Sustainable Switzerland (D)

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Special Nachhaltig handeln

Innovation

Vegane Autos und Plastik aus Biomaterial

Unternehmen

Nachhaltig geschützt vor Cyberattacken?

Klimaschutz

Jetzt gilt´s ernst: Netto-Null bis 2050

Samstag, 24. Juni 2023 CH-8021 Zürich Telefon +41 44 258 16 98 nzzone.ch
SWITERLAND
SUISTANABLE
Medienpartner

Im

Wir machen Lebensräume lebenswert.
bkw.ch/lebensraeume
Wald leben. Aber im Einklang mit ihm.

Initiative mit nationaler Reichweite

Vor einem Jahr hat das Unternehmen NZZ die Dialogplattform Sustainable Switzerland lanciert. Gemeinsam mit starken Partnern aus Wirtschaft und Wissenschaft unterstützt sie die nachhaltige Entwicklung der Schweiz. Ein Engagement mit vielen Facetten.

ELMAR ZUR BONSEN

Gletscher schmelzen, Böden trocknen aus, ökologische Systeme geraten aus der Balance: Schleichend, aber nahezu ungebremst, macht sich die Klimakrise bemerkbar – auch in unseren Breitengraden. Die Uhr tickt. Ist es fünf vor zwölf –oder bereits zu spät, um noch Schlimmeres zu verhindern? Jedenfalls wächst der Druck, den internationalen Klimaabkommen konsequent Taten folgen zu lassen. Besonders die Wirtschaft bekommt das zu spüren. Sie ist schliesslich der grösste Hebel, um das erklärte Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen.

So greifen in der Schweiz aktuell neue regulatorische Vorgaben für Unternehmen. Die Europäische Union geht noch einen Schritt weiter: Sie hat die Pflichten zur Nachhaltigkeitsberichterstattung mit der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) deutlich verschärft.

Frage des Lebensstils

Es wundert daher nicht, dass sich immer mehr Unternehmen und Organisationen auch hierzulande zu den ökologischen, sozialen und ökonomischen Prinzipien nachhaltigen Handels bekennen. Sie tun dies aus Verantwortungsbewusstsein, aber auch aus der Erkenntnis, dass eine Verweigerungshaltung nur Nachteile im globalen Wettbewerb mit sich bringen würde – und auch nicht mehr «compliant» wäre. Im Kern geht es um nichts weniger als eine Transformation auf allen Ebenen. Gefragt sind neue Strategien, konkrete Zielsetzungen und Innovationen – seit jeher eine Stärke der Schweiz.

Doch nicht nur die Wirtschaft ist gefordert. Es geht auch um das Engagement jeder und jedes Einzelnen. Welchen Beitrag können und wollen wir zu einer kohlenstoffarmen Zukunft leisten? Sind wir bereit, unser Konsum- und Mobilitätsverhalten zu verändern? Namhafte Schweizerinnen und Schweizer haben für dieses Special Auskunft gegeben, wie sie persönlich Nachhaltigkeit leben und was ihnen dabei besonders am Herzen liegt (Seite 6). Bemerkenswert sind auch die Empfehlungen, die jüngst im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Nachhaltige Wirtschaft» formuliert worden sind. Die Expertengruppen nahmen in fünfjähriger Arbeit gleich mehrere Themenbündel unter die Lupe – von der umweltschonenden Ernährung bis hin zum energieeffizenten Bauen (Seite 17)

Zukunftsperspektiven

Häufig werden Begriffe wie Nachhaltigkeit und Transformation vor allem mit Verboten, Vorschriften und lästigen Pflichten in Verbindung gebracht. Aber es gibt noch eine andere Perspektive. Sie richtet den Blick nach vorne, fokus-

siert auf eine Zukunft, in der neue Ideen und Konzepte ungeahnte Chancen und womöglich eine neue Form des Wohlstands eröffnen. Und diese Zukunft hat schon begonnen, zum Beispiel in den Laboren von Startups und Forschungseinrichtungen. Hier werden Dinge entwickelt, die schon bald unseren Alltag verändern können. An der EPFL zum Beispiel ist es einem Forschungsteam gelungen, Kunststoffe aus Biomasse herzustellen, ganz ohne Erdöl (Seite 9). Das neue Material ist gleichwertig mit klassischem PET-Plastik, belastet aber die Um-

Sustainable Switzerland will zum Handeln und zum Dialog anregen.

welt nicht. Und auch die Automobilbranche verblüfft mit nachhaltigen Neuerungen. Beispiel vegane Innenausstattungen. Richtig gelesen! Das Schweizer Startup Bcomp stellt hochwertige Verbundstoffe aus Naturfasern her – und hat damit auch BMW begeistert (Seite 8).

Deutlich wird in den folgenden Beiträgen, dass Nachhaltigkeit viele Facetten hat – auch weit über die drängenden Umweltthemen Klima, Energie und Biodiversität hinaus. Entsprechend den von der UNO definierten Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDG) geht es genauso um Produktionsverfahren, Lieferketten, Fragen der Unternehmensführung, Ausund Weiterbildungsmöglichkeiten, Gesundheit und Arbeitssicherheit, humane Arbeitsbedingungen, Korruptionsbekämpfung – und vieles mehr. Die Herausforderungen sind enorm, für KMU wie für Konzerne.

Werte für alle schaffen

Klar ist: Unternehmen, die den Weg in eine klimaneutrale, ressourcenschonende Zukunft gehen, müssen im Nachhaltigkeitsmanagement gut aufgestellt sein. Da reicht es nicht, über einzelne Vorzeigeprojekte zu kommunizieren.

Die Unternehmensleitung muss ihre Strategie und ihr Handeln an einer langfristigen Perspektive ausrichten, die Werte für alle Stakeholder schafft. Orientierung bietet hier etwa die jüngste Überarbeitung des «Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance», publiziert von economiesuisse (Seite 20). Der Wirtschaftsdachverband gehört auch zu den Partnern von Sustainable Switzerland.

Lehrgang «Sustainable Leadership»

NORMAN BANDI

Nicht nur die nationale Nachhaltigkeitsinitiative des Unternehmens NZZ mit namhaften Partnern aus Wirtschaft und Wissenschaft hat letztes Jahr das Licht der Welt erblickt, sondern auch der neue Lehrgang «Sustainable Leadership»: Diese praxisorientierte Weiterbildung wird vom Institute for Digital Business der HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich in Kooperation mit Sustainable Switzerland und der NZZ durchgeführt.

Pioniergeist und Know-how

Die Premiere mit 22 Teilnehmenden fand vom 16. November 2022 bis zum

2. Februar 2023 in den Räumen der HWZ statt. Beim Zertifikats-Apéro zum Abschluss blickten die Absolventinnen

und Absolventen auf eine lehrreiche Zeit zurück, bei der sie viele Methoden und Menschen mit Fokus auf das Thema nachhaltige Entwicklung kennen lernten – aber auch realisierten, dass sie als «Sustainable Leader» auf manche offene Fragen selbst Antworten für sich und ihre Unternehmen finden müssen.

«Die Absolventinnen und Absolventen zeichnen sich durch mutigen Pioniergeist und ihren Vorbildcharakter aus. Ich bin sehr gespannt, von ersten Erfolgserlebnissen umgesetzter Nachhaltigkeitsprojekte zu erfahren. Mit Blick auf das entstandene Know-how innerhalb der Klasse blicke ich optimistisch in die Zukunft. Hoffen wir, dass es in der Schweiz bald viele weitere Nachhaltigkeitsexpertinnen und -experten geben wird!», so Studiengangsleiter Sven Ruoss. Der berufsbegleitende Lehrgang mit acht Prä-

Punktet mit einem breiten Themenfächer rund um nachhaltige Entwicklung: das Portal sustainableswitzerland.ch

Portal als Herzstück, Forum als Höhepunkt

LIVIO STÖCKLI

«Gemeinsam machen wir die Schweiz nachhaltiger!» Unter diesem Motto hat das Unternehmen NZZ vor einem Jahr die Initiative Sustainable Switzerland ins Leben gerufen, um zusammen mit namhaften Partnern aus Wirtschaft und Wissenschaft die nachhaltige Entwicklung in diesem Land sichtbar zu machen und voranzutreiben. Sustainable Switzerland bringt relevante Akteure zusammen, motiviert zum Handeln und will so Mehrwert schaffen für die ganze Gesellschaft. In enger Kooperation mit den Hauptpartnern BCG, BKW, BMW, economiesuisse, EPFL, ETH Zürich, Die Mobiliar, SAP, Swisscom und UBS sowie dem Fokuspartner Lidl Schweiz ist es gelungen, Nachhaltigkeitsthemen auf verschiedenen Medienkanälen verstärkt ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken, wichtige Impulse zu setzen und eine eigene Nachhaltig -

keits-Community aufzubauen. Zentrale Plattform der Initiative ist das Portal sustainableswitzerland.ch mit einem breitgefächerten, journalistisch erstellten Content-Angebot. Das Portfolio umfasst aktuelle News, Berichte und Interviews zu den fünf grossen Themenbereichen «Klima & Energie», «Produktion & Konsum», «Lebensräume», «Gesellschaft» und «Wirtschaft».

Tipps, Berichte, Diskussionen

Von praktischen Tipps zur Reduzierung des CO2-Fussabdrucks bis hin zu Einblicken in Technologien für erneuerbare Energien bietet die Plattform viele nützliche Informationen. Vorgestellt werden auch innovative Projekte und zukunftsträchtige Lösungsansätze aus Wirtschaft und Wissenschaft. In der Rubrik «Frage des Monats» geht es darum, Pro- und Contra-Argumente zu strittigen Nachhaltigkeitsthemen gegenein-

ander abzuwägen – eine Anregung zum Nachdenken und Diskutieren. Gefragt wird zum Beispiel: «Darf man heute noch mit Beton bauen?», «Plastik – nein danke?» oder «Grünere Städte statt Wohnraum für alle?» Kuratierte Hintergrundberichte, Analysen und Reportagen aus dem Wissenskosmos der NZZ und dem Kompetenznetzwerk von Sustainable Switzerland ergänzen das Printund Onlineangebot. Den jährlichen Höhepunkt der Initiative bildet das Sustainable Switzerland Forum. Von Beginn an ist diese von NZZ Connect organisierte Konferenz auf reges Interesse in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik gestossen. Die hochkarätig besetzte Veranstaltung findet in diesem Jahr am 12./13. September im Kursaal Bern statt. Entscheidungsträgerinnen und -träger nutzen die Gelegenheit, um sich über aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen der Nachhaltigkeit auszutauschen und sich inspirieren zu lassen.

Impressum

senztagen richtet sich an alle, die diese herausfordernde Querschnittsaufgabe meistern wollen. Das anspruchsvolle Thema beinhaltet dabei weit mehr als «nur» Umweltaspekte. Zudem drängt die Zeit, um die Agenda 2030 der UNO als KMU zu bewältigen.

Für nächsten Kurs anmelden

Die zweite Durchführung des Lehrgangs beginnt am 8./9. November 2023. Es folgen drei weitere Doppeltage am 6./7. Dezember 2023, 17./18. Januar 2024 und 28./29. Februar 2024. Die vier Module widmen sich den Aspekten Understand Sustainability, Plan Sustainability, Do Sustainability, Reflect Sustainability. Die Kosten betragen 5600 Franken – NZZAbonnenten erhalten 10 Prozent Rabatt. Weitere Informationen: fh-hzw.ch.

Titelbild

Das Thema Nachhaltigkeit umfasst viele Facetten und

Details: Sustainable Switzerland nimmt sie genauer unter die Lupe.

QR-Code scannen und Teil der Community von Sustainable Switzerland werden –die Plattform für Nachhaltigkeit.

«Nachhaltig handeln» ist eine Verlagsbeilage des Unternehmens NZZ in Kooperation mit Sustainable Switzerland. Diese Verlagsbeilage wird nicht von der NZZ-Redaktion produziert, sondern von NZZ Content Creation und dem Sustainable Switzerland Editorial Team.

Projektmanagement

Redaktionsleitung: Elmar zur Bonsen

Layout: Juy Würtenberg, Armin Apadana

Koordination: Donika Dakaj

Kontakt: Sustainable Switzerland, c/o Neue Zürcher Zeitung AG, Falkenstrasse 11, 8008 Zürich, info@sustainableswitzerland.ch

sustainableswitzerland.ch

Samstag, 24. Juni 2023 Nachhaltig handeln Special 3
FOTO: JUY WÜRTENBERG

Wie wir leben, was wir verbrauchen

Zahlen & Fakten Artikel 2 der Bundesverfassung erklärt die nachhaltige Entwicklung zu einem Staatsziel der Schweiz. Doch wo stehen wir auf diesem Weg? Welche Fortschritte sind bereits erreicht worden? Wo gibt es besonderen Handlungsbedarf?

-1,9%

Die Situation der Tier- und Pflanzenvielfalt in der Schweiz hat sich trotz einer Reihe von Massnahmen nicht verbessert: 17 Prozent aller bekannten Arten sind hierzulande vom Aussterben bedroht oder stark gefährdet, wie Studien des Bundesamts für Umwelt zeigen. Weitere 16 Prozent gelten als «verletzlich». Das heisst: Ihr Bestand ist in den letzten zehn Jahren um 30 Prozent geschrumpft. Besonders die Gefährdung von Fisch-, Reptilien- und Vogelarten hat den Angaben zufolge zugenommen. Unter Druck gerät die Biodiversität durch die Landnutzung, den Verlust ökologisch wertvoller Lebensräume und den Klimawandel.

Der Stromverbrauch in der Schweiz lag 2022 mit 57,0 Milliarden Kilowattstunden (kWh) unter dem Niveau des Vorjahrs (-1,9 Prozent). Verbrauchssenkend wirkten laut Bundesamt für Energie die eher warme Witterung, Effizienzsteigerungen und Stromsparappelle. Leicht gesunken ist auch die Stromproduktion: Sie verringerte sich den Angaben zufolge um 1,1 Prozent auf 63,5 Milliarden kWh. Die Produktion von Elektrizität erfolgte zu 52,8 Prozent mit Wasserkraft (davon Laufkraftwerke 24,4 Prozent, Speicherkraftwerke 28,4 Prozent), mit Kernkraft (36,4 Prozent) sowie mit konventionell-thermischen und erneuerbaren Anlagen (10,8 Prozent).

Energieverbrauch

Der Bruttoenergieverbrauch der Schweiz setzt sich wie folgt zusammen (Stand 2021):

Energieträger

Aufteilung des Energieendverbrauchs der Schweiz nach einzelnen Energieträgern (2021). Der grösste Anteil entfällt auf Treibstoffe mit 29,3 Prozent.

Anteil der Bioprodukte am Schweizer Lebensmittelmarkt: 11,2 Prozent. FOTO: ISTOCK

Bioprodukte stehen bei Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten nach wie vor hoch im Kurs – trotz gestiegener Lebenshaltungskosten. Pro Kopf werden in der Schweiz 439 Franken jährlich für Lebensmittel aus ökologischem Landbau ausgegeben (Stand 2022), so der Verband Bio Suisse. 54 Prozent aller Verbraucher kaufen diese Erzeugnisse täglich oder mehrmals pro Woche. Der Anteil der Bioprodukte am Schweizer Lebensmittelmarkt liegt den Angaben zufolge heute bei 11,2 Prozent. Das entspricht einem Umsatzvolumen von rund 3,8 Milliarden Franken. «Mit einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von 200 Millionen Franken folgt der Bioumsatz dem langfristigen

Positivtrend», so Bio Suisse. Ökologischen Anbau betreiben hierzulande inzwischen mehr als 7800 landwirtschaftliche Betriebe, rund ein Fünftel aller Agrarbetriebe. Die von ihnen bewirtschaftete Fläche umfasst nach Angaben des Bundesamts für Statistik 186 335 Hektar. Dies entspricht einem Anteil von etwa 18 Prozent an der landwirtschaftlich genutzten Gesamtfläche. Im europäischen Vergleich belegt die Schweiz damit Rang 5, so das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL). Spitzenreiter innerhalb der Europäischen Union ist Österreich mit einem Anteil von zuletzt 26,5 Prozent. Europaweit gibt es heute mehr als 440 000 Biobetriebe.

In der Schweiz gelangen durch den Abrieb von Autoreifen jährlich 8900 Tonnen Mikroplastik in die Umwelt. Jedes Mal, wenn ein Fahrzeug stark beschleunigt oder bremst, lösen sich winzige Fragmente von den Reifen, wirbeln durch die Luft und verschmutzen den Boden. Wie Untersuchungen ergeben haben, verliert ein durchschnittlicher Autoreifen im Laufe der Zeit insgesamt vier Kilogramm an Partikeln. Der Reifenabrieb ist hierzulande laut Bundesamt für Umwelt die grösste Quelle für Mikroplastik. Den Angaben zufolge landen in der Schweiz jährlich 14 000 Tonnen Plastikpartikel in der Umwelt. Reifenabrieb macht ein Viertel des Mikroplastiks in den Weltmeeren aus.

Kreislaufwirtschaft in ganzheitlicher Sicht – mehr als Recycling 9%

Zu krumm, zu klein, zu hässlich: Fast ein Drittel der für den Schweizer Konsum produzierten Lebensmittel wird verschwendet oder unnötig weggeworfen. Dies entspricht laut Bundesamt für Umwelt rund 330 Kilogramm Abfall pro Person und Jahr. Das Wegwerfen von Lebensmitteln, die eigentlich zum Verzehr vorgesehen sind, ist nicht nur moralisch bedenklich, sondern auch eine Verschwendung von wichtigen Ressourcen wie Ackerland, Wasser und Energie. Es verursacht zudem unnötige CO2-Emissionen. Den Angaben zufolge sind etwa 25 Prozent der Umweltbelastung unseres Ernährungssystems auf «Food Waste» (vermeidbare Lebensmittelverluste) zurückzuführen. Dies entspricht der halben Umweltbelastung des motorisierten Individualverkehrs der Schweiz.

Die Produktion von Konsumgütern im In- und Ausland verursacht 9 Prozent des Schweizer CO2-Fussabdrucks. Eine von Greenpeace in Auftrag gegebene InfrasStudie hat ergeben: Wenn wir Möbel, Smartphones, Notebooks, Kleidung und Waschmaschinen länger nutzen, trägt dies beträchtlich zum Klimaschutz bei – mehr als das Recycling. Würden beispielsweise alle Kleider in der Schweiz drei Jahre länger getragen, könnte so viel CO2 eingespart werden, wie ein Auto ausstösst, das 186 000 Mal um die Erde fährt. Laut Infras liesse sich der Schweizer CO2-Fussabdruck um 1,8 bis 4 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent reduzieren, wenn alle Konsumprodukte in der Schweiz ein bis drei Jahre länger genutzt würden. Die Abbildung rechts zeigt den klassischen, äusseren Rohstoffkreislauf von der Pro

duktion über die Nutzung bis zum Abfallmanagement. Ein Grossteil der Materialien geht am Ende durch Verbrennen und Deponierung verloren. Der restliche, derzeit geringere Teil wird im Recycling zu Sekundärrohstoffen aufbereitet, was aber auch mit Energie- und Rohstoffverlusten verbunden ist. Der Studie zufolge ist es wichtig, «Ansätze zu verfolgen, die in der Produktions- und Nutzungsphase ansetzen und darauf abzielen, den Verbrauch an Primärrohstoffen zu reduzieren und die Nutzungsdauer der Produkte zu verlängern». Die Grafik rechts zeigt (in Grün) vier solche inneren Produktkreisläufe: Teilen, Wiederverwenden, Reparieren, Wiederaufbereiten. Es geht um eine echte Kreislaufwirtschaft, die effizient mit Rohstoffen umgeht und Umweltbelastungen verringert.

220

Die Schweiz hat mit 220 Talsperren die weltweit höchste Dichte an Staudämmen, darunter die höchste Schwergewichtsstaumauer: Die Grande-Dixence in den Walliser Bergen hat eine Höhe von 285 Metern und ist mit ihren 15 Millionen Tonnen sogar schwerer als die Cheops-Pyramide. Für ihren Bau wurden sechs Millionen Kubikmeter Beton benötigt. Die drei Kraftwerke erzeugen pro Jahr rund zwei Milliarden Kilowattstunden elektrische Energie, was einem mittleren jährlichen Verbrauch von 500 000 Haushalten entspricht. In der Schweiz gibt es insgesamt 693 Wasserkraftwerke mit einer Leistung von mindestens 300 Kilowatt (Stand 2022). Sie produzieren pro Jahr durchschnittlich 37 260 Gigawattstunden Strom.

Verbrennung & Deponierung

Primärrohstoff

Recycling

Der Umwelt zuliebe die Nutzungsdauer von Produkten verlängern.

Ausbau der Erneuerbaren

Strom aus Sonne-, Wind- und Wasserkraft: Die Schweizer Bevölkerung steht mehrheitlich hinter dem starken Ausbau von erneuerbaren Energiequellen. Wie eine vom Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage jüngst ergab, hat dabei die Versorgungssicherheit oberste Priorität vor Klimaschutz und bezahlbaren Strompreisen. Der Anteil der Befragten, die mit der aktuellen Schweizer Energiepolitik eher oder sehr einverstanden sind, stieg im Vergleich zum vergangenen Jahr um 3 Prozentpunkte auf 59 Prozent. Unbestritten ist der Rückhalt für den Photovoltaikausbau auf bestehender Infrastruktur, zum Beispiel an Autobahnen und Staumauern. Konkret sprechen sich

97 Prozent der Befragten für Solaranlagen auf Gebäuden und Fassaden aus, 89 Prozent für Wasserkraft und 76 Prozent für Windkraft. 68 Prozent der Befragten sind der Ansicht, dass die Energiewende hierzulande zu langsam vorwärts kommt. Weniger überzeugt ist die Bevölkerung von grossen Solaranlagen in den Bergen und auf Freiflächen (54 Prozent). Keine Mehrheit findet ein Neubau von Kernkraftwerken, aber immerhin 43 Prozent sprechen sich für AKW der vierten Generation aus, die derzeit erforscht werden. 65 Prozent der Befragten wollen kein neues Atomkraftwerk, selbst wenn es zahlreiche andere Kraftwerke verhindern würde, also Windräder, Solaranlagen in den Bergen oder Staumauern. (awp)

4 Special Nachhaltig handeln Samstag, 24. Juni 2023
17% 8900 330 439
Energieverluste Rohstoffverluste Nutzung Produktion W i e deraufbereitenReparieren W iederverwenden Teilen Abfallmanagement
QUELLE INFRAS Wahrzeichen
FOTO: ISTOCK
der Schweizer Wasserkraft: Staudamm Grande-Dixence, Wallis
Erdölbrennstoffe Treibstoffe Elektrizität Gas Rest 14,9% 14,1% 29,3% 26,3% 15,4% QUELLE: BFE, Schweizerische Gesamtenergiestatistik Erdöl Kernenergie Wasserkraft Gas Übrige 36,3% 19,9% 14% 12,8% 17% QUELLE: BFE, Schweizerische Gesamtenergiestatistik

Von einem Zufallsmehr lässt sich nicht sprechen: Knapp 60 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer haben am vergangenen Sonntag dem Klimaschutzgesetz zugestimmt, das als Kompromissprodukt mit linken und rechten Elementen durchaus als gesetzgeberischer Murks bezeichnet werden kann. Doch die JaStimmenden wussten, was sie taten. Das Ziel, dass die Schweiz bis 2050 den CO2Ausstoss auf Netto-Null zu senken hat, findet sich nun in der Verfassung festgeschrieben. Die Marschroute ist nun abgesteckt.

Gleichzeitig stimmten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger einem ersten Massnahmenpaket zu. Dieses soll primär den Ausstieg aus fossilen Heizungen mit Hilfe finanzieller Anreize aus den Schatullen des Staats erleichtern.

Vor zwei Jahren scheiterte das sogenannte CO2-Gesetz mit ähnlicher Stossrichtung an der Urne, weil es zu viele dirigistische Massnahmen vorsah: Lenkungsabgaben etwa wurden als Preiserhöhungen verstanden und abgelehnt.

Zusammen mit dem Ja zum jetzigen Subventionspaket ergibt sich daraus so etwas wie eine Handlungsanleitung an die Politik. Gewünscht wird eine Klimapolitik möglichst ohne staatliche Eingriffe in das private Leben. Man soll positive Anreize setzen, um eine Entwicklung in die erwünschte Richtung zu fördern.

«Nudging» hat der Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler diese Methode genannt, um das Verhalten der Menschen zu beeinflussen, ohne auf grobschlächtige Mittel wie Verbote zu setzen.

Kein Blankoscheck

Die Linke wird sich daran bald die Zähne ausbeissen. Absehbar ist, dass sie im Gefühlsüberschwang des Sieges rasch neue Massnahmen fordern wird, die in Richtung verstärkter staatlicher Eingriffe in das persönliche Verhalten weisen werden. Aber aus dem Ja zum Klimaschutzgesetz lässt sich kein Blankoscheck für solche Forderungen herauslesen – im Gegenteil! Die Gegner des Gesetzes wiederum, die sich schwergewichtig um die SVP gruppierten, haben wesentlichen Anteil an diesem deutlichen Grundsatz-Ja des Schweizer Stimmvolks. Ihre Totalopposition mit dem lächerlich überzogenen Begriff «Klimakommunismus» liess bei

Der Weg ist das Ziel

Meinung In der Klimaschutzpolitik hat sich das Schweizer Stimmvolk am 18. Juni für eine nachhaltige Marschroute entschieden. Eine Standortbestimmung. Von Felix E. Müller

Seitental zeigt, wie solche Projekt dann im politischen Alltag heruntergeschmirgelt werden. Nur noch etwa 15 Prozent der ursprünglich geplanten Kapazität dürften im besten Fall ans Netz gehen. Ohne Strom aus den bestehenden AKW wird es noch lange nicht gehen. Aber wäre es denn besser gewesen, zuerst den grossen Gesamtplan für den Ausstieg aus der Fossilwirtschaft abzuwarten, der an alles und alle gedacht hätte, und erst dann einen Urnengang anzusetzen? Gegen dieses Vorgehen hat sich das Schweizer Stimmvolk nun ebenfalls ausgesprochen. Zu komplex wäre ein Masterplan Energiewende ausgefallen, weil zu viele Faktoren zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht bekannt sind. Sinnvoll erschien es da der Mehrheit, jetzt einmal das Ziel und die ersten konkreten Schritte in diese Richtung festzulegen. Danach wird es ein Herantasten sein, in vielen Einzelschritten, denn niemand vermag heute abzuschätzen, welche neuen technologischen Möglichkeiten sich in 20 Jahren auftun werden, vielleicht auch für die Produktion von Atomstrom.

