in zwei Ausstellungen im Manarat Al Saadiyat, dem ersten Kulturbau auf der Saadiyat­Insel, präsentiert. Heute dient er als Ausstellungsort der 2009 lancierten Abu Dhabi Art, einer Kunstmesse, an der internationale neue Kunst und Zeitgenössisches aus der MENA­Region und Südasien gehandelt wird. Noch ist der Kunsthandel von Abu Dhabi mit Galerien wie Artbooth, Etihad Modern, N2N und Salwa Zeidan überschaubar, obwohl die bildende Kunst vom Emirat stark gefördert wird. Die vom Staatsgründer Zayid bin Sultan Al Nahyan initiierte und 1981 eingeweihte Cultural Foundation beim Qasr Al Hosn, der alten Stadtburg, war mit Bibliothek, Auditorium und Ausstellungsräumen bis 2008 der Mittelpunkt der Kunstszene von Abu Dhabi.

Nach mehrjährigen Renovierungsarbeiten glänzt die Stiftung seit 2019 wieder mit viel beachteten Ausstellungen. Deren Spannweite reicht von einer Retrospektive der Weltbürgerin Fahrelnissa Zeid bis zu einer Hommage von 19 emiratischen Kunstschaffenden an die Farbmagierin Najat Makki.

Auch das Schaffen der jungen Videokünstlerin Farah Al Qasimi war jüngst in der Cultural Foundation zu sehen, obwohl es fast besser ins Kunstzentrum 421 gepasst hätte. Dieses wurde vor neun Jahren in einem renovierten Lagerhaus im Hafengebiet Mina Zayid eröffnet und hat sich seither zu einem Campus mit Ateliers, Mehrzwecksaal, Café und Ausstellungsräumen entwickelt. Hier lassen sich immer wieder aufstrebende Talente entdecken wie die in Basel

ausgebildete Hana El Sagini aus Dubai, die im 421 Anfang Jahr surrealistisch anmutende Keramikobjekte zeigte. Kunst aus der Region wird ausserdem von der Art Gallery der New York University Abu Dhabi gepflegt, wo zurzeit Werke arabischer Kunstschaffender «In Real Time» den Arbeiten von Sol LeWitt gegenüberstehen.

Frauen sind gut vertreten

Sogar der Louvre Abu Dhabi fördert neue Kunst aus dem arabischen Raum. Zusammen mit der Schweizer Uhrenmanufaktur Richard Mille lancierte er 2021 den «Art Here»­Preis. Dass bisher zwei der drei Ausgezeichneten Frauen waren, erstaunt kaum mehr in den Golfstaaten, wo immer mehr Frauen an Kunstschulen und Universitäten studieren. Sogar Abu Dhabis neuste Attraktion, das jüngst eingeweihte Museum der Bassam Freiha Art Foundation, wurde von einer Frau entworfen: von Rasha Gebran.

Im abgewinkelten und von einem Glasprisma durchstossenen Gebäude zeigt der Medienmogul Freiha mit «Echos of the Orient» Werke der im Westen seit längerem als kolonialistisch verschrienen orientalistischen Malerei und kontextualisiert sie durch den Einbezug historischer Fotografien. Künftig will die Stiftung auch «aufstrebende Talente fördern und regionale Kunstsammlungen präsentieren».

Auch der Herrscher von Schardscha, Scheich Sultan bin Muhammad Al Qasimi, ist ein leidenschaftlicher Sammler von orientalistischen Gemälden, die er lange im Kunstmuseum von Schardscha ausstellte. Das 1997 eingeweihte Haus hat sich aber vor allem mit moderner und zeitgenössischer Kunst aus dem arabischen Raum einen Namen gemacht.

Dabei profitiert es von der Kulturpolitik des Emirats, das seit der Gründung der Vereinigten Arabischen Emirate im Jahre 1971 Stipendien an begabte Kunstschaffende verleiht. Kein Geringerer als der Meister der arabischen Konzeptkunst, Hassan Sharif, war der erste Stipendiat.

Dem günstigen Kunstklima im sonst streng konservativen Schardscha verdankt das Emirat auch die 1993 ins Leben gerufene Schardscha­Biennale. Mit Hoor Al Qasimi übernahm eine Tochter des Emirs 2002 die Leitung der Biennale und verwandelte sie in einen bedeutenden Anlass mit Schwergewicht auf Kunst aus der muslimischen Welt und dem globalen Süden. International viel beachtet wurde 2023 die 15. Ausgabe, die Al Qasimi nach Vorschlägen des 2019 verstorbenen nigerianischen Kurators Okwui Enwezor einrichtete.

Verwaltet wird die Biennale heute von der 2009 von Hoor Al Qasimi zur Förderung der regionalen Künste ins Leben gerufenen Sharjah Art Foundation. Diese bespielt auch das Kunstmuseum und fünf Art Spaces im renovierten und rekonstruierten Altstadtkern, dem «Heart of Sharjah». Sie befinden sich in Neubauten, mit deren weissen Kuben und Innenhöfen die Architektinnen Mona El Mousfy und Sharmeen Azam Inayat die historische Bausubstanz zeitgenössisch interpretierten.

In den Lokalitäten der Stiftung werden einzelne Kunstschaffende gezeigt, aber auch Themenschauen wie «Casablanca Art School», die im Sommer von der Schirn in Frankfurt übernommen wird. Zuvor schon schickte die Stiftung Ausstellungen auf Tournee in die USA und nach Europa. Erinnert sei nur an die um das Werk von Hassan Sharif kreisende Gruppenschau «We Began by Measuring Distance» von 2018 im Genfer Mamco. Einer der besten Kenner der nahöstlichen Kunstszene, Sultan Sooud Al Qassemi, hält denn auch fest, dass Schardscha «das kulturell bedeutendste Emirat am Golf» sei. Der 46­jährige

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Farah Behbehanis Beitrag zum diesjährigen Art-Here-2023-Preis im Louvre Abu Dhabi. ROMAN HOLLENSTEIN Die Das Filmprojektionshaus am modern Die Räume der Elmarsa Gallery in der Alserkal Avenue. ROMAN HOLLENSTEIN

in den Vereinigten Arabischen Emiraten

Publizist und Kunstsammler begann vor über 20 Jahren, moderne und zeitgenössische arabische Kunst zu sammeln. Um seine heute mehr als 1000 Werke umfassenden Bestände möglichst vielen Leuten zugänglich zu machen, überführte er sie 2010 in die Barjeel Art Foundation, von der immer wieder Langzeitleihgaben im Maraya Art Center und im Kunstmuseum gezeigt werden.

Derzeit stellt die Foundation in «Parallel Histories» wichtige Persönlichkeiten wie die modernistische Bildhauerin Mona Saudi oder den syrischen Neoexpressionisten Marwan aus. Auch in den USA und in Europa sind immer wieder Teilbereiche der Barjeel Foundation zusehen, so «die grösste Schau moderner und zeitgenössischer arabischer Kunst» im vergangenen Sommer in London. Von der wachsenden Bedeutung der Kunst aus dem MENA­Raum zeugt derzeit auch die Ausstellung «Présences arabes» im Musée d’Art Moderne de Paris. In der Schweiz wiederum vermittelte 2023 die Gruppenschau «Evaporating Suns – Zeitgenössische Mythen vom Arabischen Golf» in der Basler Kulturstiftung H. Geiger einen Eindruck von der nahöstlichen Kunstszene.

Engagierte private Sammler So leidenschaftlich wie Hoor Al Qasimi und Sultan Sooud Al Qassemi, die beide dem weitverzweigten Herrscherhaus von Schardscha angehören, setzt sich wohl nur noch die Familie des Emirs von Katar für arabische Kunstschaffende ein, obwohl deren Arbeiten gelegentlich als Abklatsch westlicher Werke kritisiert werden. Aber auch das Engagement von privaten Sammlerinnen und Sammlern ist von Bedeutung – zumal im benachbarten Dubai, wo die Jameel Art Foundation des saudischen Geschäftsmanns und Mäzens Abdul Latif Jameel auch kulturpolitisches Gewicht hat. Die Stiftung vergibt seit 2009 nicht nur Preise für zeitgenössische Kunst und Fotografie. Im November 2018 konnte sie auch das von den Londoner Serie Architects geplante Jameel Arts Centre einweihen, das aus einer Gruppe blendend weisser Quader besteht.

Es erhebt sich am Westufer des Creek unweit der Stelle, an der das Museum of Middle Eastern Modern Art (MOMEMA) von UNStudio sowie Zaha Hadids Opernhaus zur Aufwertung gigantischer Bauprojekte hätten errichtet werden sollen, aber 2009 infolge der Finanzkrise aufgegeben wurden. Nun übernimmt das über eine eigene Kunstsammlung verfügende Jameel Arts Centre mit attraktiven Ausstellungen, einem Bildungsprogramm und einer Forschungsbibliothek gleichsam die Aufgaben des gescheiterten MOMEMA.

Dabei beschreitet es kuratorisch immer wieder neue Wege, etwa mit der soeben zu Ende gegangenen Ausstellung «Guest Relations», welche den Tourismus im globalen Süden ins Visier nimmt mit so unterschiedlichen Kunstwerken wie Pio Abads Tapeten oder dem riesigen Kunststoffabguss «Crew Rest Compartment» von Nabla Yahya, der diesjährigen Trägerin des Louvre­ArtHere­Preises.

Eine zusätzliche Belebung verdankt Dubais Kunstlandschaft dem gebürtigen Iraner Farhad Farjam, der rund 6000 Werke islamischer, nahöstlicher und westlicher Kunst zusammengetragen hat und diese in wechselnden Ausstellungen in der Farjam Foundation, einem in der Gate Avenue Mall zwischen Designergeschäften und Galerien sich öffnenden Privatmuseum, gratis zugänglich macht. Sie zeigt derzeit eine Gegenüberstellung von persischen Miniaturen und grossformatigen Leinwänden des in Dubai tätigen Iraners Arash Nazari, auf denen minutiös nachgemalte Darstellungen aus dem Buch der Könige in farbintensive horizontale Linien ausfliessen. Unweit der Farjam Foundation warten in

der Gate Avenue Mall mehrere Anbieter hochkarätiger Kunst auf einheimische Sammler und vermögende Expats – beispielsweise die westlich ausgerichteten Galerien Opera und Bastok Lessel, der auf MENA­Kunst spezialisierte Tabari Artspace oder die Fotogalerie Empty Quarter. Vielleicht begegnet man hier sogar Salama Bint Hamdan Al Nahyan, der kunstbegeisterten Gemahlin des Herrschers von Abu Dhabi, die neben arabischer Malerei auch Arbeiten von Picasso bis Damien Hirst besitzt. Teure internationale Kunst findet man zudem in der 2016 eröffneten Custot Gallery, die sich nicht in der glänzenden Mall eingerichtet hat, sondern in der Alserkal Avenue im aufstrebenden, zwischen Downtown Dubai und der Marina gelegenen Industriequartier Al Quoz.

