Die "Flüchtlingskrise" in den Medien

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OBS-Arbeitsheft 93

OBS-Arbeitsheft 93

OBS-Arbeitsheft 93

Haller – „Die Flüchtlingskrise“ in den Medien

Otto Brenner Stiftung

Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Michael Haller

Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information www.otto-brenner-stiftung.de ­

Eine Studie der Otto Brenner Stiftung Frankfurt am Main 2017


OBS-Arbeitsheft 93

Die Otto Brenner Stiftung …

ISSN-Print: 1863-6934 ISSN-Online: 2365-2314

... ist die gemeinnützige Wissenschaftsstiftung der IG Metall. Sie hat ihren Sitz in Frankfurt am Main. Als Forum für gesellschaftliche Diskurse und Einrichtung der Forschungsförderung ist sie dem Ziel der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Ausgleich zwischen Ost und West.

Herausgeber: Otto Brenner Stiftung Jupp Legrand Wilhelm-Leuschner-Straße 79 D-60329 Frankfurt am Main

... initiiert den gesellschaftlichen Dialog durch Veranstaltungen, Workshops und Koopera­ tionsveranstaltungen (z.  B. im Herbst die OBS-Jahrestagungen), organisiert internationale Konferenzen (Mittel-Ost-Europa-Tagungen im Frühjahr), lobt jährlich den „Brenner-Preis für kritischen Journalismus“ aus, fördert wissenschaftliche Untersuchungen zu sozialen, arbeitsmarkt- und gesellschaftspolitischen Themen, vergibt Kurzstudien und legt aktuelle Analysen vor.

Tel.: 069-6693-2810 Fax: 069-6693-2786 E-Mail: info@otto-brenner-stiftung.de www.otto-brenner-stiftung.de Autor: Prof. Dr. phil. Michael Haller Wissenschaftlicher Direktor des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung (EIJK) haller@uni-leipzig.de

... macht die Ergebnisse der Projekte öffentlich zugänglich.

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... veröffentlicht die Ergebnisse ihrer Forschungsförderung in der Reihe „OBS-Arbeitshefte“ oder als Arbeitspapiere (nur online). Die Arbeitshefte werden, wie auch alle anderen Publikationen der OBS, kostenlos abgegeben. Über die Homepage der Stiftung können sie auch elektronisch bestellt werden. Vergriffene Hefte halten wir als PDF zum Download bereit.

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Analyse und Handreichungen

OBS-Arbeitsheft 91

Alexander Hensel, Florian Finkbeiner u. a.

Vom Protest zur parlamentarischen Opposition

OBS-Arbeitsheft 90

Hans-Jürgen Arlt, Martin Kempe, Sven Osterberg

Die Zukunft der Arbeit als öffentliches Thema

Presseberichterstattung zwischen Mainstream und blinden Flecken

OBS-Arbeitsheft 89

Christina Köhler, Pablo Jost

Tarifkonflikte in den Medien

Was prägt die Berichterstattung über Arbeitskämpfe?

OBS-Arbeitsheft 88* Bernd Gäbler

Quatsch oder Aufklärung?

Witz und Politik in heute show und Co.

OBS-Arbeitsheft 87*

Kim Otto, Andreas Köhler, Kristin Baars

„Die Griechen provozieren!“

Lektorat:

Druck:

Bernd Gäbler

Die AfD vor der Bundestagswahl 2017

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OBS-Arbeitsheft 92

AfD und Medien

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Lutz Frühbrodt

Wie „Unternehmensjournalisten“ die öffentliche Meinung beeinflussen

OBS-Arbeitsheft 85*

Sabine Ferenschild, Julia Schniewind

Folgen des Freihandels

Das Ende des Welttextilabkommens und die Auswirkungen auf die Beschäftigten

OBS-Arbeitsheft 84* Fritz Wolf

„Wir sind das Publikum!“

Autoritätsverlust der Medien und Zwang zum Dialog

OBS-Arbeitsheft 83

Thomas Goes, Stefan Schmalz, Marcel Thiel, Klaus Dörre

Gewerkschaften im Aufwind?

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OBS-Arbeitsheft 86*

Content Marketing

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Die öffentlich-rechtliche Berichterstattung über die griechische Staatsschuldenkrise

Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht in Ostdeutschland

OBS-Arbeitsheft 82

Silke Röbenack, Ingrid Artus

Betriebsräte im Aufbruch?

Vitalisierung betrieblicher Mitbestimmung in Ostdeutschland

* Printfassung leider vergriffen; Download weiterhin möglich.

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Vorwort

Vorwort

Nach der Politik der Westintegration in der Adenauer-Ära, der Ostpolitik Willy Brandts in den 1970er Jahren und der friedlichen Überwindung der staatlichen Teilung in der Regierungszeit von Helmut Kohl stellt die Flüchtlingspolitik Angela Merkels 2015/16 für viele Beobachter eine weitere prägende Weichenstellung in der bundesrepublikanischen Geschichte dar. Die Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge hat gesellschaftspolitisch erheblich polarisiert: Soziales Engagement in der Zivilgesellschaft und die spontane Hilfsbereitschaft vieler Menschen beschreiben die eine Seite – massive Distanz und teilweise auch aggressive Ablehnung der Geflüchteten stehen für eine andere, „dunkle“ Seite. Innenpolitisch hat die Flüchtlingspolitik u. a. den rasanten Aufstieg einer rechtspopulistischen Protestpartei begünstigt – außenpolitisch hat das „einseitige“ Vorgehen Angela Merkels eine europäische Verständigung und den weiteren Integrationsprozess einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt. Manche zeitgenössischen Beobachter sehen in den wenigen entscheidenden Tage im September 2015 gar einen epochalen Einschnitt: Gesprochen und geschrieben wird von einer Zeitenwende – der Zeit vor und der Zeit nach der „Grenzöffnung“. Schon lange bevor die „Flüchtlingsproblematik“ die innenpolitische Agenda zu bestimmen begann, sahen sich Teile der Medien mit einem Vertrauensverlust seitens des Publikums und einer veritablen Glaubwürdigkeitskrise konfrontiert. „Lügen­ presse“ wurde 2015 „Unwort des Jahres“, der öffentlich-rechtliche Rundfunk wie auch etablierte Printmedien standen massiv in der Kritik, und die weit verbreitete Skepsis gegenüber Establishment und Eliten schloss explizit auch Medienmacher und journalistisch Tätige mit ein. In dieser Gemengelage von Politikverdruss und Medienfrust geriet die Berichterstattung über die Flüchtlingspolitik schnell ins Visier kritischer Betrachtungen. Später waren auch selbstkritische Töne aus dem Medienbetrieb zu vernehmen und kreisten beispielsweise um die Frage, ob Medien in der sogenannten Flüchtlingskrise von der Rolle des kritischen Beobachters in die des politischen Akteurs gewechselt seien. Aktuelle medienkritische Studien und medienpolitische Untersuchungen gehören seit Jahren zum publizistischen Profil der Otto Brenner Stiftung. Die Ergebnisse unserer Forschungsförderung stießen dabei immer wieder auf erstaunlich große öffentliche Aufmerksamkeit. Zuweilen war die Anerkennung unserer Arbeit aber nicht mit ungeteilter inhaltlicher Zustimmung verbunden, hin und wieder wurden wir sogar durch „Beifall von der falschen Seite“ überrascht bis irritiert. Dass die „Flüchtlingskrise“ und die Berichterstattung über Angela Merkels Flüchtlingspolitik ein gesellschaftspolitisches Megathema ist, das, wenn es nicht zum Streit einlädt, dann doch sicher für hitzige Diskussionen sorgen würde, war der Stiftung bewusst, als wir

1


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

entschieden, uns diesem Thema ausführlicher zu widmen. Wir sind deshalb dankbar, dass wir die Untersuchung gemeinsam mit dem weit über enge Fachgrenzen hinaus renommierten sowie international profilierten Wissenschaftler Professor Dr. Michael Haller auf den Weg bringen konnten. Die Studie geht erstmals der Berichterstattung zur sogenannten Flüchtlingskrise im Detail nach: Dazu wurden insgesamt weit über 30.000 Medienberichte erfasst – und insbesondere für einen gut zwanzigwöchigen Zeitraum, in dem sich im Jahr 2015 die Ereignisse überschlugen, rund 1.700 Texte analytisch ausgewertet. Im Fokus der innovativen Untersuchung stehen Printleitmedien wie FAZ, SZ, Welt und Bild, über achtzig verschiedene Lokal- und Regionalzeitungen sowie die reichweitestarken Online­medien focus.de, tagesschau.de und Spiegel Online. Michael Haller geht in seiner Pionierarbeit einer Reihe wichtiger Fragen nach: Wurde in den analysierten Medien neutral über die Ereignisse berichtet? Trug die mediale Berichterstattung zu einer gesamtgesellschaftlichen Erörterung und Verständigung über eine allgemein gewollte Form der Willkommenskultur bei? Sind die veröffentlichten meinungs­ betonten Formate ein Beispiel für etablierten Meinungspluralismus, oder bilden sie das allgemeine Meinungsbild eher einseitig ab? Wer kam überhaupt in der Berichterstattung zu Wort – vornehmlich regierungsnahe Stimmen oder auch die direkt Betroffenen, also Geflüchtete oder engagierte Freiwillige selbst? Auf diese und weitere Fragen gibt die Untersuchung vielfältige Antworten. Durchaus spannende Antworten, die, im Gegensatz zu vielen öffentlich geäußerten Mutmaßungen oder vorschnellen Urteilen, auf einer intensiven Auseinandersetzung mit Quellen aufbauen und auf der kritischen Analyse breiter Daten fußen. Aber es kristallisieren sich in der Untersuchung auch Befunde heraus, die für weitere Diskussionen sorgen werden. Angesichts der historischen Relevanz von Angela Merkels Flüchtlingspolitik 2015/16 bleibt aus Sicht der OBS eine genaue Betrachtung von Rolle, Funktion und Selbstverständnis der Medien in dieser Phase unerlässlich. Wir hoffen, dass unsere Studie dazu einen ebenso kritischen wie konstruktiven Beitrag leistet, der zu kontro­ versen Debatten einlädt und zu weiteren Forschungen motiviert.

Jupp Legrand Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung

2

Frankfurt am Main, im Juni 2017


Inhalt

Inhalt

Einführung ...................................................................................................................... 4 Teil 1: Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16.........................................................16 1. Die Dynamik der Ereignisberichterstattung........................................................................ 16 2. Die prägenden Medienereignisse im Jahr 2015................................................................... 23 3. Die Leitmedien und ihre Vermittlungsleistung.................................................................... 24

Teil 2: Die Erfindung der „Willkommenskultur“................................................................53 1. Turbulentes Meinungsklima............................................................................................... 53 2. Die Politik – Vom Argument zur Kampagne........................................................................ 70 3. Willkommenskultur in der regionalen Tagespresse.............................................................80 4. Mitmachen – Schweigen – Schimpfen...............................................................................101

Teil 3: Die Dynamik der Großereignisse.......................................................................... 103 1. Wie die Leitmedien die Vorgänge vermittelt haben............................................................103 2. Was, wer, wann, wie? Die Einzelanalyse der zehn Großereignisse..................................... 106 3. Die Meinungen über Gründe, Handhabung und Folgen der „Flüchtlingskrise“................... 120

Teil 4: Fazit – Diskussion – Deutungen........................................................................... 132 1. Zusammenfassung der Studienergebnisse........................................................................132 2. Thesen zur Wirkung der Flüchtlingsberichterstattung....................................................... 141

Anhang Zur Methodologie................................................................................................................147 Daten der Analyse der redaktionellen Texte über die zehn Großereignisse ........................... 148 Analyse von 30 ausgewählten Kommentaren aus den untersuchten Leitmedien ....................155 Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen........................................................................... 166 Literatur............................................................................................................................. 168 Hinweise zum Autor.............................................................................................................176

3


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Einführung

Das Wort „Flüchtlinge“ – von der Gesellschaft

(vgl. Arlt/Wolling 2016); dies kann aber nicht

für deutsche Sprache (GfdS) zum Wort des Jah-

darüber hinwegtäuschen, dass im Fortgang

res 2015 gewählt – wurde für die dramatischen

des Jahres 2015 ein wachsender Teil der Bevöl-

Ereignisse des Jahres 2015 zum Schlüsselbe-

kerung auf die Flüchtlingsberichterstattung der

griff.

sogenannten Mainstreammedien mit Skepsis

1

Man erinnert sich an die erschütternden Be-

und Misstrauen reagierte. „Den Medien wird

richte aus dem Mittelmeerraum, an Bilder von

von vielen nicht mehr zugetraut, die Bürger

deutschen Bürgern mit Willkommensfähnchen,

wahrheitsgetreu zu informieren. Sie stehen

an die Hilfeappelle – aber auch an zunehmend

in Verdacht, heikle Informationen, z. B. über

kontroverse Debatten, protestierende Demons-

Moslems und Flüchtlinge, zu unterschlagen“,

tranten und hasserfüllte Beschimpfungen (vgl.

resümierten die Medienwissenschaftler Volker

Bade 2016). Letztere galten neben der Politik

Lilienthal und Irene Neverla.3

Unbehagen über

vor allem den Medien. Die Journalisten berich-

Ist diese Medienkritik gerechtfertigt? Hat

die Rolle der Medien

teten einseitig, übergingen Andersdenkende

Frank-Walter Steinmeier, damals Außenminis-

und verschwiegen unbequeme Tatsachen. Die-

ter, recht, wenn er vom hohen „Konformitäts-

se Vorwürfe kamen nicht nur aus dem Umfeld

druck in den Köpfen der Journalisten“ spricht?4

der Bewegung Patriotische Europäer gegen

Und Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich

Islamisierung des Abendlandes (Pegida) und

in einer Rede tief besorgt zeigt, dass die Mehr-

der deutschnational ausgerichteten Alternative

heit der Bürger – übereinstimmenden Um-

für Deutschland (AfD) mit ihren „Lügenpresse“-

fragen von Anfang 2016 zufolge – kaum noch

Kampagnen. Sie wurden auch in zahllosen

Vertrauen in die Medien habe (dpa-Bericht

Zuschriften, Blogkommentaren und Diskus­

02.06.2016)?

2

sionsveranstaltungen aus der Mitte der liberal eingestellten Bevölkerung formuliert.

