OBS-Arbeitsheft 108
Victoria Sophie Teschendorf, Kim Otto
Framing in der Wirtschaftsberichterstattung Der EU-Italien-Streit 2018 und die Verhandlungen über Corona-Hilfen 2020 im Vergleich Kurzfassung der Studie
Auf einen Blick
Allgemeiner Kontext zur Studie
Die wirtschaftspolitische Berichterstattung
Die Studie untersucht das Framing der deut
ist grundsätzlich stark von fundamentalen
schen Presseberichterstattung in zwei zentra
Paradigmen der Ökonomie geprägt
len wirtschaftspolitischen Konflikten Europas
Im „Haushaltsstreit“ zwischen EU-Kom
der jüngeren Vergangenheit: Dem „Haushalts
mission und Italien (2018) dominierte die
streit“ zwischen Europäischer Kommission und
Neoklassik die Berichte deutscher Medien:
italienischer Regierung 2018 sowie den euro
95 Prozent der Artikel übernahmen die
päischen Verhandlungen über wirtschaftspoli
Problemdefinition dieser Perspektive
tische Hilfsprogramme in der Corona-Pandemie
Während der EU-weiten Verhandlungen zur
2020. In beiden Fällen standen sich konträre
Gestaltung der Corona- Hilfsmaßnahmen
Ansichten gegenüber, wie wirtschaftliche Kri
(2020) überwogen hingegen keynesiani-
sen gelöst werden können. Die im Jahr 2018 ge
sche Problemdefinitionen (74 Prozent der
wählte italienische Regierung intendierte durch
Artikel)
eine deutlich höhere Neuverschuldung als mit
Die Berichterstattung folgte damit (zu)
der EU-Kommission anfänglich vereinbart, das
stark der politischen Konjunktur ökono-
Wirtschaftswachstum im Land zu stärken, wäh
mischer Paradigmen auf europäischer
rend die EU-Kommission auf die Einhaltung
Ebene
der Austeritäts- und Sparvorgaben des euro
Notwendig ist eine dauerhaft paradigma-
päischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes
tisch plurale Wirtschaftsberichterstattung
drängte. Mit dem Ausbruch der COVID-19-Pan demie Ende 2019 rutschte Italien erneut in eine schwere Rezession und stritt bei EU-weiten
OBS-ARBEITSHEFT 108 | KURZFASSUNG
1
Framing in der Wirtschaftsberichterstattung
Verhandlungen – an der Spitze einer Gruppe
der (relationalen) Häufigkeiten der jeweiligen
weiterer südeuropäischer Länder – abermals
keynesianischen und neoklassischen Ausprä
für leichtere Neuverschuldungsmöglichkeiten
gungen. Da es sich um eine Längsschnittanalyse
aller europäi schen Staaten als bestem Weg,
handelt, konnten Veränderungen im Zeitverlauf
um der Wirtschaftskrise zu entkommen. Einige
dargestellt werden. Des Weiteren wurde mittels
nordeuropäische Länder sowie anfänglich auch
multivariater logistischer Regression statistisch
Deutschland opponierten gegen die vorgeschla
ermittelt, ob sich einzelne Frame-Elemente bzw.
genen Maßnahmen und sprachen sich für die
deren Ausprägungen zu Frames eines bestimm
Beibehaltung spezifischer Budgetrestriktionen
ten Paradigmas gruppierten.
aus. Die verschiedenen wirtschaftspolitischen Anti-Krisen-Strategien der Länder resultierten dabei aus unterschiedlichen Ansichten über
Ergebnisse
die Funk tionsweise von Märkten, die in den
Paradigmatisch einseitige Berichterstattung
wirtschaftswissenschaftlichen Paradigmen „Key
im Jahr 2018
nesianismus“ und „Neoklassik“ wurzeln. In der
Die hauptsächlich durch die EU-Kommission re
vorliegenden Studie wurde untersucht, wie sich
präsentierte neoklassische Perspektive auf den
diese Paradigmen in der deutschen Wirtschafts
Konflikt mit der italienischen Regierung im Jahr
berichterstattung manifestierten und ob eine
2018 dominierte die deutsche Berichterstattung
ausgewogene Gegenüberstellung konkurrieren
stark. 95 Prozent der Artikel stellten die Ver
der und auf unterschiedlichen Paradigmen be
letzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes
ruhender Deutungen (Frames) vorlag.