Panoramagemäldes «Mission of Destruction» des in London tätigen irakischen Altmeisters Dia Al Azzawi. Vorbei an einem der schönsten neuen Gotteshäuser Dubais, der Gargash­Moschee der saudischen Architektin Sumaya Dabbagh, geht es entlang der sechsspurigen First­Al­Khail­Strasse auf staubigen Trottoirs immer in Richtung des im Dunst flimmernden Burj Khalifa. Street­Art­Gemälde, Möbelgeschäfte und Autowerkstätten beleben die Monotonie; und in den Seitenstrassen entdeckt man gelegentlich Kunstoasen wie die beiden auf afrikanische Gegenwartskunst spezialisierten Galerien Akka Project und Elfie. Nach etwa einer Dreiviertelstunde geht es hinüber zur 6a­Strasse, wo sich der schönste Eingang zu der durch drei Tore zugänglichen Alserkal Avenue öffnet.

Noch ist die angebotene Kunst wegen der überschaubaren Interessentenkreise eher günstig.

Topgalerien der Golfregion

Die Alserkal Avenue, ein 2007 vom Kunstliebhaber Abdelmonem Alserkal geschaffenes Galerienviertel, bestand ursprünglich aus 39 alten, reihenhausartig entlang von Erschliessungsstrassen angeordneten Lagerhallen, die sich zu idealen Ausstellungsräumen umbauen lassen. Die ersten beiden Galerien, Ayyam und Carbon 12, zogen 2008 ein und bereicherten sogleich das neue, auch dank Designgeschäften und Cafés zum schicken Treffpunkt gewordene Trendquartier. Weitere 50 wellblechverkleidete Bauten kamen 2015 hinzu. Sie bilden nun eine kleine Kulturstadt mit sechs verkehrsfreien Strassen und einem zentralen Platz, wo sich seit 2017 ein multifunktionales Gebäude von Rem Koolhaas’ Büro OMA erhebt. Der «Concrete» genannte Bau wird seither für Ausstellungen, kommerzielle Präsentationen und Kulturveranstaltungen genutzt. Heute sorgen hier gut 20 der bedeutendsten Galerien der Golfregion, aber auch ein Studiokino und ein Black­BoxTheater für ein kreatives Ambiente. Um deren einzigartige Stimmung zu erleben, sollte man die Alserkal Avenue an einem Samstagvormittag nach einer Stadtwanderung durch das weitläufige Industriequartier Al Quoz besuchen. Als Ausgangspunkt empfiehlt sich die 2007 von Sultan Sooud Al Qassemi mitgegründete Meem Gallery, die sich in einem Containergebäude an der viel befahrenen Umm­Suqeim­Strasse befindet. Das auch über eine grosse Kunstbibliothek verfügende Ausstellungshaus wagt gelegentlich nicht profitorientierte Ausstellungen – etwa des eindrucksvollen, zwischen Picassos «Guernica» und arabischer Kalligrafie oszillierenden und an den Dritten Golfkrieg erinnernden

Ein Treffpunkt für Kunstfans Zwischen glänzenden Wellblechbauten empfängt einen die an eine minimalistische Pergola erinnernde Installation «A Forgotten Place» von Muhannad Shono, der 2022 auf dem Parcours der Art Basel im Stadtcasino ein poetisch geformtes Bündel aus Rippen von Palmwedeln präsentierte. Danach taucht man ein in die heile Welt der Expats, die so gar nichts gemein hat mit jener der Gastarbeiter vom indischen Subkontinent. Ein Wochenmarkt lockt auf der Avenue mit Bio­Gemüse von nahe gelegenen Gärten oder deutschem Süssgebäck, während im «Concrete» am zentralen Platz bald Malerei, bald Damenwäsche von Kim Kardashians Firma Skims vorgestellt wird. Zum eigentlichen Erlebnis aber wird der Gang durch die Galerien, die – obwohl mehrheitlich auf MENA­Kunst ausgerichtet – einen in unterschiedliche Welten entrücken. Himmlisch blau sind die «The Sky of the Seven Valleys» betitelten Leinwände des iranisch­kalifornischen Malers Ala Ebtekar, die in der Third Line Gallery zu sehen sind. Wie im Weltall fühlt man sich hingegen in der Schau «The Infinite & The Finite» des Syrers Khaled Akil in der Ayyam Galerie, die neuerdings an der Art Genève teilnimmt. Mit «Allegorical Ruins» zeigt Isabelle van den Eynde monochrom übermalte alte Porträtfotos des in Beirut und Berlin tätigen Raed Yassin, der an der letztjährigen Art Basel einen Auftritt hatte.

Die Galerie Leila Heller, die in New York westliche und seit 2015 in Dubai nahöstliche Kunstschaffende vertritt, hat einen ihrer musealen Ausstellungsräume unter dem Stichwort «Carpets of Eden» in einen märchenhaften Kunstgarten verwandelt. Auf Gewebe setzt gerade auch die seit 1995 existierende Green Art Gallery. Unter dem Motto «Textile as Echo» stellt sie vier Kunstschaffende aus dem arabischen und indischen Raum vor. Ganz auf neue Kunst aus Südasien setzen die 1X1 Galerie und die Ishara Art Foundation, während das Volte Project indische und westliche Werke anbietet.

Zu den Kundinnen und Kunden der Galerien zählen betuchte Einheimische, erfolgreiche Expats, die ihren Wohnungen lokales Flair verleihen wollen, und schon jahrzehntelang Ansässige wie Elie Khouri, ein in Dubai reich gewordener Libanese, der in den letzten 15 Jahren gegen 500 Kunstwerke zusammengetragen hat. Viele von ihnen kaufen auch an der jeweils Anfang März stattfindenden Art Dubai, der bedeutendsten Kunstmesse des Nahen Ostens, oder auf den «Middle Eastern Art»­Auktionen bei Sotheby’s, Christie’s und Bonham’s. Noch sind die meisten Angebote infolge der überschaubaren Interessentenkreise vergleichsweise günstig, zumal der Gaza­Krieg die Kauflust an den letzten Herbstauktionen merklich dämpfte. Gleichwohl geben sich die Galerien in der Alserkal Avenue weiterhin optimistisch.

Montag, 10. Juni 2024 Art Basel 13 NZZ-Schwerpunkt
Der Bookshop der Third Line Gallery. ROMAN HOLLENSTEIN Ausstellung «Carpets of Eden» in der Galerie Leila Heller. LEILA HELLER GALLERY modern gestalteten Platz der fünf neuen Art Spaces in Schardschas Altstadt. ROMAN HOLLENSTEIN

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Katars Hunger nach Kunst und Design ist immens

Das kleine Emirat am Persischen Golf arbeitet auf Hochtouren an seiner Modernisierung und der Konservierung von Traditionen. Regionale Verankerung und Innovation heisst die magische Formel, die ein Museum nach dem anderen aus dem Wüstensand wachsen lässt.

SABINE B. VOGEL, DOHA

Schon von weitem sieht man die monumentalen Bronzefiguren. Sie stehen wie Wächter vor dem unauffälligen Gebäude. Früher war es eine Schule. 2010 eröffnete es als Mathaf – arabisch für Museum. Im Eingang hängen zwei riesige Porträts der Herrscherfamilie Al Thani. In den verwinkelten Räumen verlaufen kreuz und quer Linien durch den Raum. Auf dem Boden stehen längliche Gefässe, gefüllt mit blauem Pigment. In sich verdrehte Quadrate ragen von der Wand. Es ist Mehdi Moutashars erste Retrospektive. Geboren 1943 im Irak, lebt er zwar seit 1974 in Paris. Aber seinen grossen Auftritt hat er hier im Mathaf in Doha.

Zeigt Moutashar uns eine arabische Version geometrischer Abstraktionen?

Keineswegs, wehrt er im Gespräch ab. Seine Abstraktionen seien tief in der arabischen Kultur verwurzelt. «Meine Inspiration hole ich aus unseren Ornamenten und der Kalligrafie», betont er. Auch die Farbe Blau sei kulturell verankert. Er verweist auf das Handwerk der Sumerer, jenes Volkes, das vor 5000 Jahren in dieser Region lebte.

Die Betonung von kultureller Verankerung in der Region hört man in Katar immer wieder, wenn man mit Designern oder Künstlern spricht. Es ist ein Mantra, das auch in der «Vision 2030» festgeschrieben ist – jenes 2005 veröffentlichten Plans der «fünf Hauptherausforderungen für Katar». An erster Stelle steht dort «Modernisierung und Konservierung von Traditionen».

Dafür wurden auf der nur 180 Kilometer langen, 80 Kilometer breiten Halbinsel, die gleich an Saudi­Arabien angrenzt, bisher sieben Museen gebaut. Vier weitere folgen noch. Damit ist Katar in der Region in bester Gesellschaft. Denn auch Abu Dhabi und seit kurzem Saudi­Arabien investieren enorm in den Aufbau einer kulturellen Infrastruktur.

Viel Geld für Kunst

Katar allerdings ist den anderen deutlich voraus. Und hat einen klaren Plan. Denn das kleine Emirat lädt nicht nur Stararchitekten für prächtige Neubauten ein. Anders als seine Nachbarn baut Katar immer wieder auch bestehende Gebäude um. Und verfügt bereits über beachtliche Kunstsammlungen. Geld ist dafür genügend vorhanden. 1971 entdeckte Katar erstmals ein riesiges Gasfeld. Die Menge ist so gigantisch, dass 2027 und dann noch einmal 2030 die Produktion verdoppelt werden soll. Anders als bei den Nachbarn fliesst dabei in Katar schon seit den 1980ern ein kleiner Teil der Einnahmen in die Kunst. Damals unterrichtete der Künstler Yousef Ahmad an der Qatar University. Einer seiner Studenten war der junge Hassan bin Mohamed bin Ali Al­Thani. Ahmad konnte das hochrangige Mitglied der Herrscherfamilie überzeugen, eine Sammlung regionaler Kunst für Katar zu beginnen – in einer Zeit, als sich kaum jemand dafür interessierte. Heute gilt die Hassan­Sammlung mit über 9000 Werken arabischer Kunst der Moderne als beste der Welt. Sie wurde erweitert um Gegenwartskunst und bildet nun die Grundlage des 2010 eröffneten Mathaf. So trifft hier Zeitgenössisches, wie die Geometrien von Moutashar, auf Kunsthistorisches, wie die Schau über arabische Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts im oberen Stockwerk. Dort sieht man Inji Efflatouns emotional eindringliche Serie «Frauen hinter Gittern» von 1959 bis 1963. Die 1924 in Kairo geborene, 1989 verstorbene Künstlerin gehörte 1959 zu den ersten weiblichen Gefangenen, die der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser unter dem Verdacht der Opposition verhaften liess.