Diese Fragen greifen thematisch über die Flüchtlingsberichterstattung hinaus und sind

Das Unbehagen über die Rolle der Medien

seit mehreren Jahren Gegenstand verschiede-

wurde zwar insbesondere von rassistisch ein-

ner politik- und medienwissenschaftlicher Un-

gestellten Protestgruppen instrumentalisiert

tersuchungen, die ihrerseits kontrovers disku-

1 Die in den einschlägigen Forschungsdisziplinen gängige Bezeichnung „Migranten“ erfasst auch diejenigen, die mit sogenanntem Migrationshintergrund in Deutschland leben. Die in manchen Studien ersatzweise gewählte Bezeichnung „Einwanderer“ soll die objektiven Gründe, die zur Zuwanderung führten, ausklammern und das Phänomen auf die binäre Unterscheidung „die hier Lebenden“ und „Fremde, die hier bleiben wollen“ verkürzen (etwa Goedeke Tort u. a. 2016: 498 ff.). Demgegenüber fokussiert unsere Studie genau solche Zuwanderer, deren physische Existenz durch Krieg, Katastrophen, Hunger in ihrem Ursprungsland akut bedroht ist. Stichproben zeigen, dass die journalistischen Medien in der Regel die Worte „Flüchtling“ und „Asylsuchende“, nicht aber „Migranten“ u. Ä. in dieser Bedeutung verwendet haben (zur strittigen Semantik vgl. http://www.sprachlog.de/2015/12/12/ fluechtlinge-zu-gefluechteten/). 2 Zur Genese des Schlagworts „Lügenpresse“ vgl. Katzenberger (2015). 3 Öffentliche Vortragsreihe Wintersemester 2016/17, vgl. https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/v/20641. 4 Rede vom 15.11.2014, unter: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse /Reden/ 2014/141115_ Rede_BM_anl%C3%A4sslich_Verleihung_Lead_Awards.html (abgerufen Januar 2017).

4


Einführung

tiert werden.5 Wir wollen diese Diskussion hier

Teil auch durch diese ersetzt. Diese neuen,

nicht aufarbeiten, zumal der Forschungsstand

stark ausdifferenzierten Medienwelten erzeu-

zum Thema Flüchtlingsberichterstattung karg

gen eigensinnige Orientierungsräume, in de-

ausfällt und keine für unseren Ansatz verwert-

nen unterschiedliche Zielgruppen mit ihren

baren Anschlussfragen ermöglicht (Goedeke

Kommunikationsmustern interagieren und da-

Tort u. a., 2016).

durch den gesellschaftlichen Diskurs zuneh-

Für unsere Untersuchung leiten wir aus der seit dem Frühherbst 2015 öffentlich geäußerten breiten Medienkritik folgende Fragen ab:

mend erschweren (Wimmer 2007: 153 ff.). Immerhin: Soweit es um Glaubwürdigkeit, vielleicht auch um Vertrauen in die Informa-

Stimmt es, dass die Journalisten der Infor-

tionsangebote geht, dominiert weiterhin die

mationsmedien über die Flüchtlingsthema-

von den journalistischen Informationsmedien

tik des Jahres 2015 parteiergreifend, viel-

gesetzte Agenda (vgl. ARD/ZDF-Online-Studie

leicht auch nur einseitig berichtet haben?

2015). In Zeiten, in denen Schlagworte wie

Trifft es zu, dass sich die sogenannten Leit-

„postfaktisch“ und „Fake News“ die Angst vor

medien mit der politischen und wirtschaftli-

Desinformation zum Ausdruck bringen, kommt

chen Elite verbündet und Andersdenkende,

gerade den journalistischen Medien die Auf-

auch die Unzufriedenen und Oppositionel-

gabe zu, das relevante politische Geschehen

len, missachtet haben?

nachrichtlich so zu bearbeiten und zu publizie-

Ausgangsfragen der Untersuchung

ren, dass die verschiedenen Gruppen erreicht Die Mediengesellschaft als Kontext

werden und sich die Diskurse inhaltlich über-

Diese Forschungsfragen ergeben sich aus un-

lappen und interferieren. In den Medienwissen­

serem Aufklärungsinteresse, das von einem

schaften ist die Rede von kommunikativen Kop-

Es geht um

normativen Verständnis der Funktionen der

pelungen, die gesellschaftliche Verständigung

gesellschaftliche

Informationsmedien in der Mediengesellschaft

auch im digitalen Zeitalter ermöglichen.

Verständigung

6

ausgeht. Um den Preis, vorübergehend ins Ab-

Sind dies weltfremde Wünsche? Tatsächlich

strakte abzuheben, möchte ich zunächst den

zeigt sich ja die aktuelle Krise in der Entkoppe-

unsere Forschung begründenden Rahmen kurz

lung der Orientierungsräume: Die politische

erläutern.

Öffentlichkeit scheint in Öffentlichkeitsinseln

Die analogen Informationsmedien – allen

auseinanderzufallen, deren Kommunikations-

voran die Tageszeitungen – wurden in der di-

modus eher auf Abgrenzung ausgerichtet ist.

gitalen Welt des Web 2.0 um die partizipatori-

Die Tendenzen in der Welt der Social-Media-

schen und interaktiven Kanäle erweitert, zum

Plattformen – vor allem die Personalisierung

5 Beispielhaft sind hier die Debatten rund um journalismuskritische Polemiken (beispielsweise Ulfkotte 2001; 2014) wie auch wissenschaftlich fundierte Studien (Krüger 2013; Meyer 2015). 6 Unter Normen verstehen wir existierende, rational begründete Vorstellungen von anzustrebenden Zuständen oder Handlungsweisen in der Gesellschaft. Normativität drückt den Forderungscharakter dieser Vorstellungen aus.

5


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

6

(Filterblasen) und Selbstreferenz (Echoräume)

Der theoretische Rahmen

der Foren und Blogs – führen zumal bei akuten

Diese normativen Thesen lassen sich mit der

politischen Themen zu Kommunikationsabbrü-

deliberativen Demokratietheorie begründen.

chen (Neumann/Arendt 2016). Gesellschaftli-

Sie stellt die Teilhabe der Bürger an der öffent-

che Verständigung verflüchtigt sich zur Idee.

lichen Kommunikation in den Mittelpunkt (de-

Gegen diese Tendenzen könnte sich gera-

liberieren = beratschlagen). Ihr Kerngedanke

de der Informationsjournalismus stark machen

besteht darin, dass durch Austausch von Wis-

und Geltung zurückgewinnen – vorausgesetzt,

sen (Informationen) und Argumenten (Beurtei-

er lässt seine Vorstellung fallen, Öffentlichkeit

lungen, Meinungen) ein auf Problemlösungen

sei etwas (nur) von ihm Hergestelltes. Statt-

gerichtetes öffentliches Gespräch (medialer

dessen müsste er sich an die veränderten Kom-

Diskurs) in Gang kommt, vorausgesetzt, die

munikationsverhältnisse anpassen und die

Kommunikatoren sind an Aufklärung interes-

verschiedenen Teilöffentlichkeiten interessiert

siert und verfolgen keine verdeckten Drittin-

wahrnehmen und über kommunikative Koppe-

teressen. Indem der Informationsjournalismus

lungen beleben.

diese Aufgabe übernimmt, verknüpft er politi-

Die von der Journalistik erarbeitete Funk-

sche Entscheidungsprozesse mit dieser diskur-

tionszuschreibung an den Journalismus – er

siv organisierten, Verständigung und Klärung

habe „Informationen zur öffentlichen Kommu-

anstrebenden Öffentlichkeit.

nikation aktuell zu vermitteln“ (Jarren/Donges

Diese Theorie geht auf den US-Politologen

2002: 200) und dabei die „Selbstbeobachtung

Joseph M. Bessette (1980) zurück und wurde

der Gesellschaft“ (Weischenberg 1995: 97)

insbesondere von Jürgen Habermas (1992 ff.)

sicher­zustellen – passt zu diesen veränderten

und Bernhard Peters (2001; 2002) weiter aus-

Erfordernissen: In diesen Zeiten sollte Journa-

gebaut. In unserer komplexen Gesellschaft, so

lismus nicht als Verlautbarer, auch nicht als

Habermas, lasse sich Öffentlichkeit „am ehes-

Journalismus als

Geschichtenerzähler und Meinungsverkünder,

ten als ein Netzwerk für Kommunikation von

informierender

vielmehr als informierender Aufklärer, als Ku-

Inhalten und Stellungnahmen“ beschreiben

Aufklärer

rator und Moderator des gesellschaftlichen

(Habermas 1992: 436). In den vernetzten Kom-

Diskurses auftreten (Leif 2016). Damit verbin-

munikationsräumen könnten die Medien den

det sich die uns leitende These, dass der In-

Diskurs mit Informationen, Beschreibungen

formationsjournalismus, wenn er die Kommu-

und Deutungsvorschlägen füttern und „Ver-

nikationsräume thematisch durchdringt, auch

ständigungsprozesse“ zwischen den Gruppen

die abgekoppelten Gruppen erreichen und

und Lagern anstoßen. Auch Entscheidungen

übergreifende Diskurse in Gang setzen bzw.

des politischen Systems sollten auf diesen

halten kann, was den sozialen Zusammenhalt

öffentlichen Diskurs bezogen sein, damit sie

– trotz Segmentierung und Stratifizierung –

demokratische Legitimität beanspruchen kön-

wieder stärken könnte (Haller 2016: 179 ff.).

nen. In diesem medialen Diskurs ist aus der


Einführung

Sicht von Peters die „wichtigste spezialisierte

Für unseren Forschungsansatz sind folgende

Teilnehmerrolle […] natürlich die der Journalis-

Überlegungen relevant: Im Internetzeitalter be-

ten, die ja weit mehr Funktionen ausüben als

handelt das deliberative Öffentlichkeitskonzept

die des Türhüters und des Nachrichtenprodu-

vor allem die (möglichst) diskursiv zu verkop-

zenten oder -bearbeiters oder des Reporters“

pelnden digitalen Kommunikationsräume und

(Peters 2001: 671). Der Journalismusforscher

-inseln. Von daher gehört es zur anspruchsvol-

Carsten Brosda, heute Kultursenator der Stadt

len Aufgabe des Journalismus, dass er die aktu-

Hamburg, entwickelte daraus ein Konzept des

ellen Problemthemen nicht nur als Nachrichten

Das Konzept

„diskursiven Journalismus“. Eine zentrale Di-

und Meinungen transportiert, sie vielmehr ver-

des „diskursiven

mension der Diskurstheorie der Öffentlichkeit,

ständigungsorientiert aufbereitet (Peters u. a.

Journa­lismus“

so Brosda, liege in der „Kommunikativität jour-

2007: 212). Wenn ihm dies gelingt, erreichen

nalistischen Handelns“. Unter diesem Leitbild

seine Berichte nicht nur das angestammte Pu-

agierten die Medien nicht ziel- und zwecklos,

blikum, sondern auch die Welten, in denen die

sondern gemäß ihrer normativen Orientierung

Skeptiker, die Verängstigten und Verärgerten in-

stets im Interesse des offenen Diskurses und

teragieren. Und wenn er es im normativen Sinne

so auch der gesellschaftlichen Verständigung

richtig gut macht, werden viele Individuen und

(Brosda 2008: 324).

Gruppen – nun als informierte Bürger – für den

Zwei Einschränkungen sollten allerdings

öffentlichen Diskurs (wieder) aufgeschlossen

mit bedacht werden: Zum einen ist Journalis-

sein. Der gleiche Gedanke in der abstrakten For-

mus nicht nur Diskursveranstalter; die ihm u. a.

mulierung von Habermas: „Die mediengestützte

vom Bundesverfassungsgericht zugeschriebe-

politische Kommunikation kann den Legitimati-

ne Aufgabe, Kritik und Kontrolle des politischen

onsprozess in der Öffentlichkeit hochkomplexer

Entscheidungshandelns wahrzunehmen, steht

Gesellschaften nur in dem Maße fördern, wie

in der Tradition der repräsentativen Demokra-

erstens ein selbstgeregeltes Mediensystem Un-

tie. Zum anderen steckt in der Habermasschen

abhängigkeit von seinen sozialen Umgebungen

Idee, dass „demo­kratische Legitimität […] die

erlangt, und zweitens das diffuse Massenpub-

Kombination vernünftiger Kommunikation

likum, also die Leser, Hörer und Zuschauer der

mit der Teilnahme aller potentiell Betroffenen

Massenmedien, eine Rückkoppelung zwischen

Die Bürger

am Entscheidungsprozess [erfordert]“ (2007:

den informierten Elitediskursen und einer auf-

einbeziehen

431), ein sehr emphatisches Verständnis des-

nahme- und reaktionsbereiten Zivilgesellschaft

sen, was „Teilnahme“ ausmacht. So bleibt of-

herstellen“ (2007: 139).

fen, was es bedeutet, wenn auch überzeugte

Carsten Brosda zog daraus Folgerungen,

Demokraten nicht teilnehmen wollen. Dass

die wir in die Operationalisierung unserer

umgekehrt diejenigen nicht beteiligt werden,

Forschungsfragen einbezogen haben: „[Der

die unsere Grundordnung missachten oder gar

Journalismus] fungiert als Anwalt gesellschaft-

bekämpfen, steht hier außer Frage.

licher Diskurse und mithin als ein Korrektiv in

7


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Fällen ungleicher Verteilung kommunikativer

terlegene Minderheiten gibt, die ihre distinkte

Artikulationschancen in der Öffentlichkeit. […]

Position erhalten und stärken (wollen) mit dem

Unparteiisch

Das bedeutet, dass alle relevanten Positionen

Ziel, eines Tages selbst Mehrheit zu werden.

beobachten

gleichermaßen zu beachten sind – nicht in ers-

Politik kritisch prüfen

ter Linie gemäß der Häufigkeit oder Lautstär-

Gegen diese Einwände lassen sich drei Argu-

ke ihrer Artikulation, sondern vor allem auch

mente aufführen.

hinsichtlich der Qualität ihrer Begründungen“

Das erste besagt, dass der Hinweis, der Ak-

(2008: 327). Damit verbindet sich die Forde-

tualitätsdruck verhindere Diskurse, nicht ge-

rung an den politischen Journalismus, „unpar-

gen das Diskursmodell gerichtet ist. Es nennt

teiisch vorzugehen“ und die „Geltungs- und Le-

ein derzeit wohl triftiges Hemmnis, das aber

gitimationsansprüche“ des Outputs der Politik

kein allgemeines Gesetz, vielmehr durch den

kritisch zu prüfen (vgl. Habermas 1992: 457).

