EKZ (D)

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Energiezukunft

Im Tessin wird das Netz smart

NZZ am Sonntag 6. Oktober 2019

GABRIELE PUTZU / TI-PRESS

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Dieser Tage geht in Massagno (TI) ein intelligentes Stromnetz in Betrieb. Es ist ein schweizweit einzigartiges Live-Experiment. Von Markus Städeli

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ie Zukunft der Elektrizität ist dezentral. Darum ist der Schauplatz dieses Artikels nicht Genf oder Zürich, sondern Massagno. Sie haben noch nie von dieser Gemeinde gehört? Das ist nicht weiter verwunderlich. Massagno grenzt an Lugano und hat lediglich einige tausend Einwohner. Für die Stromversorgung und den Betrieb eines kleinen Wasser­ kraftwerks ist dort die Firma Azienda Elettrica di Massagno (AEM) verantwort­ lich. So weit, so provinziell. Doch AEM wird von Paolo Rossi ge­ führt, der zuvor schon der Chef des Tes­ siner Kantonswerks war. Und Rossi ist nicht gekommen, um seine Zeit bis zur Pensionierung abzusitzen, wie er sagt. AEM wird in diesen Tagen in Zusam­ menarbeit mit der Tessiner Fachhoch­ schule, dem Bundesamt für Energie und

Firmenchef Paolo Rossi im Wasserkraftwerk der Azienda Elettrica Massagno. einer Reihe anderer Partner in einem Quartier von Massagno ein Smart Grid in Betrieb nehmen – ein schweizweit ein­ zigartiges Projekt. An diesem Netz sind ein Kindergarten mit eigener Solar­ anlage, eine grosse Batterie und 18 Ein­ familienhäuser angeschlossen. Diese verfügen ihrerseits zum Teil über Solar­ dächer, Wärmepumpen oder Boiler. Zwei Wochen lang war Rossi persön­ lich jeden Abend im Quartier, um bei den Einwohnern für das Projekt zu werben. «Nach etwa einer Stunde Gespräch waren die Menschen davon überzeugt, mitzu­ machen», sagt der Tessiner. Eines der schlagendsten Argumente war, dass da­ durch die lokal durch Photovoltaik ge­ wonnene Energie auch tatsächlich im Quartier verwendet werden kann. Bis jetzt wird der nicht selber verwendete Strom zu eher unvorteilhaften Kondi­ tionen ins Stromnetz gespeist.

Lokal produzierter Solarstrom soll nun möglichst auch im Quartier verbraucht werden. Doch was einfach tönt, ist technisch komplex. Dafür muss man wissen, dass in klassischen Stromnetzen das Energie­ angebot dem Verbrauch angepasst wird, indem die Leistung eines Kraftwerks er­ höht oder gedrosselt wird. Das funktio­ niert, ist aber teuer und ineffizient. Ein intelligentes Netz hingegen weiss jeder­ zeit, wer wie viel Strom produziert und

verbraucht. Deshalb kann sich auch die Nachfrage dem Angebot anpassen. Wärmepumpen etwa werden nur dann aktiviert, wenn sich ein Überangebot von Strom abzeichnet. Konsumenten, die über Geräte verfügen, die automatisch auf Zeiten ausweichen, in denen der Strom billig ist, profitieren so auch von günstigeren Preisen. Ein intelligentes Netz bezieht zudem kleine, dezentrale Stromerzeuger in die Planung ein – also etwa Solaranlagen. Diese speisen ihre Energie direkt in die unteren Spannungs­ ebenen des Netzes ein. Im Idealfall führt das dazu, dass die auf teure Spitzen­ lasten ausgelegte Strominfrastruktur redimensioniert werden kann. Damit das Pionierquartier in Massa­ gno möglichst energieautark ist und nur wenig Strom vom übrigen AEM-Netz be­ ziehen beziehungsweise in dieses ein­ speisen muss, sind alle Stromverbrau­

cher und ­produzenten mit einem Smart­ meter ausgestattet. Diese melden einmal pro Minute ihren Stromverbrauch bezie­ hungsweise die Produktionsleistung. Ein Algorithmus verwertet diese Daten und eine Reihe von zusätzlichen Informa­ tionen und steuert das Netz autonom. Gelingt das Live­Experiment, will Rossi sein Versorgungsgebiet in lauter teilautonome Quartiere unterteilen, die dann untereinander Daten und Energie austauschen. Auch sollen die Stromzäh­ ler mit speziellen Modulen ausgestattet werden, die automatisiert Strombezüge und ­einspeisungen über die Blockchain abrechnen und bezahlen. Aus diesem Grund ist auch Postfinance Teil des Kon­ sortiums. Wenn nicht alles täuscht, werden wir in Zukunft noch einiges von Massagno hören. Paolo Rossi hat weitere Projekte in der Schublade.