Vier Jahre malte sie im Gefängnis, ihre grossartigen, kantigen Porträts lassen die Härte des Lebens dort erahnen. Das Mathaf gehört zur ersten «Vision 2030»­Phase – und zeigt bereits klar die Richtung an. «Wir wollen die arabische Moderne in die globale Moderne einschreiben», beschreibt Zeina Arida die Aufgabe des Museums. Sie ist 1970 im Libanon geboren und leitet das Haus seit 2021. Kultur, das ist in allen Museen Katars unübersehbar, ist eine hochpolitische Angelegenheit. Denn es geht nicht nur um den Kulturgenuss für die 2,7 Millionen Einwohner, von denen nur rund zehn Prozent Staatsangehörige sind. Oder für Touristen. Es geht um die Positionierung des Emirats in der Region, in der Welt. So wehrt Sheikha Al Mayassa bint Hamad bin Khalifa Al Thani im E­MailInterview auch die Frage ab, ob sich das kleine Emirat mit der Museumspolitik im Konkurrenzkampf mit den Nachbarn befinde. «Eines der Hauptziele der Katar­Museen ist die Förderung des gegen­

seitigen Verständnisses und der Zusammenarbeit über Grenzen hinweg durch kulturellen Austausch», erklärt sie. Und formuliert vorsichtig: «Wir sind auf jeden Fall offen für die Erkundung der Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit Institutionen in der Golfregion.» 1983 geboren, ist sie die Schwester des herrschenden Emirs von Katar. 2013 wurde sie von «Art Review» auf Platz eins der mächtigsten Menschen in der Kunstwelt gewählt. Denn als Vorsitzende der Qatar Museums ist sie Herrin über gewaltige Ankaufssummen für den Aufbau der Museumssammlungen; 2013 war die Rede von 600 Millionen Pfund jährlich.

Wie hoch der Kulturetat genau ist, will niemand verraten. Aber man kann die Dimensionen erahnen, wenn man das Museum of Islamic Art (MIA) besucht. Für diesen ikonischen Bau am Ende einer langen Anfahrtsrampe liess sich der Architekt I. P. Mei von einer Moschee inspirieren. Im hellen Sonnenlicht

erstrahlen die ineinander verschachtelten Kuben wie eine magische Erscheinung. 2008 eröffnet, ist es die Flagship­Institution der ersten «Vision 2030»­Phase, wie Al Mayassa es nennt. Hier wird «Katars Geschichte und Kultur reflektiert und erforscht». Das überzeugt angesichts der beeindruckenden, seit Ende der 1990erJahre aufgebauten, teils aus Besitz der Herrscherfamilie stammenden permanenten Sammlung. Aber wie passt die Sonderausstellung mit Textilien der iranischen Safawiden dazu, die gerade im Erdgeschoss läuft? Diese Herrscherdynastie regierte von 1601 bis 1722 und gilt als Basis des heutigen iranischen Staates. Im schonenden Halbdunkel sehen wir die historischen Gewänder und Teppiche, die mit zarten Blumenmotiven verziert sind. Spiegelt diese Ausstellung die Austausch­und­Dialog­Politik Katars wider? «Nein», widerspricht MIA­Direktorin Sheika Nasser Al­Nassr im Gespräch in der riesigen Eingangshalle. Sie trägt

ihre elegante Abaya offen, darunter eine weisse Bluse und einen Dior­Gürtel. Solche Überkleider plus Kopftuch sind hier keine Pflicht, sondern eine freiwillige Entscheidung, um die Tradition zu betonen. Sämtliche Objekte seien aus der Sammlung des Hauses – wie überhaupt die grossen Ausstellungen des MIA nur aus den eigenen Beständen heraus entstehen würden, wehrt sie die politische Implikation entschieden ab.

Kultureller Austausch

Wenige Meter vom MIA entfernt steht Al Riwaq, ein riesiger, schmuckloser Kasten. Hier liefen schon Blockbuster­Ausstellungen von Jeff Koons oder Damien Hirst – von beiden stehen auch grosse Skulpturen im öffentlichen Raum in Doha: Koons’ riesiges, schillerndes Seeschwein nahe der Corniche und Hirsts 14 Bronzeskulpturen, die die Entwicklung eines Embryos zeigen, vor einer Klinik. In Al Riwaq fand zuletzt eine viel beachtete Doppelschau von Donald Judd und Dan Flavin statt. Aber wie passen solche westlichen Künstler in das Programm der regionalen Verankerung? Seit 2015 ruft Katar jährlich ein «Year of Culture» aus. Es ist eine Mischung aus politischen und wirtschaftlichen Interessen und findet unter dem Slogan «Kultureller Austausch und Dialog» statt – auch ein immer wiederkehrendes Mantra der Kulturpolitik. 2021 waren die USA Teil dieses Programms. Kuratiert wurde die Judd/FlavinSchau von Michael Govan, Direktor des LACMA in Los Angeles. Er wollte hier zeigen, «dass Flavin und Judd nicht dem Minimalismus, sondern einem Maximalismus zuzuordnen sind», wie er damals bei einem Rundgang durch die hohen Hallen erklärte.

Pipilotti Rist in Doha

Govan ist nicht der einzige Museumsdirektor, der hier schon lange im kulturellen Austausch steht. Auch Massimiliano Gioni arbeitet seit 12 Jahren mit den Katar­Museen zusammen. Gioni ist künstlerischer Direktor des New Museum in New York und verantwortete jüngst die grosse Pipilotti­RistSchau in Doha. Nach dem Ankauf einer raumgreifenden Installation von Rist für das Qatar National Museum habe es den Wunsch nach einer eigenen Schau zur Schweizer Künstlerin gegeben. Mit Rists «Electric Idyll» sei die zur Kunsthalle umgebaute «Fire Station» in ein «weiches Gebäude» verwandelt worden. Mit solchem internationalen Austausch befinde man sich schon in der dritten Phase, erklärt Al Mayassa. In der zweiten Phase war es um «menschliche und soziale Entwicklung» gegangen, die mit dem 3­2­1 Qatar Olympic und Sport Museum bereits abgeschlossen ist. Zur aktuellen Phase gehört auch das gerade entstehende Art Mill Museum, «unser vollständig internationales Museum», wie sie es nennt, das «auch Raum für ein Kreativdorf bietet». Denn Katars Ziel sei es, ein «kulturelles Eco­System» aufzubauen, betont sie.

Auch Design eignet sich perfekt dafür, regionale Verankerung und Innovationen zu verbinden. Die Design Biennale ist Katars neuester Schritt auf dem Weg in eine «neue Gesellschaft», wie es in der «Vision 2030» heisst. Und das Interesse sei gross, sagt Ghada Al Kahter. Sie ist traditionell gekleidet, obwohl sie in ihrer Position als Ko­Kuratorin für Austausch und für das neue Katar steht – Tradition und Innovation sind hier kein Gegensatz, das ist immer wieder zu spüren. Ghada Al Kahter sieht einen «Hunger nach Kunst und Design». Und spricht sogar von einer «Mini­Renaissance»: «Design war immer Teil unserer Gesellschaft und wird jetzt wieder wichtig.»

Montag, 10. Juni 2024 Art Basel 15 NZZ-Schwerpunkt
Rendering des Art Mill Museum. 2030 sollen die umgebauten Türme der ehemaligen Getreidemühle eröffnen. QATAR MUSEUMS Pipilotti Rist: «Electric Idyll». PROLITTERIS, COURTESY OF THE ARTIST, HAUSER & WIRTH AND LUHRING AUGUSTINE/QATAR MUSEUMS

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Exklusive Spiegel-Siebdrucke von Pamela Rosenkranz

Für die NZZ kreierte Pamela Rosenkranz 30 serielle Unikate als Siebdruck-Edition auf Spiegel. Im Studio wählte die Künstlerin verschiedene Farbtöne, die im Siebdruckverfahren von Hand auf die Spiegel appliziert wurden und dadurch unterschiedliche malerische Spuren tragen. In Plexiglas gerahmt, erscheint die Spiegelarbeit schwebend, was ihren ephemeren Charakter unterstreicht. Die Edition reiht sich ein in Rosenkranz’ Malerei auf Spiegeln und ihrer künstlerischen Arbeit an der Schnittstelle von Natur und Kultur. Sie wendet die japanische Kirigami-Schnitttechnik an, um filigrane Papierarbeiten zu schaffen, die Musterungen von Reptilien und Fischen zur Grundlage haben. Diese Muster, die das menschliche Auge aus evolutionärer Konditionierung sofort verortet, übertragen sich hier auf die Spiegel, in denen wir uns durch die Reproduktion der Natur wiedererkennen.

Pamela Rosenkranz (* 1979 in Uri) schafft Skulpturen, Gemälde, Arbeiten auf Papier, Videos und Installationen. Rosenkranz untersucht Systeme, mit denen der Mensch der natürlichen Welt Bedeutung verleiht, und reflektiert über unser Bedürfnis, Metaphern zu konstruieren, um uns in unserer Lebenswelt zurechtzufinden. Ihre Arbeiten greifen das Internet-getriebene Denken ihrer Generation auf, indem sie auf Themen Bezug nimmt, die uns in der Bilder- und Informationsflut des Alltags begegnen, und schafft Verbindungen, die uns unerwartete Zusammenhänge zwischen Objekten und Ideen erkennen lassen. 2015 wurde ihr Projekt «Our Product» ausgewählt, um die Schweiz auf der 56. Biennale in Venedig zu vertreten. Ihre Arbeiten werden in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen präsentiert und befinden sich in öffentlichen und privaten Sammlungen.

Kunst

Kunst ist ein bewegliches Medium –und sie bewegt sich mit der Gesellschaft. Sie nimmt wie ein Seismograf die Schwingungen auf, die zwischen den Menschen und der Welt spürbar sind. Manche dieser Schwingungen sind bewusst wahrnehmbar, andere arbeiten im Untergrund. Die Kunst aber hat die einzigartige Fähigkeit, das Verborgene sichtbar zu machen. Ohne jedes Bedenken geht sie intuitiv vor und zeigt, was aktuell im Gange ist: das Krasse und Erschreckende ebenso wie das Hoffnungsvolle und Schöne. Dass Kunst ein Indikator für die neuesten Tendenzen der Gegenwart ist, gilt weltweit – und zwar vor allem in ihrer käuflichen Erscheinung: Messen und Galerien sind die Plattformen der aktuellen Kunst – wo sonst ist man so bemüht, das Neueste greifbar vorzuführen. Anders als Museen und Kunsthallen, die meist schwerfälliger auf das reagieren, was in der Kunst gerade geschieht, ist der Kunstmarkt durchlässiger. Globaler Austausch und gesellschaftliche Vorgänge zeichnen sich ab, Künstler schauen in fremde Regionen und nehmen neue Impulse auf.

So ist es kein Wunder, dass Lee Cavaliere, der neue künstlerische Leiter der Basler Kunstmesse Volta, in seinem Messekonzept die Welt abbilden will: Rund 50 Galerien aus 27 Ländern präsentieren Kunst aus Europa, Asien, Afrika, Nord­ und Südamerika. Das ist mehr und internationaler als in allen Jahren zuvor – seit der Gründung der Volta 2005. Dabei wurden von Cavaliere auch Aussteller aus bisher unterrepräsentierten Regionen in den Blick genommen, zum Beispiel Galerien aus Nigeria oder Thailand. Seine Mission ist, sich mit neuen Erzählungen über die Homogenität der Kunstwelt hinwegzusetzen: «Wir leben in einer anderen Welt als noch vor ein paar Jahren.» Damit hat er zweifellos recht. Kriege und Umweltkrisen, angesichts derer der Einschnitt der Pandemie fast marginal erscheint, prägen das Weltgeschehen und werfen ihre Schatten auch über das Kunstschaffen. In einer unruhigen Zeit wie heute, die manchmal schon dystopische Formen annimmt, können Künstler gar nicht anders als reagieren. Man darf also gespannt sein, wenn man den Eingang der Volta betritt. Allerdings ist sie nicht die einzige Messe, die sich gezielt international aufstellt. Die Art Basel unmittelbar nebenan im Messeareal erscheint dabei wie eine grosse Schwester, der sich die Volta nähern und von der sie sich eben auch absetzen will.