Auf dem Pfad zu Netto-Null

Mehrheitsentscheid pro Klimaschutzgesetz, drei Monate nach Lancierung der Ja-Kampagne in Flüeli-Ranft. FOTO: KEYSTONE/URS FLÜELER

vielen Bürgerinnen und Bürgern wohl den Verdacht aufkommen, der Volkspartei gehe es nicht bloss gegen dieses konkrete Gesetz, sondern eigentlich gegen sämtliche Klimaschutzmassnahmen. Der Ansatz der SVP, die beste Klimapolitik sei keine Klimapolitik, wurde deutlich zurückgewiesen. Die Schweizerinnen und Schweizer haben offensichtlich einen bewussten Entscheid gefällt: Klimaschutzmassnahmen sind richtig, aber bitte möglichst ohne Verbote! Wer vermutet, dass Generationensolidarität mit im Spiel gewesen ist, liegt kaum falsch. Viele ältere Stimmbürgerinnen und Stimmbürger dürften gesehen haben, wie wichtig der Klimaschutz der jüngeren Generation ist. Verantwortlich dafür werden weniger die Kli-

Das Klima wandelt sich spürbar

Mit dem Klimawandel steigen auch in der Schweiz die Risiken durch extremeres Wetter. So rechnen die Experten mit mehr Hitzetagen, heftigeren Niederschlägen, trockeneren Sommern und schneearmen Wintern. In Gebirgsregionen sei zusätzlich mit Felsstürzen und Murgängen zur rechnen, heisst es in einem Bericht von MeteoSchweiz.

Ausserdem drohe der Verlust an Artenvielfalt. «Der beobachtete Klimawandel ist fast vollständig auf den Ausstoss von Treibhausgasen durch menschliche Aktivitäten zurückzuführen», wird betont.

Bei einem weiteren Anstieg der Emissionen verstärkten sich die Auswirkungen. Global waren die letzten zehn Jahre (2013-2022) bereits 1,2 Grad Celsius,

Auswirkungen des Klimawandels

in der Schweiz sogar 2,5 Grad Celsius wärmer als der vorindustrielle Durchschnitt (1871-1900). Seit den 1960erJahren war jedes Jahrzehnt wärmer als das vorherige. Die sieben wärmsten Jahre wurden zudem allesamt nach 2010 gemessen. Die Jahre 2015 bis 2022 waren die wärmsten seit Beginn der Messungen. Laut MeteoSchweiz ist es zu einem deutlichen Anstieg der Nullgradgrenze gekommen. Die Alpengletscher hätten seit 1850 mehr als 60 Prozent ihres Volumens verloren. Sie dürften bis zum Ende des Jahrhunderts «fast ganz aus dem Alpenbild verschwunden» sein. Durch die fortschreitende Erwärmung falle Niederschlag häufiger als Regen statt als Schnee, so die Experten.

Wichtige Veränderungen des Schweizer Klimas, basierend auf Beobachtungsdaten Sonnenschein

makleber Marke Juso sein, deren Aktionen vor allem als Ärgernis wahrgenommen werden, sondern Tischgespräche auch in politisch eingemitteten Familien.

Geste gegenüber den Jüngeren

Dass man dem Klima Sorge tragen sollte, ist für sehr viele Junge schlicht eine politische Selbstverständlichkeit, ja mehr noch, eine Notwendigkeit, um den Planeten weiterhin lebenswert zu erhalten. Viele Eltern werden dieses Anliegen erkannt und sich die Frage gestellt haben: Wollen wir uns diesem Wunsch verweigern und eine Zielsetzung torpedieren, die im Interesse derer ist, denen wir diesen Planeten bald übergeben müssen? Als Geste der älteren gegen-

über der jüngeren Generation ist dieser Entscheid durchaus zu sehen, als Ausdruck des Willens, die Generationengräben nicht zu vertiefen.

Nun sagen die Gegner des Klimagesetzes nach der verlorenen Schlacht, vieles sei noch unklar – die Gefahr, dass jetzt die Subventionsschleusen geöffnet werden, sei beträchtlich. Vor allem stehe nicht fest, wie die Schweiz eine drohende Stromlücke schliessen wolle. Diese Kritik ist nicht falsch. Die Gefahr einer Stromlücke besteht, weil es sich beim Glauben, sie innert weniger Jahre mit einem massiven Ausbau alternativer Energiequellen abwenden zu können, ein Stück weit um Wunschdenken handelt. Das Schicksal der Solar-Grossanlage in einem abgelegenen Walliser

Schon einmal hat die Schweizer Bevölkerung dieses Vorgehen gewählt. Mit der Annahme der Alpeninitiative schrieb sie 1994 ein Ziel in der Verfassung fest, um sich gegen die Flut vor allem des Schwerverkehrs durch die Alpen zu stemmen. Auch damals bestand kein Masterplan, wie das Ziel wirklich erreicht werden sollte. Aber es war nach der überraschenden Zustimmung zur Initiative allen klar, dem Volk wie den Behörden, wohin die Reise gehen sollte. Niemand würde heute angesichts der semipermanenten Rekordstaus vor dem Gotthard noch behaupten, dem Volk sei damals ein Fehler passiert.

Ähnlich wird der Weg in Richtung Netto-Null verlaufen. Dass das Schweizer Volk dieses Ziel als richtig einstuft, steht nun fest. Jetzt geht es darum, den Weg dazu unter die Füsse zu nehmen. Am 18. Juni 2023 ist folglich das Anliegen des Klimaschutzes in der Mitte der Bevölkerung angekommen.

Felix E. Müller ist Publizist und ehemaliger Chefredaktor der «NZZ am Sonntag».

Der energiebedingte Kohlendioxidausstoss wird im Jahr 2050 laut einer Prognose der amerikanischen Energy Information Agency (ElA) weltweit bei rund 42,8 Milliarden Tonnen liegen. Gegenüber dem Jahr 2020 würden sich die Emissionen damit um rund 20 Prozent erhöhen. Unter energiebedingter Emission versteht man das Ausstossen von Treibhausgasen und Luftschadstoffen, die bei der Umwandlung von Energieträgern zum Beispiel in Strom und Wärme entstehen. Laut Statista verzeichnet China im weltweiten Vergleich die höchsten energiebedingten CO2Emissionen (mehr als 9,9 Milliarden Tonnen im Jahr 2020), gefolgt von den USA mit rund 4,4 Milliarden Tonnen.

Beinahe dreimal die Erde wäre erforderlich, wenn alle Menschen auf unserem Planeten so leben würden wie die Schweizer Bevölkerung. Deren Konsum ist nur dank des Imports von natürlichen Ressourcen und der Übernutzung der globalen Güter möglich. Da die Schweiz jedoch 2,8-mal mehr Umweltleistungen und -ressourcen verbraucht, als global pro Person verfügbar sind, ist ihr Konsum nicht nachhaltig. Sie lebt damit auf Kosten anderer Erdteile und künftiger Generationen – so wie die meisten Industriestaaten. Anders verhält es sich mit den Ländern Südostasiens, Afrikas und des indischen Subkontinents: Sie verbrauchen weniger als einen Planeten Erde. Der weltweite Durchschnitt

liegt übrigens bei 1,75 Erden. Der Verbrauch fossiler Energie macht fast drei Vier-tel des ökologischen Fussabdrucks der Schweiz aus. Dessen Ausmasse verdeutlicht auch der «Swiss Overshoot Day», der in diesem Jahr auf den 13. Mai gefallen ist: Würden weltweit alle Menschen so konsumieren wie die Schweizerinnen und Schweizer, wäre an diesem Tag schon alles verbraucht, was die Ökosysteme unseres Planeten in einem ganzen Jahr erneuern können. Gelänge es, die Treibhausgasemissionen hierzulande bis 2030 im Vergleich zu 1990 zu halbieren, so wie es das Pariser Klimaabkommen vorsieht, würde sich der «Swiss Overshoot Day» um 72 Tage auf den 24. Juli verschieben.

So viele Erden bräuchten wir, wenn alle Menschen so leben würden wie die Bewohnerinnen und Bewohner dieser Länder:

Bezogen auf die Bevölkerungszahl gibt es in keinem Land so viele Nachhaltigkeits-Startups wie in der Schweiz. Dies hat eine Untersuchung des Online-Newsportals Startupticker.ch und der Universität Lausanne ergeben. Pro 100 000 Einwohnerinnen und Einwohnern gibt es hierzulande 6,2 Startups, die mit ihren Produkten oder Dienstleistungen zu einer nachhaltigeren Wirtschaft beitragen. Auf dem zweiten Platz liegt Israel (4,4 Startups), gefolgt von den Niederlanden (4,3), den USA (2,3) und Deutschland (0,9). Der Untersuchung zufolge hat zwischen 2019 und 2021 in der Schweiz der Anteil von Nachhaltigkeits-Startups an allen technologie- und wissenschaftsbasierten Neugründungen von vier auf knapp zehn Prozent zugenommen.

QUELLE: BAFU/METEOSCHWEIZ

Samstag, 24. Juni 2023 Nachhaltig handeln Special 5
Schweiz
42800000000 6,2 Drei Erden für die
USA 5,1 Erden Australien 4,5 Erden Russland 3,4 Erden Deutschland 3,0 Erden Japan 2,9 Erden Frankreich 2,8 Erden Schweiz 2,8 Erden Italien 2,7 Erden Vereinigtes Königreich 2,6 Erden QUELLE: NATIONAL FOOTPRINT AND BIOCAPACITY ACCOUNTS (2022)
Hitzewellen Kälte Nullgradgrenze +300 bis
m seit 1961 bis –60%
seit
häufiger
–15%
seit
12% intensiver 30% häufiger 1901–2015 +20 bis 30% seit 1864 –50% unter 800 m –20% um 2000 m seit 1970 +2 bis 4 Wochen seit 1961 –60% seit 1850 Gletschervolumen Vegetationsperiode Schneetage Winterniederschlag starker Regen +2,5 °C
400
Frosttage
1961
und intensiver seit 1901
1950–1980 +20%
1980

«Wie leben Sie Nachhaltigkeit?»

Engagement Sustainable Switzerland hat acht namhafte Schweizerinnen und Schweizer gefragt, wie sie Nachhaltigkeit persönlich leben – sei es im privaten Umfeld, sei es im Geschäftsalltag. Und das sind ihre Antworten.

«Ich stehe am Morgen auf und versuche, nur so viel Wasser zu verbrauchen, wie ich zum Waschen und Zähneputzen brauche –ohne es unnötig laufen zu lassen. Ich achte generell viel stärker darauf, zu Hause Energie zu sparen, und trenne den Abfall sorgfältig. Gleichzeitig kaufe ich nichts, was übermässig verpackt ist, weil mich dies stört. Und ich versuche, wenn immer möglich, frische Lebensmittel ohne Plastik darum herum zu kaufen.»

«Ich lebe in einer gut isolierten Stadtwohnung, in der die Heizung im Winter ausbleibt. Stattdessen bevorzuge ich es, mich mit einem Pullover und dicken Socken warm zu halten. Auch mit meinem Modelabel sind wir auf den Spuren der Ressourcenminderung und erschaffen seit drei Jahren saisonungebundene Kollektionen. So können wir kontrollierter und agiler auf neue Entwicklungen reagieren. Ausserdem können wir auf diese Weise nachhaltiger produzieren, mit Deadlines besser umgehen und unsere körperlichen Energien besser einteilen.»

«Der Austausch mit Menschen und das Kennenlernen fremder Kulturen bedeuten mir viel. Beides bedingt Mobilität – im Kleinen wie im Grossen. Lokal nutze ich aktuell im Ständeratswahlkampf einen Microlino, das Schweizer Elektroauto ist eine umweltfreundliche Lösung für den Nahverkehr. Für grössere Distanzen braucht es gute Zugverbindungen oder das Flugzeug. Als Präsidentin von Aviationsuisse setze ich mich deshalb für die Ökologisierung der Luftfahrt durch die Nutzung nachhaltiger Treibstoffe ein. Schweizer Innovationskraft bringt auch hier die Lösung.»

«Lucerne Festival hat erst kürzlich eine langfristige Nachhaltigkeitsstrategie vorgelegt: Wir haben Richtlinien und zahlreiche Massnahmen definiert, wie wir als Musikfestival unsere ökologische Bilanz systematisch und proaktiv verbessern können, Jahr für Jahr, Schritt für Schritt – ohne unser hochkarätiges, internationales Profil zu verändern. Doch Nachhaltigkeit heisst für mich auch soziales Engagement: Nachwuchsförderung, Konzerte für Familien und Kinder sowie Diversität – all das leben wir bei Lucerne Festival!»

«Als Profisportler erlebe ich hautnah, dass mein heutiges Handeln sehr direkte Auswirkungen auf meinen zukünftigen Erfolg hat. Und wie beim Erfolg im Sport fängt auch die Nachhaltigkeit mit kleinen Schritten in die richtige Richtung an. Für mich bedeutet das, meinen Lebensstil bewusst zu hinterfragen und meine persönliche Umweltbelastung Schritt für Schritt zu reduzieren. Ich bin überzeugt, dass wir durch gemeinsames Handeln etwas bewirken können.»

«Ich kann aufzählen, dass ich mit dem Velo zur Arbeit fahre, ein GA besitze … Doch geht es nicht um etwas anderes? Sollten wir uns im ganzen Fortschritts- und Konsumwahn nicht endlich bewusst werden, dass vieles zusammenhängt?

Wohlbefinden, Umwelt, Zusammenleben, Wirtschaft – all das muss sich verzahnen, damit Zufriedenheit, Sinn und Nachhaltigkeit entstehen. Ist dies erkannt, werden wir auch Verantwortung wahrnehmen, die unser gesamtes Handeln im Sinne einer lebenswerten Zukunft steuert.»

«Meine mehrheitlich selbstfinanzierten Expeditionen führten mich oft zu existenziellen Fragen, wenn nicht zu existenziellen Ängsten. Denn ich wusste im Vorfeld nie, ob mein Lebensentwurf funktionieren würde. Dieser lockte mich unter anderem durch die Nordwände der Alpen, auf den Gipfel des Mount Everest und während total 591 Expeditionstagen zum Süd- und Nordpol. Inzwischen darf ich alle Erfahrungen, auch diejenigen des Scheiterns, in Referate packen und Menschen zumindest inspirieren. Ihnen mentale Prozesse für Erfolg und Resilienz durch Referate zu vermitteln, bedeutet für mich die Königsdisziplin –die Nachhaltigkeit meiner Expeditionen.»

«Nachhaltigkeit nur auf ökologische Fragen zu beziehen, finde ich aus Sicht eines Kochs etwas zu kurz gedacht. In unserem neuen Restaurant Neumarkt im Niederdorf verarbeiten wir nur Produkte aus Zürich und der Schweiz. Wir verwenden auch sogenannte Abfallprodukte und unsere Lieferanten betreiben ihr Handwerk mit Liebe und Verantwortungsbewusstsein. Aber die wichtigste Ressource in der Gastronomie sind heute die Mitarbeiter:innen. Das Ziel muss es deshalb sein, ein Umfeld zu schaffen, in dem Leute gerne arbeiten. Das ist heute für mich die wichtigste Aufgabe, wenn es um gesamtheitliche Nachhaltigkeit geht.»

6 Special Nachhaltig handeln Samstag, 24. Juni 2023
UMFRAGE: NORMAN BANDI
Julian Zigerli Modedesigner (Julian Zigerli Studio) Michelle Hunziker Fernsehmoderatorin und Botschafterin von «Swisstainable» Regine Sauter Nationalrätin FDP und Direktorin der Zürcher Handelskammer Evelyne Binsack Grenzgängerin, Berufsbergführerin, Referentin und Autorin Nenad Mlinarevic Koch, Gastronom und Jurymitglied «MasterChef Schweiz» Michael Haefliger Intendant von Lucerne Festival

SUSANNE WEDLICH

Die Klimakrise erfordert eine ebenso tiefgreifende wie umfassende Transformation – in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. Die Universitäten sind als Bildungs- und Forschungsstätten mit dem Auftrag, Wissen in die Wirtschaft und Gesellschaft zu transferieren und den Dialog mit ihr zu pflegen, mehr denn je aufgerufen, Lösungen zu den globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel und der Biodiversitätskrise beizutragen. Wie aber können Hochschulen diese wichtige Rolle zum Beispiel bei der Entwicklung hin zu einer kohlenstoffarmen Zukunft konkret wahrnehmen?

Joël Mesot, Präsident der ETH Zürich, formuliert es so: «An der ETH entwickeln und testen wir innovative Energie- und Klimatechnologien, die dann zum Beispiel über Spin-offs und gemeinsam mit Industriepartnern in grösserem Massstab auf dem Markt verfügbar werden.» Die Hochschule müsse mit ihrer wissenschaftlichen Expertise aber auch auf dem eigenen Campus mit gutem Beispiel vorangehen, ist Mesot überzeugt. Gemäss dem 2019 vom Bundesrat verabschiedeten «Klimapaket Bundesverwaltung» ist die Hochschule verpflichtet, die Treibhausgasemissionen im eigenen Betrieb bis 2030 um mindestens 50 Prozent gegenüber 2006 zu reduzieren. Dies gilt für Emissionen aus Gebäuden und Fahrzeugflotte, Strombezug sowie Dienstreisen.

Eine Herkulesaufgabe

Im vergangenen Herbst hat die Hochschule ein Whitepaper veröffentlicht, in dem sie ihren Weg dorthin skizziert und die ETH-Gemeinschaft einlädt, Tempo und Engagement zu erhöhen. Physiker Mesot spricht von einer Herkulesarbeit. Die Hochschule habe aber bereits vor Jahren damit begonnen, ihren CO2-Fussabdruck zu verkleinern, indem zum Beispiel auf dem Campus Hönggerberg die Gasheizung durch einen dynamischen Erdspeicher ersetzt worden sei. Die ETH Zürich führe seit zwanzig Jahren eine Umweltstatistik, daher verfüge man über eine gute Datenbasis, wenn es nun darum gehe, Hebel zu finden und Reduktionsziele für die einzelnen Bereiche zu definieren.

Das Ziel steht also fest, der Weg dahin und die konkreten Massnahmen müssen aber ständig verhandelt werden. In jedem Fall ist die Aufgabe komplex und herausfordernd. Auf dem Weg in eine klimaneutrale Zukunft müssen eine Vielzahl vor allem ökonomischer

Es führt kein Weg an Netto-Null vorbei

Klima & Energie Universitäten sind zentrale Ideengeber für die Gesellschaft und daher auch unverzichtbare Wegbereiter der Klimaneutralität. Die ETH Zürich als führende technische Hochschule entwickelt nicht nur Lösungen für die Schweiz und die Welt, sie steht auch selber vor der grossen Herausforderung, ihre Treibhausgasemissionen auf Netto-Null zu senken.

und sozialer Faktoren berücksichtigt, Fragen der Gerechtigkeit beantwortet und zahlreiche Abhängigkeiten adressiert werden. Es braucht in jedem Fall einen Kulturwandel, nicht nur an der ETH Zürich, sondern auch in der Gesellschaft und auf allen Ebenen.

Ein grosser Hebel der Einsparungen ergibt sich beispielsweise bei der Gastronomie auf dem Campus, der Nutzung von IT- und Laborgeräten sowie der Mobilität der ETH-Angehörigen, wobei hier vor allem die Flugreisen ins Gewicht fallen. So hat die Hochschule bereits 2017 ein Projekt lanciert, um die aus dem Flugverkehr entstehenden Emissionen auf freiwilliger Basis zu reduzieren. Zudem gilt es, den eigenen Energieverbrauch wie auch die sogenannte graue Energie (die für die Herstellung und Bereitstellung von Gütern oder Dienstleistungen benötigt wird) in den Lieferketten deutlich zu reduzieren und eine ressourcenschonende Bewirtschaftung der Infrastruktur zu entwickeln.

Geniales Energiekonzept

Was die eigene Energie- und Wärmeversorgung angeht, ist das bereits geschehen. Der Campus Hönggerberg etwa mit seinen rund 12000 Studierenden verbraucht so viel Strom wie eine Kleinstadt und so viel Wärme wie 2000 Einfamilienhäuser. Bereits 2006 wurden hier die Weichen gestellt, um dem Ziel Netto-Null mit Hilfe von Erdwärme näherzukommen. Ein ebenso einfaches wie geniales Konzept: Im Jahr 2013 ging das mittlerweile preisgekrönte Anergienetz in Betrieb, ein dynamisches Erdspeichersystem, das schon jetzt vierzehn Grossgebäude auf dem Campus je nach Saison und Bedarf wärmen oder küh-

len kann. Es funktioniert fast wie eine Batterie: Erdsonden, die bis zu 200 Meter tief in die Erde reichen, nehmen im Sommer Wärme auf, etwa von Gebäuden, in denen Server und Laborgeräte übers ganze Jahr Abwärme produzieren.

Diese Wärme kann im Winter dank intelligenter Vernetzung wieder abgegeben und anderswo genutzt werden.

Die ETH Zürich zeigt, was nach heutigem Stand der Technik möglich ist –und weitet diese Grenzen beständig aus. Netto-Null bedinge auch die enge Zusammenarbeit mit den Energieproduzenten, mit der Stadt und dem Kanton, denn Energieautarkie sei keine Option, gibt Mesot zu bedenken.

Treibstoff aus Licht und Luft

Die Hochschule ist ein Experimentierfeld für Forschende und Studierende. Dabei funktionieren manche Projekte auf Anhieb, manche erst nach vielen Wiederholungen und manche gar nie. Aber oft sind es vermeintlich verrückte Ideen, die das Potenzial für technologische Durchbrüche haben.

So begann auch «Synhelion» als unkonventioneller Ansatz an der ETH Zürich. Die Forscher fragten sich: Sollte es möglich sein, flüssigen Treibstoff aus Sonnenlicht und Luft herzustellen? Man baute eine solare Anlage, die klimaneutral operiert, und konnte vor vier Jahren den Nachweis unter realen Bedingungen erbringen. Die Antwort lautete schliesslich: Ja, die Idee trägt. Dabei werden der Umgebungsluft Kohlendioxid und Wasser direkt entnommen und mit Solarenergie aufgespalten. So entsteht Syngas, dass zu CO2-neutralen Treibstoffen für eine nachhaltige Luftund Schifffahrt verarbeitet werden

kann, etwa zu Kerosin. Eine Zusammenarbeit mit Industriepartnern soll nun zeigen, ob solche CO2-neutralen Solarbrennstoffe markttauglich werden können. Dieses Beispiel zeige, so Joël Mesot, wie wichtig es sei, dass man funktionierende Prototypen aus dem Labor in Zusammenarbeit mit Industriepartnern in Demonstratoren weiter auf Herz und Niere prüfe, bevor man wisse, ob eine Technologie auch im industriellen Massstab funktioniere. Was Unternehmensausgründungen angeht, sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der ETH Zürich ausserordentlich erfolgreich mit rund 25 neuen Start-ups, die jedes Jahr aus der Forschung an der ETH hervorgehen. Sie schaffen Arbeitsplätze und überzeugen eine wachsende Zahl von Investorinnen und Investoren. So flossen allein 2022 rund 1,2 Milliarden Franken als frisches

Kapital in Spin-offs der ETH Zürich. Eine steigende Anzahl der Jungfirmen will ausdrücklich die grossen Themen der Energiewende, des Klimawandels und der Biodiversität adressieren. Von der Herstellung von zementfreiem Beton über die CO2-Abscheidung aus der Luft bis hin zu energieeffizienteren Verfahren für die Industrie oder der Fleischalternative aus Erbsenprotein ist der Fächer an Geschäftsideen der Start-upFirmen sehr gross.

«Die Schweiz hat in der Vergangenheit vieles richtig gemacht, damit Innovation entstehen und gedeihen kann», unterstreicht ETH-Präsident Mesot. «Wir sollten die Chance nutzen, neue Exportschlager zu entwickeln für eine dekarbonisierte Welt.»

Ideen gesucht –und gefunden

Relevant, machbar, kooperativ und divers sowie auf Nachhaltigkeit und soziale Belange fokussiert: Alle diese Kriterien mussten die Ideen und Projekte erfüllen, die junge ETH-Forschende Mitte April beim Uni-internen «SDG Pitch Event» präsentierten – jeweils in nur drei Minuten.

Am Ende sprach die Jury den ETHStudentinnen Theresa Wittkamp und Sofia Felicioni nicht nur 1000 Franken Preisgeld, sondern auch ein Mentoring für «die vielversprechendste Idee» zu. Die beiden haben eine passive Kühldecke entwickelt, die Gemüse und Früchte ohne Strom nur über die Verdampfung von Wasser vor Hitze schützt und so nach der Ernte noch länger haltbar macht.

Das Publikum wiederum belohnte den «besten Pitch» von Estelle Clerc und Christian Engler, dotiert mit 500 Franken. Clerc und Engler wollen gegen industrielle Verschmutzung vorgehen, die die Umwelt, die menschliche Gesundheit und die Biodiversität bedrohen. Dafür soll ein Cocktail aus eigens identifizierten Bakterien und deren Enzymen, die spezifische Umweltgifte zerlegen können, eingesetzt werden.

«Das Feedback war grossartig und der Publikumspreis hat uns bestätigt», freut sich Estelle Clerc. Die Auszeichnung zeige, dass sich die Öffentlichkeit wegen der Umweltverschmutzung Sorgen mache und biobasierte Lösungen dafür gebraucht würden.

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Der ETH-Campus Hönggerberg verbraucht so viel Wärme wie 2000 Einfamilienhäuser. Die Gasheizung wurde durch ein dynamisches Erdspeichersystem ersetzt. FOTOS: PD Joël Mesot, Präsident der ETH Zürich.

Fahrfreude beginnt beim Willen zur Innovation

Klima & Energie Umfangreiche Forschung ist der Motor für die individuelle nachhaltige Mobilität. Die BMW Group sucht neue Ansätze für Rohstoffe, Herstellung und Antriebstechnologien ihrer Fahrzeuge. Schweizer Startups sind Teil des Projekts Zukunft.

DAVID SCHNAPP

Das Schweizer Startup-Unternehmen

Bcomp ist filmreifmässig in einer Garage in Fribourg entstanden. Ziel der Gründer um den heutigen CEO Christian Fischer war es, neue leichte Materialien für die Herstellung von Ski und Snowboards zu entwickeln. Statt Karbon- oder Glasfasern verwendet Bcomp aber Naturmaterialien wie Flachs, was – unter anderem für die Automobilindustrie – von grossem Interesse ist. Die BMW Group hat sich deshalb über ihren Venture-Fonds BMW i Ventures an Bcomp beteiligt und die innovativen Materialien aus der Westschweiz beispielsweise im Motorsport verwendet. Erstmals wurden die Flachskomponenten des Cleantech-Unternehmens 2019 bei BMW M Motorsport in der Formula E eingesetzt. Darüber hinaus bilden die BMW Group Forschung und Bcomp nun eine Entwicklungskollaboration mit dem Ziel, einen höheren Anteil an nachwachsenden Rohstoffen für die Produktion von Komponenten in zukünftigen Fahrzeugmodellen zu nutzen. Ende des vergangenen Jahres wurde Bcomp als «Newcomer of the Year» unter den Zulieferern des Automobilherstellers ausgezeichnet. Aber das Schweizer Startup aus Fribourg, heute ein führender Hersteller von High-Performance-Verbundwerkstoffen aus Naturfasern, ist nur ein Beispiel für die signifikante Dekarbonisierung im Fahrzeugbau, die sich zum umfassenden Unterfangen auswächst, will man sie ernsthaft angehen.