Medienwettbewerb und insofern von Menschen gemacht und darum veränderbar ist.

Ist gesellschaftliche Verständigung (noch)

Der zweite Einwand besagt, dass die gesell-

möglich?

schaftliche Realität solche Diskurse nur in

Mit diesem normativen Konzept sind Annah-

begrenztem Rahmen ermögliche; deshalb

men verknüpft, die zu diskutieren sind. Ein

sei das Modell unrealistisch. Dies ist kein

Einwand lautet, dass die Beschleunigung der

Einwand, sondern der richtige Hinweis,

Transaktionsprozesse und, damit verbunden,

dass unser deliberatives Konzept normativ

der Aktualitätsdruck der Informationsmedien

zu denken ist, darin nicht anders als die

öffentliche Diskurse abbremsten. Ein anderer

Grundrechte. Dies heißt: Wir wollen dies,

besagt, dass verständigungsorientierte Dis-

wissend, dass es nur begrenzt und nur mit

kurse auf bereits informierte, zudem neugieri-

Mühen – zum Beispiel durch die Vermitt-

ge Teilnehmer angewiesen seien; die nichtin-

lung von journalistischer Professionalität

formierte Mehrheit des Publikums verweigere

hier und Medienkompetenz dort – der Rea­

sich solchen Diskursen und bevorzuge, wenn

lität nähergebracht werden kann.8

Drei Einwände und

überhaupt, vorurteilsbestätigende Medien-

Der dritte Einwand übersieht die Differenz

die Gegenargumente

aussagen. Ein dritter Einwand stellt das Dis-

zwischen der funktionsdefinierten Organi-

kursmodell an sich in Frage. Er verweist auf

sation des politischen Systems und dem

das Konzept der Mehrheitsbildung durch Wah-

intermediären Flow der Kommunikations-

len und Abstimmungen, weil in Demokratien

räume, wie sie dem Zivilgesellschaftlichen

die politische Exekutive auf die Bildung von

eigen sind und aus den oben genannten

Mehrheiten angewiesen sei, zu denen es un-

Gründen weiter an Bedeutung gewinnen.

7

7 Vgl. John R. Searles Polemik gegen Jürgen Habermas, in: Hoheluft 3/2012. 8 Vgl. die von der Bundeszentrale für politische Bildung eingerichtete Datenbank zur Förderung der „Medienkompetenz als Kernkompetenz“.

8


Einführung

Anforderungen an den Journalismus –

Wahrheit“ verkauft und darin Recht haben will

Das Forschungsdesign

(Rudolf Augstein: „Schreiben, was ist“), spürt

Unser deliberativ begründetes Konzept von

den Gegenwind des Misstrauens oder sieht

Öffentlichkeit geht demzufolge von der These

sich mit dem (irreführenden) Schimpfwort „Lü-

aus, dass gerade der Informationsjournalismus

genpresse“ konfrontiert. Daraus ergeben sich

im Zeitalter der digitalen Medien (auch) eine

für unseren Forschungsansatz die Fragen:

diskursive und insofern integrativ funktionierende Kommunikationsleistung zu erbringen habe. Unter diesem Leitbild können wir die (im ersten Abschnitt formulierten) Forschungsfragen nun mit den folgenden, als Merkmale von (normativ: als Anforderungen an) Diskursivität geltenden Kriterien konkretisieren.9 Das erste Kriterium (Ereignisebene) be-

Die Forschungsfragen

Wie haben die Informationsmedien als „Gatekeeper“ das komplexe Geschehen reduziert? Wurden Ereignisse, Perspektiven und Positionen ausgeklammert, die aus der Sicht von Beteiligten oder Betroffenen bedeutsam gewesen wären?

zieht sich auf die Komplexität des Großthemas

Hier stößt die Operationalisierung auf metho-

„Flüchtlinge“. Ereignisthemen sind dann kom-

denbedingte Grenzen, weil die quantitative In-

plex, wenn sie zugleich auf verschiedenen Ebe-

haltsanalyse ja nur untersucht, was in den Me-

nen spielen, darunter die institutionelle Ebene

dien berichtet wird, und nicht, worüber nicht

wie auch die Alltagswelt der Menschen. Jour-

berichtet wird. Deshalb werden wir die quan-

nalisten müssen, wenn sie über das relevante

titativen Befunde (Umfänge und Frequenz der

Geschehen informieren und verständigungs-

Berichte) vor dem Hintergrund des jeweiligen

orientiert kommunizieren wollen, Komplexität

Ereignisthemas interpretieren.

reduzieren (siehe Synopse am Ende der Ein-

Das zweite Kriterium (Akteure) liegt auf der

führung). Dabei sollte diese Reduktion nicht

medialen Ebene und gilt den berichtenden In-

zur Ausklammerung bzw. Unterdrückung rele-

formationsjournalisten (in Abgrenzung zu Hyb-

vanter Aspekte, vielmehr zu einer „angemes-

ridformen, etwa Textmanagern und Kuratoren,

senen“ Verdichtung führen. Die Kontroversen

Bürger- und Leserjournalisten). Ihrem überkom-

über die Flüchtlingsberichterstattung lassen

menen Berufsverständnis zufolge sehen sie sich

vermuten, dass Komplexität je nach Stand-

als Berichterstatter, die auf der Einbahnstraße

ort unterschiedlich reduziert („eingedampft“)

unterwegs sind vom Urheber/Akteur zum Pub-

wird. Und dass diese Reduktion je nach Posi­

likum. Dem oben beschriebenen deliberativen

tion verschiedene Wahrheitsausschnitte (Ver-

Öffentlichkeitskonzept zufolge sollten sie sich,

sionen) generiert. Der klassische Journalismus,

wenn es um Vermittlung geht, als Interakteure,

der seinen engen Ausschnitt als „die ganze

auch als Moderatoren des öffentlichen Diskur-

9 Als Referenz dient hier die empirische Studie von Peters u. a. (2007: 203-247).

9


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

ses begreifen (Brosdas Formulierung „Anwalt“

in der Angemessenheit der jeweils gewählten

des Diskurses kann hier zu Missverständnissen

Form zeigt. Die Wahl der Darstellungsform ist

führen). Die Operationalisierung erfasst die Rol-

keine Geschmacksfrage, sondern beeinflusst

len und Funk­tionen der Akteure und Sprecher in

die Kommunikationsleistung und damit auch

den Berichten: Dem normativen Ansatz zufolge

– transaktional gedacht10 – die Rezeption sei-

sollten die Journalisten die Perspektive (auch)

tens des Publikums. Beispielsweise erfordern

derjenigen einnehmen, für die sie Vorgänge

augenscheinlich erfasste bzw. recherchierte

recherchieren, Aussagen produzieren und pu-

Vorgänge authentische Formen (Erzählmodus,

blizieren: ihres Publikums. Dazu gehört, dass

etwa Reportage oder Feature); die Befragung

sie ihre Sicht der Dinge in Beziehung setzen

von Akteuren oder Experten hingegen bedarf

zu anderen Sichtweisen und Perspektiven. Für

dialogischer Formen (insbesondere Interview);

unseren Forschungsansatz ergeben sich daraus

redaktionelle Bewertungen erfordern Kom-

Fragen wie diese:

mentarformen. Umgekehrt gesagt: Wenn eine

Wer kommt in der Berichterstattung zum Themenkomplex „Flüchtlinge“ zur Sprache? Werden Vorgänge und Themen auch aus der Sicht der direkt Beteiligten und Betroffenen aufgegriffen und behandelt?

Redaktion zu wenig authentisches Material beschafft oder nur selten mit Experten oder direkt Beteiligten gesprochen hat, spiegelt sich dies in der Art und Verwendungshäufigkeit entsprechender Darstellungsformen. Unsere Definition und so auch Operationalisierung

Praktischer

Für die Interpretation der Befunde in Teil 4 der

der verschiedenen Darstellungsformen bzw.

Journalismus

Studie wird (auch) die „Indexing-Hypothese“

Genres orientiert sich an den im praktischen

als Maßstab

herangezogen, der zufolge die journalistische

Journalismus gültigen Merkmalen. Nach Maß-

Elite (entgegen dem Konzept des diskursiven

gabe dieses Kriteriums wurden die redaktio-

Journalismus) dazu neigt, den politischen Mei-

nellen Texte der drei Leitmedien Die Welt, Süd-

nungsführern nicht nur in der Themenagenda,

deutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine

sondern auch in deren Sichtweisen und Bewer-

inhaltsanalytisch untersucht.

tungen zu folgen. Es wird zu klären sein, ob die

Das vierte Kriterium (Vermittlungsmodus)

Hypothese in Bezug auf das Thema Flüchtlinge

zielt auf das Rollenverständnis vor allem des

und Asylbewerber zutrifft.

politischen Journalismus. Unstrittig gilt, dass

Das dritte Kriterium (Darstellungsformen)

er das aktuelle Geschehen aus einer „unab-

orientiert sich an der klassischen Professions-

hängigen Position“ heraus recherchieren, auf-

norm des Informationsjournalismus, der zufol-

bereiten und publizieren soll. Aus historischen

ge sich die Breite des Geschehens erstens in der

Gründen denken viele Journalisten dabei (nur)

Vielfalt der Darstellungsformen und zweitens

an die Risiken, die mit der Abhängigkeit ihres

10 Das „dynamisch transaktionale Modell“ versucht Wirkungsprozesse der Massenmedien im Kontext ihrer Nutzung plausibel zu modellieren (vgl. Früh 1991).

10


Einführung

Hauses vom Eigentümer und von Wirtschaftsin-

bzw. Politikern der Regierungsparteien und

teressen (insbesondere Werbekunden) verbun-

insofern der politischen Elite?

den sind. Es gibt aber auch die psychologisch zu deutende Bereitschaft, sich von vorherrschenden Überzeugungen wie auch von machtvollen Akteuren vereinnahmen zu lassen. Viele Journalisten, die im Dunstkreis einflussreicher Politiker agieren, fassen ihre räumliche und mentale Nähe zur politischen Machtelite indessen nicht als Abhängigkeit auf, sondern vielmehr als Vorteil (Krüger 2007: 54 ff.; 2013: 153 ff.). Sie begründen dies damit, dass diese Nähe nicht durch Dritte erzwungen, sondern quasi freiwillig erarbeitet worden sei. Nach Maßgabe unseres theoretischen Konzepts kollidiert dieses Selbstverständnis mit den oben genannten Funktionszuschreibungen an den Informationsjournalismus. Der durch Umfragen bestätigte Glaube, Chefredakteure würden von Regierungsvertretern instruiert, zeugt davon, dass ein beachtlicher Teil des Publikums den Eindruck hat, diese Medien gehörten zu jener abgehobenen Sphäre, wo die politischen Eliten wirkmächtig sind.11 In unseren Forschungsansatz übertragen, lautet die Frage: Folgt die Berichterstattung dem Neutralitätsprinzip? Operationalisiert gefragt: Ent-

Das zweite und vierte Kriterium zusammengenommen führen zu der Frage, ob die Flüchtlingskrise in ein mentales Klima passt, das die Akteure (Politik), die Medienmacher und die Rezipienten verbunden und beeinflusst haben könnte. Vorsichtig formuliert, geht es um den thematischen Kontext, der dem öffentlichen Diskurs seine Richtung und Prägung gibt. In der Medienforschung werden solch prägende Kontexte als „Frames“ beschrieben,12 quasi als Brille, durch die die Akteure, die berichtenden Journalisten und ihr Publikum, auf das Großthema blicken oder blicken sollen13 (in analogen Zeiten wurde hierfür das Kunstwort „öffentliche Meinung“ benutzt). Eine qualitativ angelegte Durchsicht der Medienberichte zeigte uns, dass bis zum Sommer 2015 tatsächlich ein stimmungsmachender Kontext entstanden war, der mit dem Schlagwort „Willkommenskultur“ verbunden ist. Deshalb haben wir eine zusätzliche Forschungsfrage formuliert. Sie lautet: Mit welchen Sinngehalten wurde das Nar-

Was bedeutet

rativ Willkommenskultur im medialen Dis-

„Willkommens-

kurs aufgeladen?

kultur“?

spricht die Auswahl der Quellen und Spre-

Die Antworten sollen uns helfen, den Zusam-

cher eher den realen Ereignissen oder folgt

menhang zwischen den Medieninhalten und der

sie eher der Themenagenda der Regierung

Meinungsbildung auf Seiten der Publika besser

11 Vgl. IfD-Allensbach, IfD-Umfrage 11049 vom Oktober 2016. 12 Im Sinne der funktionalen Definitionen von Entman (1993: 52 f.) und Reese (2001: 11). Wichtigstes Merkmal des Framings: Die Medienberichterstattung hebt (nur) bestimmte Aspekte des Themenkomplexes heraus; sie vermittelt eine bestimmte Sicht sowie auch spezifische Ursachen eines Problems und bewertet diese meist implizit. Disparate Aspekte bleiben ausgeblendet. 13 Frame verstehen wir hier nicht als abhängige Variable der Medienberichterstattung, sondern als thematischen Kontext, der (auch) die Medienberichte einbezieht.

11


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

zu verstehen. Für die Interpretation werden die

dann lautet unsere operative Untersuchungs-

Theoriekonzepte der Schweigespirale und der

frage so: Mit welcher Intensität (Frequenz und

Reaktanz herangezogen (Näheres siehe Teil 4).