Viel Kunst von Frauen

Als die Volta gegründet wurde, gab es in Basel neben der Art Basel nur die Liste im hoffnungslos überfüllten Warteckareal, wo junge und unbekannte Galerien ausstellen konnten. Eine gute Plattform für das mittlere Segment, dem doch die meisten Galerien angehören, fehlte. Das war die Chance der Volta, der Nebenmesse mit klangvollem, elektrisierendem Namen. Hierher konnten die Käufer und Sammler kommen, die mit den grossen Playern der Art nicht mitbieten konnten.

Selbstverständlich wollte die Volta von den Synergien mit der Art Basel profitieren. Doch sie wollte rauer und näher an der Szene sein, auch der nicht so feine Geschmack bekam hier eine Chance. Manchmal zwar geschmäht, hat sich die Volta bis heute ein eigenes Gesicht bewahrt.

In ihren Anfängen hiess das Motto der Volta: «Entdecken. Verbinden. Sammeln». Das heisst: Man kann Überraschungen erleben und Funde machen. Und tatsächlich: Auch die grosse Kunst ist einmal klein gewesen. Bis heute wirbt die Volta mit ihrem Image als Entdeckermesse. Galeristen und Sammler suchen hier gezielt das Terrain nach junger Kunst ab. Hinzu kommt, dass Käufer heute sprunghafter geworden sind, sie wenden sich schnell ab, lassen sich aber auch inspirieren. Kunstkenner wissen, dass Innovation eigentlich immer aus der Szene kommt. Die Art Basel gibt sich damit nicht ab, sie hat nur den ganz grossen Markt im Blick. Doch auch ein Basquiat ist von der Strasse gekommen.

Ein wichtiger Fokus der diesjährigen Volta ist wie von selbst entstan­

Innovative Kunst entsteht in der Szene

Messen und Galerien sind die Plattformen der aktuellen Kunstproduktion. Hier ist das Neuste greifbar. Die Basler Kunstmesse Volta ist die Messe der Entdeckungen. Denn sie ist nahe dran an der Szene.

den. Fast die Hälfte der gezeigten Galerien werden von Frauen geführt. Sie erleben einen kommerziellen Aufstieg in der Szene. Manche Galeristinnen vertreten sogar ausschliesslich weibliche Kunstschaffende. Wie in den Museen und im Markt überhaupt sehen sie die Lücke: Noch immer gibt es viel zu wenig Künstlerinnen, die sich neben ihren männlichen Kollegen behaupten. Doch diese Lücke hat eine gewisse Sogwirkung. Künstlerinnen treten hervor und haben den Mut, sich so zu zeigen, wie sie sind: verletzbar, verspielt, unheroisch. Dass sie ein neues Segment begründen, wird an der Volta sichtbar.

Auch ein Basquiat ist von der Strasse gekommen.

Schweizer Kunst

Bei vielen Galerien aus Asien, Amerika und Deutschland ist der Anteil der Künstlerinnen an der Volta hoch. Die internationale Schau lässt allerdings die Schweiz nahezu aus dem Blick. Immerhin ist die Messe in Basel beheimatet. Allein drei Schweizer Galerien sind vertreten, Lechbinska aus Zürich, Katapult und Artstübli aus Basel. Die beiden Letzteren können immerhin den Vorteil ihres Standorts ausspielen. Sie zeigen ihre Künstler gleich zweimal: an der Messe selber im Basler Klybeck­Quartier und in den eigenen Galerieräumen. Und beide Galerien sind markant genug, um im internationalen Kunstparcours aufzufallen. Diana Vogel ist seit 2014 im Team der Galerie Katapult und leitet sie seit zwei Jahren. Ihre Ausstellung an der

Volta hat sie mit vier Frauen und einem Mann gestaltet: Die Bilder der Basler Künstlerinnen Simone Tiele und Heike Müller sind Gegensätze. Die eine setzt Farben wie schwere Blöcke gegeneinander, die andere hält Familien und Freunde als glückliche Erinnerungen fest. Mit den Büsten der Italienerin Monika Vaccari kommt ein surreales Element hinzu. Bei ihr wird die klassische Form des plastischen Porträts zum Ausgang von Träumen eines weiblichen Ichs: Schmetterlinge, Blumen, Schlangen bilden die Häupter, eigene Wesen, die sich zu bewegen scheinen. Prozentual vertritt Diana Vogel zu etwas mehr als der Hälfte weibliche Kunstschaffende. Sie stellt sie nicht nur aus, sondern fördert sie gezielt durch Beratung und Marketing. «Frauen sind zu bescheiden. Sie müssen lernen, herauszutreten aus ihrer Verborgenheit, die immer auch eine Komfortzone ist.»

Die leitende Idee der Galeristin ist, ihren Künstlerinnen eine Entwicklung zu ermöglichen. Solche Betreuung ist in heutiger Zeit, wo das Verkaufsinteresse dominiert, nicht selbstverständlich. Doch das Engagement lohnt sich. Denn Kunst braucht nicht nur Freiheit, sondern auch Vertrauen, dass sie bestehen kann. Mit der Förderung der Künstlerinnen wird Neues sichtbar. Ein ungewöhnliches und für Basler Galerien einzigartiges Konzept hat auch Philipp Brogli. Er leitet die Galerie Artstübli, die in einem Nebenbau der denkmalgeschützten Markthalle am Bahnhof SBB beheimatet ist. Der Name, der einen klassischen Beizenstuhl als Logo führt, steht nicht etwa für Gemütlichkeit, wie man denken könnte. Er ist auf subversive Weise ein Bild für das Studio der Urban­ArtKünstler. So bringt der Galerist denn auch mit Simon Berger und Stefan Winterle zwei Künstler an die Volta, die mit dem Stadtraum und der Wahrnehmung des Betrachters arbeiten. Quader aus rohem Beton mit aufgesprayten Schablonenmotiven – an diversen Orten in Basel zu finden –sind das Alleinstellungsmerkmal von Stefan Winterle. Simon Berger schichtet Türme aus Verbundglas auf. Erst aus der Entfernung erkennt man die Gesichter, die der Künstler mit gezielten Hammerschlägen ins Glas zeichnet. Es ist Kunst, die mit klassischen Sammlervorstellungen nicht kompatibel ist. Sie auszustellen – dazu braucht man Mut und die Offenheit zum Experiment. Zum Konzept der Galerien Katapult und Artstübli gehört die Ausstellung regionaler Kunst. Hier wäre an der diesjährigen Volta etwas nachzuholen. Ihr Konzept will ein Bild der Welt im Messeformat entwerfen. Das Potenzial des Standorts Basel kommt dabei zu kurz. Im grossen Fächer des Internationalen sollte auch dieses Segment vermehrt präsent sein. Innovative Kunst kann man vielleicht gerade hier entdecken.

Volta Basel: Klybeck 610, Gärtnerstrasse 2, 4057 Basel; bis 16. Juni 2024.

Montag, 10. Juni 2024 Art Basel 17 NZZ-Schwerpunkt
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Werk des Schweizer Künstlers Simon Berger, 2024 . GALERIE ARTSTÜBLI/SIMON BERGER Stefan Winterle: «Laundry Day», 2024. GALERIE
Du gehörst ins Museum. 60 Museen – so vielfältig wie die Menschen unserer Stadt . zuercher-museen.ch M u s e u m f ü r G e s t a t u n g Z ü r c h

«Ich kaufe nach Bauchgefühl und Farben»

Das erste Museum in Deutschland für ausschliesslich abstrakte Kunst steht kurz vor der Eröffnung: das Museum Reinhard Ernst in Wiesbaden.

MINH AN SZABÓ DE BUCS

«Ich sammle abstrakte Kunst, weil es einem die Freiheit gibt, zu sehen, was man will.» Das sagt der Unternehmer Reinhard Ernst, dessen Privatmuseum am 26. Juni in Wiesbaden seine Pforten öffnet. Es wird das erste Museum in Deutschland sein, das ausschliesslich abstrakte Kunst ausstellt. Schwer zu glauben, dass solch ein Konzept bisher nicht existiert.

Reinhard Ernst ist spät zur Kunst gekommen, erst mit 40 Jahren. Die Eröffnung des Picasso­Museums in Paris 1985 war der Schlüsselmoment in seinem Leben. Der unkonventionelle Umgang Picassos mit Formen und Farben hatte ihn fasziniert. Fortan suchte er nach künstlerischem Ausdruck, der «seinem Bauchgefühl» nachkommt, wie er sich ausdrückt. Er fand ihn in den abstrakten Werken der französischen und deutschen Informel­Künstler wie Wols, Georges Mathieu und K.O. Götz. Aber auch die Arbeiten der Gruppe Zero, darunter Otto Piene und Günther Uecker, vermochten ihn zu berühren. Seine vielen Geschäftsreisen brachten ihn sowohl in die USA als auch nach Japan. Es war eine logische Folge, dass ihn die Arbeiten der Abstrakten Expressionisten wie Morris Louis, Robert Motherwell, Willem de Kooning und insbesondere Helen Frankenthaler anzogen. Von Frankenthaler besitzt er heute über 40 Werke und nennt damit die weltweit grösste private Sammlung von ihr sein Eigen. «Sie ist neben Lee Krasner eine der wenigen Frauen im amerikanischen abstrakten Expressionismus. Aber vor allem liebe ich ihre grossen Formate und wie sie mit ihrer Farbfeldmalerei Sachen machen kann, die noch keiner gemacht hat.»

Farben, die verzaubern

Grosse Formate und die Befreiung der Farbe sind zwei Konstanten, die sich durch Ernsts ganze Sammlung ziehen. Farben, die ohne Umrisslinien und Form auskommen, die unabhängig und eigenständig agieren und den Raum erfüllen. Farben, die zum Teil mit Händen, dem ganzen Körper, einem Spaten, mit Nägeln, Stöcken oder Eimern verteilt, geschüttet oder geworfen werden. Und schliesslich Farben, die strahlen, leuchten und verzaubern. Viele der so entstandenen Werke wurden in den Fünfzigerjahren geschaffen, als die Künstler unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs einen radikalen Neuanfang suchten. Die Sprachlosigkeit und die Wut dieser Generation brachen sich Bahn in Zufall, Radikalität und Chaos als Gegenentwurf zur regelhörigen Ordnung des Militarismus der vorangegangenen Jahrzehnte. Auch der Akt des Kunstschaffens wurde in jener Zeit transformiert. Ein körperliches Aus­sich­Heraustreten im Schaffensakt rückte an die Stelle akademischer Disziplin und Kunstfertigkeit. All das war Voraussetzung, um reine Farbe in dieser befreiten Art einsetzen zu können.