Vegane Innenausstattung

Die Verwendung nachwachsender Rohstoffe und Naturfasern wie Hanf, Kenaf oder Flachs minimiert beispielsweise den Materialeinsatz und reduziert das Gewicht um bis zu 50 Prozent gegenüber herkömmlichen Materialien. Dadurch tragen sie zu einem sinkenden Energieverbrauch der entsprechenden Fahrzeuge bei. Zudem gehen die Naturmaterialien mit einem negativen Wert in die CO2-Berechnung ein, da die verwendeten Pflanzen in ihrer Wachstumsphase CO2 aufnehmen und Sauerstoff abgeben können.

Neue Materialien sind also ein wirkungsvolles Mittel für das umfassende Ziel der CO2-Reduktion von Automobilen – vom Rohstoff bis zur Wiederverwertung am Ende des Lebenszyklus. Die Nachfrage nach veganen Innenausstattungen beispielsweise steigt stetig und Lederalternativen senken den CO2-Fussabdruck von Oberflächen im Fahrzeug um bis zu 85 Prozent. In Kooperation mit einem weiteren Startup –diesmal aus Mexiko – arbeitet die BMW Group für die Zukunft ausserdem daran, das auf pulverisierten Kaktusfasern basierte Material DeserttexTM für die Automobilindustrie zur Serienreife zu führen. Die Kaktusfelder speichern jährlich 8100 Tonnen CO2 im Boden. Die Kakteen kommen ohne Bewässerung aus, ausserdem fällt kein Abwasser an, da anders als bei Rindsleder, keine traditionelle Gerberei mit Chemikalien notwendig ist. Im Gegensatz zur Rinderaufzucht entsteht auch kein klimaschädliches Methangas. Der Innenraum in künftigen BMW-Modellen könnte also dereinst umweltfreundlich aus Kakteen gestaltet sein.

Recycelte Materialien

Innovation auf jedem Gebiet ist der Schlüssel zur CO2-Reduktion für die Zukunft der Mobilität, und ein Aspekt davon ist wiederum die Kreislaufwirtschaft. Autos müssen so konzipiert sein, dass sie am Ende ihrer Nutzungsphase wieder als Rohstoffquelle für Neuwagen

zur Verfügung stehen. Bereits heute werden Fahrzeuge der BMW Group im Durchschnitt aus bis zu 30 Prozent recycelten und wiederverwendeten Materialien gefertigt. Im Mittelpunkt stehen dabei Rohstoffe, die in verantwortungsvoller Weise beschafft und möglichst CO2arm verarbeitet werden sowie eine hohe Recyclingfähigkeit haben.

So wird das neue elektrische MINI Cooper SE Cabrio als weltweit erstes Serienmodell überhaut auf Leichtmetallrädern vom Band rollen, die zu 100 Prozent aus Sekundäraluminium gefertigt sind. Was relativ simpel klingt, ist mit einem hohen Entwicklungsaufwand verbunden. Selbstverständlich müssen auch Bauteile aus Sekundärrohstoffen die hohen Standards der BMW Group in Bezug auf Qualität, Design, Sicher-

heit und mechanischen Eigenschaften erfüllen. Am Ende ihres Lebenszyklus können die Leichtmetallräder des MINI Cooper SE Cabrio zudem vollständig recycelt werden.

Auf dem Weg zu umfassend nachhaltig produzierten Autos darf kein Aspekt ausgelassen werden. So hat sich das batterieelektrische Fahrzeug (BEV) zwar als Konzept weitgehend durchgesetzt, aber gerade die Wasserstofftechnologie hat für die Zukunft der Mobilität viel Potenzial, das nur ungebremster Forschergeist entfesseln kann. «Wasserstoff wird als vielseitige Energiequelle eine Schlüsselrolle bei der Energiewende und damit beim Klimaschutz spielen», sagt Oliver Zipse, Vorstandsvorsitzender der BMW AG. «Denn er ist eine der effizientesten Möglichkeiten, erneuer-

bare Energien zu speichern und zu transportieren. Wir sollten dieses Potenzial nutzen, um auch die Transformation des Mobilitätssektors zu beschleunigen. Wasserstoff ist das fehlende Puzzleteil für emissionsfreie Mobilität, denn eine einzige Technologie wird nicht ausreichen, um klimaneutrale Mobilität weltweit zu ermöglichen.»

Hocheffiziente Brennstoffzellen

Mit dem BMW iX5 Hydrogen hat das Unternehmen ein Fahrzeug entwickelt, dessen Wasserstoff-BrennstoffzellenSystem ein gutes Beispiel für den erwähnten Forschergeist ist. Im eigenen Kompetenzzentrum für Wasserstoff (H1) in München produziert die BMW Group die hocheffizienten Brennstoffzellensysteme für die Pilotflotte des iX5 Hydrogen. Dabei wird H1 in Strom umgewandelt, der die Elektromotoren im Auto antreibt. Im Vergleich zu batterieelektrischen Fahrzeugen hat Wasserstoff eine Reihe von Vorteilen: Er kann in kurzer Zeit getankt werden und ermöglicht eine gleichmässige Reichweite, die nicht von der Aussentemperatur abhängig ist, was die entsprechenden Autos alltags- und langstreckentauglich macht. Das Bekenntnis zur stetigen Innovation und die konsequenten Investitionen in Forschung und Entwicklung zeigen messbare Erfolge. Im Jahr 2022 hat die BMW Group 433 795 elektrische und elektrifizierte Fahrzeuge absetzen können. Und seit 2006 konnten die Emissionen pro Fahrzeug während der Produktion bereits um mehr als 70 Prozent gesenkt werden. Das angestrebte Ziel der BMW Group ist es nun, die Emissionen bis zum Jahr 2030 um nochmals 80 Prozent (auf Basis von 2019) zu senken. In Summe und im Vergleich zu 2006 bleiben dann noch weniger als 10 Prozent der ursprünglichen CO2-Emissionen.

Preis für engagierte Mitarbeitende

In jedem Bereich nachhaltig zu wirtschaften, geht aber über die Materialund Energiebeschaffung hinaus und betrifft nicht nur fortschrittliche Antriebskonzepte für moderne Fahrzeuge, sondern ist vor allem eine Frage der Menschen, welche die Transformation vorantreiben. Für ein Unternehmen ist es unerlässlich, die Belegschaft in die Transformation hin zur Klimaneutralität einzubinden und zu fördern. Jedes Jahr werden deshalb Mitarbeitende mit einem BMW Group Award für gesellschaftliches Engagement ausgezeichnet, die sich ehrenamtlich in nachhaltigen sozialen und ökologischen Projekten engagieren. Zum Ende des Jahres 2022 wurde die Auszeichnung zum elften Mal verliehen, die Preisträger setzen sich für benachteiligte Familien ein, unterstützen Kinder mit Behinderung, begleiten Familien mit schwerkranken Kindern und helfen jungen Menschen, ihre Potenziale zu entdecken. Jedes Jahr bewerben sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der ganzen Welt um den im Unternehmen hoch angesehenen Award. Neben der Wertschätzung für ihr Engagement erhalten die Preisträger ein Preisgeld von je 10 000 Euro, das in die Hilfsprojekte fliesst. Die Finalisten des mehrstufigen Auswahlverfahrens erhalten je 2500 Euro für ihre Initiativen. Soziales Engagement, das zeigt sich am Beispiel des BMW Group Award, ist ein wichtiges Bauteil einer verantwortungsvollen, umfassend nachhaltigen Mobilität mit guten Zukunftsperspektiven.

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Einsatz von Naturfasern im BMW M4 GT4: Der Autohersteller setzt auf die von Bcomp entwickelte Bio-Leichtbauweise. FOTO: BMW
«Wasserstoff wird als vielseitige Energiequelle eine Schlüsselrolle bei der Energiewende und damit beim Klimaschutz spielen.»
Oliver Zipse, CEO von BMW Christian Fischer, CEO des Schweizer Startups Bcomp. FOTO BCOPM

Plastik ohne Erdöl: Mit Holz und Gras ein bisschen die Welt retten

Klima & Energie Professor Jeremy Luterbacher hat an der EPFL ein Verfahren entwickelt, mit dem Kunststoff aus organischen Pflanzenabfällen hergestellt wird. Das neuartige Material könnte für Verpackungen und viele andere Produkte genutzt werden.

schmacksstoffe. «Ich habe einmal ein bacher. «Industriechemiker hätten uns den Schlamassel mit der Erdölchemie eingebrockt, sie sollten uns da also auch

Neue Kunststoffe aus dem Labor: gleichwertig mit klassischem PETPlastik, aber nicht umweltbelastend.

SUSANNE WEDLICH

«Ich habe mich nicht für mein Forschungsgebiet entschieden, um die Welt zu retten», sagt Professor Jeremy Luterbacher und lacht. «Ich habe aber Spass daran, technische Herausforderungen zu meistern. Und wenn ich schon Probleme löse, warum dann nicht solche, bei denen auch die Rettung der Welt eine Rolle spielt? Das macht die Sache doch viel aufregender.»

So gesehen, ist der Schweizer und USamerikanische Chemiker, der an der EPFL das «Laboratory of Sustainable and Catalytic Processing» (LPDC) führt und auf Verfahrenstechnik fokussiert, auf einem äusserst vielversprechenden Weg. Mehr Herausforderung als in seinem Fachgebiet geht kaum. Mehr Weltrettung auch nicht.

Schliesslich gilt es, gleich mehreren globalen Krisen zu begegnen: Der menschengemachte Klimawandel heizt den Planeten auf, während Plastik in immer kleineren Partikeln Ökosysteme von der Tiefsee bis zum Alpengletscher vermüllt. Bei genauer Betrachtung zeigt sich aber, dass eine gigantische Stellschraube gleich beide Krisen befeuert: das Erdöl.

Vielseitiger Rohstoff

Wird es verbrannt, treiben seine Emissionen wie das Treibhausgas Kohlendioxid in der Atmosphäre die Klimakrise an. Erdöl ist zudem aber ein vielseitiger Rohstoff, der eine breite Palette an Produkten liefert (siehe Artikel rechts: «Schwarzes Gold»). Dazu gehört auch Plastik in all seinen Varianten.

Anders gesagt: Wer die klima- und umweltfeindliche Nutzung von Erdöl beenden möchte, muss sich Gedanken über abbaubare Kunststoffe machen. Ganz so wie Jeremy Luterbacher, der dieses ambitionierte Ziel mit einem eigenen Ansatz verfolgt.

Wer in diesem Bereich arbeitet, muss zunächst die fundamentale Frage beantworten, welche Arten von Plastik –ganz unabhängig von ihrer Machbarkeit – überhaupt wünschenswert und sinnvoll sind. Wollen wir in Zukunft umweltfreundlichere Imitate erdölbasier-

ter Kunststoffe nutzen? Oder lieber auf neuartige Materialien mit möglicherweise ungekannten Eigenschaften setzen?

Es ist schliesslich kein Naturgesetz, das Erdöl bisher zum Mass aller Kunststoffe machte. «Das schwarze Zeug quillt fast umsonst aus dem Boden», sagt Luterbacher. «Natürlich haben wir es genutzt und damit das wirtschaftliche Wachstum im letzten Jahrhundert vorangetrieben.»

Nun wird die Produktion von Plastik aber ganz neu gedacht, und Erdöl steht dabei laut Luterbacher als Ressource und als Vorbild auf dem Prüfstand. Denn es enthalte viele Moleküle, die kein Lebewesen essen will – was sie zum schwer abbaubaren Problem in der Umwelt mache.

Nicht alle Kollegen sind davon überzeugt. Sie orientieren sich weiterhin an erdölbasierten Kunststoffen. Das bedeutet, dass sie neue Moleküle entwickeln, die so nah wie möglich ans Original herankommen sollen. Ein perfektes Szenario für die Industrie, so Luterbacher.

«Sie würde sich freuen, für weniger Geld diesselben Moleküle wie bisher nutzen zu können, weil es die Produktionswege und Lieferketten schon gibt. Das Pro-blem ist, dass die Chemie für diesen Ansatz nicht gerade einfach ist.»

Wieder andere denken ihre Plastik-

Weltweiter Erdölverbrauch

projekte eher von der Funktion her: Was sollten neuartige Kunststoffe können?

«Da sind tatsächlich raffinierte Materialien dabei», sagt Luterbacher. Es gehe hier aber weniger um die Frage, wie die dazu passenden Moleküle aussehen und ob sie vielleicht doch aus Erdöl stammen. Er selbst hat sich für den pragmatischen Mittelweg entschieden und eine eigene Philosophie entwickelt: «Ich will nehmen, was die Natur hergibt, und mir dann überlegen, was sich möglichst einfach daraus produzieren lässt, das potenziell auch eine Funktion hat.»

Sanfte Chemie

Was aber ist Plastik überhaupt? Laut Luterbacher weniger ein definiertes Material als eine Eigenschaft. Ähnlich wie bei Papier müssen lange Molekülketten – oder Polymere – ein Gewirr bilden. So entsteht Plastik, also ein festes Material, das sich aber doch brechen lässt, wenn die Molekülketten entwirrt werden. Kohlenstoffbasierte Molekülketten, die sich grundsätzlich auch zur Plastikproduktion eignen, hat die Natur tatsächlich überreich im Angebot. Sie finden sich in Holz, Gras, Blättern und anderem Pflanzenabfall. Derartiger Biomüll fällt in grossen Mengen an und wird

Seit 1970 hat sich der globale Erdölverbrauch mehr als verdoppelt. 2021 betrug er, nach einem Rückgang im Corona-Jahr 2020, rund 4,2 Milliarden Tonnen.

kaum verwertet. Die entscheidenden langkettigen Polymere sind das Lignin, die Zellulose und Hemizellulose. Zellulose besteht nur aus dem Zucker Glukose, und auch Hemizellulose enthält nur einige wenige Bestandteile, die dann allerdings in beiden Fällen tausendfach miteinander zu langen Ketten verknüpft sein können. Luterbacher nutzt Pflanzenabfall zur Plastikproduktion, setzt dabei aber auf sanfte Chemie, die in einem Schritt zum Ziel führt: «Im Grunde kochen wir einfach nur Holz», sagt er. Der von ihm entwickelte chemische Prozess ist unglaublich einfach im Vergleich zu anderen Ansätzen. Wichtig ist, dass die entscheidenden Zuckerstrukturen herausgelöst werden, aber intakt bleiben. Sie bekommen chemische Gruppen mit bestimmten Funktionen angehängt, was letztlich hilft, das langkettige Gewirr zu bilden –also Plastik.

Plastik aus Zucker

Luterbachers Kunststoffe aus Pflanzenpolymeren zeigen bereits ähnlich gute Eigenschaften wie herkömmliches Plastik. In einer Arbeit konnte das Team sogar Kunststoffe präsentieren, die gleichwertig mit klassischem PETPlastik sind. Mit einem entscheidenden

Unterschied: Luterbachers Plastik belastet die Umwelt nicht, weil es letztlich aus weit verbreiteten Zuckern aufgebaut ist. Die besten Polymere hat bisher Xylose geliefert, die unter anderem in Süssstoffen und Zahnpasta vorkommt. Sie sind allesamt geniessbar und sollten leicht oder leichter als erdölbasierte Produkte abbaubar sein – was aber erst offiziell zertifiziert werden muss.

Der Sprung zur industriellen Produktion ist dennoch weit, auch weil neuartige Kunststoffe erst ausgiebig getestet werden müssen, etwa ob sie als Verpackung den Geschmack von Lebensmitteln verändern und grundsätzlich mit diesen verträglich sind. Aber ein Anfang ist gemacht, und Jeremy Luterbacher will sich mit erneuerbarem und abbaubarem Plastik auch nicht begnügen. Wer die Welt retten will, muss die gesamte chemische Industrie neu erfinden und nachhaltig machen. Mit seinem Team arbeitet er bereits erfolgreich an der Entwicklung

«Schwarzes Gold» in der Creme

Erdöl hat sich nach der gängigen Erklärung vor vielen Millionen Jahren aus abgestorbenen Meeresorganismen gebildet. Eine grundlegende Transformation: Durch Hitze, Druck und chemische Prozesse hat sich die Biomasse über lange Zeiträume in zähfliessendes Erdöl umgewandelt. Rohöl, das aus der Erdkruste gepumpt wird, ist ein Molekülgemisch, das Hunderte verschiedener Kohlenwasserstoffverbindungen enthält. Diese haben unterschiedliche Siedepunkte, können in der Raffinerie also über Erhitzung aufgetrennt werden – etwa in Gase, Diesel, Benzin, Kerosin und Heizöl. Doch Erdöl ist auch Ausgangsstoff für eine Vielzahl von Alltagsprodukten. Farben, Lacke und Kosmetika wie Gesichtscremes gehören dazu, aber auch populäre Medikamente wie Aspirin. Nicht zuletzt ist Erdöl der Rohstoff für die Herstellung von Plastik. Die Bandbreite der Produkte reicht von Fensterrahmen, Fussbodenbelägen, Haushaltsgeräten und medizinischen Geräten über Schaumstoffe bis zu Kinderspielzeug und Synthetikfasern wie Nylon. In modernen Industriegesellschaften gibt es wenige Gebrauchsgegenstände, die nicht von dieser Ressource abhängen. Erdöl ist vermutlich der wichtigste aller Rohstoffe.

Samstag, 24. Juni 2023 Nachhaltig handeln Special 9
Erdölverbrauch weltweit in Millionen
QUELLE: STATISTA (2023)
Tonnen
Im Labor hat EPFL-Professor Jeremy Luterbacher (rechts) mit seinen Studierenden einen neuartigen Kunststoff entwickelt. FOTOS: ALAIN HERZOG/EPFL 3D-gedrucktes «Blatt» aus Biokunststoff.
Erdölverbrauch in Millionne 0 1.000 2.000 4.000 3.000 5.000 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 Jahre

Das Unsichtbare sichtbar machen

Biodiversität Milliarden Menschen leben von der biologischen Vielfalt der Ozeane. Doch die Wasserwelt gerät immer mehr in Gefahr. Besonders bedroht sind Korallenriffe. Um sie zu schützen, werden innovative Monitoring-Methoden, wie sie das Zürcher Startup Stream Ocean entwickelt hat, immer wichtiger.

DAVID SCHNAPP

Sie bedecken mit rund 360 Millionen Quadratkilometern über 70 Prozent der Erdoberfläche, sind an manchen Stellen tiefer, als der Mount Everest hoch ist, und bieten geschätzt mehr als zwei Millionen Arten von Organismen einen über Jahrmillionen gewachsenen Lebensraum: Ozeane bilden das grösste Ökosystem unseres Planeten. Über lange Zeit blieb diese maritime Welt dem Menschen nahezu verborgen. Und noch heute sind mehr als 80 Prozent der Gewässer unerforscht.

Was allerdings zum Vorschein kommt, ist alarmierend. Es geht um gravierende Veränderungen. Sie deuten darauf hin, dass die Biodiversität der Weltmeere, Lebensgrundlage von drei Milliarden Menschen, immer mehr in Gefahr gerät. Umstrittene Fangmethoden der Fischindustrie haben bereits zur Zerstörung vieler Lebensräume beigetragen. Seit 1970 sind die weltweiten Fischbestände um rund die Hälfte zurückgegangen.

Auch der Klimawandel und die Zunahme von Kohlendioxid in der Atmosphäre wirken sich bedrohlich auf die Ozeane und deren Bewohner aus. Die Wassertemperatur steigt, sensible Systeme geraten aus dem Gleichgewicht, CO2 erhöht den Säuregehalt des Wassers, und das Abschmelzen der Polkappen reduziert die Salzkonzentration. Hinzu kommt die immense Verschmutzung, von denen selbst entlegene Küsten nicht mehr verschont bleiben.

Besonders augenfällig wird die zunehmende Gefährdung des Ökosystems Ozean am Phänomen der ausbleichenden Korallen. 90 Prozent der Riffe drohen abzusterben, viele sind schon zerstört. Weltweit. Was enorme Folgen nach sich zieht, da rund ein Viertel aller Meereslebewesen auf Korallenriffe angewiesen sind, darunter 4000 Fischarten.

Daten aus der Unterwasserwelt

«Um unsere Ozeane und Meeresressourcen zu erhalten und nachhaltig zu nutzen, werden dringend bessere Monitoring-Lösungen benötigt», ist man bei Stream Ocean, einem Startup aus Zürich, überzeugt. Unter der Devise «Making the invisible visible» hat das zehnköpfige Expertenteam die Herausforderung angenommen und selber eine bahnbrechende End-to-end-Lösung entwickelt: Sie besteht aus einem relativ einfach zu installierenden System mit drei Unterwasserkameras und einer von künstlicher Intelligenz gestützten Datenanalytik. Mithilfe der innovativen Technologie können live gestreamte Video- und Sensordaten vom Meeresgrund erfasst, in Echtzeit ausgewertet und auf einem Dashboard angezeigt werden, rund um die Uhr.

Dieses Verfahren soll Projekten zugute kommen, mit denen Kunden –

Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Nichtregierungsorganisationen oder Staaten – auf den Verlust der biologischen Vielfalt reagieren. Es geht konkret vor allem um Massnahmen zur Wiederherstellung von Korallenriffen. «Wir sind davon überzeugt, dass ein neues Paradigma der Meeresüberwachung notwendig ist, um Kapital effektiv für solche Projekte zu nutzen und einzusetzen», so David Lunsford, CEO und Gründer von Stream Ocean. Insbesondere in der aquatischen Umwelt seien die bisher verwendeten MonitoringTechniken «bei weitem nicht vollständig und oft veraltet», erklärt er.

Dazu muss man wissen, dass die Überwachung der biologischen Vielfalt eine längere Geschichte hat. In den 1970er- und 1980er-Jahren war es vor allem die Besorgnis über den drastischen Rückgang der Fischpopulationen, die zur Entwicklung neuer Monitoringverfahren geführt hat. Mit dem technischen Fortschritt kamen im Laufe der Zeit weitere Ansätze und Technologien hinzu, die die Genauigkeit und Effizienz des Monitorings kontinuierlich verbesserten. Die Bandbreite der heute üblichen Methoden reicht von der visuellen

«Die grössten Herausforderungen der derzeit verfügbaren Monitoring-Verfahren, denen wir bisher begegnet sind, waren die Kosten, die mangelnde Datenkonsistenz und das geringe StakeholderEngagement.»

Erhebung durch Profi-Beobachter über den Einsatz von Akustiksensoren und Köder-Fischkameras bis hin zu speziellen Umwelt-DNA-Analysen. Die meisten Verfahren erweisen sich aber entweder als sehr aufwendig und teuer, oder sie greifen invasiv in die Umwelt ein. «Insgesamt hat jede dieser Methoden Stärken und Schwächen», so Lunsford. «Mit der Lösung, die wir entwickelt haben, wollen wir die Lücken der bestehenden Überwachungstechniken schliessen.»

Bilderkennung verbessert

Dank dem 2022 lancierten Verfahren von Stream Ocean ist es nun möglich, auf der Basis konsistenter, vergleichbarer Daten über einen längeren Zeitraum und über verschiedene Standorte hinweg Meeresprojekte konsequent zu verfolgen – etwa wenn es um dieWiederherstellung von Korallenriffen, um Aquakulturen oder die Folgenabschätzung von Umweltmassnahmen geht. Damit fördere man nicht nur einen wirksamen Schutz der Ozeane, sondern gebe den Entscheidungsträgern auch wertvolle Informationen über Best Practices an die Hand, so Stream Ocean. Die vom Schweizer Startup entwickelte Methode nutzt technologische Fortschritte in der Bilderkennung und ermöglicht nach eigenen Angaben als Erstes überhaupt, Unterwasserkameras autonom mit Strom zu versorgen, mit dem Internet zu verbinden und künstliche Intelligenz einzusetzen, um das permanente Monitoring der Meeresbewohner sicherzustellen. «Dieses System hat das Potenzial, die Art und Weise, wie wir Fischpopulationen überwachen und verwalten, zu revolutionieren. Und es könnte dazu beitragen, die langfristige Nachhaltigkeit der Meeresökosysteme zu gewährleisten», so Lunsford. «Durch das Bereitstellen detaillierter Daten über Fischpopulationen können wir fundierte Entscheidungen im Rahmen von Erhaltungs- und Managementstrategien treffen, die zum Schutz und zur Wiederherstellung der Artenvielfalt aquatischer Ökosysteme beitragen.»

Anliegen von Stream Ocean ist es, ein langfristiges Unterwasser-Monitoringinstrument zu entwickeln, das kontinuierlich Daten über einen bestimmten Ort oder Lebensraum sammeln kann, ohne dass die Anwesenheit eines menschlichen Beobachters das Verhalten der überwachten Arten beeinflusst.

Programm für Schweizer Startups

Die Firma Stream Ocean wird an einem Programm der schweizweiten Initiative Digitalswitzerland teilnehmen, das bis zu zehn Startups dabei hilft, die nächsten relevanten Schritte zu unternehmen. Das bis zu sechs Monate dauernde Programm beinhaltet verschiedene Trainings, ausserdem erhält jedes der teilnehmenden Startups einen eigenen Mentor. Es handelt sich dabei um ehrenamtlich tätige Profis aus der Wirtschaft. Deren Unternehmen unterstützen das Programm. Mit dabei sind Wipro, Lidl, SAP, Samsung, Bluerain Partners und die NOAH-Conference. Weitere Informationen: digitalswitzerland.com.

10 Special Nachhaltig handeln Samstag, 24. Juni 2023
Korallenriffe sind artenreiche, höchst sensible Ökosysteme. David Lunsford, CEO von Stream Ocean. Mit der vom Schweizer Start-up Stream Ocean entwickelten Technologie werden Video- und Sensordaten aus dem Meer in Echtzeit erfasst und analysiert. FOTOS: PD Ahmad Allahgholi Gründer und Direktor der Schweizer Umweltorganisation Coralive

Klimarisiken: Ohne IT-Expertise geht nichts

Risikomanagement Für grosse Firmen ist der Umgang mit Risiken eine bekannte Aufgabe. Wegen neuer Vorgaben zur nichtfinanziellen Geschäftsberichterstattung müssen zudem auch Klimarisiken bei der Unternehmenssteuerung berücksichtigt werden. Und diese Verpflichtung hat es in sich.

Kein Zweifel: Angesichts der weltweit vereinbarten Klimaziele steigt der Druck auf Unternehmen. Das spiegelt sich auch in der dynamischen Entwicklung, die sich auf Seiten der Gesetzgeber beobachten lässt. Die regulatorischen Vorgaben für Unternehmen in der Schweiz und auf internationaler Ebene nehmen deutlich zu. Dabei ist die Stossrichtung im Kern überall die gleiche: Verwaltungsräte und Geschäftsleitungen müssen handeln, ihre Unternehmen auch gegen Klimarisiken absichern und für eine klimaneutrale Wirtschaft fit machen.