Umfänge) haben die Informationsmedien das

Das fünfte Kriterium (Textaussagen) greift

Großthema „Flüchtlinge in Deutschland“ in

ein konkretes, für die Diskursivität der Bericht-

welcher Weise (Kontexte und Darstellungsfor-

erstattung ebenfalls bedeutsames Prinzip des

men), über welche Akteure (in Texten auftre-

Die Trennungs-

Informationsjournalismus auf: die Trennung

tende Personen und Einrichtungen), aus wel-

regel

zwischen tatsachenbetonten und meinungs-

cher Sicht vermittelt (Berichte) und beurteilt

betonten Vermittlungsformen. Dieses Prin-

(Kommentare)? Die Beantwortung dieser Frage

zip wurde nach dem Zweiten Weltkrieg beim

anhand der einzelnen Kriterien versetzt uns in

Neuaufbau der deutschen Informationsmedi-

die Lage zu bewerten, ob die Medien ihre Auf-

en vom angelsächsischen Journalismus über-

gabe – für einen offenen, integrativ wirkenden

nommen und standardisiert. Damit sollte die

Diskurs zu sorgen – erfüllt haben.

früher im deutschen Journalismus verbreitete manipulative Mischung aus Nachricht und Be-

Die synoptische Übersicht auf S. 14 zeigt das vollständige Forschungsdesign.

wertung („Gesinnungsjournalismus“) unter­

Zusammengefasste Untersuchungsfragen

bunden werden14 – eine Qualitätsnorm, die

Die Durchführung der Studie

derzeit zur Abwehr der Lügenpresse- und Fake-­

Mit dieser Studie haben wir die Berichter-

News-Vorwürfe eine hohe Geltung besitzt. Stu-

stattung tagesaktueller Informationsmedien

dien zur Handhabung dieser Trennungsregel

(Schwerpunkte: Leitmedien und Lokal-/Re­

machten allerdings deutlich, dass es nicht nur

gionalzeitungen) im Verlauf der 13 Monate von

um die formale Trennung (Kennzeichnung der

Februar 2015 bis März 2016 untersucht. Dies

Textsorte) geht, sondern auch um die Art der

ist der Zeitraum, der mit den erschütternden

Präsentation der Nachrichten (Wertungen im

Berichten über viele Tausend im Mittelmeer

Titelkomplex) sowie die Tonalität der Bericht-

ertrunkene Flüchtlinge beginnt und mit der

erstattung (etwa durch wertende Attribuierun-

Diskussion der brutalen Übergriffe in der Sil-

gen). Um zu prüfen, ob solche subtilen, in die

vesternacht 2015/16 endet. Die von den Me­

Berichterstattung inkludierten Modi der Mei-

dien kolportierten und damit auch angeheizten

nungsmache verwendet wurden, haben wir

Stimmungen während des Sommers 2015 (wir

sowohl die Stilistik wie auch die Tonalität der

sprachen weiter oben vom thematischen Kon-

Berichte der genannten drei Leitmedien unter

text als „Frame“) gehen auf ein spezifisches,

die Lupe genommen.

in den vergangenen Jahren entstandenes Mei-

Wenn wir diese Kriterien bzw. Anforderun-

nungsklima zurück. Für diesen wichtigen As-

gen auf der medialen Ebene zusammenfassen,

pekt – es geht um die oben erwähnte Willkom-

14 Zur Geschichte und Bedeutung dieser Trennungsregel vgl. Haller 2003: 105 ff.

12


Einführung

menskultur – haben wir den Analysezeitraum

erfasst. Für die zwanzig Wochen wurden

zurück bis ins Jahr 2005 ausgedehnt.

480 Zeitungsausgaben durchsucht und

Unsere Untersuchung durchlief nun folgende, hier knapp umrissene Methodenschritte:

2.240 Zeitungsseiten ermittelt, die Texte zu unseren Ereignisthemen enthielten. Der dritte Schritt bestand in der Inhaltsana-

Im ersten Schritt wurden die sehr zahlrei-

lyse der redaktionellen Beiträge, die von

chen Ereignisverläufe des Jahres 2015 re-

den drei Leitmedien im Verlauf der zwan-

konstruiert und in eine Übersicht gebracht

zig Wochen über die zehn Großereignisse

(als Materialbasis für den zweiten Schritt).

publiziert wurden. Dies sind 1.687 Texte.

Hierfür wurden drei der beim Publikum als

Diese wurden in einer sehr differenzierten

besonders glaubwürdig und reichweite-

Textanalyse von zwei geschulten Codierern

stark geltenden Medien gewählt: die Ta-

anhand eines ausgetesteten Codebuchs

gesschau sowie Spiegel Online und tages-

durchgeführt. Die Auswertung und Interpre-

schau.de. Die Rekonstruktion zeigt uns die

tation der Befunde liegen Teil 1 (Abschnitt

– medial vermittelte – Flüchtlingsthematik

1.2) sowie Teil 3 zugrunde.

im Durchgang des Jahres 2015 als eine Art

Im vierten Schritt sollte exemplarisch die

nachrichtliches Grundrauschen. Dies wird

Themenkarriere des Frames mit dem Schlüs-

zu Beginn von Teil 1 dargestellt.

selbegriff „Willkommenskultur“ rekonstru-

Die Methodenschritte

Der Interpretationsrahmen

Im zweiten Schritt wurden für die Meinungs-

iert werden. Hierfür haben wir die (als Gat-

bildung markante (d.  h. konflikthaltige

tung auf Lesernähe konzipierte) Lokal- und

und dissonant bewertete) Großereignisse

Regionalpresse herangezogen. Vermittels

identifiziert und anhand der Medienbe-

der von Genios betreuten WISO-Datenbank

richte (unter Hinzunahme der ebenfalls

wurden für den Zeitraum von 2005 bis Früh-

reichweitestarken Online-Medien welt.de

jahr 2016 in 85 Regionalzeitungen mehr als

und focus.de) rekonstruiert. Die so identifi-

26.000 Texte identifiziert, in denen dieses

Umfang

zierten insgesamt zehn Ereignisthemen er-

Wort vorkommt. Über einen mehrstufigen

der Erhebungen

strecken sich über zwanzig Wochen. Durch

Weg der Quellenlisten- und der Textberei-

sie sind die Zeiträume definiert, aus denen

nigung haben wir einen Offline-Analyse­

alle Texte erfasst wurden, die in den drei

korpus von rund 17.000 redaktionellen

Leitmedien Süddeutsche Zeitung, Frankfur-

Beiträgen erstellt. In Kooperation mit dem

ter Allgemeine Zeitung und Die Welt zum

Informatik-Institut der Universität Leipzig

Thema Flüchtlinge und/oder Asylsuchende

wurden diese Texte mit Instrumenten des

publiziert wurden. Als eine zusätzliche Per-

Textmining morphologisch analysiert. Ein

spektive wurde für diese Phase die Bericht-

auf unsere Fragestellung zugeschnittener

erstattung und Kommentierung des Themas

Auszug aus dieser Untersuchung liegt Teil 2

in der Bild-Zeitung als Boulevardmedium

über „Die Erfindung der ‚Willkommenskul-

13


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Synopse: Das Untersuchungsdesign Normativ begründete Erwartungen an die Medien Der Informationsjournalismus berichtet über komplexe Ereignisthemen; er ordnet sie ein und bringt die an den Vorgängen Beteiligten zur Sprache. Damit sorgt er für einen offenen gesellschaftlichen Diskurs (Deliberative Demokratietheorie und Anforderungen an den Journalismus)

Operationa­ lisierung:

Kernthema: Die Flüchtlingsberichterstattung der Informationsmedien im Jahr 2015 und ersten Quartal 2016 Mediale Inhaltsebene

Die Ebenen

Ereignisebene

Leitfragen der Analysen

Akteure

Darstellungsform

Informationsleistung

Vermittlungsmodus

Themengerechte Wahl der Darstellungsform

Neutralität der Berichterstattung

Trennung von Nachricht und Meinung

Merkmale für Diskursivität

operative An­ forderungen (=Kriterien)

Reduktion von Komplexität

Die direkt und indirekt Beteiligten kommen zur Sprache

Die Indika­ toren

Gatekeeping: Umfänge und Häufigkeiten (Frequenzen)

Rollen und Funktionen der Akteure/ Sprecher in den Berichten

Neben berichtenden Formen auch dialogische und authen­ tische

Attribute und Tonalität in den Berichten

Attribute und Tonalität der Berichte und Kommentare

Umgang mit abweichenden Positionen & Wertemuster

Die Mess­ methoden

Quantitative Ermittlung der Frequenzen

Inhaltsanalysen (Katego­ rien: die Funktionsrollen der Handlungs­ träger)

Inhaltsanalysen (Kategorien: die im J. praktizierten Darstellungsformen)

Quantitative und morpho­ logische Textanalysen

Semantische und stilistische Text­ analysen

Themenkontexte und politische Positionen der Akteure

Untersuchungsgegenstand

Nachrichten reichweitestarker Newsmedien*

3 Leitmedien & Lokal-/Re­ gionalpresse

3 Leitmedien

3 Leitmedien

Theorie­ gestützte Modelle der Interpretation

Agenda Setting & Überforderung („Themenverdrossenheit“)

„Indexing“, Schweige­ spirale & Reaktanz

Transaktionale Kommunikation & Meinungs­ bildung

Journalistische Qualitätsnormen

Journalistische Qualitätsnormen

Normativ begründete Journalismusfunktionen

S. 18 f., 23, 104 f.

S. 10 f., 23, 143 ff.

S. 10 ff., 27, 105

S. 11 f., 30, 45 ff.

S. 10 ff., 45 ff., 58, 120

S. 6 ff., 10 ff., 141-145

In der Studie näher erläu­ tert

3 Leitmedien & Lokal-/Regionalpresse

3 Leitme­ dien, News­ medien & Lokal-/Regionalpresse

*ARD-Tagesschau, tagesschau.de, spiegel.de; fallbezogen zusätzlich focus.de, bild.de Quelle: Eigene Darstellung

14


Einführung

tur’“ zugrunde. Dort wird das Analysever-

Meinungsumschwung, auch das Misstrauen

fahren näher erläutert.

gegenüber der Flüchtlingsberichterstattung

Als fünfter und letzter Schritt wurden die

nicht vom Himmel gefallen, sondern vermut-

inhaltsanalytisch gewonnenen Befunde un-

lich auch darauf zurückzuführen, wie die Me-

ter Berücksichtigung der oben beschriebe-

dien dieses Großthema verhandelt haben.

nen fünf Erfordernisse analysiert und unter

Für diese These sind Daten über den Ein-

dem Dach der vorgestellten deliberativen

stellungswandel in der Bevölkerung und ein

Demokratietheorie und nach Maßgabe der

Wirkungsmodell als Brückenschlag zwischen

mit den Forschungsfragen verbundenen

Medien­inhalt und Mediennutzer erforderlich.

Modelle interpretiert.

Im Sinne eines Interpretationsvorschlags haben wir ein empirisch bewährtes Modell he­

Die Frage nach den Medienwirkungen

rangezogen: die sogenannte Schweigespirale

Die gewählten Methoden (Text- und Inhalts-

in Verbindung mit der Theorie der Reaktanz.

analysen) erlauben keine direkte Antwort auf

Dieses Konzept wird in Teil 4 der Studie erläu-

die Frage nach der Wirkung der Medienberich-

tert. Es dient dazu, vermeintliche Widersprü-

te auf die Einstellungen in der Bevölkerung.

che im Verhalten großer Teile des Publikums

Und doch sind der in einem wachsenden Teil

zu deuten und Denkanstöße für zukünftige

der Gesellschaft demoskopisch ermittelte

Forschungen zu geben.

Diese Studie basiert auf einem Forschungsvorschlag meinerseits. Ihre Ausarbeitung wurde in keiner Weise vom Auftraggeber, der Otto Brenner Stiftung, beeinflusst. Für den Inhalt (einschließlich allfälliger Fehler) bin ich verantwortlich. Das Forschungsprogramm wurde überwiegend im zweiten Halbjahr 2016 realisiert. Ein Großteil der empirischen Arbeiten (komplexe Datenrecherchen und codebuchgestützte Inhaltsanalysen) führte ich mit meinem Forscherteam an der Hamburg Media School (HMS) durch, an der ich bis Ende 2016 die Forschung leitete. Mitgearbeitet haben Johannes Truß (Leitung der Inhaltsanalyse und Datenauswertung der drei Leitmedien), Philipp Weiß (Internet- und Datenrecherchen für die Rekonstruktion der Medienereignisse) sowie Anika Lohse und Ribana Wollermann (Projektmanagement). Rechercheaufgaben übernahmen AnnChristin Busch, Juliane Kumst und Jan-Philipp Friese (Projektassistenten). Die Big-Data-Analyse der Berichterstattung der Lokal- und Regionalpresse wurde im Rahmen einer Kooperation durch Andreas Niekler und Christian Kahmann am Informatik-Institut der Universität Leipzig durchgeführt. Ihnen allen danke ich für die stets konstruktive und anregende Zusammenarbeit. Michael Haller

Hamburg, im März 2017

15


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Teil 1: Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

1. Die Dynamik der Ereignis­ berichterstattung

dien zusammenhängen, sofern sie ihrerseits die Komplexität des Großthemas „Flüchtlinge“ nicht bewältigen konnten.

Wer weiß noch, was im Jahr 2015 im Zusam­

Hier einige Zahlen: Allein das Informa­

menhang mit der sogenannten Flüchtlingskri­

tionsangebot der Tageszeitung Die Welt (inklu­

se alles passiert ist? Was wurde von wem ge­

sive Welt kompakt) umfasste in unserem Unter­

tan, was beschlossen, was durchgeführt – und

suchungszeitraum (Februar 2015 bis 31. März

Die Informations­

was nicht? Fragt man gut gebildete Bürger, die

2016) laut Datenarchiv16 5.456 redaktionelle

überflutung

sich tagtäglich über Nachrichtenmedien infor­

Beiträge und Leserzuschriften zum Thema.

mieren, was ihnen rückblickend in den Sinn

Die Nürnberger Nachrichten etwa publizierten

komme, dann sind es wenige als „krass“ emp­

5.289 Texte, der in Berlin als Regionalzeitung

fundene Bilder vom September, besonders

erscheinende Tagesspiegel 6.051; Welt On­

die Fähnchen schwingenden Münchner am

line präsentierte zum Thema 6.484, Spiegel

Hauptbahnhof, die sich ins Gedächtnis gleich­

Online 5.097 Texte. Statistisch ausgedrückt:

sam eingebrannt haben.15 Sie dienen quasi

Jedes dieser als zuverlässig und professionell

als Ausweis für einen „Gesamteindruck“, den

geltenden Informationsmedien veröffentlichte

die Befragten in Form eines Urteils oder einer

im Laufe jener 15 Monate bzw. 64 Kalender­

Meinung zur Sprache bringen. Viele nennen

wochen – unserer Datenbank- und Archivre­

auch die verstörten Gesichter nach der Kölner

cherche zufolge – im Mittel 5.675 Beiträge, in

Silvesternacht und äußern Widersprüchliches:

denen die Themen Flüchtlinge oder Asyl vor­

Einerseits hätten „wir“ diese Herausforderun­

kommen. Umgerechnet auf Zeitungsausgaben

gen ganz gut bewältigt; andererseits seien

waren dies 17,5 Beiträge pro Ausgabe (beim

„wir“ auch sehr naiv gewesen. Und derzeit

Tagesspiegel mit 7 Ausgaben wöchentlich 15,7

seien wir Deutsche politisch „irgendwie“ ge­

pro Ausgabe).

spalten.