durch die Pläne Italiens als das zentrale Problem dar, während der durch die EU-Kommission ver
Methode
langte Sparkurs in nur sechs Prozent der Fälle problematisiert wurde (Abbildung links). Zusätz
Mittels quantitativer Inhaltsanalyse wurde die
lich wurde die neoklassische Sichtweise in kom
Presseberichterstattung von FAZ, Handels
plexeren Sinnzusammenhängen präsentiert, die
blatt, SZ, Die Welt, taz, BILD und Der Spiegel
Ursachen identifizierten, Bewertungen vornah
im Zeitraum 18.05.-31.12.2018 (Haushaltsstreit,
men und Lösungen vorschlugen. Demgegenüber
684 Artikel) bzw. 15.02.-31.07.2020 (Corona-Hilfs
brachte die mediale Darstellung die keynesia
maßnahmen, 623 Artikel) untersucht. Auf der
nische Kritik am Sparkurs kaum mit Handlungs
Grundlage eines deduktiv-induktiv hergeleite
empfehlungen in Zusammenhang. Insgesamt
ten Kategoriensystems, welches beispielsweise
stand eine Konfliktperspektive im Fokus, eine
„Problemdefinitionen“ und „Handlungsempfeh
lösungsorientierte und ausgewogene Darstel
lungen“ erfasste, wurden einzelne Ausprägun
lung der Thematik wurde verfehlt. Die große Ver
gen dieser Kategorien erhoben und den beiden
breitung negativer Bewertungen der Politik und
Paradigmen (Neoklassik/Keynesianismus) zuge
Per spektive der italienischen Regierung kann
ordnet. Anschließend erfolgte eine Darstellung
jedoch auch auf deren provokantes Auftreten
2
OBS-ARBEITSHEFT 108 | KURZFASSUNG
Victoria Sophie Teschendorf, Kim Otto
zurückgeführt werden, was eine neoklassische
teren wurden die aus der jeweiligen paradigma
Rahmung der Ereignisse begünstigte.
tischen Sicht identifizierten Probleme meist in komplexe Sinnzusammenhänge eingebettet und
Ausgewogenere Darstellung zwei Jahre später
somit der Anspruch an die Medien, politische
Im Gegensatz dazu war der mediale Diskurs über
Vorgänge einzuordnen und zu kontextualisieren,
die Corona-Hilfsprogramme im Jahr 2020 von
zum großen Teil erfüllt. Auffällig ist, dass die Poli
der keynesianische Perspektive geprägt: Dass
tik Deutschlands in der Presseberichterstattung
unzureichende Möglichkeiten der Schuldenauf
zwar häufig negativ bewertet wurde, diese Be
nahme (bspw. aufgrund der europäischen Bud
wertung jedoch kein Teil eines paradigmatisch
getregeln) als Kernproblem zu behandeln sind,
eindeutigen Frames war – ein Umstand, der dem
konstatierten 74 Prozent der Artikel. Allerdings
wirtschaftspolitischen Richtungswechsel der
wurde in mehr als einem Drittel (36 Prozent) der
Bundesrepublik von einer rein neoklassischen
Berichte (auch) die gegenteilige, neoklassische
zu einer moderateren Position im Verlauf der Ver
Ansicht dargestellt (Abbildung rechts). Des Wei
handlungen zuzuschreiben ist.
Abbildung:
Relative Häufigkeit der neoklassischen und keynesianischen Problemdefinitionen in den untersuchten Printmedien 2018 und 2020 2018
2020
100 % 80 % 60 % 40 % 20 %
Problemdefinitionen aus neoklassischer Sicht
Ju li
Ju ni
M ai
r Ap
z M är
Fe b
De z
No v
Ok t
p Se
g Au
Ju li
Ju ni
M ai
0%
Problemdefinitionen aus keynesianischer Sicht
Quelle: Eigene Darstellung. Linke Abbildung: Artikel mit Bezug zum Haushaltsstreit 2018 in Italien: n=541, Mehrfachnen nungen möglich, Untersuchungszeitraum: 18.05.2018-31.12.2018. Rechte Abbildung: Artikel mit Bezug zur Corona-Krise in Italien 2020: n=623, Mehrfachnennungen möglich, Untersuchungszeitraum: 15.02.2020-31.07.2020.