In Sachen Klimawandel sind Firmen gleich doppelt gefordert: Einerseits sehen sie sich potenziellen Klimarisiken wie Naturkatastrophen ausgesetzt – man spricht hier auch von der «Outside-in-Perspektive». Andererseits wirken Unternehmen durch ihre eigene Geschäftstätigkeit selbst auf den Klimawandel ein («Inside-out-Perspektive») –damit können Chancen, aber eben auch erhebliche finanzielle Risiken verbunden sein. Lange fehlten in der Schweiz derartige Offenlegungen grosser Unternehmen. Das hat sich geändert.

Einheitliche Vorgaben

Mit der Annahme des Gegenvorschlags zur Konzernverantwortungs-Initiative wurden hierzulande neue Sorgfalts- und Berichterstattungspflichten für Unternehmen ab einer bestimmten Grössenordnung beschlossen, was viele Banken und Versicherungen miteinschliesst. Inhaltlich geht es um Umwelt-, Arbeitsund Sozialbelange – und natürlich um das Klima (Artikel 964a–964c, Obligationenrecht).

Was mit der geforderten Berichterstattung speziell zum Klimaschutz gemeint ist, hat der Bundesrat wiederum in einer eigenen Verordnung dargelegt, die zum 1. Januar 2024 in Kraft treten wird. Dabei wurden die international anerkannten Empfehlungen der «Task Force on Climate-related Financial Disclosures» (TCFD) von 2017 als verbindlich erklärt.

Ziel des Gesetzgebers sei es gewesen, «einheitliche, verlässliche und zukunftsgerichtete» Vorgaben zu machen, erklärt Xenia Karametaxas, Policy Advisor Sektion Nachhaltige Finanzen beim Finanzdepartement (EFD) in Bern. Denn eine aussagekräftige und vergleichbare Klimaberichterstattung schaffe Rechtssicherheit und mehr Transparenz im Finanzsektor, senke die Transaktionskosten bei Investitionen und erleichtere es auch Unternehmen, sich am Markt Kapital zu beschaf-

fen. Salopp formuliert, sollen Investoren und Märkte wissen, woran sie bei einem Unternehmen dran sind.

Allerdings haben es die TCFD-Empfehlungen in sich. Berichtspflichtige Firmen könnten daher gar nicht früh genug anfangen, sich damit auseinanderzusetzen, ist Kay Schwarzer, Experte Banking Consulting bei Swisscom, überzeugt. Swisscom unterstützt Kunden dabei, ein TCFD-konformes Klimarisikomanagement umzusetzen und das nötige Datenmanagement zu betreiben. 2025 müssen die ersten Berichte für das Geschäftsjahr 2024 stehen und der Generalversammlung zur Genehmigung vorgelegt werden. Zumindest erklärt die Verordnung den Unternehmen, was auf sie zukommt.

Vier Baustellen auf einmal

Die TCFD-Vorgaben umfassen nicht nur das eigentliche Management klimabezogener Risiken, sondern auch die Themen Governance, Strategie und Messgrössen. Im schlimmsten Fall tun sich also für Unternehmen vier Baustellen zugleich auf. Ein Trost: Das Reporting versteht sich als Prozess. Unternehmen können sich von Jahr zu Jahr verbessern – etwa bei der Absenkung der CO2-Emissionen. Von zentraler Bedeutung ist allerdings ein proaktives Klimarisikomanagement: Hier geht es darum, klimabedingte Risiken erst einmal zu identifizieren und sie in Form von Umsätzen, Betriebs-, Kapital-, Investitions- oder Personalkosten zu quantifizieren. Dabei unterscheidet TCFD zwischen akuten beziehungsweise dauerhaften physischen Risiken wie Hitzewellen oder Überflutungen und – ebenfalls klimabedingten – «Transitionsrisiken». Dazu gehören etwa Energiekosten, neue Gesetze, Imageverluste oder ein verändertes Marktverhalten der Konsumenten.

Schadensszenarien berechnen

Das Team vom Swisscom Banking Consulting konzentriert sich auf die Umsetzung des Klimarisikomanagements. Denn hierbei sind Unternehmen oft auf Unterstützung angewiesen, um Risikoinventare zu erstellen, die Stabilität von Lieferketten einzuschätzen und Schadensszenarien zu berechnen. «Mithilfe von Klimamodellen muss man sich zuerst ein Bild von der kurz-, mittel- und langfristigen Risikosituation sowie von den damit verbundenen finanziellen Auswirkungen für das Unternehmen machen», erklärt Kay Schwarzer. Der grösste Schritt kommt allerdings erst nach dieser Analyse. Auf Basis der gewonnenen Risikoübersicht und der intern ermittelten finanziellen Risiko-

höhe gelte es, geeignete Massnahmen zu definieren, notwendige Investitionen zu tätigen und auch zu antizipieren sowie bei Bedarf das Geschäftsmodell anzupassen. Für all dies benötigt man Know-how und die richtigen IT-Tools. Im Verbund mit weiteren Spezialisten unterstützt Swisscom Unternehmen dabei, die grossen Mengen an Daten möglichst automatisiert zusammenzuführen. «Idealerweise soll man das Klimarisikomanagement quasi auf Knopfdruck durchführen können», resümiert Kay Schwarzer. Der Mehrwert ist klar: Wenn eine Bank weiss, welche Klimarisiken mit wel-

Adaption an den Klimawandel – das ist der Schlüssel zur nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit.

chen finanziellen Auswirkungen verbunden sind, kann sie dies im Pricing sowie in Kunden- und Anlage-Ratings ausdrücken. Darüber hinaus ist es in allen Branchen ratsam, bei der weltweiten Standortsuche – etwa für eine neue Produktionsstätte – die Klimarisiken zu kalkulieren. Autohersteller wie etwa BMW berücksichtigen diesen Faktor schon lange bei der Standortwahl. Wichtig ist, dass Unternehmen ihr gesamtes Klimarisikomanagement nicht nur wegen der Berichtspflicht betreiben, sondern aus eigenem Antrieb, um Risiken tatsächlich zu reduzieren. Adaption an den Klimawandel – das ist der Schlüssel zur nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit.

Greenwashing verhindern

Je nach Kundenbedürfnis kann es vom ersten Workshop bis zur Implementierung eines Klimarisikomanagements bis zu einem Dreivierteljahr dauern. Am Anfang steht immer die Frage, welche Risiken, die mit dem Klimawandel verbunden sind, denn überhaupt ein Unternehmen bedrohen oder zukünftig bedrohen könnten. Mit solchen unliebsamen Klimaereignissen wie Stürmen, Überflutungen, Dürren oder Waldbränden kennt sich der Meteorologe Sebastian Glink bestens aus. Der Mitgründer von Climada Technologies, einem Spin-off der ETH Zürich, erstellt anhand historischer Daten und Annahmen, die in statistische Modelle einfliessen, Klimaszenarien. Diese geben Auskunft darüber, wie häufig Klimaereignisse eintreten und wie intensiv sie voraussichtlich sein werden. Glink betont, dass alle Daten und Modelle für die Software- und Reporting-Services von Climada Technologies aus der Forschung stammen, sie sind Open Source und damit frei zugänglich und nachprüfbar. «Das ist sehr wichtig, um Greenwashing zu verhindern.»

Betroffen sind weltweit grundsätzlich alle Unternehmen, deren Anlagen und Gebäude den Naturgewalten ausgesetzt sind. Glink denkt dabei an Kunden wie weltweite Logistik- und Produktionskonzerne. Die häufigsten Klimaereignisse in der Schweiz sind Dürren und Hitzegewitter, die zu Überflutungen führen, Winterstürme und Hagel.

Drohende Umsatzausfälle Mithilfe regionaler Klimaszenarien und der Bewertung der Infrastruktur eines Unternehmens lassen sich potenzielle Schäden und Auswirkungen in Form einer mathematischen Funktion berechnen. «Wir sprechen hier von Vulnerabilität oder Impact», erklärt Glink. Das können Umsatzausfälle, beschädigte

Glink:

Nachhaltig handeln

Empfehlungen für die Praxis

Was Firmen beim Klimarisikomanagement beachten sollten:

„ Zuständigkeiten regeln: Nachhaltigkeit ist Chefsache und benötigt Personal.

„ Rechtzeitig anfangen: Die neue Klima-Verordnung in der Schweiz ist komplex.

„ Mitarbeitende sensibilisieren: Klima-Reporting ist Teamarbeit.

„ Berichten nach dem Ansatz «comply or explain»: Wer kein Klimakonzept vorlegt, muss dies begründen.

Immobilien oder sinkende Produktivität der Mitarbeitenden durch grosse Hitzewellen sein. Das tönt nach viel Aufwand. Meist müssen sich die Finanzabteilungen um das erweiterte Risikomanagement kümmern, weil eigene Nachhaltigkeitsmanager fehlen. Glink rät, klein anzufangen und sich zunächst auf wenige Standorte und ihre Klimarisiken zu beschränken. «Beim nächsten Schritt, der finanziellen Risikoberechnung, stehen heute viele noch am Anfang.» Eine rein qualitative Beschreibung von Risiken greift allerdings auf Dauer zu kurz. Denn das hilft dem Management der Unternehmen wenig bei seinen Investitionsentscheidungen.

Samstag, 24. Juni 2023 Nachhaltig handeln Special 11
CORNELIA GLEES Unwetter über Lugano: Hitzegewitter, aber auch Dürren und Hagelstürme gehören in der Schweiz zu den Klimarisiken, die Unternehmen in ihr Management einbeziehen müssen. FOTO: ADOBE STOCK Sebastian Der Meteorologe gründete gemeinsam mit Simone Thompson und Professor David Bresch von der ETH Zürich Climada Technologies. FOTO: PD Dr. Kay Schwarzer, Experte Banking Consulting bei Swisscom FOTO: PD

Die Quadratur des Kreises

Wirtschaft Ökonomisch wachsen und gleichzeitig den Ressourcenverbrauch senken – geht das? Die Antwort lautet: nur sehr begrenzt und nicht in globalem Massstab. Die Umweltbelastungen bleiben.

Grafik 1: Energieverbrauch

In den letzten Jahrzehnten ist der Energieverbrauch parallel zur wirtschaftlichen Entwicklung angestiegen.

ION KARAGOUNIS

Können wir unsere Umweltprobleme lösen, selbst wenn sich unsere Wirtschaft weiter wie bisher entwickelt und stetig wächst? Na klar, ist eine oft gehörte Antwort. Wir müssten lediglich den Ressourcenverbrauch vom Wachstum abkoppeln. Doch so einfach scheint das nicht zu sein, wie die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zeigen. Auf globaler Ebene ist der Energieverbrauch weitgehend parallel zum Wirtschaftswachstum gestiegen; ebenso haben die CO2-Emissonen und der Ressourcenverbrauch – gemessen als ökologischer «Footprint» – stetig zugenommen, wenn auch weniger stark. Abgenommen haben die Belastungen nur in Jahren, in denen es gleichzeitig zu einem Rückgang der Wirtschaftsleistung kam, zum Beispiel während der Finanzkrise 2008 (Grafiken 1 und 2).

Produktion verlagert

Was ist hier genau passiert? Bei den CO2-Emissionen und beim Ressourcenverbrauch hat eine sogenannt relative Entkopplung von der Wirtschaftsleistung stattgefunden, beim Energieverbrauch gab es gar keine Entkopplung. Relative Entkopplung heisst nichts anderes als: Die Schäden nehmen etwas weniger schnell zu, als die Wirtschaft wächst. Das verschafft uns Zeit, aber um die Umwelt tatsächlich und langfristig entlasten zu können, braucht es eine absolute Entkopplung. Mit anderen Worten: Der Verbrauch von Energie und Ressourcen müsste sinken, während die Wirtschaftsleistung steigt.

Verlagerung der Produktion

Doch ist eine absolute Entkopplung überhaupt möglich? In einzelnen Fällen konnte sie tatsächlich nachgewiesen werden. So haben die CO2-Emissionen in der Schweiz seit Mitte der 1990er-Jahre abgenommen, obwohl die Wirtschaft hierzulande gewachsen ist. Dasselbe wurde für den Ressourcenverbrauch in Deutschland beobachtet. Doch das ist lediglich eine regionale Sichtweise. Wegen der Verlagerung der industriellen Produktion aus Europa heraus fallen Emissionen und Ressourcenverbrauch heute in einer anderen Welt-

gegend an – unsere T-Shirts werden in Bangladesch produziert, unsere Smartphones in China.

Verschiedene Gründe sind dafür verantwortlich, dass der Verbrauch von Energie und Ressourcen und die damit verbundenen Umweltbelastungen aus globaler Sicht nicht abnehmen:

„ Technische Verbesserungen und Effizienzsteigerungen werden durch Mehrproduktion respektive -verbrauch kompensiert.

„ Der Ressourcenverbrauch wird nicht absolut reduziert, es kommt zu Verlagerungen (in andere Weltgegenden, zu anderen umweltbelastenden Stoffen).

„ Gut zugängliche Rohstoff- und Energielagerstätten werden zuerst abgebaut. Später kommen die schlechter zugänglichen hinzu – das führt zu einem höheren Energieaufwand und zu mehr Emissionen, um dieselbe Ressourcenmenge zu gewinnen.

Möglichkeiten ausgereizt

Wäre es aus theoretischer Sicht überhaupt möglich, den Ressourcenverbrauch dauerhaft vom Wachstum abzukoppeln?

Dazu gibt es verschiedene Aussagen in der Literatur. Eine einfache Überlegung legt allerdings nahe, dass dies nicht möglich ist (siehe Grafik 3). Dabei werden drei Phasen unterschieden:

Phase 1: der heutige Zustand mit vielen ungenutzten Potenzialen zur Steigerung der Energie- und Materialeffizienz.

Phase 2: eine Zeitperiode, in der alles darangesetzt wird, den Ressourcenverbrauch zu verringern (morgen).

Phase 3: eine Zeitperiode, in der die technischen Möglichkeiten weitgehend ausgeschöpft sind, die Ressourcen noch effizienter einzusetzen (übermorgen).

Während in der zweiten (grünen) Phase ein Rückgang des Ressourcenverbrauchs möglich ist, selbst wenn die Wirtschaft wächst, wird es wieder eine Zunahme geben, sobald die technischen Möglichkeiten ausgereizt sind. Dann kann der Ressourcenverbrauch nur noch verringert werden, indem weniger konsumiert wird (Verhaltensänderung). Damit würde gleichzeitig das Wirtschaftswachstum gebremst.

Konsum einschränken

Das Europäische Umweltbüro führte vor einigen Jahren in einer Studie insgesamt sieben Gründe auf, warum absolute Entkopplung nicht funktioniert. Wollte man tatsächlich eine Entlastung der Umwelt erreichen, wären staatliche Eingriffe notwendig, wie beispielsweise die Plafonierung des Verbrauchs von Energie und Ressourcen oder des Ausstosses von Emissionen. Das ist das, was man zurzeit bei den CO2-Emissionen mit Cap- and Trade-Systemen wie dem Emissionshandel der EU macht, oder was man in der Schweiz diskutiert angesichts der auch in Zukunft möglichen Stromengpässe.

Mein Fazit lautet erstens: Eine absolute Entkopplung des Ressourcenverbrauchs von der wirtschaftlichen Entwicklung konnte bis heute auf globalem Level nicht beobachtet werden. Aus theoretischer Sicht gibt es allerdings eine zeitlich begrenzte Phase, in der eine Abnahme möglich ist.

Zweitens: Um den Verbrauch von Energie und Ressourcen dauerhaft zu reduzieren, muss der Konsum von material- und energieintensiven Gütern und Dienstleistungen limitiert werden. Dies führt jedoch zu einer Verlangsamung oder zu einem Stopp des Wachstums, so wie wir es heute definieren.

Ion Karagounis ist Präsident von Go for Impact und beim WWF Schweiz verantwortlich für neue Wirtschaftsmodelle und Zukunftsfragen.

Grafik 2: CO 2 -Emissionen

Auch der Kohlendioxidausstoss ist stetig gestiegen, wenn auch deutlich weniger stark.

CO2-Emissionen aus der Kraftstoffverbrennung, in Millionen Tonnen Welt-Bruttoinlandsprodukt, in Billionen US-Dollar

Grafik 3: Lässt sich Ressourcenverbrauch dauerhaft vom Wirtschaftswachstum abkoppeln?

Drei Entwicklungsphasen

heute - Umweltschädliche Technologien - Ungenügende Effizienz - Belastung nimmt zu wegen Wachstum

QUELLE: ION KARAGOUNIS

Physikalische Grenzen der Effizienzsteigerung erreicht

morgen - Wechsel zu umweltfreundlichen Technologien - Effizienzsteigerung - Belastung nimmt ab trotz Wachstum

übermorgen - Verbesserung kaum/ nicht mehr möglich - Belastung nimmt zu wegen Wachstum

Wirtschaftswachstum Zeit

Lernen aus der Vergangenheit

Bis zum Beginn der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert lebten die meisten Menschen in Armut, und es mangelte ihnen an vielen lebensnotwendigen Ressourcen. Die Ressourcen gab es zwar, aber der Mensch war noch nicht fähig, sie in grossem Umfang zu nutzen.

Mit der Industrialisierung wurde es auf einmal möglich, natürliche Ressourcen in grossem Stil und zu sehr geringen Kosten zu nutzen, allen voran die fossilen Energieträger (Kohle, Öl, Gas).

Heute lebt ein grosser Teil der Menschheit in einer Überflusswirtschaft, und unsere Wirtschaftssysteme basieren darauf, die Ressourcen quasi unbegrenzt nutzen zu können.

Neu ist, dass in Zukunft wichtige oder gar systemrelevante Ressourcen re-

spektive Senken für Schadstoffe (Emissionen) aus globaler Sicht nicht mehr im Überfluss zur Verfügung stehen werden – weil es sie nicht mehr genügend gibt oder weil wir sie künstlich begrenzen müssen, so wie den CO2-Ausstoss. Die industrielle Produktion der allermeisten Güter ist im Laufe der letzten Jahrzehnte (massiv) effizienter geworden, ebenso die Leistungen, die die Produkte erbringen. Trotz dieser Fortschritte, einer markanten Verbesserung der Umweltsituation und einer Stabilisierung des Ressourcenverbrauchs in einzelnen Weltgegenden, ist es aus globaler Sicht nicht gelungen, den Ressourcenverbrauch und die dadurch hervorgerufenen Umweltbelastungen zu plafonieren oder gar zu reduzieren.

12 Special Nachhaltig handeln Samstag, 24. Juni 2023
Mit dem Wachstum der Wirtschaft sind weltweit Treibhausgasemissionen, Energie- und Ressourcenverbrauch gestiegen. FOTO: PD
Zur Entlastung der Umwelt wären staatliche Eingriffe notwendig.
Umweltbelastung
Ressourcenverbrauch
Weltweiter direkter Primärenergieverbrauch Welt-Bruttoinlandsprodukt, in Billionen US-Dollar 90 000 80 000 70 000 60 000 50 000 40 000 30 000 20 000 10 000 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1971 1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 Jahre 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2103 2015 2017 Globaler Energieverbrauch in Terawattstunden Welt-Bruttoinlandsprodukt, in Billionen US-Dollar Weltweiter direkter Primärenergieverbrauch Welt-Bruttoinlandsprodukt, in Billionen US-Dollar 210 000 190 000 170 000 150 000 130 000 110 000 90 000 70 000 50 000 160 140 120 100 80 60 40 20 0 1965 1967 1969 1971 1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019 Jahre QUELLE: WWF QUELLEN: OUR WORLD IN DATA; WELTBANK

Ideen für eine lebenswerte Zukunft

Bauen & Wohnen Mit der Initiative «Lebensräume 2025» will die BKW einen Beitrag leisten, um die Energieziele des Bundes zu erreichen. In verschiedenen Ateliers werden Konzepte und Lösungsansätze entwickelt.

Das Schweizer Energie- und Dienstleistungsunternehmen BKW feiert in diesem Jahr sein 125-jähriges Bestehen und nimmt das Jubiläum zum Anlass, um sich mit Ideen für eine lebenswerte Zukunft zu beschäftigten. Dafür hat das Unternehmen die Initiative «Lebensräume 2025» lanciert. Dabei geht es um Lösungen für die Handlungsfelder Energie, Gebäude und Infrastruktur – allesamt Kernkompetenzen der BKW. «Mit der Initiative wollen wir Lösungsansätze erarbeiten, die bereits Wirkung auf das Morgen haben und nicht erst auf die ferne Zukunft», betont Martin Schweikert, Leiter Corporate Communications. «Wir erkennen, dass wir nur gemeinsam mit anderen Stakeholdern Lösungen für die Megatrends erarbeiten können, um lebenswerte Lebensräume zu erreichen.»

Beitrag für die Gesellschaft

Die BKW will den Wandel aktiv mitgestalten, und zwar für jedes Individuum, für die Gesellschaft und die Umwelt. Dieses Ziel soll unter anderem mit intelligenten Gebäuden erreicht werden, wobei die Themen Energie, Gebäude und Infrastruktur als Ganzes betrachtet und integral vernetzt werden. Zur Anwendung gelangt ein ganzheitlicher Ansatz – von der Planung über die Installation bis zu Betrieb und Unterhalt –, wobei auf das weitverzweigte Netzwerk der BKW zurückgegriffen werden kann, das Energie- und Gebäudelösungen aus einer Hand ermöglicht. Die Initiative «Lebensräume 2025» soll eine Plattform bieten für die Gestaltung dieser zukunftsweisenden Lösungen. In Anlehnung an die 125-jährige Pionierarbeit will die BKW mit der Lancierung der Initiative weiterhin ihre gemeinschaftliche Verantwortung wahrnehmen und einen Beitrag für die Gesellschaft leisten.

Zahnrad in grossem Uhrwerk

Im Zentrum der Initiative stehen verschiedene «Ateliers», die das ganze Jahr hindurch stattfinden. Dort soll der Zusammenarbeit und dem konstruktiven Dialog zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft sowie Politik Raum gegeben werden. Eine der Prämissen besagt, dass die Herausforderungen, die durch Megatrends wie Klimawandel,

Gebäude haben in der Regel einen Lebenszyklus von 50 bis 80 Jahren. Da bleibt mit Blick auf die Klimaziele bis 2050 nicht mehr viel Zeit, um den Gebäudebestand zu transformieren.

Digitalisierung und Urbanisierung entstehen, nur gemeinsam mit relevanten Stakeholdern angegangen werden können. Um die besten Resultate zu erreichen, ist die Beteiligung externer Stakeholder und Experten unabdingbar. Die BKW versteht sich in diesem Prozess als «Zahnrad in einem grossen Uhrwerk».

Stetige Weiterentwicklung

«Gemeinsam wirken» lautet das Motto der Atelier-Werkstätten der «Lebensräume 2025»-Initiative. In ganz unterschiedlichen Formaten werden dort mit Stakeholdern konkrete Fragestellungen zur Schaffung von lebenswerten Lebensräumen diskutiert. Ausserdem werden dann auf dieser Basis gemeinsam innovative Lösungsansätze und neue Projekte gestaltet, die etappenweise umgesetzt werden sollen. «Die Ansätze werden in den Ateliers besprochen, ausgeklügelt und gemeinsam definiert», erläutert Kommunikationschef Martin Schweikert. «Persönlich bin ich am meisten auf die jährlichen Treffen gespannt, um die Fortschritte zu analysieren und nächste Schritte zu definieren. Wir sind uns bewusst, dass dies ein stetiger Prozess der Weiterentwicklung ist. Ich freue mich aber auf die Herausforderung und den Austausch mit Expertinnen und Experten.» Die Ateliers dienen gleichermassen als Dialog- und Wirkungsplattformen wie auch als «Lösungsschmieden» für die Herausforderungen in den Lebensräumen. Die nächsten von ihnen sind dabei folgenden Themen gewidmet: «Klimawende: auch ein Arbeitskräfteproblem», «Lebenswerte Wohnräume» und «Energiesysteme: dezentral und demokratisch».

Das erste Atelier fand am 7. März dieses Jahres zum Thema Gebäudeautomation statt. Die Wahl war auf dieses Thema gefallen, weil ungefähr 45 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs der Schweiz durch Gebäude verursacht werden. Deshalb sind der Handlungsspielraum und die Hebelwirkung bei der Gebäudeautomation besonders gross. Zum Beispiel können gemäss Berechnungen der BKW allein schon mit einer intelligenten Beleuchtung bis zu 80 Prozent an Strom eingespart werden. Sollen die Klimaziele erreicht werden, reicht es nicht, Neubauten mit moderner Technik auszustatten. Auch die bestehenden Gebäude müssen für die Dekarbonisierung auf den neuesten Stand der Technik gebracht werden, so etwa im Hinblick auf die Energieeffizienz und die Verwendung erneuerbarer Energien.

«Obwohl es den Anschein hat, dass wir noch genügend Zeit haben, um die Klimaziele bis 2050 zu erreichen, müssen wir berücksichtigen, dass Gebäude in der Regel einen Lifecycle von 50 bis 80 Jahre haben. Aus dieser Perspektive bleibt nicht mehr viel Zeit, um unseren Gebäudebestand zu transformieren», erklärt Christian Pfab, Leiter Automation bei BKW Building Solutions. Genau deshalb wurden im ersten Atelier die Bausteine für eine solche Transformation thematisiert, die am meisten Effizienz versprechen. Vor allem bei der

Nachhaltig handeln

intelligenten Gebäudeautomation sieht Christian Pfab ein enormes Potenzial, um erhebliche Optimierungen und Einsparungen im Betrieb zu erreichen. Vorteile noch zu wenig bekannt Aber es bleibt noch viel zu tun: Denn die Diskussion mit den Expertinnen und Experten brachte klar zum Ausdruck, dass bei vielen Immobilieneigentümern die Vorteile und Möglichkeiten von modernen Gebäudeautomationssystemen noch viel zu wenig bekannt sind. Dementsprechend haben es alle Immobilienbesitzende in der Hand, am Turnaround mitzuwirken und die Weichen Richtung Dekarbonisierung im Gebäudepark zu stellen. Dass Vieles möglich ist, wenn man nur will, zeigt das Beispiel der auf Gebäudeautomation spezialisierten und zum BKW-Ökosystem gehörenden Firma pi-System aus Oberkirch LU. «Wir sehen, dass wir mit modernen Gebäudesystemlösungen viel bewirken können, sowohl bei der Einsparung von Ressourcen im Betrieb als auch für die Attraktivität einer Immobilie als Ganzes,» sagt Bernhard Sax, CEO von pi-System.

Wer an einem Atelier der «Initiative Lebensräume 2025» teilnehmen möchte – hier die E-Mail-Adresse zur Kontaktaufnahme: lebensraeume_2025@bkw.ch

Gebäudeautomation verringert

Betriebskosten um bis zu 40 Prozent

Um bei der Nachhaltigkeit vorwärtszumachen und dem Klimawandel entgegenzuwirken, braucht es eine ganzheitliche Energiewende. Vieles ist schon erreicht, vieles muss noch geschehen. Die BKW ist mit ihrem Portfolio breit aufgestellt und deckt von der erneuerbaren Energieproduktion über intelligente Verteilnetze bis zur effizienten Nutzung von Elektrizität in Gebäuden, in der Industrie oder in der Mobilität zentrale Handlungsfelder ab.

