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9 Beschwerden. Wie entstehen sie? Eine Bandscheibe, die an Höhe verloren hat, aber dafür breiter ist, führt zu einer Lockerung im betroffenen Bewegungssegment. Sie löst dadurch degenerative Prozesse aus: Es bilden sich zum Beispiel fortschreitende knöcherne Anbauten an den Wirbeln und verdickte Bänder – der Versuch des Körpers, das lockere Segment zu stabilisieren. Die Folge ist fatal: Der Wirbelkanal wird eingeengt, und die Spinalnerven können unter Druck geraten. Von der Gehstrecke abhängig werden die Beine müde und kraftlos, oder ischiasartige Schmerzen treten auf.
Ab unters Spezialmikroskop
wird. Dadurch soll die Bandscheibe schrumpfen und sich die Vorwölbung zurückziehen. «Hitze heizt degenerative Prozesse erst richtig an. Diese Verfahren sind somit stärker invasiv als andere», kritisiert Meyer. Es gebe keine wissenschaftlichen Beweise dafür, dass sie tatsächlich helfen, sagt auch Farshad. Sowohl die mikrochirurgische als auch die minimal-invasive endoskopische
Diskektomie bergen Risiken. Manchmal wird die Rückenmarkshaut verletzt (bei 4 bis 5 Prozent der Fälle), gelegentlich treten Nachblutungen und Vernarbungen (3 bis 5 Prozent) auf. Letztere können am Nerv ziehen. Selten werden Nerven verletzt (<1 Prozent). Bei etwa 10 bis 20 Prozent der Operierten tritt in den Jahren nach der OP erneut ein Bandscheibenvorfall auf, da der De-
fekt am Faserknorpel nicht mehr richtig zuheilt. Der Verschluss des Faserknorpeldefektes sei noch ein Problem, sagt Bernhard Meyer. Die Bandscheiben können noch auf andere Weise zu Beschwerden führen. Sie sind Auslöser, wenn sich Engstellen (Stenosen) zwischen Wirbeln am Wirbelkanal bilden. Etwa jeder Fünfte über 60 Jahren hat Stenosen, häufig ohne
Die endoskopische Diskektomie bei einem Bandscheibenvorfall schont das Gewebe mehr als andere Operationsmethoden.
Eine konservative Behandlung bringt vielen Betroffenen eine Besserung. Aber nicht allen, zumal der Knochen sich weiter verdicken kann, wodurch sich die Verengungen verschlimmern. Dann wird eine Operation unumgänglich. «Wir versuchen die verengten Stellen wieder zu weiten, um Druck von den Nerven zu nehmen», sagt Mazda Farshad. Der Goldstandard hierfür ist heute die mikrochirurgische DekompressionsOperation unter einem Spezialmikroskop. Es wird etwas vom Knochen, der auf den Nerv drückt, «weggeknabbert». Die Wirbelsäule bleibt dabei stabil. Die Risiken des Eingriffs sind ähnlich jenen, die bei der mikrochirurgischen Diskektomie bestehen. Die Erfolgsquote beträgt 85 Prozent. Bei den übrigen 15 Prozent muss nach weiteren Ursachen gesucht werden. Sollten Wirbel um 3 bis 4 Millimeter verschiebbar sein, sollte also eine deutliche Instabilität vorliegen, dann muss eine Versteifungs-OP erfolgen. «Allerdings erst dann. Bei vielen Patienten wird sie leider viel zu früh durchgeführt», warnt Andreas Raabe. Die Folge sei, dass benachbarte Segmente stärker belastet würden und ebenfalls anfingen zu degenerieren.
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«Hinter Rückenbeschwerden stecken längst nicht nur Bandscheibenvorfälle» Interview über Mythen und Prävention mit PD Dr. med. HansHeinrich Trouillier, Facharzt Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates sowie Leitender Arzt und Teamleiter Wirbelsäule der Klinik für Orthopädie und Traumatologie des Bewegungsapparates im Kantonsspital Baselland (KSBL).
kann der Grund sein. Eine relativ neue Erkenntnis ist, dass auch muskuläre Probleme die Ursache sein können. Jahrelange Fehlbelastung oder Fehltraining wirken sich negativ auf die Faszien und Bänder aus und lösen mit der Zeit Probleme in den Bandscheiben aus.
greifen, weil zum Beispiel ein Bandscheibenvorfall besteht. Neuste Studien zeigen, dass einer Rückenoperation in der Schweiz in 90% der Fälle eine konservative Therapie vorausgeht. Bei Tumoren, Unfallpatienten und Infekten – den restlichen 10% – hingegen sind chirurgische Eingriffe unumgänglich.