Neben Kunst aus den USA und Europa bilden Werke aus Japan den dritten Schwerpunkt der Sammlung. Ernst besitzt die meisten Arbeiten der japanischen Gutai­Gruppe in Deutschland. Diese Künstlergruppe fand erst in den letzten zehn Jahren internationale Beachtung. Als Ernst in den Siebziger­

und Achtzigerjahren mit dieser Kunst in Berührung kam, war Gutai selbst in Japan relativ unbekannt. Als er diese eruptiven, kraftvollen Bilder zu Gesicht bekam, kaufte er, ohne jemals irgendetwas von Gutai gehört zu haben. «Ich kaufe nicht nach Namen», sagt Ernst. Bei Kazuo Shiraga zum Beispiel fasziniere ihn, welch akrobatischen Verrenkungen der Künstler vollführte, um am Seil hängend mit den Füssen auf die liegende Leinwand zu malen. «Und die Farbkombination von Shiraga! Wer wagt es sonst, Braun neben Gelb mit ein bisschen Rot zu kombinieren?»

Die Gutai­Gruppe wurde 1954 von Yoshihara Jiro gegründet, aus einem verwandten Gefühl der bleiernen Nachkriegszeit heraus wie in Europa.

Die Gutai gelten heute als die ersten Künstler, die spektakuläre KunstHappenings abhielten, ehe es diesen Begriff dafür überhaupt gab. Sie malten mit ganzem Körpereinsatz, wälzten sich im Schlamm oder warfen mit Farbe gefüllte Flaschen gegen die Leinwand, sodass sich Glassplitter mit Farbe zu einem eruptiven Bild vermengten.

Ein weisser Kubus

Nach Japan kam Ernst zunächst aus Geschäftsgründen, doch inzwischen hat er viele Freundschaften geschlossen und seine Liebe zu Sushi entdeckt. Er behauptet von sich, die japanische Mentalität schon ganz gut zu verstehen. «Ich habe in Japan gelernt, erst einmal zuzuhören, zu warten, nicht zu direkt zu sein und erst einmal gemeinsam zu essen.» Mit dem Architekten und PritzkerPreisträger Fumihiko Maki ist er seit über 30 Jahren befreundet. An Makis Bauten schätzt Ernst vor allem die Schlichtheit, Eleganz und Zweckmässigkeit. Für ihn war sofort klar, dass Fumihiko Maki sein Museum bauen soll, das seine über 960 Kunstwerke grosse Sammlung in Wiesbaden beherbergen wird. Maki hat in Deutschland bisher keine Bauten realisiert, sie sind in Tokio, New York, Toronto, London und anderen Städten zu finden. Das Museum Reinhard Ernst ist sein insgesamt zehnter Museumsbau, womit der 96­jährige Maki sein Lebensziel erreicht hat: Er wollte zehn Museen bauen.

Das mre – so die Abkürzung des Museums Reinhard Ernst – trägt Makis Handschrift: auf den ersten Blick unauffällig und schlicht, auf den zweiten Blick subtil elegant – und auf den dritten Blick extrem raffiniert und philanthropisch. Die Wiesbadener nennen das Museum schon jetzt vor der Eröffnung liebevoll den «Zuckerwürfel» aufgrund der weissen, porösen Granitsteinfassade und der Kubusform. Das Gebäude fügt sich unaufgeregt in den historischen Kontext der Wilhelmstrasse ein, die gesäumt ist von Gründerzeitgebäuden. Die Regenrinnen wurden aufwendig hinter die Fassade verlegt, sodass der weisse Kubus sauber mit dem blauen Himmel abschliesst. Von aussen wirkt das Museum selbst wie ein abstraktes, geometrisches Bild von Josef Albers. Das Innere ist lichtdurchflutet, aber ohne direkte Sonneneinstrahlung. Stattdessen lässt der Architekt «geliehenes» Licht durch das Atrium in der Mitte des Hauses einfliessen. Im Atrium ist ein Steingarten im Stil der Tsubo­Niwa –kleiner japanischer Innengärten – angelegt. Geometrische Steinformationen

Die Förderung der Kinder liegt Reinhard Ernst besonders am Herzen.

treffen hier auf organische Elemente wie einen Ahornbaum oder eine Skulptur von Eduardo Chillida. Der zweistöckige Bau verfügt insgesamt über 9700 Quadratmeter Fläche, wovon 2500 Quadratmeter für Ausstellungen genutzt werden, die sich über neun Räume erstrecken. Der Boden im Erdgeschoss nimmt die Gehwegplatten vom Bürgersteig auf und verbindet so Innen mit Aussen. In den Ausstellungsräumen sind die Böden dagegen mit dunklen Eichendielen ausgelegt und die Wände mit einem speziellen Akustikvlies belegt, was den Hall reduziert und ein wohliges Raumgefühl erzeugt. Überall laden Sitzgelegenheiten zum Verweilen ein. Kunst findet man auch im Foyer und im Treppenbereich, wie etwa ein über sechs Meter hohes Skulpturenpaar von Tony Cragg. Der eindrucks­

vollste Ausstellungssaal ist eine 14 Meter hohe «Kathedrale», die sogar über einen kleinen Glasbalkon von oben erlebbar ist. Hier sind die grossformatigen Amerikaner ausgestellt, allen voran Helen Frankenthaler. Das Raumkonzept folgt jedoch keiner geografischen Ordnung, vielmehr bestimmen die Art des Malens und die Farben die Zusammensetzung. So hängt neben dem Japaner Inoue Yuichi ein Werk von Robert Motherwell oder neben Katharina Grosse eine Arbeit von Toshimitsu Imai. Das kuratorische Konzept geht auf: Die Gegenüberstellung von östlichen und westlichen Künstlern verdeutlicht eindrücklich die gegenseitige Beeinflussung über Zeiten und Kulturen hinweg.

Kunst für Kinder

Für den Eigentümer ist auf jeden Fall ein Traum in Erfüllung gegangen: «Nachdem wir fast fünf Jahre lang gebaut haben, ist es jetzt ein fast erhabenes Gefühl, durch das fertige Museum zu gehen.» Doch der Bau, so Reinhard Ernst, war eine grosse Herausforderung, baulich wie auch finanziell. Ursprünglich waren 80 Millionen Euro veranschlagt, die aber mittlerweile weit überschritten sind. Am Ende soll sich das Museum finanziell selbst tragen können. Das Grundstück wurde für 99 Jahre für eine symbolische Summe von der Stadt gepachtet, aber die Baukosten und den jährlichen Betrieb von geschätzten drei Millionen Euro trägt die Stiftung Reinhard und Sonja Ernst selber – ohne staatliche Zuschüsse.

All das kann sich Reinhard Ernst nur leisten, weil er Wagnisse einging.

Er kaufte eine mittelständische Firma, in der er Mitarbeiter war, und entwickelte sie erfolgreich. Sein Unternehmen «Harmonic Drive» stellt Hochpräzisionsantriebe her, deren Komponenten er anfangs in Japan fertigen liess. Mit der Zeit verfeinerte und verbesserte er die Technologie und verlagerte die Produktion nach Limburg. Heute ist sein Unternehmen Weltmarktführer in diesem Bereich. Die Antriebe kommen in Industrierobotern, Medizintechnik, Luftraumfahrt, Prothesen und Werkzeugmaschinen zum Einsatz.

Vor einigen Jahren hat Reinhard Ernst seine Firmen für 160 Millionen Euro verkauft, einen Grossteil hat er über seine gemeinsame Stiftung mit seiner Frau in das neue Museum gesteckt. Doch die Stiftung unterstützt auch andere soziale Projekte, wie etwa die Musikschule für Kinder in Epstein oder das «Haus der Hoffnung» in Natori, Japan, einer Begegnungsstätte für Kinder und ältere Menschen nach dem verheerenden Tsunami 2011. Die Förderung der Kinder liegt Ernst besonders am Herzen – vielleicht weil er und seine Frau Sonja keine eigenen haben. Reinhard Ernst ist überzeugt, «dass Musik und Kunst etwas bewegen können». Von beidem habe er als Kind nie etwas erfahren dürfen. Beides wolle er nun den Kindern unserer Zeit über seine «Community Buildings» geben.

Und dazu gehört auch das neue Museum, das im Erdgeschoss einen grossen Raum für Bildungsarbeit reserviert hat, das so genannte Farblabor. «Kinder an abstrakte Kunst heranführen, ihre Kreativität wecken. Das ist der Kerngedanke des Museums.»

Montag, 10. Juni 2024 Art Basel 19 NZZ-Schwerpunkt
Grosse Formate und starke Farben – wie hier das Bild von Katharina Grosse – sind Konstanten in Ernsts Sammlung. MARTIN URL Kinder an abstrakte Kunst heranzuführen ist der Kerngedanke des Museums. ROBERT LICHTENBERG

Jazzanova LEE RITENOUR & DAVE GRUSIN

ANDREA MOTIS Delvon Lamarr Organ Trio

Cécile McLorin Salvant MARCUS MILLER Somi

JAZZRAUSCH BIG BAND Pippo Polina

RICHARD GALLIANO Erika Stucky HIROMI

Veronica Swift MORCHEEBA Dana Masters

POTTER, MEHLDAU, PATITUCCI, BLAKE

Helge Schneider MEZZOFORTE and many more …

4.– 28. JULI 2024

host main partners partners main media partners FESTIVALDAJAZZ.CH

ANDREAS RITTER, ALINE CAMIN

In einer neuen Studie der Schweizer Kunstversicherung Chubb wurden 800 Sammler zu ihren Sammlungen und den damit verbundenen Sorgen befragt. Während die meisten angaben, dass sie Kunst, Schmuck, Autos, Wein und andere Wertgegenstände als reine Herzensangelegenheit sammelten, gab deutlich mehr als ein Drittel zu verstehen, dass das Sammeln dieser Objekte auch eine Investition sei. Damit bestätigt sich: Der Archetypus des Sammlers wandelt sich seit Jahren in Richtung Investor, womit das Interesse an einer Wertentwicklung immer mehr in den Vordergrund rückt. Und damit einhergehend die Sorge um einen Verlust.

Nach wie vor stellen zwar banale Vorfälle wie das Verschütten von Rotwein oder der unbeabsichtigte Stoss eines Ellbogens in ein Gemälde während einer Cocktailparty die häufigsten Gründe für Schadenersatzansprüche dar. Befragt nach den grössten Risiken für ihre Sammlung jedoch, sehen die meisten diese in Fälschungen, in unsicheren Provenienzen und in Betrug.

Nicht alles lässt sich versichern

Dennoch werden im Eifer um ein vorteilhaftes Geschäft noch immer elementare Sorgfaltspflichten seitens der Sammler beiseite gelassen. Der erfolgreiche Unternehmer, der, sekundiert von einem Heer von Anwälten und Beratern, sein Geschäft gewinnbringend verkaufte, ist in seiner zweiten Karriere als Kunstsammler stolz darauf, Kunstankäufe – auch im Millionenbereich –selber und ohne Beizug von Experten zu tätigen. Man kennt sich, ist befreundet und baut auf Vertrauen.