Besonders die Gebäudeautomation kommt der Umwelt zugute und bringt etliche Vorteile mit sich, denn sie erhöht die Effizienz, den Komfort und die Sicherheit. Zudem werden die Betriebskosten im Vergleich zu einem konventionellen Gebäude um bis zu 40 Prozent reduziert. Beim Solarstrom besteht noch ein grosses Ausbaupotenzial. Theoretisch wäre eine Gesamtleistung von jährlich 30,2 Terawattstunden möglich, was rund 54 Prozent des Schweizer Stromverbrauchs entspricht. Zur Nachhaltigkeit trägt auch die Elektromobilität ihren Teil bei. Den dafür zusätzlich benötigten Strom lässt sich aus erneuerbaren Ressourcen decken.

Samstag, 24. Juni 2023 Nachhaltig handeln Special 13
MICHAEL BAUMANN
LU FOTO: PD
Christian Pfab, Leiter Automation bei BKW Building
Solutions FOTO: PD
Bernhard Sax, CEO der Firma pi-System aus Oberkirch Gefragt sind frische Ideen und innovative Lösungen für eine lebenswerte Zukunft. FOTO: PD Smart Homes: Energiesparen mit digitaler Technik FOTO: PD

Auf der Hanf-Farm beginnt die Kreislaufwirtschaft

Bauen & Wohnen Fawnda Denham und ihr Geschäftspartner tüfteln an hanfbasierten Materialien, die das Baugewerbe nachhaltig verändern könnten. Am 12. September 2023 spricht die erfolgreiche Künstlerin am «Sustainable Switzerland Forum» in Bern über ihr innovatives Geschäftsfeld.

STEPHAN LEHMANN-MALDONADO

Als die Natur rief, wollte Fawnda Denham ihr keinen Korb geben. Die 48-jährige Kanadierin hat den grössten Teil ihres Berufslebens zwischen Glitter und Glamour verbracht, sprich: eine Karriere in der Film-, Mode- und Kunstbranche hingelegt, wie es sich wohl viele erträumen. Und doch meldete sich in ruhigen Momenten immer wieder die Sehnsucht nach der unberührten Schöpfung zurück. Fawnda Denham war in British Columbia aufgewachsen. Bilder von Landschaften mit tiefblauen Seen, den majestätischen Rocky Mountains und einer reichen Fauna und Flora hatten sich in ihr eingeprägt. Ein Paradies, das sie in zunehmend in Gefahr sah – im Zeichen der fortschreitenden Umweltzerstörung. Doch was könnte sie schon zum Klimaschutz, zur Ressourcenschonung und zur Artenvielfalt beisteuern?

Vom Film zur Farm

Von Landwirtschaft hatte Fawnda Denham bis dato keinen blassen Schimmer. Da entdeckte sie im Gespräch mit ihrem Kollegen, dem irisch-britischen Filmemacher Steve Barron, ein spannendes Thema: Hanf. Nein, die beiden hatten nichts geraucht, sondern waren einfach fasziniert von der vielseitigen Verwendbarkeit dieser Kulturpflanze – vor allem vom Umstand, dass Hanf während des Wachstums Kohlenstoff bindet, ihn aus der Atmosphäre absorbiert und in Biomasse umwandelt. Könnte dieses Ge-

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wächs dazu beitragen, das Netto-NullZiel bis 2050 zu erreichen? Fawnda Denham wollte es nicht bei Gedankenspielen belassen. Sie schlug ihrem Kollegen vor, gemeinsam eine Farm zu gründen. Mit einer Mischung aus wissenschaftlicher Neugier, Pioniergeist und einem Quäntchen Naivität erwarben die Quereinsteiger anno 2016 einen heruntergewirtschafteten Betrieb in Cambridgeshire, England. Disteln überwucherten die 53 Hektaren Land.

Mitte 2017 war die Geburtsstunde der Margent Farm. Erstmals konnte das Paar, unterstützt von lokalen Landwirten, eine eigene Hanfernte einfahren.

Die Crew verarbeitete den Rohstoff und zerlegte ihn in seine Bestandteile: Samen, Fasern, Schäben. Denn Fawnda Denham und Steve Barron schwebte vor, aus Hanf biobasierte Alternativen zu Kunststoffen zu entwickeln. Zu Kunststoffen, die auf Erdöl basieren.

Widerstandsfähige Faser

Völlig neu war diese Idee nicht. Über Jahrhunderte lechzten ganze Wirtschaftszweige nach Hanf. Die widerstandsfähige Faser war beispielsweise für Seile, Segeltücher, Kleidung, Lebensmittel und als Medizin gefragt.

Die unverzichtbare Grundlage der Moderne: Warum Beton die Welt am Laufen hält.

Patrick Suppiger, Geschäftsführer der Betonsuisse, zur Zukunft des Bauens mit Beton.

In einer zunehmend urbanisierten Welt, in der sich Städte weiter ausbreiten und Hochhäuser den Himmel durchdringen, bleibt ein entscheidendes Element unverzichtbar: Beton. Als das am häufigsten verwendete Baumaterial der Welt spielt Beton eine tragende Rolle in der Infrastruktur, Architektur und Entwicklung der Gesellschaft.

Doch. Die Frage nach der Zukunft des Bauens ist von entscheidender Bedeutung. Sie wird darüber Aufschluss geben, ob es uns als Gesellschaft gelingt, die grossen Herausforderungen unserer Zeit – Klimaschutz, Ressourcenschonung und Energiewende – erfolgreich zu bewältigen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund des steigenden Bedarfs an Wohnraum und zukunftsfähiger Infrastruktur.

Die Betonbauweise kann einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeit in vielerlei Hinsicht leisten. Obwohl wir noch einige Schritte bis zur Herstellung von CO2-neut-

ralem Beton vor uns haben, wurden bereits deutliche Erfolge bei der Reduzierung von CO2-Emissionen im Zement- und Betonsektor erzielt.

Ist Beton zu Recht als Klimakiller verschrien?

Nein. Es gibt viele konkrete Massnahmen, die von der Branche bereits ergriffen worden sind. Die Schweizer Zementindustrie beispielsweise hat ihre CO2-Emissionen seit 1990 um über 40 Prozent reduziert. Es werden zukünftig weitere alternative Zementsorten (sogenannte klinkerreduzierte) Zemente entwickelt, die weniger CO2-intensiv sind, und durch den Einsatz von alternativen Brennstoffen werden die Emissionen weiter reduziert. Die Zementunternehmen bekennen sich zur Reduktion der Emissionen und setzen in ihrer «Roadmap 2050» das konkrete Ziel, bis 2050 Netto-Null zu erreichen.

Trotz der Bemühungen der Betonindustrie, CO2-Emissionen zu reduzieren, entstehen weltweit immer noch beträchtliche

Und schon seit mehreren Jahren experimentierten einige mit Hanf als Baustoff. Zum Beispiel hatte das Londoner Architekturbüro Practice Architecture schon verschiedentlich Hanf und Naturmaterialien eingesetzt.

Darum zogen es Denham und Barron für eine spezielle Herausforderung bei: Die Architekten – federführend war Paloma Gormley – sollten aus der ersten Hanfernte ein Bauernhaus aufrichten respektive eine verlotterte Scheune umbauen. Zudem galt es, ein Studio auf dem Feld zu erstellen. Das Resultat überzeugte die Auftraggeber wie die Fachwelt. Architekturzeitschriften, die «Vogue» und der «Guardian» feierten die grüne Baukunst.

Der Hauptbau, das «Flat House», besteht hauptsächlich aus Hanfbeton, einer Mischung aus Hanf, Kalk und Wasser. Und das Haus ist autark: Energie liefern Biomasse, eine Windturbine und Sonnenkollektoren. Die Aussenwände sind mit gewellten Hanffaserplatten verkleidet – ein erstes Hauptprodukt der Margent Farm.

Die Platten aus Hanf und Bioabfallharzen sind vielseitig einsetzbar, robust und eine natürliche Alternative zu Wellstahl, PVC, Bitumen und Zementplatten. «Das Beste ist aber, dass sie Kohlenstoff binden und verhindern, dass dieser wieder in die Atmosphäre gelangt», erklärt Denham. Zudem wachse Hanf rasch und helfe erst noch, den Boden zu regenerieren. «Wir möchten mit unseren Produktprototypen zu einer kohlenstoffemissionsarmen Kreislaufwirtschaft anregen.» Ziel ist, dass die neu-

Dank seiner Langlebigkeit können beispielsweise Tragstrukturen wiederverwendet werden. Wird ein Gebäude rückgebaut, kann der Beton wiederverwertet werden.

artige Technik dereinst das Baugewebe nachhaltig umkrempelt. Während Denham mit ihrem Geschäftspartner die Weiterentwicklung von Baumaterialien und anderen Produkten aus der Wunderpflanze Hanf vorantreibt, gedeihen um die Hanffelder bunte Hecken, Blumen und Wildtiere aller Art. Ein Biotop, das bei Fawnda Denham dieselben Gefühle hervorruft wie einst die Wildnis in British Colombia.

Zweites Sustainable Switzerland Forum

Wie können wir die Schweiz gemeinsam nachhaltiger machen? Unter dem Dach der Initiative Sustainable Switzerland wird am 12./13. September 2023 das zweite Sustainable Switzerland Forum (SSF) veranstaltet. Ziel ist es, zusammen mit starken Unternehmen und wichtigen Themenführenden als treibende Kraft die nachhaltige Entwicklung der Schweizer Wirtschaft sichtbar zu machen und den Austausch in der breiten Öffentlichkeit zu fördern.

Jetzt anmelden und mehr erfahren – dazu einfach den QR-Code scannen.

Mengen an CO2 aufgrund von Bauprojekten.

In der Schweiz haben wir einen jährlichen Bedarf an etwa 60 Millionen Tonnen Baustoffen, wobei Beton mit rund 16 Millionen Kubikmetern der mit Abstand am meisten verwendete Baustoff ist. Beton ist aufgrund seiner einzigartigen Eigenschaften und der hohen Anforderungen bei vielen Bauaufgaben unverzichtbar.

Und wie weit ist man im Bereich CO2-Reduktion beim Beton?

Es gibt heute bereits viele Hebel zum nachhaltigeren Bauen mit Beton. Dies beginnt bei der Planung neuer Gebäude. Dort muss darauf geachtet werden, dass sie kreislauffähig und materialsparend konzipiert werden. Die Systemtrennung, also die Trennung von Bauelementen unterschiedlicher Lebensdauer und Zweckbestimmung sowie Fertigbauteile, sind wichtige Komponenten zur Zielerreichung. Dies sind nur einige Beispiele. Zu betonen gilt: Der Baustoff Beton ist kreislauffähig.

Es ist heute also kein Problem mehr, recycelten Beton zu verwenden? Die Schweiz ist im europäischen Vergleich bezüglich der Wiederverwertung von Beton führend. Beton ist ein vollständig kreislauffähiges Material, das zu fast 100 Prozent recycelt werden kann und so wertvolle Ressourcen spart. Jährlich entstehen schweizweit durch den Rückbau von alten Gebäuden etwa 7,6 Millionen Tonnen Betonabbruch, die den Bedarf an neuem Beton nicht decken können.

Wie sieht es preislich aus zwischen recyceltem und nicht recyceltem Beton?

In der Regel ist Beton, der aus rezyklierter Gesteinskörnung hergestellt wird, aufgrund des höheren Zementanteils tendenziell etwas teurer (ca. 2 bis 5 Prozent), wobei viele andere Faktoren die Preisbildung mitbeeinflussen. Etwas teurer wird er, wenn Sie zusätzliches CO2 speichern möchten. Beispielsweise bieten verschiedene Anbieter rezyklierte Gesteinskörnung mit angereichertem CO2 an, welches aus der Atmosphäre oder bei Biogasanlagen gewonnen wird. Dadurch verbessert sich die Klimabilanz des Betons noch einmal um rund 10 Prozent. Klar ist, dass es sich beim nachhaltigen Bauen um ein Thema handelt, welches viel Sorgfalt und einen umfassenden Blick über alle Faktoren des einzelnen Baus verlangt. Die eine ideale Konstruktionsmethode gibt es ebenso wenig wie den einen idealen Baustoff. Es ist wichtig, für jedes einzelne Projekt die jeweils nachhaltig sinnvollste Lösung zu finden.

Patrick Suppiger ist Geschäftsführer der Betonsuisse. Eine Informations- und Kommunikationsplattform für den Baustoff Beton in der Schweiz. www.beton2030.ch

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Aussenwände aus Hanffasern: die Margent Farm in Cambridgeshire FOTO: PD

Den Kundinnen und Kunden soll es so leicht wie möglich gemacht werden, sich über die Lebens- und Haltungsbedingungen der Tiere zu informieren und eine bewusste Kaufentscheidung zu treffen.

MARCO JÜRG KELLER

Was gibt es heute zum Nachtessen? Wir stehen in der Fleischabteilung und sind noch unschlüssig, was die Gästeschar in ein paar Stunden geniessen soll: KalbsSaltimbocca, ein Bio-Medaillon oder vielleicht doch eher ein Rindssteak? Die Antwort hängt nicht nur von Appetit, Budget und Präferenzen ab: Wir möchten – wie laufend mehr Konsumentinnen und Konsumenten – auch wissen, was es mit den tierischen Produkten auf sich hat. Entsprechen sie unseren Qualitätskriterien?

Vor allem aber: Unter welchen Bedingungen hat das jeweilige Tier gelebt, wie und wo genau ist es aufgezogen worden?

Auf welches Menü auch immer die Wahl fällt: Bei Lidl Schweiz kann man sich gelassen den Vorbereitungen für den geselligen Abend widmen, denn auch auf allfällige kritische Fragen der Gäste zu den angebotenen Fleischprodukten ist eine gute Antwort garantiert. Zu dieser Sicherheit tragen die transparenten Auszeichnungen auf den Fleischverpackungen der Detailhandelskette wesentlich bei – ein kurzer Blick genügt, und man weiss, was Sache ist.

An Farbskala orientieren

Vierstufig ist das Rating, das direkt auf den Fleischverpackungen angebracht ist, klar und in unterschiedlichen Farben deklariert – von Dunkelgrün («top») bis Orange («low»). Geschaffen wurde diese Klassifizierung vom Schweizer Tierschutz (STS). Die Skala, mit der das Tierwohl bewertet wird, reicht von A bis D. Der Buchstabe A steht dabei für die bestmögliche Bewertung.

Für zunehmend mehr Konsumentinnen und Konsumenten hierzulande ist Nachhaltigkeit beim Einkaufen ein Thema. Und die Unternehmen reagieren darauf, auch aus eigener Verantwortung. So können sich Kundinnen und Kunden von Lidl Schweiz schon seit Längerem an der Rating-Skala orientieren. Bereits Anfang 2021 begann die Detailhandelskette, übrigens als erste in der Schweiz, ihre Fleischprodukte mit dem Tierwohlrating des Schweizer Tierschutzes (STS) auszuzeichnen. Mittlerweile ist das Ampelsystem auf sämtlichen Frischfleischprodukten der Kategorien Schwein, Geflügel sowie Rind- und Kalbfleisch zu finden.

Verantwortung für tierische Produkte

Ernährung Lidl Schweiz hat als erster Detailhändler hierzulande das Tierwohlrating des Tierschutzverbands STS auf Fleischverpackungen angebracht.

Hinter diesem Schritt, der wohl auch mancher Kritik den Wind aus den Segeln nehmen sollte, stand das Ziel, den Standard des Tierwohls transparent sichtbar zu machen. Kundinnen und Kunden soll es beim Einkauf so leicht wie möglich gemacht werden, sich über die Lebens- und Haltungsbedingungen der Tiere zu informieren und eine bewusste Kaufentscheidung zu treffen. Das Rating auf der Fleischverpackung dient Lidl Schweiz auch dazu, die eigene Angebotspalette stetig weiterzuentwickeln, und es soll ein klares Zeichen setzen, dass der Detailhändler das Thema Tierwohl ernst nimmt und sich damit konsequent auseinandersetzt.

Gerade in einem Land wie der Schweiz mit einem ausgeprägten Bewusstsein für Ökologie und Qualität bringt eine solche klare Haltung einen Mehrwert. Kassandra Marty, Verantwortliche für Nachhaltigkeit im Einkauf von Lidl Schweiz, bestätigt: «Für Konsumentinnen und Konsumenten in unserem Land ist das Wohl der Tiere ein wichtiges Thema.» Speziell für Laien ist es in der Regel alles andere als leicht, sich beim Einkauf im Dschungel der Informationen auf einer Verpackung zurechtzufinden.

Viele sind mit den unterschiedlichen Standards und den Begriffen überfordert – das Ampelsystem auf den Ver-

Hohe Anforderungen an gutes Rating

Das vierstufige Tierwohlrating des Schweizer Tierschutzes (STS), das Lidl Schweiz bereits 2021 für alle seine Frischfleischprodukte eingeführt hat, soll die Transparenz bezüglich Tierwohl maximieren. Grundlage für das Rating sind rund 100 Kriterien, die das Wohlbefinden eines Tieres beeinflussen. Damit ein Fleischprodukt auf der Verpackung mit einer optimalen oder guten Bewertung ausgezeichnet wird, muss eine ganze Reihe von Faktoren erfüllt sein. Der STS, der die Bewertung allein und unabhängig vornimmt, fragt unter anderem, ob die gesamte Lieferkette unabhängig kontrolliert wird, wie es um die Gesundheit und die Zuchtbedingungen der Tiere bestellt

ist und unter welchen Lebensbedingungen sie generell aufwachsen. Weiter wird geprüft, wie und warum Medikamente eingesetzt werden, wie die Tiere transportiert und geschlachtet werden und ob die Produzenten adäquate Preise erhalten.

packungen von Lidl Schweiz bringt hier eine deutliche Vereinfachung. Dass sich der Schritt gelohnt habe, hätten die Reaktionen schon bald gezeigt, erklärt Marty: «Klar gibt es auch Kundinnen und Kunden, die sich wenig für eine solche Massnahme interessieren, trotzdem hatten wir von Anfang an sehr viele positive Rückmeldungen.»

Dass die Einführung des Tierwohlratings für Lidl Schweiz nicht einfach eine Alibiübung ist, unterstrich das Unternehmen eindrücklich durch die Wahl des Partners. Man entschied sich für den Schweizer Tierschutz (STS), eine unabhängige Instanz, die für hohe Standards bürgt, weil sie keinerlei Kompromisse eingehen muss, und an ihren Vorgaben nicht gerüttelt werden kann. «Das ist voll und ganz in unserem Sinn», betont Marty. Lidl Schweiz hat denn auch die STS-Vorgaben zu 100 Prozent übernommen.

Bevorzugt regionale Produkte

Ein weiteres Nachhaltigkeitsziel von Lidl Schweiz ist es, Fleischprodukte bevorzugt aus dem Inland zu beziehen, möglichst aus der jeweiligen Region. Das bringt viele Vorteile: hohe Qualität, kurze Transportwege und in erster Linie eine Tierhaltung gemäss einem der strengsten Tierschutzgesetze weltweit.

hahn aufgezogen. Das ist ein grosser Fortschritt gegenüber der immer noch weit verbreiteten Praxis, männliche Küken nach dem Schlüpfen zu töten. Im Programm «Henne & Hahn» werden auch die männlichen Jungtiere unter artgerechten Bedingungen grossgezogen, erhalten hochwertiges Biofutter und haben regelmässigen Zugang zu Wiese und Sandbad.

Vorgaben übertroffen

Unter dem Label Terra Natura führt Lidl Schweiz zudem Eier, Milchprodukte, Backwaren und saisonales Gemüse im Sortiment, die vollumfänglich in der Schweiz und nach den Standards der IP-Suisse hergestellt werden. 2022 waren übers Jahr verteilt rund 70 Produkte von Terra Natura im Angebot, die Tendenz ist klar steigend. Auch die Schaleneier werden übrigens mit dem Tierwohlrating ausgezeichnet, in diesem Jahr wird die Frischmilch dazukommen.

Im Februar 2023 hat Lidl Schweiz noch einen zusätzlichen Schritt gemacht: Schweizweit werden nun nur noch frische Geflügelprodukte angeboten, die im STS-Tierschutzrating mindestens die Stufe C erreichen. Damit werden die Schweizer Mindestvorgaben deutlich übertroffen – insbesondere auch im Bereich des Importfleischs.

Diese Entwicklung wird auch vom Tierschutzverband gelobt. «Lidl Schweiz geht mit gutem Beispiel voran», so Cesare Sciarra, Geschäftsführer Kompetenzzentrum Nutztiere beim STS. «Bei der Haltung von Truten – speziell im Importbereich – herrschen schwierige Voraussetzungen. Es freut uns, dass Lidl Schweiz, nachdem es seine Produkte für seine Kundinnen und Kunden transparent gekennzeichnet hat, nun auch das Angebot verbessert. Wir schätzen das Engagement von Lidl Schweiz für das Tierwohl.»

Das ABCD des Tierwohls: Ganz oben rangiert unter A die besonders tierfreundliche, natürliche Haltung. QUELLE: STS

Das Engagement des Unternehmens geht aber noch weiter. Seit dem Frühjahr 2021 bietet Lidl Schweiz in den 170 Filialen in der ganzen Schweiz einheimische Bio-Eier der Linie «Henne & Hahn» im Sortiment an. Das Programm fördert die Aufzucht männlicher Küken –pro Legehenne wird auch ein Bruder-

Vieles hat Lidl Schweiz schon gemacht, um sich für eine Verbesserung des Tierwohls einzusetzen. Daran werde sich auch in Zukunft nichts ändern, versichert Kassandra Marty auf Nachfrage: «Der Nachhaltigkeitsgedanke ist in unserem Unternehmen tief verankert. Und wir haben noch weitere Projekte in der Pipeline.» Man darf gespannt sein

Samstag, 24. Juni 2023 Nachhaltig handeln Special 15
FOTO: PD

«Nachhaltig und profitabel sind kein Widerspruch»

Logistik Die Liefernetzwerke von Unternehmen bilden für Andreas J. Wagner, Senior Vice President SAP Digital Supply Chain, den entscheidenden Hebel, um CO2-Emissionen und Verpackungsmaterialien zu reduzieren.

Spielt hier auch Künstliche Intelligenz (KI) eine Rolle?

Ja, auf jeden Fall. Nehmen Sie das Beispiel Produktionsanlagen: Wenn Sie rund um die Uhr die Daten beobachten können, die Ihnen die Sensoren liefern, tun Sie sich viel leichter damit, auch Maschinenausfälle im Voraus zu erfassen und entsprechend zu reagieren. KI wird darüber hinaus im Logistikbereich genutzt, etwa beim Transportmanagement, wenn es darum geht, Frachten optimal zu planen. Ziel ist es hier, zum einen den CO2-Ausstoss zu reduzieren und zum anderen Verpackungsmaterial einzusparen.

Neben KI und Data Analytics kommt auch die Cloud-Technologie zum Zuge. Die Cloud hat den grossen Vorteil, dass sie im Unternehmen und in den Liefernetzwerken sowohl Agilität als auch Standardisierung unterstützt. Sie können sich vorstellen, wie schwierig es ist, wenn jedes Werk andere IT-Prozesse hat. Das geht zu Lasten der Datentransparenz. Darüber hinaus bietet die Cloud auch viel mehr Sicherheit und Schutz vor Hackerangriffen. Auch das ist ein Nachhaltigkeitsthema.

Sie betonen gerne, dass Nachhaltigkeit schon beim Design beginnt. Was ist damit gemeint?

Ganz einfach: In der Designphase beginnt man bereits, den «Samen der Nachhaltigkeit» zu pflanzen. Man kann in dieser Phase Produktentwürfe modularisieren, Elemente wiederverwenden oder neu nutzen. Es gibt dafür eigene Softwarelösungen, mit denen man den Entwurfsprozess effizient optimieren kann. Und das Ergebnis ist dann auch hier immer Nachhaltigkeit und Profitabilität.

Die global vernetzte Wirtschaft steht enorm unter Druck. Die Corona-Lockdowns und der Ukrainekrieg haben uns vor Augen geführt, wie anfällig die Lieferketten von Unternehmen sind.

Wir erleben, dass eine Lieferkrise die nächste jagt. Anfangs hat man noch geglaubt, das Problem lasse sich durch eine Kurzfristplanung lösen. Aber das führte nicht weiter. Die Unternehmen mussten erkennen: Erforderlich ist eine viel tiefere, strategische Planung, die immer mehr auch die Lieferanten mit einbezieht.

So manches Unternehmen hat in dieser Zeit Kunden verloren, weil es schlicht nicht lieferfähig war.

Das ist ein Riesenthema, gerade auch in der Automobilbranche, um nur ein Beispiel zu nennen. Als Kunde müssen sie monatelang warten, wenn Sie auf ein E-Fahrzeug umsteigen wollen. Einfach grotesk. Klar ist: Lieferketten müssen agiler, resilienter werden im Hinblick auf Umbrüche und Störungen. Gefragt ist auch ein tragfähiges Risikomanagement, das Krisen rechtzeitig in den Blick nimmt. Und damit sind wir mittendrin im Thema Nachhaltigkeit.

Können Sie das erläutern? Welche Bedeutung haben Lieferketten, Neudeutsch «Supply Chains», für die Nachhaltigkeit?

Wenn man sich die Lieferketten genauer anschaut, vom Design eines Produkts bis zur Auslieferung an den Kunden, dann sind diese zu einem sehr hohen Prozentsatz für CO2-Emissionen und auch Abfälle verantwortlich. Daraus folgt: Wenn Sie etwas verändern wollen in Sachen Nachhaltigkeit, dann ist die Lieferkette der entscheidende Hebel, an dem Sie ansetzen müssen. Die meisten Unternehmen haben das auf dem Radar.

Was sollten Unternehmen konkret tun, um hier nachhaltiger zu werden?

Die Herausforderung ist, dass sie diese Aufgaben nur bewältigen können,

wenn sie ihre Lieferketten digitalisieren und standardisieren. Sie müssen ihre Aktivitäten und Prozesse genauer erfassen, also Daten sammeln, aufbereiten und analysieren. Anders wird das nicht machbar sein.

Um eine widerstandsfähigere, nachhaltigere Supply Chain aufzubauen, sind drei Aspekte wichtig: Erstens geht es darum, Prozesse innerhalb der Lieferkette und des eigenen Unternehmens miteinander zu verknüpfen und interne Silos aufzu-brechen. Zweitens sollten Sie Ihre Businessentscheidungen «kontextualisieren». Das heisst: Sie müssen stets die relevanten Daten entlang der gesamten Lieferkette –oder besser: des «Liefernetzwerks» –in Echtzeit verfügbar haben, um entscheiden zu können: Ist dieser oder jener Prozessschritt wirklich nachhaltig?