FOTO: HERBERT ZIMMERMANN

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Grösster Batt tteriespeicher der Schweiz seit einem Jahr am Netz Im August 2018 schlossen EKZ in Volketswil den grössten Batteriespeicher der Schweiz ans Stromnetz an. Die LithiumIonen-Batterie mit einer Maximalleistung von 18 Megawatt liefert seither zuverlässig Regelenergie und stabilisiert das europäische Stromnetz. Ganz besonders, als es am 10. Januar 2019 zu einer kritischen Frequenzabweichung im europäischen Netz kam. Die grösste Batterie der Schweiz steht in Volketswil.

Dicker Nebel liegt über der Stadt. Es ist Mittagszeit. In den Büros, Schulhäusern und Haushalten brennen die Lichter. Laut Wetterbericht soll sich der Nebel noch ein paarTage halten. Doch plötzlich bricht die Sonne durch. Es wird hell und wärmer. Der Hauswart im Bürogebäude dreht die Heizung runter, die Lehrerinnen drehen das Licht aus und Frau Meier hat plötzlich doch Lust auf ein kaltes Mittagessen und schaltet den Herd wieder aus. Weichen die Strombedürfnisse von den Prognosen ab, kann das ansonsten stabile Stromnetz ins Wanken geraten. Das Ausbalancieren des Netzes ist zentral für eine zuverlässige Stromversorgung. tterie sorgt für ein stabiles Stromnetz» «Batt Das Stromnetz endet nicht an der Landesgrenze: Der europäische Kontinent ist vernetzt. «Im gesamten Stromnetz müssen sich Produktion und Verbrauch stets die Waage halten», erklärt die EKZ Batteriespezialistin Marina González Vayá. Die promovierte Elektroingenieurin ist Teil

des Teams, das die grösste Batterie der Schweiz geplant und gebaut hat. «Wenn im Stromnetz ein Ungleichgewicht entsteht, muss dieses schnell ausgeglichen werden.» Bis grössere Kraftwerke hochgefahren sind, um den fehlenden Strom zu produzieren, braucht es eine Übergangslösung. Man spricht hier von Regelenergie. Diese wird von unzähligen Anlagen in ganz Europa angeboten. Der grösste Batteriespeicher der Schweiz hilft seit August 2018, das europäische Stromnetz zu stabilisieren. Genau wie Pumpspeicherkraftwerke sorgt die Batterie dafür, dass sich Stromproduktion und -verbrauch die Waage halten. Anders gesagt: Die Batterie hilft, das Netz auf der Frequenz von 50Hz zu stabilisieren. Allerdings kann keiner der anderen Regelenergieanbieter so schnell auf Änderungen im Stromnetz reagieren wie Batteriespeicher. «Die Mega-Batterie kann innert weniger als einer Sekunde Primärregelleistung bereitstellen. Sie ist darum eine wichtige Ergänzung zu den restlichen Regelenergieanbie-

tern», fasst Urs Rengel, CEO der EKZ, zusammen. «Grosse Batteriespeicher werden für die Systemstabilität an Wichtigkeit gewinnen: bei vermehrter Einspeisung von erneuerbaren Energien, durch die steigende Belastung des Übertragungsnetzes und aufgrund von wachsenden Marktaktivitäten», ergänzt Serge Wisselmann, Leiter Systemdienstleistungen bei der nationalen Netzbetreiberin Swissgrid. Stabile Leistung Die Bilanz nach einem Jahr am Netz zeigt: Die Lithium-Ionen-Batterie funktioniert zuverlässig und gleicht rund um die Uhr die Netzfrequenz aus. Gemäss aktuellsten Zahlen deckt sie damit ein Viertel der in der Schweiz benötigten Primärregelleistung ab. Die Frequenzabweichungen im Stromnetz sind im Normalfall gering. Durchschnittlich leistete die Batterie 648 Kilowatt und entlud 7 Megawattstunden Energie proTag. Während 99 Prozent der Zeit war sie zwischen 45 und 71 Prozent geladen.

Besonders gefragt war die Ausgleichsleistung der Batterie jeweils beim Stundenwechsel und wenn Kraftwerke hoch- oder wieder herunterfahren werden: Zwischen 6 und 8 Uhr morgens und zwischen 20 und 22 Uhr abends. Kritische Frequenzabweichung – Batt tterie im Einsatz Obwohl die Batterie durchschnittlich wenig Leistung bereitstellen muss, wurde sie im ersten Jahr schon gefordert: Am 10. Januar 2019 kam es im europäischen Netz zu einer kritischen Frequenzabweichung auf 49,8 Hz. Bei dieser untersten Grenze werden die Primärregelreserven maximal ausgeschöpft. Fällt der Wert darunter, könnte das Netz zusammenbrechen – mit dramatischen Folgen. Dies konnte von den Netzbetreibern durch europaweite Regelleistung abgewendet werden. Die Batterie half sofort mit einer Vorhaltung von 16 MW die Abweichung auszugleichen. Dabei sank der Ladezustand des Speichers in Volketswil lediglich auf 40 Prozent.


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