OBS-ARBEITSHEFT 108 | KURZFASSUNG
3
Framing in der Wirtschaftsberichterstattung
Chronist*innenpflicht statt pluralistischer
te eine bewusst plural gestaltete Wirtschafts
Berichterstattung?
berichterstattung dazu beitragen, diese von der
Die Untersuchungsergebnisse lassen darauf
politischen Konjunktur ökonomischer Paradig
schließen, dass die mediale Darstellung der Pa
men unabhängig(er) zu machen.
radigmen relativ eng der politischen Agenda auf europäischer Ebene folgte. Wenn relevante Ak Über die Autor*innen
teure bestimmte Perspektiven in den politischen
Victoria Teschendorf, M.Sc. ist Doktorandin und wissenschaft liche Mitarbeiterin der Professur für Wirtschaftsjournalismus und Wirtschaftskommunikation an der Universität Würzburg.
Diskurs einbrachten, reflektierte die Presse berichterstattung diese Ansichten. Daraus ergab sich die Dominanz neoklassischer Erklärungs muster in der Berichterstattung 2018 und die Domi nanz keynesianischer Perspektiven 2020. Allerdings wurde insbesondere die keynesiani
Prof. Dr. Kim Otto ist Professor für Wirtschaftsjournalismus und Wirtschaftskommunikation an der Universität Würzburg und arbeitet als Journalist für das ARD-Politikmagazin „Monitor“ und „die story“.
sche Sichtweise 2018 (zu) stark marginalisiert und nicht als kohärenter Frame präsentiert – wäh rend die neoklassische Perspektive auch im Jahr 2020 in vielen Artikel eine Rolle spielte und in größeren Sinnzusammenhänge dargestellt wur de. Einseitige und verkürzte Abbildungen ganzer Perspektiven erhöhen die Gefahr, dass marginali sierten Sichtweisen und ihren Träger*innen die
Impressum
Rationalität abgesprochen wird.
Herausgeber: Otto Brenner Stiftung, Jupp Legrand, Wilhelm- Leuschner-Straße 79, 60329 Frankfurt am Main, Tel.: 069-6693-2810, E-Mail: info@otto-brennerstiftung.de, www.otto-brenner-stiftung.de
Fazit Die überdeutliche Dominanz der neoklassischen Perspektive in der Berichterstattung deutscher Medien über den „Haushaltsstreit“ zwischen siert werden, ebenso die mangelnde Ein kriti bettung der italienischen Positionen in einen kohärenten keynesianischen Deutungsrahmen. Dahingegen ist die Berichterstattung über die europäischen Verhandlungen der Hilfsprogram OBS-Arbeitsheft 108
Framing in der Wirtschafts später me in der Corona-Pandemie zwei Jahre berichterstattung
deutlich ausgewogener, die Medien haben den Der EU-Italien-Streit 2018 und die Verhandlungen über Corona-Hilfen 2020 im Vergleich
Diskurs hier adäquat abgebildet. Zukünftig könn
www.otto-brenner-stiftung.de
4
OBS-Arbeitsheft 108 Teschendorf, Otto – Framing in der Wirtschaftsberichterstattung
EU-Kommission und Italien im Jahr 2018 muss OBS-Arbeitsheft 108
Maastricht-Kriterien
Sparsame Vier/Fünf
Italien EU
Neuver
Defizit-Verfahren
schuldung
Finanzhilfen
Victoria Sophie Teschendorf, Kim Otto
Framing in der Wirtschafts berichterstattung Der EU-Italien-Streit 2018 und die Verhandlungen über Corona-Hilfen 2020 im Vergleich IG METALL EIN PROJEKT DER OTTO BRENNER STIFTUNG Gliederungsname FRANKFURT AM MAIN 2022
Mehr Infos sowie die Langfassung der Studie finden Sie auf unserer Website: www.ottobrenner-stiftung.de
OBS-ARBEITSHEFT 108 | KURZFASSUNG