Die Fälle indessen mehren sich, die klar aufzeigen, dass Freundschaft und Vertrauen bei weitem nicht vor Betrug schützen. Denn anders als bei einer Beschädigung von Kunstwerken beim Transport lösen solche Schadensfälle keine Versicherungsansprüche aus, selbst wenn eine Kunstversicherung abgeschlossen wurde: Fälle von Fälschungen, Restitutionsansprüchen und Betrugsfälle beim Erwerb von Kunst sind kaum versicherbar.

Versuche, eine sogenannte Title Insurance nach US­amerikanischem Vorbild in Europa einzuführen, die den Erwerber eines Kunstwerks schützt, haben sich hierzulande als nicht erfolgreich erwiesen.

Zwar können Versicherungspolicen die Anwaltskosten für die Verteidigung des Eigentumsrechts decken, bieten aber keinen Schutz bei Betrug. Stellt sich heraus, dass ein Werk gefälscht oder gestohlen ist und zurückgegeben werden muss, erleidet der Sammler einen Totalverlust.

Falsche Freunde

Die Gerichtsfälle um die Kunstberater Helge Achenbach und Yves Bouvier, der eigentlich Lagerhalter ist, sind dem Markt noch bestens bekannt. Beide berieten vermögende Privatsammler, es vermischte sich professionelle Beratung mit Freundschaft, schriftliche Abmachungen wurden kaum getroffen, alle Kaufgeschäfte basierten auf «Vertrauen», das dann in der Folge allerdings arg enttäuscht wurde. Der eine (Achenbach) wurde rechtskräftig verurteilt, der andere (Bouvier) nicht, beide sind heute wieder im Kunstmarkt unterwegs, wenn auch teils in anderen Rollen. Der britische Kunsthändler Inigo Philbrick hat eben vier seiner sieben Jahre Haft abgesessen und konnte das Gefängnis verlassen. Er will nach eigenen Aussagen wieder in die Kunstberatung einsteigen, um die Schulden aus seinen Betrügereien (er hatte unter anderem dasselbe hochpreisige Werk gleich an mehrere seiner Kunden verkauft) abzuzahlen – und ist guten Mutes, dass er wieder Kunden und Werke findet.

Währenddessen ist der Fall der USamerikanischen Art­Advisorin Lisa Schiff noch nicht verhandelt. Ihr wird, ganz ähnlich wie Philbrick, vorgeworfen, das Vertrauen ihrer Kunden missbraucht zu haben, indem sie mit den eingebrachten Verkaufpreisen der ihr anvertrauten Werke ihren aufwendigen Lebensstil finanzierte. Eine der Gemeinsamkeiten dieser Fälle ist die Leichtgläu­

Von der Mär des unregulierten Kunstmarkts

Kunstkäufe basieren noch immer allzu oft auf blossem Vertrauen. Geht etwas schief, beruft man sich gerne darauf, dass der Kunstmarkt ein noch immer rechtsfreier Raum sei.

bigkeit von Sammlern, sich und ihr Geld ohne klare Verträge einem vermeintlich erfolgreichen Berater anzuvertrauen. Geht das Abenteuer schief, dann wird reihum beklagt, der Kunstmarkt sei unreguliert – ein noch immer «rechtsfreier Raum» – und von dubiosen Geschäftspraktiken durchseucht. Der von Bouvier schwer enttäuschte Grosssammler Dmitry Rybolovlev hatte hierfür in diesem Frühling einen publikumswirksamen öffentlichen Prozess in New York angestrengt, konkret gegen das Auktionshaus Sotheby’s, um «opake Verhältnisse» des Marktes anzuprangern. Doch das wirkte fadenscheinig und dürfte in erster Linie mit dem gekränkten Ego des Geschädigten zu tun gehabt haben.

Richtig ist, dass der Kunstmarkt sehr wohl reguliert ist. Auf Verkäuferseite gibt es zahlreiche Regeln zu den Sorgfaltspflichten beim Verkauf und zu zunehmend rigideren Vorschriften bezüglich Kulturgutschutz. Auf Käuferseite sind die Geldwäschereibestimmungen über die letzten Jahre stetig verschärft worden. Selbst die immer zuerst am Pranger stehenden Zollfreilager werden reguliert – und von den Behörden kontrolliert.

Nebst Regulierung durch den Gesetzgeber ist der seriöse Kunsthändler Standesregeln unterworfen, sowohl denjenigen des Verbands, dem er angehört, als auch denjenigen der Messe, an der er teilnimmt. Bei Missachtung droht Ausschluss. Gerade die Art Basel war hier

angerichtet. Seither wird genauer hingeschaut, wird im hochpreisigen Sekundärmarkt kaum noch auf ein «Gefälligkeitsgutachten» gesetzt, sind Experten sehr viel vorsichtiger in ihrem Urteil geworden. Vor allem kommt auch den Künstlernachlässen ein immer grösseres Gewicht zu, wenn es um die Ausstellung von Authentifizierungszertifikaten verstorbener Künstler geht. Aktuelle Beispiele hierfür sind die ausgezeichnet geführten Nachlässe der italienischen Künstler Alighiero Boetti oder SALVO. Deren Preise haben in letzter Zeit stark angezogen, weshalb die Werke attraktiv für Fälscher geworden sind.

Neben der Einholung einer Expertenmeinung sind in Zweifelsfällen weitere Abklärungen unabdingbar: Hier können neben den klassischen kunsttechnologischen Untersuchungen neuerdings auch digitale Lösungen unter Einsatz von künstlicher Intelligenz helfen. Seriöse Prüfung der Echtheit eines Kaufgegenstands ist deshalb unter Einsatz der richtigen Mittel so gut möglich wie bis anhin nie in der Kunstgeschichte. Unverständlich deshalb, wenn der Kunstfälscher Beltracchi von den Medien bis heute wie ein Popstar hofiert wird, und nicht wie ein verurteilter Delinquent. Viel Neid und Schadenfreude spielt hier mit. Doch der Verweis auf den Kunstmarkt als rechtsfreien Raum ist auch hier falsch.

Historisch belastetes Kulturerbe War früher im Umfeld von Kunsttransaktionen während der Zeit des Zweiten Weltkriegs von Raubkunst die Rede und wurden diese Fälle hierzulande klar von Verkäufen als sogenanntes Fluchtgut unterschieden, so sind hier die Begrifflichkeiten im Verlaufe der letzten Jahre entscheidend erweitert worden: Anfang dieses Jahres hat die Schweiz eine Rechtsverordnung erlassen, die zum Ziel hat, eine unabhängige beratende Expertenkommission für historisch belastetes Kulturerbe einzusetzen. Neben NS­verfolgungsbedingt entzogener Kunst sind auch Kulturgüter aus kolonialem Kontext, die im Verdacht stehen, den Ursprungsgemeinschaften entwendet worden zu sein, im Fokus. Auch international tut sich in diesem weiten Bereich viel. Die nächsten Jahre dürften eine beträchtliche Zahl neuer Fälle zutage fördern. Standen bis anhin vor allem Museen im öffentlichen Fokus, so sind Kunstsammler (wie Händler) gut beraten, hier ihre Interessen frühzeitig in die Diskussion einzubringen. Rechtliche, vor allem aber moralische Beurteilungskriterien dürfen nicht einseitig und ohne einen sachlich begründeten Diskurs ständig ausgeweitet werden, sonst droht dem Privatsammler tatsächlich Ungemach. Damit nicht genug, wird auf Mitte 2025 in der EU doch ein nochmalig verschärftes Regime in Kraft gesetzt. Es sieht für Kunstwerke mit einem Alter von über 250 Jahren (oder über 200 Jahre mit einem Wert von über 18 000 Euro), die ausserhalb der EU geschaffen wurden und in die EU importiert werden sollen, zusätzlich zu den heute bereits geforderten Provenienzdokumenten eine Importbewilligung vor.

Droht ein Handelsverbot?

mit dem Erlass der «Art Market Principles» bereits im Jahr 2018 Vorreiterin. Der besorgte Sammler hat also durchaus die Wahl, wem er sich, sein Geld und seine Werke anvertraut.

Fälschungen im Umlauf

In den Fällen Beltracchi und Knoedler wurden zahlreiche Privatsammler geschädigt. Noch immer dürften in den damaligen strafrechtlichen Verfahren nicht entlarvte Werke aus diesen Fälscherwerkstätten im Umlauf sein. Es gibt Sammler, die deshalb noch heute zu Recht besorgt sind über die Echtheit ihrer Bestände. Darüber hinaus haben auch diese Fälle im gesamten Kunstmarkt massiven Reputationsschaden

Die Sorge geht um, dass dies den Handel mit Sammelobjekten wie Antiken, Antiquitäten, Asiatika oder Stammeskunst zum Erliegen bringen könnte. Aus einer sicherlich gut gemeinten Absicht, nämlich den illegalen Kulturgüterhandel insbesondere aus Kriegsgebieten weiter zu erschweren, droht ein faktisches Handelsverbot für die betroffenen Sammlungsgattungen zu werden. Fakt ist auch hier, dass für den Sammler die lückenlose Provenienz in Zukunft noch wichtiger werden wird, um den Wert seiner Werke zu schützen. Auch in diesen Bereichen ist der Kunstmarkt alles andere als unreguliert. Ganz im Gegenteil drohen zufolge Überregulierung ganze Sammelgebiete Schaden zu erleiden.

Andreas Ritter ist Anwalt für Kunstrecht in Zürich und Geschäftsführer des Verbands Kunstmarkt Schweiz, des Dachverbands für vier Kunsthandelsverbände; Aline Camin ist Substitutin bei Ritter und Partner Rechtsanwälte.

Montag, 10. Juni 2024 Art Basel 21 NZZ-Schwerpunkt
Werke wie «San Giorgio e il Drago» des italienischen Künstlers SALVO (1947–2015) sind bei Sammlern heiss begehrt. ARCHIVIO SALVO

GERHARD MACK

Er steht mit breiten Beinen sicher auf dem Boden, die Arme hat er locker an die Hüften gelegt. Sie stützt ihren linken Arm in die Seite und macht klar, dass ihr Wechsel von Stand­ und Spielbein keine Verlegenheit, sondern Leichtigkeit signalisiert. Entschlossen sind sie beide. Aber nicht so, dass sie ein Gegenüber herausfordern würden, sondern weil sie im Blick haben, was um sie herum geschieht, und wissen, dass sie das bewältigen können, auch wenn es Schwierigkeiten bringt. «Ich verstehe unter einem gelungenen Leben, nicht an Problemen oder Prüfungen zugrunde zu gehen oder ihnen zu viel Gewicht zu geben. Man muss als Mensch geerdet sein und Schwierigkeiten durchstehen können. Daran wächst man», sagt Stephan Balkenhol im Telefongespräch. Das türkisgrüne Kleid der Frau, die heute fast festtäglich wirkende Kombination aus weissem Hemd und schwarzer Hose des Mannes kann man durchaus als Hinweis darauf verstehen, dass seine Figuren diesen Lebensmut und diese Neugierde ausstrahlen.