Herr PD DR Trouillier, Rückenschmerzen kennt fast jeder, rund 80% der Bevölkerung waren davon schon mal betroffen. Warum ist das Leiden so verbreitet? Dafür sind verschiedene Faktoren verantwortlich. Zum einen trägt sicherlich der heutige Lebensstil dazu bei. Viele Berufe werden im Sitzen ausgeführt und Menschen fehlt es an ausreichend Bewegung, um die Wirbelsäule gesund und stabil zu halten. Hinzu kommen ungesunde Ernährung und Übergewicht; beides ist zunehmend auch schon im Kindes- und Jugendalter ein Problem. Nicht vergessen darf man zudem Ursachen, welche nicht genau zu evaluieren sind. So z.B. chronische Schmerzen und Leiden, die zum psychosomatischen Spektrum gehören. Obwohl diese Beschwerden strukturell nicht erklärbar sind, ist es wichtig, sie ernst zu nehmen und angemessen zu behandeln.
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Zentral ist es, die Ursache des Schmerzes zu kennen. Unser Behandlungsangebot ist daher bewusst dual aufgebaut. Das heisst, unser Team setzt sich aus verschiedenen Fachpersonen konservativer Therapien sowie einem chirurgischen Team zusammen. Alle gemeinsam arbeiten wir Hand in Hand. So können wir den komplexen Beschwerdebildern unserer Patientinnen und Patienten gerecht werden. Bei psychosomatischen Beschwerden und chronischem Schmerz kann eine psychologische Begleitung zudem sinnvoll sein. Bei minimalinvasiven Eingriffen bieten wir Lasertechniken oder Radiofrequenzbestrahlung an. Beide haben zum Ziel, die Anzahl Schmerzrezeptoren zu verringern, indem man die Rezeptoren verödet.
Wie gut stehen die Heilungschancen bei chronischen Rückenschmerzen? Die Wirbelsäule ist eine komplexe Gelenkkette, Erstoperationen sind in rund 80% der Fälle erfolgreich. Bei minimalinvasiven Techniken liegt die Erfolgsrate beim ersten Versuch bei ca. zwei Dritteln. Dies liegt daran, dass sich der Schmerz oft schon in benachbarte Segmente ausgedehnt hat.
Welche Mythen ranken sich um Rückenschmerzen? Hinter Rückenbeschwerden stecken längst nicht nur Bandscheibenvorfälle, wie man es lange glaubte. Auch Arthrose in den Knochen
Wann bieten sich konservative Behandlungstechniken an, wann sollte operiert werden? Eine Vielzahl der Ursachen kann konservativ behandelt werden. Zu einer Operation kommt es erst, wenn diese Massnahmen nicht
Welche praktischen Tipps geben Sie Patientinnen und Patienten mit auf den Weg? Wir raten, mehr für die Prävention zu tun, auf gesunde Ernährung zu achten und sich sportlich zu betätigen. Wichtig ist dabei, dass man nicht nur einseitig trainiert, sondern regelmässig am Körper Muskeln aufbaut. Zudem lohnt es sich, den Arbeitsplatz ergonomisch sinnvoll einzurichten.
Das Team Wirbelsäule im Kantonsspital Baselland Das Team Wirbelsäule der Klinik für Orthopädie und Traumatologie des Bewegungsapparates am Kantonsspital Baselland (KSBL) unter der Leitung von PD Dr. med. Hans-Heinrich Trouillier begleitet Patientinnen und Patienten mit Rückenleiden von der Diagnostik bis zur Rehabilitation. Zu den vielfältigen Behandlungsmöglichkeiten des Teams zählen neben konservativen Therapien auch Schmerztherapien, minimalinvasive Bandscheibenchirurgie mit stabilisierenden oder dynamischen Operationsverfahren und klassische Wirbelsäulenchirurgie bei akuten Verletzungen, Deformitäten, Tumorerkrankungen oder Infektionen der Wirbelsäule. Das Team Wirbelsäule zeichnet sich durch ein duales Behandlungsangebot aus. Das bedeutet, dass Patientinnen und Patienten sowohl von den behandelnden Ärzten und Fachpersonen des konservativen wie auch des operativen Behandlungsspektrums eng begleitet werden. Der heutige Lebensstil trägt dazu bei, dass Rückenschmerzen so verbreitet sind.
www.ksbl.ch/wirbelsaeule
PD Dr. med. Hans-Heinrich Trouillier Inhalt: NZZ Content Solutions, Bilder: Kantonsspital Baselland