Diese Zahlen lassen das Volumen erahnen,

Diese konflikthaltige Stimmungslage er­

das dem lesenden Publikum entgegenschwoll.

klärt sich nicht allein aus der Dynamik der Er­

Doch sie sagen noch nichts über die Dynamik

eignisse und der komplexen Situation, in der

der Ereignisse selbst und deren mediale Ver­

sich beim Flüchtlingsthema lokale, regionale,

arbeitung. Deshalb wollen wir uns zuerst eine

nationale und internationale Problemfelder

Übersicht über das mediale Informationsge­

überlagern. Sie könnte – so unsere Vermu­

schehen des Jahres 2015 verschaffen. Das ers­

tung – auch mit der Informationsarbeit der Me­

te Quartal 2016 haben wir, wie oben erwähnt,

15 Befragung (Meinungsbild) von 65 Teilnehmern zu unserem Thema im Rahmen einer Veranstaltung im Oktober 2016 in Hamburg durch den Verfasser. 16 Eine Beschreibung der Datenbank und der Verfahren kann online eingesehen werden; siehe Hinweis „Zur Methodo­ logie“ auf S. 147. Der Suchstring hier: „Flücht* OR Asyl*“.

16


Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

zum Betrachtungszeitraum hinzugenommen,

Ab Mitte Juli – über Ungarn und Österreich

weil wir die mit „Silvester 2015/16“ apostro-

gelangen immer mehr Flüchtlinge nach Deutsch-

phierten Ereignisse in unsere Studie einbezie-

land – springt die Intensität rasant nach oben;

hen wollten.

Mitte August überschlagen sich die Nachrichten

Informatorisches

geradezu (bei Spiegel Online 4 bis 5 Nachrich-

Grundrauschen

Die Fieberkurve der Berichterstattung

ten pro Tag); sie ebben im Verlauf des Herbstes

Wann und wie viel haben die Informationsme-

allmählich ab und bewegen sich im Dezember

dien über die einzelnen Ereignisse und Vorgän-

wieder auf dem Niveau des vorigen Aprils.

ge rund um das Thema „Flüchtlinge in Deutsch-

Diese Kurve bildet erstens den zunächst

land“ im Verlauf unseres Untersuchungszeit-

geringen Stellenwert des Themas und dann

raums vermittelt?

die Dramatik der sich überstürzenden Ereig-

Um eine Übersicht zu gewinnen, haben wir

nisse und der damit verbundenen Konflikte ab.

zunächst die Tagesschau sowie die reichwei-

Auffallend ist, dass die Kurve der Nachrichten­

testarken und als handwerklich zuverlässig

frequenz zwischen den beiden Webmedien

geltenden Newsmedien Spiegel Online und

überraschend synchron verläuft, wobei tages-

tagesschau.de nach Berichten abgesucht, die

schau.de in der Hochphase den Output von

das Suchwort „Flücht*“ bzw. visuelle Aus-

Spiegel Online kurzfristig überholt.

17

sagen zum Thema „Flüchtlinge“ enthielten.

18

Dieser parallele Verlauf lässt sich mit der

Bereits die Verteilung der Häufigkeiten

Wettbewerbssituation (beide wollen möglichst

(siehe Abb. 1) zeigt ein unerwartetes Bild: Im

aktuell möglichst viele News bringen) und mit

ersten Halbjahr berichtete die Tagesschau im

den für Newsseiten spezifischen Verarbei-

Durchschnitt nur etwa an jedem dritten Tag

tungsroutinen (derselbe Input und Newsma-

(10 bis 12 Mal pro Monat). Per Web zeigte ta-

nagement) erklären. Eine Rolle spielt vermut-

gesschau.de zunächst eine sporadische Be-

lich auch das ähnliche, die Handhabung der

Dieselben

richterstattung, die sich im 2. Quartal intensi-

Nachrichtenfaktoren prägende Rollen- und

Verarbeitungs­­­-

vierte; im Durchschnitt brachte sie im Ablauf

Funktionsverständnis des professionellen

­routinen

von 24 Stunden 1,5 Nachrichten. Auch Spie-

Newsjournalismus. Stichproben (welt.de und

gel Online war bis März zurückhaltend und

focus.de; siehe auch Teil 3) zeigen, dass Unter-

ab April mit einer dichteren Berichterstattung

schiede im politischen Selbstverständnis der

(2,5 Nachrichten) relativ nah an den Themen.

Redaktionen offenbar keinen Einfluss haben.

17 Ein Asterisk (*) steht in der Suchfunktion als Platzhalter dafür, dass auch nach Worterweiterungen, wie z. B. „Flüchtlinge“, „Flüchtlingsheim“ etc. gesucht wird. 18 Für die ereignisbezogenen Studien konnte mit der Rekonstruktion ab März 2015 begonnen werden, da die in der Media­thek archivierten Tagesschau-Sendungen nur 12 Monate zugänglich sind; auf ältere Sendungen konnte nicht zugegriffen werden. Weiterführende Materialien zum methodischen Vorgehen können auf der Website der Otto Brenner Stiftung abgerufen werden (siehe Hinweis S. 147).

17


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Überforderte Medienmacher?

her. Sie überlagern und durchdringen sich wie

Auf der Suche nach einer plausiblen Erklärung

ein kaum zu entwirrendes Knäuel. Hinzu kommt

für diesen an eine Fieberkurve erinnernden

die ungewöhnlich große Vielfalt der Akteure in

Verlauf haben wir die gesamte Flüchtlingsbe-

den Berichten: Flüchtende, Kriegstreiber, Hun-

richterstattung von Tagesschau, tagesschau.de

gernde, Rettende, Geschäftemacher, Militärs,

und Spiegel Online im Jahr 2015 registriert und

Politiker, Regierungssprecher, Behörden, Ge-

die Themenkarrieren inhaltlich nachvollzogen.

setzgeber, Protestierer, Terroristen, Strafver-

Im Rückblick fast schon verwirrend erscheint

folger, Gerichte, Passanten und Bürger.

neben der Frequenz auch die Vielschichtigkeit

Nimmt man die Perspektive der Mediennut-

Kognitive

der Ereigniszusammenhänge sowie die Mehr-

zer ein, so hat man im Rückblick den Eindruck

Überforderung?

dimensionalität der Ereignisebenen: Die Hand-

der kognitiven Überforderung durch die Infor-

lungsorte der Berichte springen innerhalb we-

mationsüberflutung mit meist kontextlosen

niger Tage zwischen Nordafrika, Nahost, euro-

Nachrichten. Diese Deutung lässt sich durch

päischen Staaten und Regionen, den deutschen

eine Reihe von Untersuchungen stützen, die

Bundesländern und Städten, Berlin und Brüs-

sich mit dem Phänomen der Informationsver-

sel, dem Pazifik und dem Mittelmeer hin und

weigerung (Theorem der „Themenverdrossen-

Abbildung 1:

Gesamtjahresübersicht 2015 aller Beiträge auf Tagesschau.de und Spiegel Online 546

590

357 351 227 209 85

Spiegel.de zum Thema „Flüchtlinge“

Tagesschau.de zum Thema „Flüchtlinge“

Quellen: Google+ sowie ARD-Mediathek und Spiegel-Online-Archiv

18


Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

heit“) bei einem beachtlichen Teil der Erwach-

(„weiche“) Ansichten mehr und mehr zu „stand-

senenbevölkerung befassen.

festen“ Überzeugungen verhärtet hat.20

19

Insbesondere

die Faktoren Informationsüberlastung, unzureichende Berichterstattungsqualität sowie

Tagesschau: Bundespolitik und

die emotionale Nähe zum Thema selbst („In-

Rechtsradikale

volvement“) bewirken oder verstärken solche

Zurück zur Dynamik jener Medienberichter-

Verweigerungshaltungen (Metag/Arlt 2016:

stattung: Unsere um Strukturierung bemühte

553 ff.). Die damit verbundenen Effekte – Filte­

Durchsicht des ersten Halbjahres 2015 zeigt,

rung der Informationen und visuellen Reize

dass bei der Tagesschau drei Faktoren die Be-

nach Maßgabe eigener Überzeugungen – wer-

richtsintensität (hier definiert als Umfang und

den in der Kognitionsforschung nach dem Mus-

Frequenz der Berichte) markant steigerten:

ter der „kognitiven Dissonanz“ (Festinger 1957)

(1) Die Kaskade symbolischer Handlungen von

als selektive Wahrnehmung beschrieben: Um

Politikern (Akteuren, Regierungen, Partei-

der Dissonanz von widersprüchlichen Wahr-

en), wie: Vorschläge, Gegenvorschläge, For-

nehmungen zu entgehen, neigen Menschen

derungen, Ankündigungen, Deklamationen

dazu, aus der sie überfordernden Informa­

(Motto: „Politiker fordern“);

tionsüberfülle die ihre Denkmuster und Vorur-

(2) von der Politik als „deutsch“ deklarierte

Gefahr der

teile bestätigenden Nachrichten zu nutzen und

Positionen im Kontext der EU und ihrer po-

Vorurteils­-

die zuwiderlaufenden auszublenden.

litischen Sprecher, Akteure und Staatschefs

bestätigung

Wenn wir dieses Deutungsmodell auf die Flüchtlingsberichterstattung im ersten Halb-

(Beispiele: Dublin-Abkommen, Königsteiner Verteilungsschlüssel);

jahr 2015 übertragen, dann ist die Vermutung

(3) Gewalttätiges Verhalten von Gruppen und

naheliegend, dass die Mediennutzer das un-

Personen aus dem rechten und rechtsex­

überschaubar große Nachrichtenknäuel des

tremen Umfeld, insbesondere gegen Asyl-

Komplexes „Flüchtlinge“ nach Maßgabe ihrer

unterkünfte, wie auch deren konfrontatives

Tagesschau

jeweiligen Präferenzen, Denkmuster und Vorur-

Auftreten gegenüber Politikern und Magis-

sorgte für

teile entwirrt haben. Andersherum gesagt: Die

traten (Polarisierungseffekte).

Polarisierung

Unübersichtlichkeit, Überfülle und Dynamik der

Umgekehrt sind im ersten Halbjahr 2015 in der

Ereignisse und Ereignisorte könnte wesentlich

Tagesschau auch viele Unterlassungen zu re-

dazu beigetragen haben, dass die selektive

gistrieren. Nach Maßgabe der Nachrichtenwer-

Wahrnehmung bei einem Teil der Bevölkerung

te (Faktoren: Prominenz; räumliche, politische

bereits im Sommer 2015 zuvor noch disponible

und wirtschaftliche Nähe; Konflikt; Nutzen/

19 Dieser Ansatz geht davon aus, dass Selektionsentscheidungen nicht nur der „kognitiven Dissonanz“ des Rezipienten geschuldet sind, sondern auch mit Merkmalen der Medienangebote zusammenhängen (vgl. Matthes/Kohring 2003; Kuhlmann u. a. 2014). 20 Die Hypothese müsste noch überprüft werden (etwa durch eine Längsschnittanalyse von User-Kommentaren auf den Websites der reichweitestärksten Newssites).

19


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Schaden) wurde das Flüchtlingsthema in der

2015 immer neue Flüchtlingstragödien aus

Tagesschau im ersten Halbjahr oft abgedrängt

dem Mittelmeerraum (Probleme und Nöte in

Rivalität der

von dem seinerzeit die Fernsehnachrichten be-

den Auffanglagern im Libanon, der Türkei; die

Großthemen

herrschenden Großthema „Griechenland“ (die

dramatische Situation auf den griechischen In-

EU und das Verhalten der deutschen Regierung

seln; die Geschäfte der Schlepperbanden). Die

bzw. deutscher Politiker). Wenn dann doch das

schwierige Arbeit der italienischen Küstenwa-

Flüchtlingsthema zur Sprache bzw. ins Bild kam,

che und der aufopfernde Einsatz der Helfer und

fehlten oft die für das Verständnis notwendigen

Betreuer in den Auffanglagern wird bilderreich

Ereigniszusammenhänge. Einerseits wurden

thematisiert. Mehr als zehn Gastbeiträge und

Bilder rhetorisch agierender Politiker, Minister

Kommentare diskutieren die Frage nach der

und Behörden, andererseits Bilder gewalttäti-

Verantwortung des Westens für die verheeren-

ger Gruppen vor allem im Osten Deutschlands

de Kriegslage im Nahen Osten. Entsprechend

gezeigt (z. B. Tagesschau vom 5. April 2015,

kritisch, oft mit ironischem, auch zynischem

einen Tag nach dem Brandanschlag in Tröglitz:

Unterton fallen die Berichte über den Aktionis­

„Politiker fordern mehr Einsatz gegen Fremden-

mus der Politiker in EU-Europa aus (Muster:

feindlichkeit“). Die Bildbeiträge verstärkten die

„Gescheiterte EU-Flüchtlingsquote: Triumph

bipolare Botschaft: hier (Standpunkt der Kame-

der Egoisten“; Spiegel Online 25.06.2015).

21

ra) die große Mehrheit der Gutmeinenden und

Intensiver noch als tagesschau.de berich-

Spiegel.de

Wohlwollenden, dort die brutal-militante Mino­

tet Spiegel Online auch über die fremdenfeind-

mit großer

rität der Verweigerer und Gegner – und zwischen

lichen Ausschreitungen im Zusammenhang mit

den Fronten die Ordnungskräfte.