Balkenhol hat die beiden Skulpturen für eine exklusive Kunstedition der NZZ geschaffen (siehe Kasten). Sie werden zusammen mit einer Ausstellung von Arbeiten des Künstlers in den Räumen der NZZ in Zürich zu sehen sein. Für ihn sind sie fast so etwas wie Archetypen von uns Menschen heute: Seine Skulpturen sind für ihn «Verallgemeinerungen des Persönlichen» und «Kürzel für die menschliche Existenz». Vielleicht sind sie das gerade deshalb, weil sie so zurückhaltend selbstbewusst und unaufdringlich, so unauffällig sind. Sie sind einfach da, so selbstverständlich wie die Natur da ist. Und sie sind so verletzlich wie wir. Das zeigen die Werkzeugspuren im Holz oder im Bronzeguss. Da können wir uns hineinfühlen und vielleicht auch ein Stück weit wiedererkennen.

Einer der eigenwilligsten Bildhauer der Gegenwart Dass das vielen so geht, darf man aus dem Erfolg des Künstlers schliessen. Balkenhol ist einer der eigenwilligsten und wichtigsten Bildhauer der Gegenwart. Er lehrte 30 Jahre als Professor an der Kunstakademie in Karlsruhe. Jetzt arbeitet er hauptsächlich in Kassel, Meisenthal (Frankreich) und Berlin. Seine Skulpturen wurden in grossen Museen von den USA bis nach Japan ausgestellt, seine Werke befinden sich in der Guggenheim Collection und anderen bedeutenden Sammlungen. Eine Reihe wichtiger Arbeiten steht im öffentlichen Raum, so etwa der Turm mit

Herausfinden, was uns Menschen heute ausmacht

Stephan Balkenhol ist ein deutscher Bildhauer von Weltrang. Seine Skulpturen laden die Betrachter ein, über sich selbst nachzudenken. Für die NZZ hat er nun eine eigene Kunstedition geschaffen.

vier Männern, die in verschiedene Richtungen schauen, beim Wolfsberg oberhalb des Bodensees. Obwohl er auch mit 67 Jahren noch immer arbeitet wie ein Berserker, sind Sammler froh, wenn sie ein Werk von ihm ergattern können. Denn sie wissen, die Nachfrage ist hoch, und wer eine Skulptur von ihm besitzt, möchte sich nicht so schnell wieder von ihr trennen, sie werden zu lieben Hausgenossen im Alltag. Den Erfolg hätte Stephan Balkenhol sich am Anfang seiner Karriere kaum träumen lassen. Er studierte beim Bildhauer Ulrich Rückriem, der dafür bekannt ist, dass er grosse Steinblöcke spaltet und damit öffentliche Räume strukturiert. Ganz wenige Setzungen genügten, weshalb man den Lehrer auch schnell der Minimal Art zuordnete. «Das stimmt eigentlich nicht», sagt Balkenhol, «denn der Stein ist ein natürliches und kein industrielles Material, wie bei der Minimal Art. Die Weise, wie die Spaltungen gemacht werden, stellt viele Bezüge her, auch im Hinblick auf die menschliche Figur: Sie tritt nicht mehr in Erscheinung, aber die Werke haben oft ein menschliches Mass und schaffen Räume für Menschen und ihre Vorstellungskraft.»

In dieser Situation Figuren ausgerechnet aus Holz zu hauen war nicht zeitgemäss, um das mindeste zu sagen, doch Rückriem unterstützte seinen Schüler und begleitete ihn mit kritischem Blick. Insbesondere brachte er ihn dazu, zu fragen, warum die bildende Kunst im 20. Jahrhundert darauf ver­

zichtete, Bilder vom Menschen zu entwerfen. Da war der junge Balkenhol vielleicht ähnlich isoliert wie der viel ältere Hans Josephsohn im Zürich der Konkreten. Inzwischen sieht man, dass einige der spannendsten Künstlerinnen und Künstler sich in etwa derselben Zeit auf die Suche nach einem zeitgemässen Menschenbild gemacht haben: Thomas Schütte, Katharina Fritsch, die ein paar Jahre älteren Schweizer Peter Fischli und David Weiss oder Cindy Sherman in den USA sind nur einige davon.

Ein Universum aus Tieren und Menschen geschaffen

Die Antwort auf diese Skepsis gegenüber der Darstellung des Menschen und seines Alltags liegt für Stephan Balkenhol im 19. Jahrhundert: «Kunst wurde schon im 19. Jahrhundert dazu benutzt, um anderes zu erzählen. Dabei wurde die Propaganda so wichtig, dass das künstlerische Element zu kurz kam. Als dann in den ersten Jahren des letzten Jahrhunderts der Kubismus aufkam, Kandinsky, der Blaue Reiter und Dada, war das eine Reaktion auf eine Gesellschaft, deren Vernunftglaube zerstörerisch wirkte. Künstler sahen, dass sie anders anfangen müssten, um eine neue Reinheit in die Form zurückzubringen. Das hat die Abstraktion und die Konkretion hervorgebracht.»

Er selbst hat inzwischen ein ganzes Universum aus Tieren und Menschen geschaffen. Männer und Frauen

ebenso wie Giraffen, Schnecken, Elefanten, Medusen oder einen Bären mit einer Goldkrone. Immer wieder begegnen uns Mischfiguren aus Tier und Mensch, wie ein Mann mit Stierkopf oder mit Engelsflügeln. Auf einem riesigen Stamm schauen zwei Tiger zu, wie der Bildhauer ihnen gerade ein weiteres Gspänli aus dem Holz haut. Seine Figuren blicken von Reliefs an der Wand oder wachsen direkt aus dem Stamm, einen eigenen Sockel hat er, wie Brancusi oder Judd, längst verabschiedet. Die Figuren werden bemalt, wie das seit Jahrtausenden in der Bildhauerei der Fall war, und erhalten dadurch eine besondere Nähe zur Realität, die bisweilen so gross ist, dass Passanten sie schon für lebende Menschen hielten. Der Künstler ist der Schöpfer einer eigenen Welt, die er in unsere hineingibt. «Als Künstler arbeitet man aus einem Mangelgefühl heraus. Was ich machen kann, gibt es ja noch nicht. Dadurch, dass ich etwas schaffe, füge ich das der Wirklichkeit hinzu», sagt er. 1991 hat er in einem Schaffensrausch 57 Pinguine geschaffen, weil er 1957 geboren ist. Sie weisen alle in eine andere Richtung. Kurz darauf entstanden zehn tanzende Paare. In beiden Fällen erfand er Gesten und Positionen, die sie uns immer anders sehen lassen und die den Raum stets neu strukturieren. Sie wenden sich einander zu oder voneinander weg, sie schauen stets aneinander vorbei. Sie besetzen Raum selbst dann, wenn sie winzig klein auf einem grossen

Skulptur soll den Ort schaffen, an dem sie steht, gerade wenn sie im öffentlichen Raum zu sehen ist.

Artist Talk am 19. Juni 2024

Interessierte Leserinnen sowie Leser sind herzlich zum Künstlergespräch mit Stephan Balkenhol und Gerhard Mack, Autor der «NZZ am Sonntag», eingeladen: Am Mittwoch, 19. Juni 2024, ab 18.00 Uhr im Foyer am Hauptsitz der NZZ an der Falkenstrasse 11 in Zürich. Neben der NZZ­Kunstedition «Frau & Mann» (2024) werden exklusiv neue Unikate des Künstlers ausgestellt, die ebenfalls zum Erwerb stehen. Teilnahme nur mit Anmeldung: +41 44 258 19 80, kunst@nzz.ch oder kunst.nzz.ch.

NZZ-Kunstedition «Frau & Mann»

Die von Stephan Balkenhol für die NZZ geschaffenen Skulpturen «Frau» (32 cm, 4 kg) und «Mann» (35 cm, 5 kg) bieten Sammlern die Chance auf eine Paarkonstellation ikonografischer Werke der Gegenwart. Jede Skulptur ist im klassischen und aufwendigen Verfahren eines Bronzegusses entstanden, durchlief zahlreiche Produktionsstufen und Veredelungsprozesse, um final von Balkenhol die klassische Bemalung zu erhalten und so zu einem einzigartigen Kunstwerk mit unikatärem Charakter zu werden. Die Skulpturen mit einer Auflage von je 100 Stück sind in der Bodenplatte nummeriert und signiert. Der Preis beträgt einzeln 8000 Franken, als Paar 15 000 Franken.

QR­Code scannen und mehr über die exklusive NZZ­Kunsteditionen erfahren shop.nzz.ch/nzz-kunst/

Sockel stehen, wie das auf andere Weise Alberto Giacometti getan hat. Skulptur soll den Ort schaffen, an dem sie steht, so Balkenhol, gerade wenn sie im öffentlichen Raum zu sehen ist. Dabei möchte er keine Denkmäler für sogenannte grosse Männer wie Politiker oder Geistesgrössen schaffen, sondern Menschen zeigen, wie wir selbst welche sind. Und er möchte jede Propaganda vermeiden. Als er ein Denkmal zu 20 Jahren Mauerfall schaffen sollte, erfand er einen Mann, der mit einem Fuss auf einem Stück Mauer balanciert. Das war ein genauso offenes Bild für die deutsche Gesellschaft wie sein Entwurf für ein Denkmal zur deutschen Einheit: Ein fünf Meter hoher Mann kniet, eine Demuts­, Dankes­ und – wenn man an Fussballer nach Toren denkt – Freudengeste zugleich. Das war den Verantwortlichen wohl zu offen, um realisiert zu werden.

Die Offenheit kennzeichnet auch die Skulpturen der NZZ­Kunstedition «Frau & Mann» (2024). Balkenhol hat sie in Wachs modelliert, in Bronze giessen lassen und mit Farbe behandelt. Ob wir sie alleine anschauen oder zusammendenken, liegt an uns. Sie sind ein Paar und doch auch für sich. Souverän und bedürftig zugleich. Das kennen wir wohl alle von uns selbst.

22 NZZ-Schwerpunkt Montag, 10. Juni 2024 Art Basel
beim Gestalten seiner exklusive Kunstedition für die NZZ. FOTOS: HELGE MUNDT, COURTESY OF PART FOUNDATION
Stephan Balkenhol

Frau Raftopoulo, was ist die Vision hinter Independent Collectors? Independent Collectors wurde 2008 als erstes soziales Netzwerk für Sammlerinnen und Sammler gegründet. Wir sind also sozusagen ein Social­Media­Oldie: vier Jahre jünger als Facebook und zwei Jahre älter als Instagram. Von Anfang an ging es uns nicht um Elitismus, sondern um eine verbindende, digitale Kunstvermittlung. Wir ersetzten damals Quantität – das Geheimnis eines jeden erfolgreichen sozialen Netzwerks – durch die Qualität einer individuell verifizierten und somit geschützten Community, die sich in den darauffolgenden Jahren zur grössten Online­Plattform für Kunst in Privatbesitz entwickeln sollte. Ein Jahrzehnt später öffneten wir den Membership­Bereich für die breite Öffentlichkeit und ermöglichten allen Kunstbegeisterten den Zugang zu über 500 OnlineAusstellungen auf independent­collectors.com. Für unser Engagement wurden wir 2019 mit dem Art­Cologne­Preis ausgezeichnet. Seit 2024 sind wir Teil des Unternehmens NZZ. Nun freuen wir uns auf eine spannende Weiterentwicklung. Unsere Vision bleibt aber bestehen: Wir möchten Menschen für zeitgenössische Kunst begeistern.