Wie hoch sind die Kosten? Was wären mögliche Alternativen?

Und der dritte Punkt? Sie müssen innerhalb Ihres jeweiligen Ecosystems reibungslos und effizient mit unterschiedlichsten Akteuren kollaborieren können. Gerade in der Schweiz sind die Unternehmen sehr international, sie arbeiten viel mit externen Produzenten, Lieferanten und Serviceprovidern zusammen. Da ist es wichtig, sich digital eng mit diesen externen Partnern zu verbinden. Nur dann erhalten sie die nötige Transparenz entlang der Supply Chain.

Unternehmen müssen sich heute mehr denn je fragen: Woher und von wem beziehe ich meine Rohstoffe? Unter welchen Bedingungen wurde die Ware hergestellt? Der Druck in puncto Nachhaltigkeit steigt.

Die Gründe sind vielfältig: Die Ansprüche der Konsumentinnen und Konsumenten haben deutlich zugenommen,

ausserdem sorgen die Gesetzgeber für eine zunehmend strengere Regulierung. Sie müssen deshalb als Unternehmen immer genau wissen, woher ihre Rohstoffe und Materialien stammen. Um das alles nachverfolgen zu können, ist ein durchgehender, standardisierter Datenfluss so wichtig.

Unternehmen spüren auch den wachsenden Druck von Investoren. Das ist so. Und vergessen Sie nicht die Mitarbeitenden. Die fragen heute ebenfalls genauer nach – und erwarten klare Antworten: Wie haltet Ihr es mit der Nachhaltigkeit? Welche Strategie verfolgt Ihr? Nachhaltigkeit ist alles in allem längst nicht mehr nur «nice to have», sondern ein zentraler Faktor für den Geschäftserfolg. Nachhaltigkeit und Profitabilität gehören zusammen, da besteht kein Widerspruch.

Wie weit kann SAP die Unternehmen hierbei unterstützen? Nachhaltigkeitsmanager träumen zum Beispiel davon, ein Dashboard zur Verfügung zu haben, das ihnen auf Knopfdruck alle relevanten Daten anzeigt.

Wir empfehlen Unternehmen grundsätzlich, erst einmal mit einem ProcessReengineering zu starten. Eine Lösung wie SAP Signavio unterstützt Sie dabei, ihre Prozess-Landschaft zu analysieren und dann zu optimieren. Wir stellen darüber hinaus Tools zur Verfügung wie den SAP Sustainability Control Tower, ein Analytics-Werkzeug, das Unternehmen zu überprüfbaren Erkenntnissen aus verlässlichen, aktuellen Nachhaltigkeitsdaten verhilft und so auch ihre Berichterstattung und das Projektmanagement unterstützt. Automatisierte Reports machen es den Anwendern leichter, den zahlreichen Regulatorien und ESG-Anforderungen gerecht zu werden. Anhand von Dashboards lässt sich ausserdem genau beobachten, wie sich die Projekte im Nachhaltigkeitsbereich entwickeln.

Haben Sie dafür ein Beispiel parat? Nehmen Sie die Konsumgüterindustrie, wo ja per se viel Verpackungsmaterial anfällt. Mit der geeigneten Software für ein sogenanntes Responsible Design lässt sich im Voraus berechnen, wie viel Material man einplanen muss und wie viel sich an Verpackung, speziell aus Plastik, einsparen lässt. Generell wird das Vorausberechnen von CO2-Emissionen innerhalb eines integrierten Planungsprozesses immer wichtiger. Unternehmen wollen auch immer mehr Szenarien durchspielen können: Welche Auswirkungen hat es zum Beispiel, wenn ich einen bestimmten Lieferanten auswechsle, der nicht nachhaltig genug produziert? Für solche Businessentscheidungen benötigen sie konsolidierte, vernetzte Daten. Das ist oft genug matchentscheidend.

Interview: Elmar zur Bonsen

Nachhaltigkeit wird in Lieferketten entschieden

Hätten Sie’s gewusst? 90 Prozent des ökologischen Fussabdrucks von Unternehmen gehen Studien zufolge direkt oder indirekt auf deren Lieferketten zurück. Die Treibhausgasemissionen in diesem Bereich sind im Durchschnitt rund 11 Mal höher als die Emissionen, die im Produktionsbetrieb verursacht werden. Durch die Digitalisierung entstehen heute völlig neue Möglichkeiten, um den Ressourceneinsatz von A bis Z zu optimieren.

16 Special Nachhaltig handeln Samstag, 24. Juni 2023
«Die Lieferkette der Zukunft ist CO2-neutral und digital vernetzt», betont Andreas J. Wagner. FOTO: SAP Lieferketten müssen im Hinblick auf Störungen agiler werden. FOTO: SHUTTERSTOCK

Biodiversität im Immobilienportfolio

Lebensräume Wenn es um Artenvielfalt, Ökosysteme und Klimaschutz geht, besteht für die Schweizer Wirtschaft noch Handlungsbedarf. Das Management von Swiss Prime Site, dem grössten Immobilienunternehmen hierzulande, ist sich der Verantwortung der eigenen Branche bewusst.

Prime Site. So könnten zusätzliche Grünflächen gewonnen und die ökologische Diversität auf sämtlichen Anlagen der Umgebung erhöht werden. «Die entsprechenden Signale und Anforderungen seitens der Mieterinnen und Mieter gehen in dieselbe Richtung. Sie erwarten nichts weniger als die Einhaltung stetig höherer Nachhaltigkeitsstandards in den Gebäuden, in welchen sie ihre Büros oder Gewerbeflächen mieten und nutzen.»

gestorbene Insektenart, die blauflügelige Ödlandschrecke, mitten in der Stadt Basel wieder einen Lebensraum.

Der Immobilienbestand von Swiss Prime Site umfasst rund 170 Liegenschaften in den bevölkerungsreichsten Zentren der Schweiz. «Unser Anspruch ist es, die Qualität des Portfolios und der darin enthaltenen Areale und Immobilien kontinuierlich zu steigern», betont Karin Voigt, Chief Portfolio Officer des Unternehmens. «Dazu zählt die Fokussierung auf Standorte mit einer hohen Lagequalität und Immobilien mit ausgezeichneter Bausubstanz, eine hohe Kundenorientierung und laufende Verbesserung der Nachhaltigkeitsperformance der Gebäude und des Betriebs.» Gerade im Umweltbereich gibt es Handlungsbedarf. In der Vergangen-

heit wurden viele Umgebungsflächen oft wahllos überbebaut oder versiegelt. Zwar ging dies stets mit den geltenden gesetzlichen Bestimmungen einher, hat jedoch dazu geführt, dass die Biodiversität in den Städten und Agglomerationen stark abgenommen hat. Swiss Prime Site will nun vielfältige Möglichkeiten nutzen, um die Artenvielfalt in ihrem Gebäudepark schneller und effektiver zu verbessern.

Einfache Logik

«Die systematische Nachhaltigkeitszertifizierung unserer Immobilien schafft die notwendige Transparenz, um verschiedene Potenziale zu nutzen», so Martin Pfenninger, Head Sustainability bei Swiss

Daraus ergibt sich für Swiss Prime Site eine einfache Logik in puncto Nachfrage und Zahlungsbereitschaft: Je wertiger der Ausbaustandard, je nachhaltiger die Energieversorgung, je grösser der Wohlfühlfaktor und je höher das Zertifizierungslevel eines Gebäudes, desto besser lassen sich die betreffenden Flächen langfristig vermieten. «Die verbesserte Biodiversität rund um die Gebäude ist ein nicht zu unterschätzendes Kriterium zur erfolgreichen Vermietung», sagt Pfenninger. «Diesem Umstand tragen wir auch – neben anderen wichtigen Themen wie zum Beispiel der Kreislaufwirtschaft – in unseren Entwicklungsprojekten oder Umbauvorhaben Rechnung.» So verfügt beispielsweise das Gebäudeensemble Opus in Zug über eine grosse Wasserfläche mit üppiger Bepflanzung, wodurch einerseits die Hitzeminderung bezweckt und andererseits Lebensraum für heimische Flora und Fauna geschaffen wird.

Ein weiteres konkretes Beispiel ist der Stücki Park in Basel. Nachdem das Dach im Zuge der Gesamtsanierung extensiv begrünt wurde, fand sogar eine fast aus-

Ein noch grösserer Hebel besteht bei künftigen Entwicklungsprojekten von Swiss Prime Site. Auf dem Maag-Areal in Zürich zum Beispiel sind, neben der Dachbegrünung auf dem Neubau, auch offenporige Umgebungsflächen und eine zusätzliche Bepflanzung mit hochstämmigen Bäumen geplant. Dies soll in Summe einen massgeblichen Beitrag zur Hitzeminderung und zur Erhöhung der Artenvielfalt leisten. «Der Anspruch von Swiss Prime Site ist es, Biodiversität individuell mit jedem Projekt und als Teil eines ganzheitlichen Nachhaltigkeitskonzepts zu fördern», sagt Martin Pfenninger.

Für Swiss Prime Site ist Nachhaltigkeit ein Teil des Wertschöpfungsprozesses und seit geraumer Zeit integraler Bestandteil der Unternehmensstrategie. Das Unternehmen mit Hauptsitz in Zug legt hier seinen Fokus auf die Reduktion des CO2-Ausstosses und auf geschlossene Kreisläufe beim Bau und Betrieb von Gebäuden. Biodiversität gewinnt als Teilaspekt ebenso an Bedeutung. Der Beitrag von Swiss Prime Site geht dabei weit über Einzelmassnahmen hinaus.

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Biodiversität geht uns alle an

Unter Biodiversität wird die Vielfalt verschiedener Ökosysteme, eine möglichst hohe Anzahl unterschiedlicher Arten sowie eine ausgeprägte genetische Fülle verstanden. Sie ist nicht nur ein Grundbedürfnis von Menschen, Tieren und Natur, sie ist gemäss Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) für unser aller Überleben von existenzieller Bedeutung. Nach Angaben des Bundesamts für Umwelt (Bafu) erlitt die Biodiversität in der Schweiz in den vergangenen 200 Jahren starke Einbussen und

Weniger Fleisch, kleinere Wohnflächen

ist akut bedroht. Auf politischer Ebene wird neuerdings einiges dafür getan, die Artenvielfalt in den verschiedenen Ökosystemen gezielt zu fördern. 2020 wurde dazu eine nationale Volksinitiative ins Leben gerufen. In diesem Jahr wird das Parlament dazu einen indirekten Gegenvorschlag diskutieren und den Bundesrat auffordern, Massnahmen zu ergreifen, um die Artenvielfalt und die Umwelt stärker zu schützen. Die Sensibilisierung der Schweizer Gesellschaft nimmt also Fahrt auf.

Wirtschaft Lässt sich ökonomischer Fortschritt mit sozialer und ökologischer Verantwortung in Einklang bringen? Und wenn ja, wie?

Diesen Fragen ist der Schweizerische Nationalfonds im Rahmen des Forschungsprogramms «Nachhaltige Wirtschaft» auf den Grund gegangen.

BARBARA DUBACH / LAURA BRECHLIN

29 Projekte über einen Zeitraum von fünf Jahren: Intensiv haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen mit den komplexen Wechselwirkungen zwischen der natürlichen Umwelt und der Wirtschaft befasst. Und die Resultate ihres Forschungsprogramms «Nachhaltige Wirtschaft: ressourcenschonend, zukunftsfähig und innovativ» (NFP 73) lassen aufhorchen. So wird den Entscheidungstragenden in Politik und Unternehmen empfohlen,

„ Umweltauswirkungen in die Marktpreise von Produkten einzubeziehen,

„ Subventionen, die falsche Anreize setzen, abzuschaffen und Steuern gezielt einzusetzen, um negative Umweltauswirkungen zu hemmen,

„ Umwelt-Mindeststandards festzulegen und «Greenwashing» zu unterbinden,

„ nachhaltige Technologien und Innovationen finanziell zu fördern.

Diese und noch weitere Empfehlungen, zusammengefasst in einem kürzlich veröffentlichten «White Paper», sollen dazu beitragen, den Übergang zu einer nachhaltigeren Wirtschaft zu beschleunigen –ohne dabei den Wohlstand und die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz zu gefährden. Dazu Professor Gunter Stephan, Co-Präsident des NFP 73: «Durch die Kombination von freiwilligen Initiativen und gesetzlichen Anreizen in der Privatwirtschaft entsteht eine Win-Win-Situa-

tion, bei der sowohl die Natur als auch das Wohlergehen der Menschen gestärkt werden.»

Wie die Forschungsdaten aus insgesamt fünf Themenschwerpunkten zeigen, haben der Verkehrs- und der Bausektor das grösste Potential, um schädliche Klimaauswirkungen zu verringern (s. Abbildung rechts). Im White Paper wird dazu eine Reihe konkreter Massnahmen vorgeschlagen:

„ Klimaneutrale Mobilität Um den Individualverkehr zu dekarboniseren, wird empfohlen, die Fahrzeugflotten zu elektrifizieren, den Verkehr stärker auf die Schiene zu verlagern und ein Verbot von Fahrzeugen mit fossilen Treibstoffen ins Auge zu fassen.

„ Gebäude besser nutzen Allein der Bau- und Wohnbereich ist in der Schweiz für 72.3 Prozent des Materialverbrauchs und für 28.3 Prozent des CO2-Fussabdrucks verantwortlich. Um eine klimaneutrale Bauwirtschaft bis 2050 zu erreichen, raten die Forschenden zum

Einsatz von erneuerbaren Energien in Gebäuden. Auch sollten beim Bau wiederaufbereitete Sekundärmaterialien, Holz und andere umweltfreundliche Baustoffe verwendet werden. Ausserdem wird dafür plädiert, das Abreissen von Gebäuden durch ein Moratorium zu stoppen. Dazu Philippe Thalmann, Wirtschaftsprofessor an der EPFL: «Wir müssen nicht mehr bauen, sondern den bereits vorhandenen Gebäudebestand besser nutzen.» Gleichzeitig sollte nach Angaben der Wissenschaftler die Akzeptanz für kleinere Wohnflächen erhöht werden, dies insbesondere bei den über 50-Jährigen.

„ Gesündere Ernährung Im Hinblick auf die Nahrungsmittelproduktion und die Ernährung wird empfohlen, von tierischen auf pflanzliche Lebensmittel umzustellen. Auf diese Weise lasse sich die Umweltbelastung um 36 Prozent reduzieren, ausserdem würde die Gesundheit der Bevölkerung verbessert, was zugleich Kosten reduziere. Auch sollten Agrarsubventionen auf ökoeffiziente Betriebe und eine umweltfreundliche Produktion verlagert werden, heisst es.

„ Kreislaufwirtschaft nutzen Studien zufolge stammen nur knapp 7 Prozent der in der Schweiz verwendeten Rohstoffe aus sekundären Quellen wie dem Recycling. Die Forschenden empfehlen, die Kreislaufwirtschaft als Treiber für Nachhaltigkeit zu nutzen. Die politischen Entscheidungstragenden sollten Ziele setzen, die über das Recycling hinausgehen, Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigen und Initiativen im Privatsektor unterstützen. Im Rahmen des NFP 73 habe man «eng mit Partnern aus dem Privatsektor und anderen Interessensgruppen zusammengearbeitet», berichtet Professorin Regina Betz, Co-Präsidentin des Forschungsprogramms. «So konnten zum Beispiel innovative, finan-

ziell rentable Kreislaufgeschäftsmodelle in der Baubranche und mit Geräteherstellern entwickelt werden, die den Ressourcenkreislauf schliessen und ökonomische sowie ökologische Ziele miteinander vereinen.» Die Resultate aus dem NFP 73 bieten eine Vielzahl an Instrumenten für poli-

tische Entscheidungstragende und den Privatsektor, um einen beschleunigten Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft zu ermöglichen. Es liegt an uns, diese zu nutzen und gemeinsam eine nachhaltige Zukunft zu gestalten. nfp73.ch

Treibhausgasemissionen und Flächennutzung nach Haushaltstypen Die Abbildung zeigt die jährlichen Klimaauswirkungen (links) und Auswirkungen der Flächennutzung (rechts) des Haushaltskonsums im Jahr 2021 sowie das jährliche Bruttoeinkommen für verschiedene Haushaltstypen.

Abb. 2: Treibhausgasemissionen und Flächennutzung

dominieren tierische Lebensmittel den Flächenverbrauch der Haushalte.

und Energie Sonstiges* Freizeit Transport Abbildung 2 zeigt die jährlichen Klimaauswirkungen (links) und Auswirkungen der Flächennutzung (rechts) des Haushaltskonsums im Jahr 2021 sowie das jährliche Bruttoeinkommen für verschiedene Haushaltstypen. Die Auswirkungen, die mit den regelmässigen Ausgaben der Haushalte verbunden sind, einschliesslich der Auswirkungen auf die Lieferkette, die sogenannten «grauen Emissionen», sind inkludiert. Dazu gehören beispielsweise die Produktionsauswirkungen der gekauften elektronischen Geräte von der Metallmine bis zum Elektronikgeschäft. Auswirkungen im Zusammenhang mit dem Bau von Wohngebäuden werden nicht berücksichtigt. Flugreisen, einschliesslich internationaler Flüge, werden auf der Grundlage des Verbrauchsfussabdrucks einbezogen, d. h., die Emissionen werden der Kaufkraft zugerechnet. Es ist jedoch zu beachten, dass diese nur Flüge aus privaten Ausgaben umfassen und daher alle arbeitsbedingten Reisen nicht enthalten sind. Nicht-CO -Klimaauswirkungen des Luftverkehrs werden nicht berücksichtigt. Die Auswirkungen des Klimawandels berücksichtigen alle Treibhausgasemissionen und werden als IPCC-Indikator «Treibhausgasemissionen» ausgedrückt, der in

Samstag, 24. Juni 2023 Nachhaltig handeln Special 17
MLADEN TOMIC UND ELMAR ZUR BONSEN
QUELLE: NFP 73 (2023)
Durch Kombination von freiwilligen Initiativen und gesetzlichen Anreizen entsteht eine Win-Win-Situation.
Dr. Barbara Dubach, Leiterin Wissenstransfer NFP 73, Geschäftsführerin engageability GmbH. Laura Brechlin, Wissenstransfer NFP73, Senior Consultant engageability GmbH.
Treibhausgasemissionen von Haushalten pro Person pro Jahr Flächennutzung der Haushalte pro Person und Jahr Ernährung Gesundheit Wohnen
14 12 10 8 6 4 2 0 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 Treibhausgasemissionen von Haushalten pro Person pro Jahr Tonnen CO -Äq. (GWP100 IPCC 2021) Flächennutzung der Haushalte pro Person und Jahr Ökologische Knappheit 2021 (Mio. UBP Umweltbelastungspunkte) Durchschnitt Jährliches Einkommen/ Person 41‘820.- 36‘345.- 76‘230.- 82‘630.- 48‘915.- 56‘870.- 49‘100.- 53‘240.Co-Creation
CHF CHF CHF CHF CHF CHF CHF CHF
verschiedener Haushalte im Jahr
Die Daten zeigen,
Emissionen des Verkehrs
Wohnens
Heizen
Gas) das grösste
Paarhaushalt (beide < 65) Einpersonenhaushalt (< 65) Paarhaushalt mit
(mind. eines < 25) Einelternhaushalt mit Kindern (mind. eines < 25) Einpersonenhaushalt > = 65 Übrige Haushaltstypen Paarhaushalt (mind. eine Person > = 65) 1. Introduction 5 Fazit und Ausblick 6 Sektorspezifische Empfehlungen 7 Projektliste, thematische Synthesen und Co-Creation Labs 8 Organisation 2 Politik- instrumente 3 Strategien und Heraus- forderungen 4 Politikempfehlungen
Lab «Datentransparenz für Nachhaltigkeit»
2021
dass die
(vor allem des privaten Pkw-Verkehrs) und des
(vor allem durch das
mit Öl und
Potenzial zur Verringerung der Klimaauswirkungen haben. Ausserdem
Kindern
Im Zuge der
Gesamtsanierung
extensiv begrünt: Stücki Park in Basel. FOTO: PD

«Sustainable Board»: Führen als Verantwortungsrat

Governance Der Verwaltungsrat ist letztverantwortlich für die Nachhaltigkeitsstrategie eines Unternehmens. Mit dieser Aufgabe sind hohe Anforderungen verbunden. Benötigt werden Persönlichkeiten mit Mut, Verantwortungsbewusstsein und gesundem Menschenverstand.

BEAT BRECHBÜHL, JEAN-LUC CHENAUX Investoren, Anspruchsgruppen und die Wissenschaft fordern vom Verwaltungsrat der Zukunft zunehmend, dass er «sustainable» ist und die Führung übernimmt, wenn es darum geht, Nachhaltigkeitsthemen in der Kultur, Strategie und Organisation des Unternehmens zu verankern. Nachhaltigkeits- und ESGThemen haben auch bereits heute einen erheblichen Einfluss auf den praktischen Alltag der Verwaltungsratstätigkeit, wie eine im April veröffentlichte Trendstudie des University of Cambridge Institute for Sustainability Leadership zeigt: „ Aufgrund der Governance-Kodizes steigt der Druck rapide an, den Verwaltungsräten vorzuschreiben, ihr Denken und Handeln an einer langfristigen Perspektive auszurichten, die Werte für alle Stakeholder schafft. Die jüngste Überarbeitung des «Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance» ist ein Beispiel für diese internationale Entwicklung, die Rechtsordnungen mit unterschiedlicher Tradition und Kultur betrifft.

„ Die Verpflichtungen zur nichtfinanziellen Berichterstattung werden komplexer und mutieren von der Selbstregulierung zu einem verbindlichen Rechtsrahmen, dessen Nichteinhaltung strafrechtlich sanktioniert werden kann. Die Komplexität der Normen ist hoch und erhöht die Kosten für Regulierung und Compliance. Es ist Aufgabe des Verwaltungsrats, Vertrauen in die Transparenz zu schaffen, die von vielen Interessengruppen gefordert wird, welche sich nicht mit inhaltsleerer Rhetorik (Stichwort «Greenwashing») zufriedengeben.

„ Die Prozessrisiken im Zusammenhang mit Nachhaltigkeitsthemen haben sich seit 2015 verdoppelt – Shell, Holcim und BNP Paribas sind drei prominente Beispiele dieses unguten Trends, der seinen Ursprung in der amerikanischen Klageindustrie hat und sich nun weltweit verbreitet. Er bringt die Organe in eine Zwickmühle zwischen dem bedrohlichen Hammer von Nichtregierungsorganisationen, die Unternehmen oder gar einzelne Vertreter der Führungsebene einklagen, und dem starren Amboss von Aktionären, die sich gegen die Integration einer ESG-Strategie in das Unternehmen sträuben. ESG steht dabei für die drei Säulen der Nachhaltigkeit: Environmental, Social, Governance, auf Deutsch: Umwelt, soziale Aspekte sowie Unternehmensführung.

„ Die anhaltende Debatte, was Vorrang haben sollte, die Shareholder-Value-Maximierung oder die Förderung der Stakeholder-Interessen, macht die Verwaltungsratstätigkeit komplexer und anspruchsvoller, weil dadurch die sogenannte «Principal-Agent»-Frage neu gestellt wird: Welche Ziele darf das Management mit dem ihm anvertrauten Unternehmen verfolgen, wer gibt diese Ziele vor, und wie wirken sich diese Vorgaben auf die Treuepflichten der Verwaltungsräte aus?

„ Krisen lassen die Forderung nach einer «Thought diversity» in Verwaltungsräten laut werden, um eine Vielfalt zu gewährleisten, die in der Lage ist, das breite Spektrum der Herausforderungen zu bewältigen. Diese Forderung der Investoren stösst auf die Schwierigkeit, kompetente, motivierte und verfügbare Kandidaten in einem exponierten Umfeld zu rekrutieren.

Ist aufgrund dieser Trends zu befürchten, dass die besten und geeignetsten Kandidatinnen und Kandidaten für

Nachhaltigkeit verlangt vom Verwaltungsrat, Risiken richtig einzuschätzen und sie angemessen zu managen. Sie bedeutet mehr Unternehmergeist und mehr Generationendenken.

ten und variablen Komponenten aus, die von Parametern der langfristigen wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit abhängen: Dieser Ansatz setzt für die Unternehmensleitung Gesamtziele statt individueller Ziele und zeitlich verzögerte Zahlungen voraus, die bei Zielverfehlung nicht erfolgen oder zurückgefordert werden können.

Ist zu befürchten, dass die besten Kandidatinnen und Kandidaten für konkrete Verwaltungsratsmandate künftig gar nicht erst zur Verfügung stehen?

konkrete Mandate gar nicht erst zur Verfügung stehen? Wird das Korsett der Vorschriften, mit denen die Nachhaltigkeit im Unternehmen eingefangen werden soll, das Future Board in eine risikoaverse Schockstarre versetzen, das sich auf eine rein kontrollierende Funktion konzentriert? Wir sind vom Gegenteil überzeugt, wenn man dem Begriff der Nachhaltigkeit auch eine positive und innovative Dimension verleiht. Wir schlagen dazu mehrere Schlüssel vor, welche die Risikoaversion überwinden und eine Plattform für unternehmerische Chancen schaffen:

Schlüssel 1: Nachhaltigkeit sollte den Verwaltungsrat dazu motivieren, eine echte unternehmerische Mission zu definieren, die von gelebten Werten untermauert und in die DNA des Unternehmens einfliesst. Zu diesen Werten gehören Bescheidenheit, Integrität, Verantwortungsbewusstsein, Nähe zu den Menschen und zur Natur sowie Engagement in der Gesellschaft und für die Gesellschaft. In modischen

Anglizismen würde man wohl von «Setting the tone from the top» und «Leading by example» sprechen; prosaischer und nicht weniger bildgewaltig drückte sie schon der Berner Dichter Jeremias Gotthelf aus: «Zu Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland.»

Schlüssel 2: Nachhaltigkeit verlangt vom Verwaltungsrat, dass er die Unternehmensinteressen unabhängig verfolgt. Viele Governance Codes versuchen, diese Tugend einzufangen. Wir müssen uns eingestehen, dass sie nur dann glaubwürdig ist, wenn wir den Mut haben, die Konsequenzen zu akzeptieren. Die Unabhängigkeit muss sich sowohl in der Rede als auch in der – vor allem finanziellen – Freiheit ausdrücken, jederzeit aus einem Gremium auszutreten, das nicht auf abweichende Stimmen hört.

Schlüssel 3: Nachhaltigkeit drückt sich in einer massvollen Vergütung und einer ausgewogenen Mischung aus fes-

Schlüssel 4: Nachhaltigkeit verlangt vom Verwaltungsrat, Risiken in Bezug auf das Unternehmen, die Branche und die Märkte zu identifizieren, sie richtig einzuschätzen (weder über- noch unterbewerten und insbesondere mit den Eintrittswahrscheinlichkeiten umgehen können), ihnen vorzubeugen und sie angemessen zu managen.