Pegida und AfD sowie über Gewalttätigkeiten

Vielfalt

rechtsradikaler Gruppen gegen Asylbewerber­ Differenziertes Nachrichtenbild der

heime und liberale Mitbürger (Bericht aus Frei-

Online-Newssites

tal/Sachsen: „Kriminelle Ausländer – raus,

Im Unterschied zu den Fernsehnachrichten bo-

raus, raus! So wurden am Mittwoch 50 Flücht-

ten die beiden Onlinemedien tagesschau.de

linge in Freital begrüßt […] Der Streit um die

und Spiegel Online ihren Lesern ein wesent-

Bewohner des blassgelben DDR-Baus mit dem

lich breiter gefächertes Nachrichtenbild (Spie-

irreführenden Namen ‚Hotel Leonardo‘ veran-

gel Online z. B. auch zur Not der Flüchtlinge in

schaulicht, wie die deutsche Flüchtlingspoli-

Fernost). In zahlreichen Meldungen, Berichten,

tik derzeit das Land spaltet – und vor allem

Reportagen, Videodokus und Interviews zeigt

eines mit sich bringt: Hass“; Spiegel Online

Spiegel Online von Mitte März bis Ende Juni

25.06.2015).

21 Basis: Auszählung der Themen-Items der Tagesschau-Sendungen zum Flüchtlingsthema und Abgleich mit der Griechen­landberichterstattung (Otto u. a. 2016). Beispiel Februar 2015: Insgesamt sieben Items zum Flüchtlingsthema, davon zwei an erster Position. Im selben Zeitraum 31 Items zu Griechenland, davon 16 an erster Position (Otto u. a. 2016: 41-44).

20


Tabelle 1: Die für die Meinungsbildung als relevant identifizierten Großereignisse 2015 und ihre Codierung Nr. des Dauer der Ereig­ Codierung nisses von/bis

Hauptereignis

Nachrichtenwert (Konflikt)

Begründung für Auswahl

Suchstrings für die Archivrecherche

Sozialer Konflikt/ Kriminalität

Beginn der emo­­tio­ nalen Polarisierung in der Bevölkerung; Proteste auf der Straße; Demo-Verbot u. a.

Nicht berücksichtigt

16.01. 2015

19.01. 2015

Tod eines Flüchtlings in Dresden

06.02. 2015

20.02. 2015

Drei Länderchefs Politik/ fordern besseres Länderebene/ Bleiberecht Kritik

Vollzugsebene: Exe­kutive suchen kon­struktive Problemlösung

Bouffier OR Kretschmann OR Dreyer OR Länderchef OR Flüchtling* OR Bleiberecht OR Einwanderung*

10.02. 2015

18.02. 2015

Bundesstatistik: 630.000 Flüchtlinge leben in Deutschland

Faktizierende Nachrichten

Daten gegen Spekulationen, ein Beitrag zur Versachlichung

zahl* AND flüchtling* OR *statistik* OR asyl*

10.03. 2015

15.04. 2015

Rücktritt des Bürgermeisters von Tröglitz

Politik/sozialer Konflikt

Radikalisierung des rücktritt AND bürgermeisProtests und Defensive ter AND tröglitz/tröglitz* der Politik OR flüchtlingsheim* OR flüchtlingsunterkunft OR asyl*/tröglitz* OR flüchtlingsheim* OR flüchtlingsunterkunft OR asyl*

Brand des geplanten Flüchtlingsheims in Tröglitz

Kriminalität/ sozialer Konflikt

Beginn verschiedener Brandstiftungen; Ambivalenz in der Politik; Zulauf für die AfD

E1

E2

E3

Aus­ 05.04. nahme­ 2015 situati­ on (Teil von E3) 19.04. 2015

04.05. 2015

Tote im MittelPolitik/Konflikt meer – Deutsch- EU-Staaten land fordert europäische Flüchtlingspolitik – 10-Punkte-Plan

Dublin-Abkommen scheitert de facto; Probleme (Grenzen, Schengen) werden zerredet

10.08. 2015

23.08. 2015

Beginn der sog. „Flüchtlingsflut“ mit vielen Unglücksfällen, Übergriffen usw.

Politik/Sozialverhalten/Moral-/ Wertekonflikte

Beginn der politischen Flücht* OR Asyl* Wertedebatte um Menschenrechte einerseits und Lösungskapazitäten andererseits; Bundesländer: Zumutbarkeitsdebatte

24.08. 2015

30.08. 2015

Krawalle in Heidenau

Sozialer Konflikt/ Kriminalität

„Neuer“ Rassismus in Deutschland; Pegida Nutznießer; Politiker verschärfen Polari­ sierung

E4

E5a

E 5b

10-Punkte-Plan OR 10 Punkte Plan OR ZehnPunkte-Plan OR Zehn Punkte Plan OR europäi­ sche Flüchtlingspolitik OR Merkel OR Atalanta OR Mittelmeer OR Mare Nostrum OR Flüchtlingsgipfel OR Triton

Flücht* OR Asyl*

21


31.08. 04.09. in Merkels Aussage Politik/appellatiDie „Flüchtlingskrise“ den Medien 2015 2015 „Wir schaffen ves Handeln E5c das“ Aus­ 03.09. nahme­ 2015 situati­ on (Teil von E5c)

Bild von totem Jungen am Strand Bodrum

Symbol für Hilf­ losigkeit

E8

Sinnbild für Flucht­ elend; indirekt das schmutzige Geschäft der Schleuserbanden

Flücht* OR Asyl*

Flücht* OR Asyl* AND Politik/ Aufnahme neuer grenz* Differenzen mit EU- Flüchtlinge; Verteilung auf BundesNachbarstaaten länder (Königsteiner Schlüssel); Probleme an der Grenze Deutschland/Dänemark

05.09. 2015

18.09. 2015

Grenzöffnungen und neue Grenzkontrollen

05.10. 2015

28.10. 2015

Politik/ Debatte TranParteienkonflikt sitzonen und „Obergrenze“ für Flüchtlinge in der Union

„Asylpaket“ – öffentliche Reaktionen und Kontroversen; neuer Koalitions-Flüchtlingsgipfel

Obergrenze* OR Transitzone*

03.01. 2016

16.01. 2016

SilvesterereigSozialer Konflikt/ nisse in Köln und Normverstöße anderen Städten (Übergriffe auf junge Frauen)

Verzögerte Infos durch Behörden und Leitmedien; öffentliche Debatte über Glaubwürdigkeit von Politik und Medien; Verschärfung der Polarisierung

(Silvester* OR Köln OR Hamburg) AND (Flücht* OR Asyl*)

E6

E7

Der Satz wird in den Flücht* OR Asyl* Medien zum Motto und verschärft die Polarisierung

Datenbasis: ARD-Mediathek (Tagesschau) sowie Online-Archive Tagesschau und Spiegel Online. Quelle: Eigene Darstellung

Insgesamt zeichneten die beiden reichwei-

Zweitens erfahren sie, dass es am Rande

testarken Onlinemedien im Unterschied zur

unserer Wohlstandsgesellschaft politisch

Tages­schau ein informationsreiches, stark

radikalisierte Außenseiter gibt, Krawall­

ausdifferenziertes Bild des Geschehens. Dabei

macher, die ihren Fremdenhass lauthals

vermittelten die Berichte im Laufe des ersten

auf die Straße tragen, und dass manche von

Halbjahres 2015 drei sich widerstreitende Bot-

ihnen zu Brandstiftern werden.

schaften:

Die dritte Botschaft entspricht jener der Tageschau: Die anscheinend ziellos agierende,

22

Erstens schauen die User gleichsam von

intern uneinige, auch zerstrittene Politik ver-

den Zinnen der „Festung Europa“ zu, wie

mag die zunehmenden Herausforderungen

in Nordafrika, im Nahen Osten und in Fern-

durch Flüchtlinge und Asylsuchende wohl

ost viele Millionen Menschen auf der Flucht

rhetorisch, nicht aber praktisch befriedigend

sind; sie schauen zu, wie Flüchtlinge die

zu lösen. Ihr „Palaver“ erzeugt ein hand-

rettenden Küsten und Grenzen erreichen,

lungspolitisches Vakuum, in das die rechts-

viele aber auch, alleingelassen, auf grausa-

nationalen Fremdenhasser mit ihren Parolen

me Weise umkommen.

und Aktionen auf der Straße hineinstoßen.


Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

2. Die prägenden Mediener­eignisse im Jahr 2015

(Handlungsort Inland oder „Brüssel“) und Konflikt (konfligierende Interessen und interagierende Akteure – siehe Tab. 1) mit der

Im Folgenden sollen mit einer textinhaltlichen

Wahrnehmung aus Sicht der Rezipienten ver-

Analyse die zuvor berichteten Eindrücke quan-

knüpft. Dies geschah vermittels einer begrün-

titativ ausdifferenziert werden. Allerdings ist

deten Ereignisbewertung durch jede und jeden

eine Vollerhebung sämtlicher Medienberichte

der fünf am Projekt tätigen Mitarbeiter*innen

zu diesem Großthema vom Aufwand her nicht

(keine Journalisten). Anschließend wurden die

zu leisten. Angesichts der Dynamik des Gesche-

Ergebnisse in einer moderierten Gesprächs-

hens und der Vielfalt der Akteure und Ereignisse

runde überprüft und bereinigt. Übrig blieben

Zehn Einzelfall-

hätte auch eine auf Repräsentativität angelegte

zehn relevante Ereignisthemen (siehe Tab. 1).

studien

Stichprobe in die Irre geführt. Dasselbe gilt für

Diese Ereignisthemen definieren unsere

Clusteranalysen (Verfahren zur Entdeckung von

Untersuchungsphasen. Wir werden sie in Teil 3

Ähnlichkeitsstrukturen), die mögliche Bewer-

in der Art von Fallstudien detailliert beschrei-

tungen (Attribuierungen) in der Berichterstat-

ben und ihre mediale Vermittlung bzw. Thema-

tung herauszufiltern suchen.22 Wir haben uns

tisierungsweise durch die drei ausgewählten

daher von Forschungen über mutmaßliche Me-

Zeitungen unter die Lupe nehmen.

dienwirkungen leiten lassen und uns am Theo­

In diesem ersten Teil über das nachricht-

rem der Agenda-Setting-Funktion der Medien

liche „Grundrauschen“ binden wir die zehn

orientiert.23 Davon ausgehend haben wir die

Untersuchungsphasen zu einem Analysekor-

Frage gestellt: Welche unter den vielen medialen

pus zusammen. Er umfasst insgesamt zwan-

Zwanzig

Großereignissen waren im chronologischen Ver-

zig Wochen (wobei die Stichproben der Hoch-

Untersuchungs-

lauf mutmaßlich für Einstellungsänderungen,

phase den Zeitraum vom 10. August bis 18.

­wochen

für die Meinungs- und vielleicht auch Willens-

September umfassen) und soll auf der Struk-

bildung einflussstark? Jede identifizierte Phase

turebene Aufschluss darüber geben, wie die

sollte nach dem Muster einer Einzelfallstudie

meinungsführenden Informationsmedien den

untersucht und mit den anderen Phasen im chro-

Themenkomplex „Flüchtlinge“ während der

nologischen Nacheinander verglichen werden.

Ereignisphasen zwischen Februar 2015 und

Für dieses Verfahren haben wir das Kriterium „Relevanz“ der Nachrichtenwerte Nähe

Mitte Januar 2016 behandelt und bewertet haben.

22 Vgl. hierzu die Studie von Goedeke Tort u. a. (2016), deren Framing-Ansatz (nach Entman 1993) zu nicht wirklich belastbaren Ergebnissen kommt, weil sie für den gesamten Untersuchungszeitraum – das Jahr 2014 – die intervenierende Variable „Ereignisse“ unberücksichtigt lässt (Näheres Goedeke Tort 2016: 500 ff.). 23 Dieses von McCombs (1972) und Weaver (1977; 1980) entwickelte, in der empirischen Forschung seit Jahrzehnten gut etablierte Wirkungsmodell unterstellt, dass die Medien mit ihrer Art der „Thematisierung“ dann wirksam sind, wenn die Menschen das fragliche Ereignisthema für relevant halten, aber in der Kenntnis und Einschätzung unsicher sind. Hohe Relevanz und hohe Unsicherheit steigern das Orientierungsbedürfnis und in der Folge auch die Wirkung des Medieninhalts (i. S. der Einstellungsänderung) (vgl. Schenk 2007: 465 ff.; Bonfadelli/Marr 2008: 131 ff.).

23


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

3. Die Leitmedien und ihre Vermittlungsleistung

Deutschlands Journalisten durchführen. Unter den Printmedien wurden diese Titel am häufigsten genannt: Süddeutsche

Zunächst gilt es zu klären, was eigentlich Mei-

Zeitung, Der Spiegel, Frankfurter All­

nungsführer sind. Wenn es zutrifft, dass die aus-

gemeine. Unter den Fernsehnachrichten

gemachten zehn Großereignisse das Potenzial

war es mit großem Vorsprung die ARD-

besaßen, drängende Orientierungswünsche zu

Tagesschau. Seither ist der Begriff des

bedienen und auf die Meinungsbildung Einfluss

Leitmediums zwar differenziert worden

zu nehmen, dann ist dies der Vermittlungsleis-

(Qualitäts-, Prestige- und/oder Eliteme-

tung solcher Medien zuzuschreiben, die auf die

dien). Auch führte der Medienwandel zu

anderen in die Breite wirkenden Medien prä-

Verschiebungen im Ranking, weil inzwi-

genden Einfluss nehmen und so die öffentliche

schen die Onlineangebote vieler Medien-

Meinung (im Sinne von Noelle-Neumann 1980)

häuser an Reichweite und Reputa­tion ge-

Leit- und

beeinflussen. Was diese sogenannten Leit- oder

wonnen haben (vgl. u. a. Neuberger 2012;

Folgemedien

Elitemedien auszeichnet und wie sie wirken, ist

ARD/ZDF-Onlinestudie 2015). Doch die

seit vielen Jahren eine in den Medienwissen-

mit dem Begriff Leitmedium verbundene

schaften intensiv bearbeitete Fragestellung.