Wie fördert Independent Collectors den Austausch und die Vernetzung innerhalb der Community?

Als wir noch einen geschlossenen Membership­Bereich hatten, konnten unsere Sammler Fotos ihrer Kunstwerke hochladen und sich untereinander austauschen. Aus so manchen Chats entstand dann über die Jahre eine innige Freundschaft. Heute fördern wir die Vernetzung wieder verstärkt in analogen Settings. Wir veranstalten Kunstreisen, kuratieren gemeinsam mit Künstlern Ausstellungen oder besondere DinnerEvents und treffen die Sammler auf Kunstmessen oder Biennalen. Mit über 7000 Sammler halten wir digital Kontakt. Zirka 300 davon sehen wir regelmässig. An die 50 zählen wir zu unseren engen Vertrauten. Die Kunstwelt ist ein Dorf, aber die digitale Vernetzung sprengt glücklicherweise die Grenzen.

Wie trägt Independent Collectors zur Bildung und Sensibilisierung für zeitgenössische Kunst bei?

Auf independent­collectors.com zeigen wir zeitgenössische Kunst in Privatbesitz – vom weltbekannten Museum in einer Kulturmetropole bis hin zu unbekannten Privathäusern im ländlichen Raum. In unserem Newsletter und unseren Social­Media­Kanälen schaffen wir Plattformen sowohl für aufstrebende Talente als auch für etablierte Künstler.

Diese Diversität erleichtert den Zugang für Menschen, die noch nicht mit zeitgenössischer Kunst in Berührung gekommen sind. Wir ermutigen jeden, mit dem Sammeln zu beginnen und mit der eigenen Kunst zu leben. All unsere Aktivitäten sollen dazu beitragen, die Vielfalt und Lebendigkeit der zeitgenössischen Kunstszene zu stärken und zu feiern.

Independent Collectors bietet auch Beratungsdienste an: Wie unterstützen Sie Sammler und Künstler? Es gibt zwei grosse Hürden, die den Menschen den Zugang zur Kunstwelt vermeintlich verwehren: Geld und Intellekt. Entweder denken die Leute, sie seien nicht wohlhabend genug, um Kunst zu kaufen, oder sie gehen davon aus, dass es ihnen an Wissen mangelt. Wir glauben, dass sich der Zugang zu dieser scheinbar unzugänglichen Welt erarbeiten lässt – und zwar mit Neugier, Authentizität und manchmal auch Humor. In unseren Vorträgen und Workshops navigieren wir sowohl etablierte als auch aufstrebende Sammler durch den vermeintlich komplexen Kunstbetrieb. Ausserdem ermutigen wir Unternehmen, sich in der Kunst zu engagieren. Nicht als ein altmodischer Sponsor, sondern als eine zukunftsweisende Marke, die sich anspruchsvolle Zielgruppen erschliesst, indem sie substanzielle Kunstformate schafft. Diese entwickelt dann unsere Inhouse­Agentur. Ein tolles Beispiel hierfür ist der «BMW Art Guide by Independent Collectors», den wir seit 2012 gemeinsam mit dem Münchner Autokonzern herausbringen.

Was ist für Sie gute Kunst?

Für mich ist gute Kunst eine, die emotionale Resonanz erzeugt und zum Nach­

«Wir

ermutigen jeden, mit dem Kunstsammeln zu beginnen»

Ein Gespräch mit Nina Raftopoulo, Geschäftsführerin der NZZ-Tochterfirma Independent Collectors, über das Sammeln zeitgenössischer Kunst – und die eine Frage, die wir uns im Leben immer stellen sollten.

denken anregt. Sie kann vielfältige Formen annehmen, von Malerei und Skulptur bis hin zu Performance, Installation und neuen Medien. Gute Kunst kann innovativ, provokativ, subversiv oder einfach nur schön sein, aber vor allem berührt sie mich auf irgendeine Weise. Wenn ich über eine Kunstmesse laufe, finde ich in der Regel 75 Prozent der Arbeiten eher gruselig, 20 Prozent ganz gut und die restlichen 5 Prozent wirklich herausragend. Solche Arbeiten machen wirklich etwas mit mir.

Welche Fragen muss ich mir stellen, wenn ich mir eine Kunstsammlung aufbauen möchte?

Die Frage, die wir uns immer im Leben stellen sollten: Was bringe ich in die Welt und warum? Eine eigene Sammlung spiegelt im besten Fall die eigene Persönlichkeit wider und gibt einem die Möglichkeit, diese kontinuierlich zu hinterfragen. Und am Ende eines kunsterfüllten Lebens ist die Sammlung ein wichtiger Teil des eigenen Vermächtnisses.

Wie wichtig ist es, dass Sammler eine persönliche Verbindung zu den Werken in ihrer Sammlung haben?

Die persönliche Verbindung ist oft von entscheidender Bedeutung. Diese

«Sehr gute Kunst kann sehr erschwinglich sein. Und sehr teure Kunst kann sehr schlecht sein.»

kann auf verschiedenen Ebenen existieren: emotional, intellektuell, ästhetisch oder sogar historisch. Eine solche Verbindung kann das Sammeln zu einer leidenschaftlichen und erfüllenden Erfahrung machen. Die Bedeutung dieser Verbindung für die Auswahlentscheidungen der Sammler kann enorm sein. Sie kann dazu führen, dass Sammler bevorzugt Werke von Künstlern erwerben, mit denen sie sich identifizieren können. Auch persönliche Erinnerungen oder Lebensphasen können eine Rolle bei der Auswahl spielen. Letztendlich trägt die persönliche Verbindung dazu bei, dass eine Sammlung nicht nur aus rein materiellen Objekten besteht, sondern auch eine Geschichte erzählt und einen Einblick in die Persönlichkeit und die Interessen des Sammlers bietet. Wie beeinflusst der persönliche Kontakt oder das Kennenlernen der Künstler Entscheidungen beim Sammeln von Werken? Der persönliche Kontakt zu den Künstlern in Form von Atelierbesuchen und inspirierenden Gesprächen ist für mich oft der schönste Aspekt am Sammeln. Das muss aber beziehungsweise darf nicht für jeden Sammler gelten. Die armen Künstler müssten ja sonst mit jedem befreundet sein, der ihre Werke kauft. Das kann man ja niemandem zumuten (lacht). Ausserdem ist es auch schön, einen Künstler lediglich aus der Ferne zu bewundern.

Wie wissen Sie, dass ein Kunstwerk «richtig» für Ihre Sammlung ist?

Da ich mit meiner Kunst lebe, ist der Auswahlprozess sehr einfach. Ich weiss es einfach, wenn sich ein neues Kunstwerk zu den anderen gesellen sollte. Wichtig ist mir, dass alle Arbeiten miteinander kommunizieren. Das gilt auch für alle anderen Objekte wie Möbel und Küchengeräte, die sich in meiner Wohnung frei im Raum verteilt einan­

der zuwenden. Deshalb steht in meinem Schlafzimmer zum Beispiel eine zu einem Stuhl umgestaltete Mikrowelle von Pegasus Product, die mit einer Metallinstallation von Paco König spricht, während ich dazwischen schlafe.

Welche Hauptherausforderungen sehen Sie derzeit für Sammler und Investoren im Kunstmarkt?

Fälschungen, Preisvolatilität, Spekulation, Regulierung, Globalisierung, Marktintegration und vor allem technologische Innovation. Neue Technologien wie die Blockchain können das Potenzial haben, Transparenz und Authentizität im Kunstmarkt zu verbessern, stellen jedoch auch neue Herausforderungen und Anpassungen dar. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, ist es wichtig, dass sich Sammler und Investor im Kunstmarkt gründlich informieren, Risiken abwägen und sich professionelle Beratung suchen, um fundierte Entscheidungen zu treffen.

Inwiefern hat die Digitalisierung die Art und Weise verändert, wie Kunst gesammelt und präsentiert wird?

Social Media hat die Art und Weise, Kunst zu präsentieren, radikal verändert. Zu Beginn hatten die meisten unserer Sammler noch nicht mal eine Website. Heute hat so gut wie jeder einen Instagram­Kanal und manche sogar professionelle Marketingabteilungen. Die Lust, sich zu zeigen, hat sich enorm gesteigert. Das beobachten wir natürlich auch bei vielen Künstlern. Die Digitalisierung ermöglicht ihnen ganz neue Vertriebsmöglichkeiten und eine nie dagewesene Unabhängigkeit vom etablierten Kunstmarkt. Gleichzeitig gelten immer noch die alten, analogen Regeln. Viele Künstler wünschen sich, von etablierten Galerien langfristig vertreten zu werden, und die vermeintliche Demokratisierung hat leider nicht nur Gerechtigkeit und Sichtbarkeit für

unterrepräsentierte Künstlerpositionen hervorgebracht, sondern mündet zu oft in Beliebigkeit und Austauschbarkeit. Ich beobachte beides: einen nostalgischen Wunsch nach analogen Methoden, der leider auch oft mit Ressentiments gegenüber neuen Technologien einhergeht, sowie eine hoffnungsvolle und teils blinde Euphorie in Bezug auf neue Medien und künstliche Intelligenz. Letzteres ist ein absoluter Gamechanger.

Ist gute Kunst immer teuer? Sehr gute Kunst kann sehr erschwinglich sein. Und sehr teure Kunst kann sehr schlecht sein. Es ist wichtig, dass Sammler sich nicht ausschliesslich auf den Preis verlassen, sondern sich von ihrer eigenen Begeisterung und Wertschätzung für das Werk leiten lassen. Ann Kathrin Hermes, Redakteurin des Wirtschaftsmagazins «trend.at»

Independent Collectors by NZZ

Das Unternehmen NZZ mit Sitz in Zürich hat Ende Februar 2024 bekanntgegeben, sein Kunstangebot schrittweise auszubauen und ein themenspezifisches Ökosystem aufzubauen. Mit NZZ Kunst bietet das Medienhaus interessierten Lesern und kunstaffinen Partnern einen kuratierten und exklusiven Zugang zur Kunstwelt. Ein wichtiger Bestandteil der neuen Initiative bildet Independent Collectors mit Sitz in Berlin. Die NZZ hat das weltweit führende soziale Netzwerk für private Sammlungen zeitgenössischer Kunst Ende Dezember 2023 zu 100 Prozent übernommen. Mehr dazu unter kunst.nzz.ch/independentcollectors.

Montag, 10. Juni 2024 Art Basel 23 NZZ-Schwerpunkt
Nina Raftopoulo, Managing Director von Independent Collectors: «Die Kunstwelt ist ein Dorf, aber die digitale Vernetzung sprengt glücklicherweise die Grenzen.» LUCIA KEMPKES

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