Schlüssel 5: Nachhaltigkeit bedeutet mehr Unternehmergeist und mehr Generationendenken. Sustainable Boards beziehen externe Kosten ein, um Chancen zu schaffen, Werte für das Unternehmen und positive Auswirkungen für die Gemeinschaft und für die nächsten Generationen zu erzeugen. Denn ihnen ist das Unternehmen nur auf Zeit anvertraut.

Dafür sind Persönlichkeiten mit Mut, Widerstandsfähigkeit, gesundem Menschenverstand und Charakter gefragt.

18 Special Nachhaltig handeln Samstag, 24. Juni 2023
Dr. Beat Brechbühl, LL.M. ist Managing Partner der Anwaltskanzlei Kellerhals Carrard, Lehrbeauftragter für Entrepreneurship an der Universität Bern und Präsident/Mitglied von mehreren Verwaltungsräten. Prof. Dr. Jean-Luc Chenaux ist Partner der Anwaltskanzlei Kellerhals Carrard, Professor für Gesellschaftsrecht an der Universität Lausanne und Mitglied von Verwaltungsräten. Aufgabe der Verwaltungsräte ist es, die nachhaltige Entwicklung ihrer Unternehmen zu steuern. FOTO: BENJAMIN CHILD Dr. Beat Brechbühl FOTO: PD Prof. Dr. Jean-Luc Chenaux FOTO:PD

Wandel braucht starke Governance und Zusammenarbeit

Unternehmen Nachhaltigkeit ist keine Modeerscheinung, sondern ein langfristig relevanter betrieblicher Erfolgsfaktor. Doch wie lässt sich sicherstellen, dass den Zielen eines Unternehmens auch Taten folgen? Eine wichtige Voraussetzung ist eine starke Nachhaltigkeitsgovernance – wie das Beispiel von UBS Schweiz zeigt.

STEPHAN LEHMANN-MALDONADO

«Wir kompensieren unsere CO2-Emissionen», schreibt ein Unternehmen stolz. «Wir verwenden ausschliesslich FSCzertifiziertes Papier», berichtet ein anderes. Derweil kündigt ein weiteres an: «Wir wollen unsere Flotte bis 2025 auf Elektromobilität umstellen.»

Solche Ansagen, mit denen Unternehmen ihr nachhaltiges Engagement herausstellen, klingen immer gut. Doch auch wenn die dazu notwendigen Massnahmen nach bestem Wissen und Gewissen erfolgen, reichen sie oft nicht, um einen signifikanten Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung zu leisten. Denn isolierte Projekte können von anderen Unternehmensaktivitäten beeinträchtigt werden. Oder es bleibt bei vereinzelten Versuchsballons. Damit die Anstrengungen nicht verpuffen, sondern sich gegenseitig befruchten, müssen sie in eine ganzheitliche Strategie eingebettet und durch eine starke Nachhaltigkeitsgovernance und klar messbare Ziele abgesichert sein.

Gelebte Kultur

Verschiedene Studien zeigen: Damit Nachhaltigkeit operativ werden kann, muss sie auf der obersten Chefetage verankert sein. So hat zum Beispiel das Terra Institute – in Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW – verschiedene Schweizer Grossunternehmen rund um Nachhaltigkeit und Corporate Responsibility (CR) befragt. Das Ergebnis der Umfrage ist nicht überraschend, aber sehr wichtig: Eine gelebte Kultur der Nachhaltigkeit gelingt nur, wenn sie vom Management unterstützt und in der

Strategie sowie den Unternehmenswerten reflektiert wird. Als mögliche Hindernisse führt die Studie das Schielen auf kurzfristige, schnelle Erfolge auf.

Zu ähnlichen Schlüssen kommt

George Serafeim, Professor an der Harvard Business School. Er erforscht seit mehr als einem Jahrzehnt, wie sich der der Beitrag eines Unternehmens für die Gesellschaft auf den Profit auswirkt. Er rät, die drei nachhaltigen Dimensionen Umwelt (Environment), Soziales und Governance, kurz ESG, als Teil der Strategie und des Unternehmenszwecks zu sehen, und nicht nur unter einem juristischen Aspekt.

Silodenken überwinden

Serafeim plädiert dafür, übers ganze Unternehmen hinweg verbindliche Nachhaltigkeitskriterien aufzustellen, an denen Mitarbeitende und alle Verantwortlichen auf den diversen Managementebenen gemessen werden.

Das Denken in Silos, also eine Mentalität, die im Unternehmen dazu führt, dass Abteilungen oder Einzelpersonen nur ihr eigenes Tun im Blick haben, verhindere dagegen, dass ein Mehrwert für die Gesellschaft und die Umwelt entstehe. Ökonomie und Ökologie sind für den Wissenschaftler keine Gegensätze, sondern gehen Hand in Hand.

Nachhaltiges Banking führt Menschen zusammen und trägt dazu bei, die Welt ein Stück besser zu machen. Gleichzeitig ist es eine strategische Wachstumschance und ein Innovationsmotor und hilft Kundinnen und Kunden, ihre eigenen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. UBS will hierzu in der Schweiz einen wichtigen Beitrag leisten. Denn um Netto-Null bis 2050 zu erreichen,

sind jährlich global mindestens 3,5 Billionen US-Dollar an zusätzlichen Investitionen bis 2030 erforderlich. Dazu muss Nachhaltigkeit auch im Banking in grossem Masse und Tempo wachsen. Der Schweizer Finanzplatz ist bereits heute ein wichtiger Akteur, und das Angebot von Schweizer Banken wächst stetig.

Bei UBS in der Schweiz ist Nachhaltigkeit eine der zentralen Initiativen. Das gesamte Managementteam steht hinter gemeinsamen Zielen und bricht diese für ihre jeweiligen Bereiche herunter. Damit bleibt es nicht bei einer isolierten Initiative. Denn Teil des Er-

folgs ist das Engagement im Kundengeschäft und das Einbringen der Kundenbedürfnisse in die Weiterentwicklung von konkreten Lösungen. Die Koordination läuft dabei im sogenannten «Center of Excellence Sustainability» zusammen. Das Center besteht aus einem Expertennetzwerk, das interdisziplinär und agil zusammenarbeitet, um die Nachhaltigkeitsstrategie der Bank quer durch alle Geschäftseinheiten von UBS im Schweizer Heimmarkt und im engen Austausch mit den Fronteinheiten umzusetzen. Zugleich fungiert das Center als Bindeglied zwischen dem Nachhaltigkeitsteam auf Gruppenebene,

den Markteinheiten und der Produktentwicklung. Da zwischen Unternehmen, Umwelt und Gesellschaft verschiedene komplexe Wechselwirkungen bestehen, hat sich diese Organisationsform als ebenso effektiv wie effizient erwiesen. «Nachhaltigkeit ist ein integraler Bestandteil unseres Geschäfts, ein Teil unserer DNA. Darum treiben wir das Thema in der Schweiz, basierend auf Kundenbedürfnissen und Innovation auf allen Ebenen, voran», sagt Sabine Magri, operationelle Leiterin (COO) des SchweizGeschäfts der Universalbank.

Das Schweizer Kompetenz-Center bringt sich ganz konkret im Betriebsalltag ein. So entwickelt es den konkreten Plan zur schrittweisen Absenkung der CO2-Emissionen im Kreditportfolio, damit UBS Schweiz ihren Beitrag zum Netto-Null-Ziel leisten kann. Ausserdem unterstützt das Center bei der Entwicklung von nachhaltigen Produkten und der Erarbeitung von Lösungen, damit Kundinnen und Kunden ihre eigenen Nachhaltigkeitsziele erreichen. Die Vergabe von sogenannten Sustainability Linked Loans ist hier ein Beispiel. Dabei wird bei Krediten ein Teil des Zinssatzes an Nachhaltigkeitsziele geknüpft: Erreicht das Unternehmen die Ziele, profitiert es von tieferen Zinsen.

Transparenz als Erfolgsfaktor

Um glaubwürdig zu sein, ist es zentral, transparent anhand messbarer Kriterien und einer fundierten Datenanalyse zu kommunizieren, inwieweit das Unternehmen auf Zielkurs ist. «Aussagekräftige Daten sind eine zentrale Voraussetzung für Transparenz und damit zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele», sagt Sabine Magri und fügt an: «Das Center of Exellence Sustainability von UBS Schweiz arbeitet dazu unternehmensweit eng mit den verschiedenen Teams zum Thema zusammen.»

Aber eines ist klar: «Es braucht Kooperationen, um Veränderungen nachhaltig voranzutreiben», betont Sabine Magri. Aus diesem Grund wolle UBS das Ökosystem erweitern und dem Nachhaltigkeitsgedanken auch über Partnerschaften zum Durchbruch verhelfen. Ein Beispiel für eine fruchtbare Kooperation im Immobiliensektor ist jene mit der Zürcher Beratungsfirma «pom+», die in den Bereichen Immobilien und Organisationsplanung tätig ist. Gemeinsam wurde ein Service entwickelt, welcher es Besitzerinnen und Besitzern von Renditeliegenschaften ermöglicht, den CO2Ausstoss und die Energieintensität ihrer Liegenschaft zu berechnen. Das Tool generiert mit wenigen Klicks einen massgeschneiderten Report, der aufzeigt, wie mit den richtigen Investitionen der CO2Ausstoss reduziert, das Energiepotenzial ausgeschöpft und die Kosten optimiert werden können.

Neue Kundensegmente Nachhaltiges Wirtschaften bringt eine Vielzahl an zusätzlichen Vorteilen mit sich. Es reduziert Kosten, minimiert Risiken und fördert das Geschäft. Denn richtig umgesetzt lassen sich mit neuen Geschäftsmodellen, nachhaltigen Produkten, zufriedenen Mitarbeitenden, die gute Prozesse schätzen, auch neue Kundensegmente erschliessen.

Samstag, 24. Juni 2023 Nachhaltig handeln Special 19
Sabine Magri, Chief Operating Officer, UBS Switzerland. FOTO:
PD
Transparenz, Kooperation und Überwinden des Silodenkens: Nachhaltiges Banking bildet eine strategische Wachstumschance und beflügelt Innovationen. FOTO: UBS
Die Experten des «Center of Excellence Sustainability» von UBS Schweiz arbeiten agil zusammen, um die Nachhaltigkeitsstrategie quer durch alle Geschäftseinheiten umzusetzen.

Neuer «Swiss Code» hilft auch KMU

Governance ESG, die englische Abkürzung für Umwelt, Soziales und Unternehmensführung, steht für die Anforderungen an ein nachhaltiges Management. Der neue «Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance» von Wirtschaftsdachverband economiesuisse gibt wertvolle Inputs.

Es sind nicht nur Investoren, Geldgeber und verstärkte regulatorische Vorgaben, die Unternehmen dazu bewegen, nachhaltig zu wirtschaften. Auch Kunden legen längst Wert auf nachhaltige Produkte. Und wer als Zulieferer agiert, muss die Erwartungshaltung der Auftraggeber erfüllen, die zunehmend gesetzlich verpflichtet sind, über ihre Nachhaltigkeitsanstrengungen zu berichten, und daher ihre Lieferketten auf Nachhaltigkeit hin prüfen. Und schliesslich sammeln nachhaltige Unternehmen auch Pluspunkte auf dem Arbeitsmarkt im Wettbewerb um junge Talente. Es gibt also genug Gründe für Unternehmen aller Grössenordnungen, Nachhaltigkeit als Chance zu verstehen. Das heisst im Klartext: Die internen Prozesse, also das Betriebsmodell, kommen auf den Prüfstand – und manchmal muss sogar das Geschäftsmodell angepasst werden, so wie beispielsweise in der Automobilindustrie. Denn mit dem fortschreitenden klimabedingten Aus für den Verbrennermotor stellen grosse Hersteller ebenso wie kleinere Schweizer Zulieferer längst ihre Produkte um –der Transformationsprozess läuft auf Hochtouren. Für einen solchen Wandel ist gute Governance gefragt, also verantwortungsvolles Management. Nachhaltigkeit ist Chefsache.

Komplexe Materie

Doch dabei tun sich viele Firmen schwer, insbesondere kleine und mittelständische (KMU). Kein Wunder: Strategieentwicklung, Definition von Umweltzielen und Massnahmenkatalogen, Berichterstattung – es gibt viel zu tun bei der Weiterentwicklung des Unternehmens in Richtung Nachhaltigkeit. Und die Materie ist angesichts wachsender regulatorischer Vorgaben in der Schweiz und in der EU auch recht komplex. Die Anforderungen an Verwaltungsräte und Geschäftsleitungen nehmen zu. Das alles ist mit Kosten, Personal- und Zeitaufwand verbunden.

Hier will economiesuisse unterstützen und inspirieren. Was gute Governance angeht, so stellt der Dachverband der Schweizer Wirtschaft schon lange hilfreiche Leitlinien zur Verfügung, den «Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance». Der ist nun 2023 in einer überarbeiteten Version neu herausgekommen. Das rund 30 Seiten starke Dokument bietet wertvolle Empfehlungen und Informationen und gewährleistet zugleich einen gewissen Spielraum für spezifische Bedürfnisse von Firmen.

Risiken in den Lieferketten

«Die Wirtschaft hat unter Einbezug von wissenschaftlichen, aber auch praktischen Gesichtspunkten Empfehlungen formuliert, was die besten Prozesse und die besten Strukturelemente für die Unternehmensführung sind, um sicherzustellen, dass ein Unternehmen im klassischen Sinn nachhaltig entwickelt werden kann», erklärt economiesuisse-Präsident Christoph Mäder. Wohlgemerkt: Es geht um Governance. Der «Swiss Code» erklärt nicht im Detail, wie man zum Beispiel ein Umwelt- oder Personalmanagement betreiben soll. Auch wenn der Code in erster Linie börsenkotierte Konzerne adressiert, so ist er auch für KMU sehr nützlich; sie können sich an seinen Empfehlungen orientieren. Denn Corporate Governance bildet das Fundament für ein zielgerichtetes Management der ESG-Nachhaltigkeitsdimensionen. Und ohne einen geschärften Blick auf diese kann heute kein Unternehmen mehr im Wettbewerb bestehen. Worum geht es also genau? Dazu vorab ein Blick in die sich dynamisch entwickelnden regulatorischen Vorgaben für Schweizer Unternehmen. Am 1. Januar 2022 sind neue Sorgfalts- und Berichterstattungspflichten für Gesellschaften des öffentlichen Interesses ab einer gewissen Grösenordnung in Kraft getreten. Das Obligationenrecht wurde im Sinne des indirekten Gegenvorschlags zur KonzernverantwortungsInitiative erweitert. Die betreffenden Unternehmen müs-

sen nun ab dem Geschäftsjahr 2023 im Rahmen einer nicht-finanziellen Berichterstattung Rechenschaft ablegen zu Umwelt-, Sozial- und Arbeitnehmerbelangen sowie zu den Themen Achtung der Menschenrechte und Korruptionsbekämpfung. Sofern betroffen, sind auch Angaben zu Konfliktmineralien und zur Kinderarbeit gefordert. In diesem Zusammenhang muss das Management sowohl die Risiken aus der eigenen

Geschäftstätigkeit, als auch die potenziellen Risiken in den Lieferketten identifizieren. Transparenz in den oft langen vor- und nachgelagerten Lieferketten zu erreichen stellt viele Firmen vor grosse Herausforderungen. Die Verantwortlichkeiten liegen hier klar bei Verwaltungsräten und Geschäftsleitungen. Von ihnen wird erwartet, dass sie eine aktive Rolle bei der nachhaltigen Transformation ausüben. Viele Mittelständler sehen sich ebenfalls in die Pflicht genommen: «Die rasant gestiegenen Regulierungen und das erhöhte Grundverständnis hinsichtlich der sozialen, ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit bringt dieses Thema auch auf die strategische und operative Landkarte der Schweizer KMU», bestätigt Thomas Züger, CEO der Treuhand- und Beratungsgesellschaft OBT.

Keine Standardlösungen

Der Nachholbedarf ist gross, und Kunden verlangen zunehmend Nachweise. Viele Schweizer KMU seien zwar intrinsisch auf Nachhaltigkeit getrimmt, also auf langfristige Stabilität des Unternehmens, erklärt Adrian Stoll, Director Supply Chain Sustainability & ESG Reporting bei KPMG. Doch KMU zeichneten sich häufig durch beständiges und konservatives Wirtschaften aus.

«Schnelle, innovative Transformationszyklen können hierbei eine besondere Herausforderung sein.» Mit anderen Worten: Wer bei der hohen Veränderungsgeschwindigkeit nicht mithalten kann, fällt zurück. Die Umstellung bei Prozessen und Betriebsstrukturen ist offenbar die grösste Hürde. Stoll macht allerdings auch klar, dass es hierfür keine einfachen Standardlösungen gibt. Für Thomas Züger braucht es in diesem Zusammenhang eine strategische und operative Einbettung in die Organisation und ein – oftmals von externer Seite unterstütztes – Change-Management.

Für die Ebnat AG, Hersteller von Mundhygieneprodukten, steht fest, dass man am Thema Nachhaltigkeit konti-

Richtschnur für Schweizer Unternehmen

Der «Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance» dient seit 2002 als eine Richtschnur für Schweizer Unternehmen. Nun wurde er zum zweiten Mal umfassend überarbeitet: Die Revision 2023 erfolgte vor dem Hintergrund des neuen Aktienrechts und der dynamischen Entwicklungen im Bereich der Nachhaltigkeitsberichterstattung. Sie ermöglichte es, die Erfahrungen der letzten Jahre in der Schweiz wie auch die relevanten internationalen Entwicklungen aufzugreifen. Seit der letzten Revision hat sich der Ansatz «comply or explain» für die Berichterstattung von Unternehmen bewährt. So können diese eigene Gestaltungsideen umsetzen, müssen sich aber erklären, falls ihre Corporate Governance von den Empfehlungen des «Swiss Codes» abweicht.

nuierlich arbeiten muss. «Nachhaltigkeit ist ein stetiger Veränderungs- und Verbesserungsprozess. Und während dieses Prozesses muss man ständig dazulernen», sagt Geschäftsführer Michele Vela.

Neue Punkte aufgenommen Der neue «Swiss Code» kann für alle Unternehmen wertvolle Inputs liefern. Die Corporate Governance sollte so ausgestaltet sein, dass das Ziel einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung erreicht werden kann. Im neuen «Swiss Code» wurden die wesentlichen Elemente der Nachhaltigkeit aufdatiert und neue Punkte integriert. «Das Kern-Credo des Dokuments und der Gesamtwirtschaft ist, dass Nachhaltigkeit in all ihren drei Dimensionen gelebt werden muss: Wir haben die ökonomische Dimension, die gesellschaftliche und die ökologische», erläutert Mäder. Nachhaltigkeit sei keine Subdisziplin, die man in einem Bericht abhandeln könne, sondern etwas, das das gesamte Unternehmen durchdringen müsse. Wichtig ist, dass dazu die Interessen aller Anspruchsgruppen, nicht nur der Aktionäre beziehungsweise Geldgeber, berücksichtigt werden. Unter anderem bedarf es eines umfassenden Risikomanagements, das auch klimabedingte und Umweltrisiken miteinschliesst. Das fordert auch das Obligationenrecht.

Und last, but not least plädiert economiesuisse für eine transparente Berichterstattung, die wirklich das kommuniziert, was Aktionäre, Mitarbeitende, Kunden oder Zulieferer wissen wollen – und die über das gesetzliche Minimum hinausgeht. «Die Nachhaltigkeitsoffenlegung muss dem Unternehmenszweck und der entsprechenden Tätigkeit angemessen ausgestaltet sein und darf sich nicht einfach auf einzelne, eng definierte Gegenstände beschränken», so Christoph Mäder.

Entscheidend für den Erfolg des neuen «Swiss Codes» wird die Akzeptanz in der Wirtschaft sein. Economiesuisse ist zuversichtlich. «Die Präsenz des Codes ist sehr manifest. Er ist eine konsequente Weiterentwicklung und eine Zusammenfassung der Best Practice, und diese Best Practice existiert auch», betont Mäder.

20 Special Nachhaltig handeln Samstag, 24. Juni 2023
DENISE WEISFLOG
Beim Thema Nachhaltigkeit haben viele Firmen Nachholbedarf. Regulatorische Vorgaben erfordern ein erweitertes Management und ein transparentes Reporting. FOTO: PEXELS
«Nachhaltigkeit ist ein stetiger Veränderungs- und Verbesserungsprozess. Man muss ständig dazulernen.»
Michele Vela Geschäftsführer von Ebnat

Cybersecurity als Schlüssel zur nachhaltigen Unternehmensführung

Risikomanagement Wer über Cybersecurity spricht, denkt kaum an Nachhaltigkeit. Dabei ist sie ein wesentlicher Bestandteil eines zeitgemässen Risikomanagements. KMU sollten wissen, mit welchen Herausforderungen sie bei Angriffen zu kämpfen haben, welche Massnahmen sie treffen können – und wo es Unterstützung gibt.

speichert. Informationen, die auch für einen weiteren Angriff – dann vielleicht auf ein anderes, grösseres Unternehmen – genutzt werden könnten. Kurzum, es gibt keine wertlosen Daten», erklärt der IT-Sicherheitsexperte. Die nach wie vor eklatanten Sicherheitslücken in manchen Firmennetzwerken erstaunen, hat sich doch die Sensibilität für das Thema – nicht erst seit der Corona-Pandemie und der zunehmenden Verbreitung der Remote-Arbeit – erheblich verbessert. Allerdings besteht das Know-how in vielen Fällen nur oberflächlich: Wenn es darauf ankommt, wissen die Mitarbeitenden nicht, was wann zu tun ist. Nötige Sicherheitsvorkehrungen werden aus Zeitgründen oder aufgrund der erwarteten Kosten auf die lange Bank geschoben. Dabei ist heute weithin bekannt, dass die IT-Sicherheit nicht nur von technologischen Massnahmen abhängig ist, sondern wesentlich von der Ausbildung der Mitarbeitenden und ihrem Verhalten.

Zu den gängigen technischen Vorkehrungen zählt inzwischen ein regelmässiges Back-up der Firmendaten. Mit automatisierten Datensicherungen sowie mithilfe einer Firewall und einer aktuellen Virensoftware fühlen sich zahlreiche Kleinbetriebe auf der sicheren Seite. Was viele nicht wissen: Allein mit der Datensicherung ist es heute nicht mehr getan. Das musste auch die Food AG erfahren:

Externe Hilfe bei Erpressung

Weil viele Unternehmen mit kriminellen Angriffen, Lösegeldforderungen und Verhandlungen mit Erpressern überfordert sind, wenden sie sich an externe Vertrauenspartner. Dazu gehören auch Versicherungsunternehmen wie die Mobiliar, die ein umfangreiches Präventions- und Versicherungsangebot zum Thema anbietet. Das Cyber-Leistungspaket deckt neben den Dienstleistungen bei einer Hackerattacke zahlreiche Gefahren aus der digitalen Welt ab wie Kreditkartenmissbrauch, Datenverlust –nicht nur aus Cyberangriffen – sowie bei Persönlichkeits- und Urheberrechtsverletzungen. Auch eine IT-Assistance für alltägliche Probleme mit vernetzten Geräten gehört dazu.

Allein mit der Datensicherung ist es heute nicht mehr getan.

ROBERTO STEFANO

Bereits jedes dritte Schweizer KMU ist Opfer eines Cyberangriffs geworden –mit zum Teil verheerenden Konsequenzen: Neben massiven Reputationsschäden entstehen in der Regel auch hohe finanzielle Aufwendungen. Manche Unternehmen treiben die Attacken sogar in den Konkurs, wenn beispielsweise die Produktion während mehrerer Wochen lahmgelegt ist. Trotz solcher Vorfälle und der laufend steigenden Bedrohung durch Internetkriminelle unterschätzen viele Verantwortliche nach wie vor das Thema. Das hat mehrere Gründe, wie das Beispiel der Food AG, ein Engrosunternehmen für Gastrobetriebe, dessen richtiger Name nicht genannt werden soll, zeigt.

Wenn die Frühschicht der Food AG am Samstagmorgen um 5 Uhr jeweils ihre Computer hochfährt, befinden sich die letzten Partygänger erst auf dem Heimweg – oftmals noch aufgeregt von der durchgefeierten Nacht. Eine ganz andere Art der Nervosität überfiel die Mitarbeitenden des Engroshändlers, als sie realisierten, dass ihnen gewisse Daten auf den Rechnern nicht mehr zur Verfügung standen. Schnell avisierten sie ihren IT-Partner, mit dessen Hilfe sie Teile des Firmennetzwerks entkoppeln, die Anwendungen und Programme stoppen und das System partiell herunterfahren konnten, um die Ausbreitung der schadhaften Software zu unterbinden.

Firmen häufig unvorbereitet

Die Reaktion der Food AG auf die Cyberattacke erfolgte schnell und zielgerichtet. Doch das ist nicht immer der Fall, vor allem wenn kleine und mittlere Unternehmen betroffen sind, die keine vielköpfige IT-Abteilung beschäftigen. Noch allzu häufig sind sich die Betriebe nicht bewusst, welchen Gefahren sie durch einen Hackerangriff ausgesetzt sind und wie sie sich in einem solchen Fall verhalten sollten. Oder sie machen sich erst dann Gedanken über nötige Massnahmen und Prozesse, wenn sie von einem Ereignis be-

reits betroffen sind. Entsprechend unvorbereitet reagieren sie, wenn sie attackiert werden. «Oftmals sind sie hilflos, wenn die Systeme nicht mehr richtig funktionieren», hat Simon Seebeck, Leiter des Kompetenzzentrums Cyber Risk beim Versicherungsunternehmen Mobiliar, festgestellt. Dabei sind durchdachte Abwehrreaktionen und ein ausgereiftes Krisenmanagement im Falle einer Cyberattacke ein wesentlicher Bestandteil des Risikomanagements und damit auch eine Grundvoraussetzung für eine langfristige, verantwortungsvolle und nachhaltige Unternehmensführung.

Nachhaltig handeln

Es gibt keine wertlosen Daten Begründet werden die fehlenden ITSicherheits- und Vorsorgemassnahmen bei kleineren Betrieben häufig mit der geringen Grösse der Firmen und der mangelnden Attraktivität für potenzielle Angreifer. «Das ist ein Trugschluss: Solche Unternehmen sind für Hacker vielmehr leichte Ziele, deren Daten sie praktisch ohne Aufwand abziehen können», weiss Seebeck. Und zu holen gebe es für Kriminelle immer etwas: «In jedem Betrieb sind zum Beispiel Bankverbindungen oder Abrechnungen ge -

Noch am gleichen Samstag begannen die vom Engroshändler engagierten ITSpezialisten, die Back-ups des Unternehmens zu analysieren – und kamen zu einem unschönen Ergebnis: Auch die Sicherungskopien waren zum Teil verunreinigt. Nur mit Glück konnte eine ältere Back-up-Version gefunden werden, mit deren Hilfe die Food AG nach fünf Tagen ihren Betrieb wieder aufnehmen konnte. Bis dahin war die gesamte Firma grösstenteils lahmgelegt.