These, dass sich die Medienöffentlichkeit (auch) daran orientiert, was und wie diese

Exkurs: „Eine besondere Rolle bei der

medialen Meinungsführer die großen Er-

Orientierung von Journalisten an ande-

eignisthemen aufbereiten, hat sich nicht

ren Journalisten spielen die sogenann-

verändert, sie wurde mehrfach bestätigt

ten Leitmedien“, schrieben drei Medien-

(Krüger 2013: 101 ff.).

wissenschaftler vor zehn Jahren in ihrer

24

damals viel beachteten Journalismus-

Gut belegt sind Funktionsmodelle, die „Leit-

Enquete „Die Souffleure der Medienge-

und Folgemedien“ unterscheiden (Mathes/

sellschaft“. Das wichtigste Merkmal eines

Czaplicki 1993; Jarren/Donges 2002) und den

Leitmediums war für sie, dass es „häufig

Leitmedien quasi eine Pilot-, den Folgemedien

oder regelmäßig von besonders vielen

eine Schwarmfunktion zuschreiben. Leitme-

Journalisten genutzt wird – als Informa-

dien werden durch eine Reihe sie auszeich-

tionsquelle und zur Orientierung für die

nender Kriterien gekennzeichnet, die auch mit

eigene Berichterstattung“ (Weischenberg

dem Label „Qualitätsjournalismus“ etikettiert

u. a. 2006: 133 f.). Die Forscher ließen nach

werden (vgl. Weischenberg u. a. 2006: 133 f.;

Maßgabe dieser Definition („Welche Me-

Wilke 2009: 42 ff.).

dienangebote nutzen Sie beruflich häu-

Dieses Label gilt unstrittig für die überre­

fig bzw. regelmäßig?“) 1993 und erneut

gional verbreiteten Tageszeitungen Süddeut-

2005 eine Repräsentativbefragung unter

sche Zeitung und Frankfurter Allgemeine; we-


Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

niger eindeutig scheint die Reputation der drit-

Der Untersuchungsgegenstand

24

ten überregionalen Zeitung Die Welt zu sein.

Um mit Hilfe der Inhaltsanalyse Antworten zu

Allerdings findet das reichweitestarke Welt-

finden, wurden zunächst über Google+ und (zur

Ensemble aus zwei Tages- und einer Sonntags-

Kontrolle) über die jeweiligen Zeitungsarchive

zeitung auch bei den elitären Zielgruppen hohe

mit den in Tabelle 1 genannten Suchstrings alle

Beachtung (vgl. LAE 2015 ). Zudem zeigt diese

redaktionell verantworteten Beiträge ermittelt,

Zeitung eine gegenüber den beiden anderen Ti-

in denen das Ereignisthema im Kontext „Flücht-

teln abweichende politische Ausrichtung. Von

ling“ vorkommt (nicht berücksichtigt wurden

daher vermitteln diese drei Blätter drei eigen-

also Leserbriefe, fiktionale Texte, Advertorials

sinnige Sichtweisen auf die Ereigniswelt und

und dergleichen). Diese Texte wurden durchge-

bilden – so möchte man glauben – ein breites

sehen, ob sie tatsächlich im Zusammenhang

Themen- und Meinungsspektrum ab.

mit dem aktuellen Geschehen stehen und ge-

25

26

Aufgrund dieser Überlegungen wurden

mäß Erscheinungsdatum dem entsprechenden

Mikroanalyse

die genannten drei Tageszeitungen für die

Großereignis zuzuordnen sind. Über diese Ar-

der Leitmedien

Fein­analyse herangezogen. Dabei verfolgten

beitsschritte wurden 1.687 Beiträge der werk-

wir zwei Ziele: Zum einen sollte die zunächst

täglich erscheinenden Zeitungen Welt, SZ und

kursorisch gewonnene Übersicht auf die zehn

FAZ identifiziert und als Volltexte in einer eige-

Ereignisthemen heruntergebrochen und die

nen Datenbank abgelegt.27 Da wir vermutlich

jeweilige Informationsleistung der Medien be-

sämtliche Beiträge zu den Ereignisthemen rund

schrieben werden. Das zweite Ziel steht unter

um „Flüchtlinge“ in den Zeitintervallen (siehe

der leitenden Forschungsfrage: Wie entwickel-

Tab. 1) erfasst haben, handelt es sich (bezogen

te sich die medienvermittelte Dynamik des The-

auf die jeweilige Ereignisphase und den Gegen-

mas „Flüchtlinge in Deutschland“? In Unter-

stand) um eine Vollerhebung. Sie stellt für die

Vollerhebung

fragen gegliedert: Wer alles kam mit welchen

Inhaltsanalyse die Grundgesamtheit dar. Als

zum Thema

Aussagen (Inhalten) in den Leitmedien wann

Analyseeinheit gilt der in sich geschlossene

„Flüchtlinge“

zu Wort – und wer nicht? Welche Wertemuster

Text mit Überschrift (d. h. keine redundanten

sind wann in den Berichtskontexten und Kom-

Elemente wie Inhaltsverzeichnisse, Verweise,

mentaren erkennbar?

Anrisse u. Ä.).

24 Die Tageszeitung (taz) und die Frankfurter Rundschau würden das politische Meinungsspektrum sinnvoll erweitern und abrunden. Allerdings besitzen sie keine hinreichend große Reichweite in den genannten Zielgruppen. Die BildZeitung besitzt Reichweite; trotz mangelnder reputativer Glaubwürdigkeit hat sie großen Einfluss auf die Themen­ agenda der Medien; deshalb haben wir auch sie in unsere Studie einbezogen. 25 Unter den Entscheidungsträgern mit einer Reichweite von rund 10 Prozent ähnlich wie die FAZ (http://www.m-cloud. de/lae2015/welt1.html; abgerufen Januar 2017). Einer von der FAZ in Auftrag gegebenen Eliten-Studie zufolge sprechen die Eliten weiterhin diesen Zeitungen die größte Glaubwürdigkeit zu. Vgl. http://meedia.de/2015/06/24/lae-2015-diese-print-und-online-medien-lesen-entscheider/ (abgerufen Juni 2017). 26 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass diese Rollenzuschreibung mit der Ausbreitung des Internets und der sich ausfächernden Palette an Webmedien und -plattformen zumal bei den jüngeren Zielgruppen an Kontur verliert. 27 Durchsucht wurden die in den zwanzig Wochen erschienenen 360 Zeitungsausgaben. Weitere Informationen zum Datenbank-Korpus können online eingesehen werden (siehe Hinweis S. 147).

25


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Tabelle 2: Anzahl der Beiträge je Zeitung zu den Ereignisthemen betreffend Flüchtlinge 2015/16

Zahl der Beiträge

Anteil

Frankfurter Allgemeine Zeitung

615

36,5 %

Süddeutsche Zeitung

578

34,3 %

Die Welt

494

29,3 %

Gesamt

1.687

100,0 %

Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, n=1.687. Quelle: Eigene Darstellung

Intensität der Berichterstattung

Bezogen auf alle Ereignisse, das heißt aufs

Der Häufigkeitszählung zufolge hat die FAZ die

ganze Jahr, sind die Volumenunterschiede in-

zehn Ereignisse am intensivsten behandelt,

dessen marginal. Mit anderen Worten: Obwohl

Die Welt dagegen relativ am knappsten (siehe

es sich – im Rahmen des Gesamtthemas Flücht-

Tab. 2). Nimmt man jedoch die Textumfänge (Zei-

linge – um unterschiedliche Arten von Ereignis-

chenanzahl) als Maßstab (siehe Tab. 3), dann

sen an unterschiedlichen Austragungsorten mit

Die „Welt“

haben die FAZ und Die Welt grosso modo etwa

jeweils sehr verschiedenen Akteuren handelt,

bringt am

die gleichen Textmengen produziert, die SZ ge-

geben die drei Leitmedien dem gesamten The-

meisten Text

ringfügig (10 Prozent) weniger. Die relativ hohen

menkomplex in etwa denselben Stellenwert.

Standardabweichungen

erklären sich durch

Dies kann als Beleg dafür genommen werden,

die Mischung von kurzen Meldungen und langen

dass die Redaktionen der drei Qualitätszei-

Berichten. Setzt man beide Dimensionen in Bezie-

tungen ihren Nachrichtenstoff in quantitativer

hung, dann hat Die Welt weniger, im Durchschnitt

Hinsicht nach ähnlichen Relevanzkriterien und

aber die längsten Beiträge publiziert: Sie sind im

etwa denselben Professionsroutinen aus dem

Mittel gut 600 Zeichen länger als die der FAZ und

tagtäglichen Informationsinput auswählen, auf-

800 Zeichen länger als die der SZ. Andersherum:

bereiten und mit Eigenleistungen erweitern. Es

Die Süddeutsche brachte zwar 66 Beiträge mehr,

wird sich noch zeigen, ob dies auch für die inhalt-

insgesamt aber ca. 170.000 Zeichen weniger als

lichen Dimensionen – die Textaussagen – gilt.

28

Die Welt. Diese großen Unterschiede stehen für unterschiedliche publizistische Konzepte.

Wenn wir das Informationsangebot (nach Umfängen) den zehn Ereignisphasen zuord-

28 Die empirische Standardabweichung gibt an, wie weit die Stichprobe im Schnitt um das arithmetische Mittel (hier: Mittelwert) streut.

26


Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

Tabelle 3: Umfang der Beiträge je Zeitung (Anzahl Zeichen) zu den Ereignisthemen

Mittelwert

Anzahl Texte (n=)

Standardabwei­ chung

Summe Gesamtumfang

Frankfurter Allgemeine Zeitung

3.460

494

470

1.705.988

Süddeutsche Zeitung

3.211

483

376

1.551.131

Die Welt

4.122

414

1.445

1.706.556

Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, n=1.687. Quelle: Eigene Darstellung

nen, zeigen sich bereits einige Besonderheiten

spektakulär und emotionalisierend wirken,

(siehe Tab. 4): Dem abstrakten, politisch zen-

gibt Die Welt relativ viel Raum (hier: E5a und

trierten Thema der EU-Flüchtlingspolitik (E4)

E8).

gibt die FAZ doppelt so viel Raum wie die beiden anderen Blätter. Auch der Slogan der Bun-

Mehr als ein Viertel Meinungsbeiträge

deskanzlerin „Wir schaffen das“ (E5c) findet in

Wie wurden die Ereignisse aufbereitet und

der FAZ die relativ größte Beachtung. Über die

vermittelt? Mit dieser Frage kommen wir zur

aggressiven fremdenfeindlichen Vorgänge in

inhaltlichen Textanalyse. Sie wurde durchge-

Tröglitz (E3) äußert sich die Süddeutsche im

führt mit einem auf unsere Forschungsfragen

Vergleich zu den anderen Blättern eher beiläu-

ausgerichteten Kategoriensystem anhand ei-

fig (hier immer im Kontext „Flüchtlinge“). Den

nes sorgfältig getesteten Codebuchs.29

inhaltlich vergleichbaren Ereignissen in Heide-

In der Variablen „Darstellungsformen“ ha-

nau hingegen gibt sie sehr viel mehr Raum (das

ben wir alle Kategorien so definiert, wie sie im

könnte mit Zufällen, etwa der Präsenz eines

Journalistenberuf gehandhabt und in der Jour-

Reporters am Ort, zu tun haben). Vorgängen,

nalistenausbildung gelehrt werden.

die räumlich nahe sind (Themen Grenzöffnung,

Demnach (siehe Tab. 5) brachten die

Transitzonen), schenkt die Süddeutsche mehr

drei Tageszeitungen neben den dominant

Aufmerksamkeit. Dies ist naheliegend, da die

nachrichtlich-informierenden Texten (rund

SZ ihrer Verbreitung zufolge in erster Linie

60 Prozent) erstaunlich selten dialogische

als Regionalzeitung fungiert. Ereignissen, die

Formen (4,4 Prozent Interviews), eher selten

Große Meinungsfreude

29 Das Codebuch kann online eingesehen werden (siehe Hinweis auf S. 147).

27


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien Tabelle 4: Anzahl der Beiträge je Ereignisphase in den drei Zeitungen zu den Ereignisthemen

E1: Drei Länderchefs

E2: Statistik

E3: Tröglitz

E4: Gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik E5a: Rapide Zunahme der Flüchtlingszahlen

E5b: Heidenau

E5c: „Wir schaffen das“

E6: Grenzöffnung/Grenzkon­ trollen E7: Obergrenzen und Transit­ zonen

E8: Silvesterereignisse

Gesamt

Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Süddeutsche Zeitung

Die Welt

Gesamt

10

7

6

23

43,5 %

30,4 %

26,1 %

100,0 %

15

12

12

39

38,5 %

30,8 %

30,8 %

100,0 %

23

8

21

52

44,2 %

15,4 %

40,4 %

100,0 %

43

21

21

85

50,6 %

24,7 %

24,7 %

100,0 %

102

97

106

305

33,4 %

31,8 %

34,8 %

100,0 %

95

104

78

277

34,3 %

37,5 %

28,2 %

100,0 %

110

85

76

271

40,6 %

31,4 %

28,0 %

100,0 %

29

46

27

102

28,4 %

45,1 %

26,5 %

100,0 %

109

107

69

285

38,2 %

37,5 %

24,2 %

100,0 %

79

91

78

248

31,9 %

36,7 %

31,5 %

100,0 %

615

578

494

1.687

36,5 %

34,3 %

29,3 %

100,0 %

Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, n=1.687. Quelle: Eigene Darstellung

28


Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

Tabelle 5: Die Darstellungsformen aller redaktionellen Beiträge zu den Ereignisthemen

Häufigkeit

Anteil

Bericht

820

48,6 %

Kommentar/Glosse

296

17,5 %

Meldung

117

6,9 %

Reportage/Porträt

108

6,4 %

Interview

74

4,4 %

Bildnachricht

7

0,4 %

Schlagzeile, Anreißer

32

1,9 %

Serienteil

26

1,5 %

Sonstiges

48

2,8 %

Fremdbeitrag

159

9,4 %

1.687

100,0 %

Gesamt

Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, n=1.687. Quelle: Eigene Darstellung

augenscheinlich recherchierte Erzählstücke

heißt: Ihr Bezugssystem ist in erster Linie die

Auf die Politiker

(6,4 Prozent) – und im Vergleich dazu sehr

Politik, ihr Interesse gilt den Handlungsop­

fixiert

häufig meinungsbetonte Beiträge: Kommen-

tionen der politischen Akteure. Wir werden im

tare, Analysen, Leitartikel. Wenn man die

Fortgang der Inhaltsanalyse sehen, ob sich

meinungsbetonten Beiträge der Gastauto-

dieses Zwischenfazit bestätigen wird.

ren (Kategorie Fremdbeiträge) hinzurechnet, zählt jeder vierte Beitrag zu dieser Kategorie.

Akteure/Sprecher: Monolog, Diskurs

Pointiert gesagt: Die Akteure, die Beteiligten

oder „Palaver“?

und Betroffenen kamen in den drei Leitmedi-

Wer alles kommt im Laufe des Großthemas

en vergleichsweise selten im O-Ton zu Wort.