1. Anzeichen einer laufenden Cyberattacke erkennen:

Ein langsames System, fehlende Daten, Passwörter, die nicht mehr funktionieren, oder scheinbar selbständige Aktionen des Computers sind Hinweise auf eine Attacke. Unmissverständlich wird es, sobald Lösegeldforderungen auf dem Bildschirm erscheinen.

2. Sofort handeln:

Nehmen Sie alle Systeme vom Netz und schalten Sie das WLAN aus. Informieren Sie die interne oder externe Person für IT-Sicherheit und/oder die Notfallorganisation sowie anschliessend die Mitarbeitenden.

3. Problem analysieren und Schaden bewerten: Analysieren Sie das Problem und die entstandenen Schäden, wenn nötig zusammen mit weiteren Fachpersonen. Falls vorhanden, kontaktieren Sie Ihre Cyberversicherung. Nutzen Sie die Unterstützung der Versicherung und ihrer spezialisierten Partnerfirmen.

4. Arbeiten Sie mit der Polizei zusammen: Bei grösseren Angriffen warten Sie auf die Spurensicherung durch die Polizei, bevor Sie die Systeme reinigen und wiederherstellen. Informieren Sie zudem das Nationale Zentrum für Cybersicherheit (NCSC) über den Vorfall. Meldungen an die Behörden helfen bei der Prävention und tragen zur Sensibilisierung potenzieller Opfer bei. Zahlen Sie kein Lösegeld, da dies Ihr Unternehmen für Hacker attraktiver machen kann.

5. Sorgen Sie vor und schützen Sie sich aktiv vor Cyberkriminalität: Ergreifen Sie – unter Einbezug von Fachpersonen – Massnahmen, welche die Angriffswahrscheinlichkeit verringern. Bereiten Sie sich mithilfe einer Checkliste für den Notfall vor. Füllen Sie alle wichtigen Informationen ein, drucken Sie die Liste aus und hängen Sie diese gut sichtbar für die Mitarbeitenden auf.

Hacker agieren subtil und leise Während früher Hackerattacken noch eher einem Bankraub glichen, bei dem ein Angreifer schnell in ein System eindrang, die Daten verschlüsselte und danach eine Lösegeldforderung stellte, gehen die heutigen Kriminellen subtiler vor: Sie agieren leiser, nisten sich in den Netzwerken ein, suchen nach Berechtigungen, Zugangscodes oder Backups und verschlüsseln oder stehlen die Informationen erst zu einem späteren Zeitpunkt. «Durch dieses Vorgehen ist meist auch die Datensicherung betroffen. Gleichzeitig wissen die Unternehmen gar nicht genau, welche Daten gestohlen oder verändert wurden», erklärt Mobiliar-IT-Sicherheitsexperte Seebeck.

Die Ungewissheit stellt die Verantwortlichen in den Unternehmen vor zusätzliche Herausforderungen, was die Meldung von Cyberangriffen betrifft: Wer soll informiert werden? Müssen alle Lieferanten und Kunden angegangen werden oder genügen die direkt betroffenen Unternehmen? Zudem zeigt sich das ganze Ausmass der Attacke oftmals erst einige Tage später, wenn die Firmendaten nach einer Lösegeldforderung im Darknet landen.

Mit einer Datenveröffentlichung wurde auch der Food AG gedroht, sollte sie nicht auf die Lösegeldforderung der Hacker eingehen. Laut den Angreifern waren unter anderem Finanzdaten, Kundenlisten, Offerten und Mitarbeiterdaten entwendet worden. Zudem machten die Kriminellen geltend, dass sie die Daten entschlüsseln könnten, wenn eine Zahlung erfolgen sollte.

Noch während des Erpressungsfalls konnte die Food AG das Tagesgeschäft auf einer Ersatzinfrastruktur wieder aufnehmen. Gleichzeitig musste ihre IT-Infrastruktur gereinigt und neu konfiguriert werden. Erst mit der Zeit konnten die geprüften Daten wieder auf die Rechner eingespielt werden. Für diese Arbeiten konnte die Food AG auf einen technischen Partner der Mobiliar zählen, der den IT-Dienstleister des Kunden bei den Wiederherstellungsarbeiten unterstützte. Ein weiterer Partner des Versicherers analysierte die Back-ups und prüfte, wo und wie weit die Angreifer ins Netzwerk eingedrungen waren. Ein externer Krisenmanager schliesslich betreute den Engroshändler bei der Kommunikation mit den internen und externen Anspruchsgruppen sowie den Erpressern.

Zum Glück versichert Aufwendungen für die Wiederherstellung der Systeme, die Prüfung und Rückführung der Daten sowie die Kosten für den Betriebsunterbruch können schnell einen namhaften, zum Teil sechsstelligen Betrag in Franken ausmachen. Zum Glück für die Food AG hatte das Unternehmen eine Cyberversicherung der Mobiliar abgeschlossen, wodurch der beachtliche Schaden gedeckt war.

Nach den nervenaufreibenden Tagen der Hackerattacke konnte sich die Food AG schon bald wieder auf ihr Tagesgeschäft konzentrieren – nicht ohne gleichzeitig ihre IT-Sicherheitsvorkehrungen auf den neusten Stand zu bringen, um für mögliche zukünftige Attacken gewappnet zu sein.

Die richtigen Schlüsse ziehen Tatsächlich ist eine sorgfältige und detaillierte Aufarbeitung eines Cyberangriffs von grösster Bedeutung. Nur so lassen sich die richtigen Schlüsse für die Zukunft ziehen und gezielt prophylaktische Massnahmen ergreifen sowie die nötige Sensibilisierung im Unternehmen erreichen. Denn je besser die Prozesse bei einer neuerlichen Attacke funktionieren, desto geringer werden die Schäden des Angriffs ausfallen – und umso schneller wird der Betrieb nach einem nächsten Angriff wieder normal funktionieren.

Samstag, 24. Juni 2023 Nachhaltig handeln Special 21
Simon Seebeck, Leiter des Kompetenzzentrums Cyber Risk beim Versicherungsunternehmen Mobiliar. FOTO: PD
So reagieren Sie richtig bei einem Cyberangriff
QUELLE: DIE MOBILIAR

«Niemand ist eine Insel»

Gesellschaft Ökosysteme könnten für mehr Nachhaltigkeit im Schweizer Gesundheitswesen sorgen. Sie bieten gleich mehrfachen Nutzen, wenn sie alle wichtigen Akteure der Branche an Bord holen.

Die Schweiz hat enormen Aufholbedarf, wenn es um die Digitalisierung des Gesundheitswesens geht. So zumindest das Fazit mehrerer Studien, die etwa von der Unternehmensberatung Deloitte und dem Branchenverband digitalswitzerland erstellt wurden. Auch im Digital Health Index der Bertelsmann Stiftung ist das Urteil der Experten eindeutig: Die Schweiz erreicht im Vergleich mit 17 Ländern Rang 14. «Andere Branchen wie der Einzelhandel, die Reise- oder Versicherungsbranche sind diesbezüglich viel weiter vorangeschritten», schrieb Pascal Brack, Digital Transformation Manager bei der Schweizerischen Post für Digital Health, unlängst in der «Schweizerischen Ärztezeitung». In diesen Branchen seien digitale Plattformen und Ökosysteme seit Jahren sehr gut etabliert. Das Geschäft sei dadurch für alle Beteiligten mit durchgehend digitalen Arbeitsabläufen massiv vereinfacht und stark beschleunigt worden. Viele Fehlerquellen menschlicher Arbeitsschritte habe man eliminieren können.

Explodierende Ausgaben

Auch der Kostendruck wächst: So sind die Ausgaben für das Gesundheitswesen hierzulande 2021 gegenüber dem Vorjahr um 5,9 Prozent angestiegen, was über dem Trend der letzten fünf Jahre liegt (+3 Prozent) – dies vor allem bedingt durch die Pandemie. Bezogen auf die letzten 20 Jahre sind die Gesundheitsausgaben «sogar um fast 80 Prozent und damit nahezu doppelt so stark gestiegen wie das Bruttoinlandsprodukt mit einem Wachstum von 40 Prozent», resümmiert die Unternehmensberatung

Boston Consulting Group. Diese Entwicklung sei nicht nachhaltig. Die Prognose der Berater in ihrer Studie (2022) zur Zukunft des Schweizer Gesundheitssystems: «Mit den Ideen und Ansätzen zur Kostenlimitierung der vergangenen zehn Jahre ist unter Berücksichtigung der demografischen Effekte bis 2040 eine Steigerung der Gesundheitsausgaben von aktuell 82 Milliarden Franken auf 155 Milliarden Franken zu rechnen – das entspricht einem Anstieg um rund 90 Prozent.» Wie aber das Schweizer Gesundheitssystem nachhaltig stärken und auch in Zukunft hohe Behandlungsqualität bei nicht exorbitant steigenden Kosten ge-

währleisten? Für Experten wie Pascal Brack ist die Antwort klar: «Sämtliche Akteure im Gesundheitswesen der Schweiz müssen in Zukunft einfacher, sicherer und digital interoperabel untereinander funktionieren.»

Mehr Interoperabilität fordert auch der Berufsverband der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH). Denn nur durch den Austausch von strukturierten medizinischen Daten könne die Qualität der Informationen gefördert, die Sicherheit der Datenübertragung gesteigert, die Behandlungsqualität erhöht und die Patientensicherheit verbessert werden.

Ralf Klappert, Head of Business Line Health, Adesso Schweiz, schlüsselt den Mehrwert vernetzter Systeme für die Akteure des Gesundheitswesens so auf: Gesundheitsfachpersonen könnten die Krankengeschichte einsehen, wodurch sie weniger Administrationsaufwand hätten. Stationäre und ambulante Institutionen profitierten von einer Integration klinischer Informationssysteme und Patientenakten und damit von erhöhter Transparenz und Qualität durch standardisierten Datenaustausch. So würden klinische Studien erleichtert. Krankenversicherer könnten Prämienmodelle, Kosten und Risikobeurteilungen optimieren. Wissenschaft und Forschung bekämen die Möglichkeit, anonymisierte Daten für evidenzbasierte Forschung und klinische Studien zu nutzen. Bürgerinnen und Bürger aller Bevölkerungsschichten wiederum erhielten einfachen Zugriff auf medizinische Akten (inklusive Impfdossier, Medikationsplan) und profitierten von einer integrierten Versorgung.

Elektronisches Patientendossier

Und was macht Bern? Der Bundesrat hat in seiner gesundheitspolitischen Strategie 2020 –2030 den technologischen und digitalen Fortschritt als wesentliche Stossrichtung definiert. Seit 2020 wird das elektronische Patientendossier (EPD) vom Gesetzgeber schrittweise eingeführt. Es ist ein Ablagesystem für behandlungsrelevante Informationen und enthält Kopien von Aufzeichnungen der elektronischen Krankengeschichte. Der Durchbruch ist bisher jedoch ausgeblieben: Die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer lag zuletzt erst bei 18 000. Gemäss E-Health-Barometer halten indes 57 Prozent der Schweizer Bevölkerung das EPD für eine gute Sache. 39 Prozent der Befragten würden

«Medizinische Fachpersonen sollen sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren können, statt sich ein Drittel ihrer Arbeitszeit mit Papierkram beschäftigen zu müssen.»

selbstständig ein solches Dossier eröffnen. Allerdings wusste nur etwas mehr als ein Viertel der Befragten überhaupt vom elektronischen Patientendossier. Das war einst anders: 2021 hatte der Anteil fast die 60-Prozent-Marke geknackt. Auch die positive Einschätzung lag damals bei 75 Prozent, und über die Hälfte der Befragten konnte sich die selbstständige Eröffnung eines EPD vorstellen.

Für Ralf Klappert kommt der bisherige Misserfolg des elektronischen Dossiers nicht überraschend: «Das EPD ist auf Patientinnen und Patienten ausgerichtet und deckt in seiner heutigen Ausprägung die Bedürfnisse nach durchgehenden digitalen Prozessen unter den Leistungserbringern nicht ab.» Anreize für die Leistungserbringer fehlten. Diese müssten zwar die Kosten für die Integration ins EPD tragen, sähen aber kaum einen Nutzen darin.

Langer Atem erforderlich

Wie aber könnten digitale Gesundheitsplattformen und -ökosysteme den erhofften Mehrwert für alle Akteure liefern? Daran arbeitet etwa die Schweizerische Post mit ihrem Ökosystem «Cuore». Hinter der Plattform «Well» wiederum stehen die Krankenversicherungen CSS und Visana. Konkurrent «Compassana» zählt die Versiche-

rungen Helsana, Groupe Mutuel und Swica, den Praxis- und Apothekenbetreiber Medbase, die Klinikkette Hirslanden und die LUKS Gruppe zu seinen Aktionären.

Das Beispiel Compassana zeigt, dass man einen langen Atem braucht, um ein solches Ökosystem aufzubauen. Kürzlich hat das Unternehmen seine gleichnamige kostenlose Patienten-App lanciert. Diese bietet Nutzerinnen und Nutzern unter anderem einfachen Dokumentenzugriff, Online-Terminbuchung, sichere Kommunikation mit medizinischen Fachpersonen sowie eine automatisiert erstellte Medikamentenliste. Allein die letztgenannte Funktion ist für die Schweiz eine Premiere und soll dafür sorgen, dass die medizinische Fachperson die Medikation optimieren kann. Und Patientinnen und Patienten sparen Geld, weil es zu weniger Doppelverschreibungen kommt.

«Niemand ist eine Insel. Das EPD ist ein Paradebeispiel für einen zentralen Akteur im Gesundheitswesen, der allein den erwähnten Mehrwert nicht liefern kann», sagt Compassana-CEO Peter Mittemeyer. «Das EPD kann und muss an Ökosysteme andocken. Apropos: Auch Ökosysteme können aneinander andocken.» Compassana ist überdies darauf ausgerichtet, die Ressourcenverteilung zu verbessern: «Medizinische Fachpersonen sollen sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren können, anstatt sich, grob geschätzt, ein Drittel ihrer Arbeitszeit mit Papierkram beschäftigen zu müssen. Das macht ihren Beruf auch wieder attraktiver – wir wirken also gemeinsam dem Fachkräftemangel entgegen.»

Effizientere Behandlung

Nicht zuletzt sollen die Akteure dank der Compassana-Plattform Behandlungspfade optimieren, beispielsweise für Diabetiker und Krebspatienten. «Natürlich stärkt unser Ökosystem auch die Eigenverantwortung der Patientinnen und Patienten, aber immer durch Expertise von Fachpersonen unterstützt. Dadurch dass Patientinnen und Patienten in ihren Behandlungsprozess involviert werden, wird auch deren Gesundheitswissen verbessert», erläutert Peter Mittemeyer. Neben einem effizienten Behandlungsprozess mit stringenter Datenqualität könne dies dazu beitragen, dass Krankheiten früher erkannt und nachhaltiger behandelt werden.

22 Special Nachhaltig handeln Samstag, 24. Juni 2023
ELMAR ZUR BONSEN
Peter Mittemeyer FOTO: PD
Medizinische Daten auf einen Blick: Die Zukunft liegt in vernetzten digitalen Systemen. FOTO: ADOBE STOCK Kostenlose Patienten-App von Compassana mit vielfältigen Funktionen. FOTO: PD Peter Mittemeyer CEO von Compassana
Pro Einwohner untEn lonat in Franken 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2021 300 400 500 600 700 800 900 Jahre QUELLE: BFS (2023)
Gesundheitsausgaben Schweiz Pro Einwohner und Monat in Franken (1990-2021)

Mitarbeitende – die wichtigste Ressource auf dem Weg zur Klimaneutralität

Bildung Wie Unternehmen ihre Belegschaft fit machen, Kompetenzen aufbauen und Nachhaltigkeit zu einem festen Bestandteil der Unternehmenskultur machen, zeigt eine aktuelle Studie von Boston Consulting Group und Microsoft.

ANNE GOERGEN

Kraftwerke, die der Luft CO2 entziehen, anstatt es zu freizusetzen, alternative Proteine aus Erbsen oder Soja als Basisstoff für Lebensmittel, emissionsarme Kraftstoffe für Fahrzeugflotten –Firmen auf der ganzen Welt haben sich Nachhaltigkeit auf die Agenda geschrieben. Technologische Innovationen reichen aber nicht aus, um Unternehmen nachhaltig zu machen. Das wird vielen Gesellschaften gerade schmerzhaft bewusst. Ein Drittel der weltweit grössten börsenkotierten Unternehmen hat sich zwar verpflichtet, zwischen 2030 und 2050 die Netto-Null-Ziele zu erreichen. Doch deutlich weniger – nämlich gerade einmal 17 Prozent – sagen von sich selbst, dass sie aktuell auf gutem Weg zur Dekarbonisierung sind. Das zeigen Analysen der Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG).

Steile Lernkurve

Die CO2-Reduktion stellt Firmen gleich vor mehrere grosse Herausforderungen: Sie bedingt einen gigantischen Transformationsprozess – vergleichbar mit der Digitalisierung –, der alle Unternehmensbereiche umfasst. Ganze Organisationsbereiche müssen nun ihre Denkweise ändern, multidisziplinäre Fähigkeiten aufbauen und diese im gesamten Unternehmen verankern. Der Zeitrahmen dafür ist eng und die zu bewältigende Lernkurve steil. Wer bis 2030 seine Klimaziele erreichen will, muss sich heute beeilen. Und er braucht Mitarbeitende, die sich mit Nachhaltigkeitsthemen auskennen. «Angesichts der für 2030 gesetzten Nachhaltigkeitsziele steht die Wirtschaft vor einer Herkulesaufgabe: Sie muss in weniger als sieben Jahren bis zu 150 Millionen Menschen in verschiedenen Bereichen der Nachhaltigkeit ausbilden», sagt Elizabeth Lyle, Managing Director bei BCG.

Taskforce etablieren

Welche Fähigkeiten sind bei Führungskräften und Mitarbeitenden erforderlich, um die Nachhaltigkeitsagenda voranzubringen? Und wie können diese Kompetenzen vermittelt werden? Gemeinsam mit Microsoft hat BCG die Strategien von Unternehmen analysiert, die beim Thema Nachhaltigkeit

Nachhaltig handeln

führend sind, darunter AT&T, HSBC, John Deere, JSW Steel, Owens Corning, Sysco und Unilever. Für die Studie «Put Talent at the Top of the Sustainability Agenda» haben sie Umfragen und Interviews mit 250 Führungskräften, die in ihren Unternehmen für Nachhaltigkeit verantwortlich sind, geführt. Mobilisieren, einbetten, beschleunigen – der Weg zur Nachhaltigkeit verläuft idealtypisch nach diesem Muster. In der Mobilisierungsphase geht es darum, eine Art Taskforce zu etablieren. Das ist ein kleines multidisziplinäres Expertenteam, das die Strategie entwickelt und vorantreibt. Erfolgsentscheidend ist es, hier den richtigen Mix an Kompetenzen im Team zu versammeln. Nachhaltigkeitsvorreiter wie beispielsweise Microsoft haben bei der Auswahl der Teammitglieder vor allem auf tiefes Wissen in den Bereichen Funktion, Transformation, Digitalisierung gesetzt, weniger auf Kenntnisse in Nachhaltig-

Im Dreisprung zu mehr Nachhaltigkeit

Der Weg zur Nachhaltigkeit beginnt in jedem Unternehmen, in jeder Organisation bei den Menschen, die dort arbeiten. Ihre Kompetenzen entscheiden mit darüber, ob Wirtschaft und Gesellschaft das angestrebte Netto-NullZiel erreichen. Nachhaltigkeitsteams, die in der Führungsebene angesiedelt sind, können diesen Wandel in Gang setzen. Für die konsequente Umsetzung müssen Unternehmen die Nachhaltigkeitsagenda in die Aufgaben und die Ausbildung aller Mitarbeitenden integrieren und sie damit zum Bestandteil der Unternehmenskultur machen.

Der Weg dorthin erfolgt in der Regel in drei Schritten:

Phase I: Mobilisieren

Ein kleines Expertenteam entwickelt eine Strategie und die ersten wichtigen Schritte, um das Unternehmen nachhaltig zu machen.

Phase II: Verankerung

Sukzessive müssen sich alle Unternehmensbereiche mit dem Thema Nachhaltigkeit vertraut machen. Unter der Leitung des Expertenteams werden die notwendigen Kompetenzen in der gesamten Organisation verankert.

Phase III: Beschleunigung

Nachdem die Nachhaltigkeit in die gesamte Wertschöpfungskette integriert ist, ist es wichtig, Mitarbeiterbindung und Motivation sicherzustellen.

keit. Der Grund: Um Emissionen wirksam zu reduzieren, müssen Unternehmen oftmals ihre Geschäftsmodelle und -abläufe grundlegend neu erfinden. Das bedeutet: weg von der Art und Weise, wie in der Vergangenheit Werte geschaffen und erfasst wurden. Um diesen Change zu denken, ist profundes Wissen über eben diese Abläufe unabdingbar. Entsprechend kommen in den befragten Firmen 68 Prozent der Nachhaltigkeitsverantwortlichen aus dem eigenen Unternehmen. 60 Prozent verfügen über keine speziellen Nachhaltigkeitsexpertisen. Diese Kompetenzen bekommen sie durch Training-on-the-Job. 93 Prozent beurteilen dieses Vorgehen als besonders effektiv. Externe Zertifizierungsprogramme absolvieren dagegen nur 26 Prozent.

Mitarbeitende qualifizieren

Was im handverlesenen Führungsteam noch funktioniert, ist für den Roll-Out im Unternehmen in der Regel zu unverbindlich. In der Einbettungsphase müssen spezifische Nachhaltigkeitskompetenzen in jeder Unternehmensfunktion verankert werden. Die Mitarbeiter im Rechnungswesen etwa müssen sich mit der Kohlenstoffbilanzierung auskennen, für den Einkauf ist die Dokumentation von Emissionen über die Lieferketten wichtig, in der Rechtsabteilung sind regulatorische Vorgaben, beispielswiese die EUGesetzgebung zur CO2-Besteuerung, zu berücksichtigen. Die Londoner Grossbank HSBC hat deshalb eine unternehmenseigene Sustainability-Akademie ins Leben gerufen. Allein im Jahr 2022 wurden hier mehrere Tausend Mitarbeitende zu Nachhaltigkeitsthemen geschult. Auch der indische Stahlhersteller JSW Steel bietet seinen Beschäftigten Präsenz- und Onlineschulungen an. BCG wiederum ergänzt die interne Klima- und Nachhaltigkeitsakademie durch Partnerschaften, beispielsweise mit der Cambridge Judge Business School oder der Columbia Climate School.

Teil der Unternehmenskultur

Von der Führungskraft bis zum Praktikanten – die Mitarbeitenden sind der Schlüssel für den Change zu einem nachhaltigen Unternehmen. Jede und jeder einzelne muss die Nachhaltig-

keitsagenda zum festen Bestandteil der täglichen Arbeit machen, sie muss Teil der Unternehmenskultur werden. Dies ist der Inhalt von Phase drei: der Beschleunigung. Mit ihr nimmt die Nachhaltigkeitsagenda Fahrt auf. Jetzt ist es wichtig, wirklich alle Beschäftigten mitzunehmen und sie zu Botschafterinnen und Botschaftern der Nachhaltigkeitsstrategie zu machen.

«Handabdruck» eingeführt

Owens Corning, einer der grössten Glasfaserhersteller weltweit, hat es geschafft, das Thema intern positiv zu besetzen. Den negativen Klima-Fussabdruck, den es zu reduzieren gilt, hat

Corning um einen «Handabdruck» ergänzt. Dieser steht für alles, was das Leben der Menschen verbessern kann. Dazu gehören recycelbare Materialien, Kreislaufwirtschaft, Transparenz bei der Rohstoffbeschaffung und die Reduzierung der Emissionen von Zulieferern. Der positive Handabdruck schafft so eine inspirierende Unternehmenskultur, die die Nachhaltigkeit betont.

Bei Microsoft hat die interne Klimasteuer viele Mitarbeitende aktiviert. Bereits seit 2012 müssen einzelne Abteilungen aus ihren Budgets interne CO2-Abgaben zahlen. Diese Klimasteuer wurde im Januar 2020 auf Scope-3-Emissionen erweitert. Damit ist die gesamte Lieferkette – für alle gekauften Waren, Geschäftsreisen bis hin zum Pendelverkehr zwischen Wohnort und Arbeitsplatz –abgedeckt. Durch die Erweiterung auf Scope 3 wurde ein breiteres Segment des Unternehmens auf Emissionen und Nachhaltigkeit aufmerksam. In der Folge bildeten sich in der gesamten Organisation Initiativen zur CO2-Reduzierung.

In Ausbildung investieren Nachhaltigkeitsziele erfolgreich umzusetzen ist nicht nur eine Frage der Verantwortung gegenüber der Umwelt, sondern auch eine Investition in die Zukunft des Unternehmens. «Die Wertschöpfung für die Aktionäre wird zunehmend von einer effektiven Führung im Bereich der Nachhaltigkeit abhängen und die Mitarbeiter sind für diesen Fortschritt von entscheidender Bedeutung», so Rich Lesser, Global Chair von BCG und Mitverfasser des Berichts.

Unternehmen müssen, so der Appell des Berichts, in die Ausbildung ihrer Mitarbeitenden investieren. Aber auch andere Akteure können und sollen einen Beitrag leisten: Bildungsanbieter und -einrichtungen, die passgenaue multidisziplinäre Schulungsinhalte entwickeln, Industrieorganisationen und -verbände, die Standards für Schlüsselfunktionen etablieren und Regierungen, die Unternehmen Anreize geben, in die Fortbildung zu investieren.

Auf welche Skills kommt es besonders an?

Diese Fähigkeiten sind für eine Weiterqualifizierung im Arbeitsbereich Nachhaltigkeit am wichtigsten (Antworten der Befragten in Prozent):

Entscheidend sind Skills auf den Gebieten Nachhaltigkeit, Daten und Digitales sowie Transformation

Datenerfassung und -management

Grundwissen zum Klimawandel

Kohlenstoffbilanzierung und Reporting

Breites Stakeholder-Management

Strategiedefinition und Roadmap

Herausforderungen und Chancen der Nachhaltigkeit

Datenmodellierung und -analyse

Nachhaltigkeitsstrategie

Business Intelligence, digitales Design und Visualisierung

Unternehmenskultur- und Change-Management

Kreatives Problemlösen

Nachhaltigkeitssystem und -standards

Analytische Fähigkeiten

Netto-Null-Strategie

Grundsätze der Treibhausgasbilanzierung

Samstag, 24. Juni 2023 Nachhaltig handeln Special 23
Nachhaltigkeit muss zum festen Bestandteil der Unternehmenskultur werden. FOTO: BCG
QUELLE: REPORT BCG / MICROSOFT «PUT TALENT AT THE TOP OF THE SUSTAINABILITY AGENDA» (2023)
Daten und Digitales Nachhaltigkeit Transformation 28 28 24 20 20 18 18 17 17 17 16 16 15 14 13
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