„Flüchtlinge“ zu Wort – und wer nicht? Diese

Die Journalisten waren offenbar – neben dem

Frage bezieht sich auf die Akteure und Spre-

tagesaktuellen Nachrichtengeschäft – mit

cher, die in den Berichten als Wissende und

der Bewertung, Beurteilung und Deutung der

Beobachtende, als Handelnde und Betroffene

Ereigniszusammenhänge beschäftigt. Das

namentlich genannt werden.

29


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Diese Kategorie fasst ein zentrales Merk-

der in der Kommentierung zutage tretenden

mal der Informationsvermittlung. Würden wir

Werteauffassung in Teil 3 untersuchen. Aller-

nun alle erfassten Texte inklusive der Kommen-

dings verbleibt eine gewisse Unschärfe, da die

tare und Glossen – also der interpretierenden

Gastautoren in ihren Beiträgen meist nicht be-

Beiträge der Journalisten – einbeziehen, wür-

richten, sondern einordnen und interpretieren.

den die Ergebnisse verfälscht. Wir haben des-

In diesem reduzierten Textcorpus (siehe

halb für die folgende, die Informationsleistung

Tab. 6) gehören rund vier von fünf Texten zu

analysierende Untersuchung die als Meinungs-

den sogenannten tatsachenbetonten Darstel-

beitrag (wie: Leitartikel, Kommentar) oder Es-

lungsformen, deren Hauptfunktion die Infor-

say kenntlichen und entsprechend codierten

mationsvermittlung ist.

296 redaktionellen Texte ausgenommen. Diese

Wir haben alle natürlichen und juristi-

werden wir gesondert unter dem Gesichtspunkt

schen Personen, die in den Beiträgen genannt

Tabelle 6: Akteure/Sprecher (A/S) in den Texten nach Darstellungsformen* zu den Ereignisthemen: Häufigkeiten und Anteile

Darstellungsform

Anzahl Texte

Prozentualer Anteil an allen Texten

Anzahl Akteure/ Sprecher

Prozentualer Anteil an allen A/S

Bericht

820

59,0 %

7.029

76,3 %

Meldung

117

8,4 %

281

3,0 %

Reportage/Porträt

108

7,8 %

1.209

13,2 %

Interview

74

5,3 %

74

0,8 %

Bildnachricht

7

0,5 %

9

0,1 %

Schlagzeile, Anreißer

32

2,3 %

13

0,1 %

Serienteil

26

1,9 %

175

1,9 %

Sonstiges

48

3,5 %

270

2,9 %

Fremdbeitrag

159

11,4 %

156

1,7 %

1.391

100 %

9.216

100 %

Gesamt

* ohne redaktionelle Meinungsbeiträge Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16; reduziertes Textkorpus n=1.391. Quelle: Eigene Darstellung

30


Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

wurden, als Akteure/Sprecher ermittelt.30 Ins-

lich. Da sich unsere Akteursanalyse auf die

gesamt wurden 9.216 Akteure/Sprecher identi-

als bedeutsam präsentierten Personen fokus-

fiziert, je Text rund sieben Personen (siehe Tab.

sieren soll, haben wir Akteure/Sprecher dann

6 und 7). Nur jeder zehnte Text – meist Kurz-

genauer untersucht, wenn sie in einem Bericht

meldungen, Faktenberichte, Anrisse – kommt

(a) als erste und (b) relativ am häufigtsen ge-

ohne Personennennung aus; in der FAZ sind

nannt werden – eine Gewichtung, die mit den

es erstaunlich viele derartige, in der Welt fast

Relevanzkriterien des Nachrichtenjournalis-

keine. Umgekehrt nennen die Berichte der Welt

mus und dem Nachrichtenfaktor „Prominenz“

Relevante

relativ viele Akteure/Sprecher, was vermutlich

gut übereinstimmt (vgl. Weischenberg 2001:

Akteure

mit dem größeren Textumfang der Beiträge zu

81 ff.). Über eine Stichprobe aus Texten der

im Fokus

tun hat. Journalistisch argumentiert, nutzen

drei Zeitungen haben wir die Validität dieses

die Welt-Redakteure mehr Akteurskontakte,

Kriteriums getestet. In den 1.391 erfassten

um unterschiedliche Positionen zu zeigen, was

Berichten entsprachen 3.308 Akteure/Spre-

auf eine breitere Recherche schließen lässt.

cher diesem Relevanzkriterium. Dabei fällt als Erstes auf, dass unser Großthema in den

Wer ist wichtig – und wer nicht?

drei Leitmedien offenbar von Männern domi-

Die Rollen der in den Texten genannten Akteu-

niert wird, und zwar im Verhältnis: 3:1 (siehe

re/Sprecher sind natürlich sehr unterschied-

Tab. 8). Überraschend ist auch die Präsenz der

Tabelle 7: Anzahl der Akteure/Sprecher (n=9.216) in den Berichten zu den Ereignisthemen je Zeitung

Gesamtzahl A/S (n=)

A/S pro­ zentual

Durch­ schnittliche Anzahl A/S pro Beitrag

Beiträge ohne A/S (n=)

Prozen­ tualer Anteil Beiträge ohne A/S

Frankfurter Allgemeine Zeitung

2.988

32,4 %

7,00

67 (von 494)

13,6 %

Süddeutsche Zeitung

3.138

34,0 %

7,16

45 (von 483)

9,3 %

Die Welt

3.090

33,6 %

7,56

5 (von 414)

1,2 %

Gesamt (n=)

9.216

100 %

7,23

117 (von 1.391)

8,4 %

Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, Anzahl Texte: 1.391. Quelle: Eigene Darstellung 30 Definitionen können im Codebuch online eingesehen werden (siehe Anhang, „Zur Methodologie“, Hinweis S. 147).

31


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Institutionen und Einrichtungen: Rund jede

Themen (vgl. Eilders u. a. 2004; Berkel 2006).

dritte Akteursnennung gehört zur institutio-

Für ein Themenfeld jedoch, in dessen Mittel-

nellen und insofern abstrakten Kategorie. Bei-

punkt die vor Ort zu leistende Aufnahme, Un-

de Ausprägungen finden wir deshalb erstaun-

terbringung, Betreuung und Begleitung von

lich, weil davon auszugehen ist, dass die mit

vielen Hunderttausend Individuen steht, war

dem Thema „Flüchtlinge“ befassten Akteure

dies nicht zu erwarten. Doch den drei Leitme-

(jedenfalls auf der regionalen Vollzugsebene)

dien zufolge fand diese Ereigniskette in den

genderneutral zusammengesetzt und von bür-

Konferenzräumen der Politik statt und nur aus-

gergesellschaftlichen Impulsen getragen sind.

nahmsweise draußen bei den Beteiligten und

Wen oder was (Zuständigkeitsbereiche)

Betroffenen in den Ländern und Städten (häu-

vertreten diese relevanten Akteure bzw. Spre-

figer in den Berichten der Welt, ganz selten in

cher in den Zeitungsberichten? Nach den Zu-

der FAZ).

Sprecher

ständigkeiten (siehe Tab. 9) dominiert der

Unterhalb der Landesebene, in den Städ-

der Institutionen

politisch-institutionelle Bereich (Regierungen,

ten vor allem, kümmern sich zahlreiche Ad-hoc-

dominieren

Parteien, Ministerien mit den zugehörigen Be-

Initiativen, Helfergruppen, NGOs und kirchli-

hörden) die gesamte Berichterstattung. Ähnli-

che Einrichtungen um die Betreuung und Ver-

che Häufigkeiten kennt man aus Analysen des

sorgung der Flüchtlinge – einerseits. Anderer-

Politikteils von überregionalen Zeitungen im

seits, so weiß man inzwischen, kam es gerade

Hinblick auf bundespolitische Vorgänge und

auf dieser subregionalen Ebene zu einem Zu-

Tabelle 8: Gender der Akteure/Sprecher (n=3.308*) in den Berichten zu den Ereignisthemen je Zeitung

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Süddeutsche Zeitung

Die Welt

Anteil am Mittel der drei Zeitungen

Männlich

49,6 %

50,4 %

47,7 %

49,2 %

Weiblich

14,1 %

15,9 %

17,2 %

15,7 %

Institutionen, Gruppen

36,3 %

33,8 %

35,1 %

35,0 %

Summe

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

*Ab Tab. 8 sind nur die als relevant identifizierten Akteure/Sprecher berücksichtigt (3.308 von n=9.216). Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, Anzahl Texte: 1.391. Quelle: Eigene Darstellung

32


Tabelle 9: Zuständigkeit der Akteure/Sprecher (n=3.308) in den Berichten über die Ereignisthemen je Zeitung

Frankfurter Allge­ meine Zeitung

Süddeutsche Zeitung

Die Welt

Anteil*

68,0 %

64,0 %

55,3 %

62,5 %

Verwaltung auf Bundes- und Landesebene

1,8 %

1,7 %

3,4 %

2,3 %

Wirtschaft

0,9 %

1,8 %

2,0 %

1,5 %

Kirche , Religion

0,9 %

1,7 %

1,4 %

1,3 %

Einrichtungen aus dem Bereich Kultur und Bildung

0,6 %

1,5 %

0,7 %

0,9 %

Soziale Einrichtungen, Medizin, Gesundheit, Rettungsdienst

0,7 %

1,1 %

2,3 %

1,4 %

Medien

3,3 %

4,7 %

3,9 %

4,0 %

Judikative

8,3 %

9,0 %

9,0 %

8,8 %

Militär

0,1 %

0,8 %

0,3 %

0,4 %

Interessenverbände

3,8 %

1,6 %

3,7 %

3,0 %

Internat. Nichtregierungs­ organisationen (NGOs)

0,6 %

0,5 %

0,4 %

0,5 %

Fachleute, Experten, Gutachter

0,5 %

0,4 %

0,9 %

0,6 %

Personen (keine Institutionen, keine Funktionsträger)

6,0 %

8,3 %

12,8 %

9,0 %

Unpersönliche Quellen

3,6 %

2,6 %

2,7 %

3,0 %

Sonstiges

0,9 %

0,3 %

1,2 %

0,8 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

Politik Ebene allgemein, institutionell, personenbezogen

Summe

* Anteil der jeweiligen Kategorie am Insgesamt (n) Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, Anzahl Texte: 1.391. Quelle: Eigene Darstellung

33


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Tabelle 10: Akteure/Sprecher des Bereichs „Medien“ (n=132) in den Berichten über die Ereignisthemen je Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung

Süddeutsche Zeitung

Die Welt

Anteil*

Rundfunk: Fernsehen und Radio

13,9 %**

5,6 %

2,4 %

6,8 %

Zeitung; Zeitschrift (online wie offline); Agentur; Bildagentur

38,9 %

22,2 %

40,5 %

32,6 %

Internet: Newsfeed, Blogs, Social Media u. Ä.

19,4 %

22,2 %

9,5 %

17,4 %

Journalist allgemein; Autor allgemein; sons­ tige Medienakteure und -institutionen

22,2 %

40,7 %

38,1 %

34,8 %

Sonstiges (z. B. Film: Schauspieler; Regis­ seure; Agenturen; Bildagenturen)

5,6 %

9,3 %

9,5 %

8,3 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

Summe

* Anteil der jeweiligen Kategorie am Insgesamt (n) ** Die Prozentwerte in den ersten drei Spalten in dieser und den folgenden Tabellen beziehen sich auf alle in der jeweiligen Zeitung genannten Akteure/Sprecher. Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, Anzahl Texte: 1.391. Quelle: Eigene Darstellung

ständigkeitschaos und zu Missmanagement;

der sogenannten Balkan-Route bedeutsamen

viele Profiteure und Glücksritter ergriffen hier

internationalen NGOs. Kaum Erwähnung fin-

die Gelegenheit.31 Über diese Vorgänge erfah-

den die zahlreichen kirchlichen Aktivitäten

ren die Leser der Leitmedien im Laufe des Jah-

mit ihren Leistungen und Problemen. Nur eine

res 2015 überraschend wenig. Praktisch un-

marginale Rolle spielen Akteure aus der Wirt-

erwähnt bleiben auch die im Zusammenhang

schaft (Betriebe und Unternehmen), obwohl

31 Erst im zweiten Halbjahr 2016 machten verschiedene Medien Behördenversagen und Missbräuche publik (z. B. „Integration von Flüchtlingen: Das System funktioniert immer noch nicht“, in: SPON vom 03.07.2016; „Über Gelderpressung“, in: SPON/Panorama 04.08.2016 sowie recherchierte Berichte in Lokalzeitungen).

34


Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

auf der wirtschaftspolitischen Ebene immer

Die mit dem Flüchtlingsthema befassten Ver-

wieder die erwünschte Integration der Asyl-

waltungsbehörden kommen in der Welt häufi-

bewerber in die Arbeitswelt gefordert wird.

ger zu Wort als in der Süddeutschen, obwohl

Wohlgemerkt, hier geht um die als relevant

Letztere einen umfänglicheren Regionalteil

definierten Akteure und Sprecher, nicht um

bewirtschaftet. Einen hohen Stellenwert ge-

das Insgesamt aller erwähnten Personen.

nießen Sprecher und Akteure der Strafverfol-

gungsbehörden (Polizei) und der Rechtspre-

Flüchtlingsthema ohne Flüchtlinge

chung – ein Indiz, dass Normabweichungen

Wenn die drei Leitmedien die anderen Medien

von den Journalisten als besonders relevant

zitieren, dann kommen Journalisten, Medien-

erachtet werden.

akteure und Blogger dreimal häufiger zu Wort

Nur jeder elfte der relevanten Akteure ist

als etwa Vertreter des aktiv handelnden Reli-

kein Funktionsträger und insofern ein Individu-

gions- und Kirchenpersonals. Überraschend

um. Wer zählt alles dazu? Am relativ häufigsten

häufig zitieren die Journalisten sich gegensei-

sind es Flüchtlinge bzw. Asylbewerber; in den

tig – fast zehnmal so häufig, wie Fachleute und

Berichten der Welt haben sie den stärksten Auf-

Experten genannt werden (siehe Tab. 9). Es ist

tritt (siehe Tab. 11). Bezogen auf das Insgesamt

in der Tat erstaunlich: In der laufenden Bericht-

aller Akteure/Sprecher in allen drei Zeitungen

erstattung über diesen vielschichtigen, heiklen

sind es indessen nur 4,5 Prozent. Zugespitzt

Fachleute spielen

Themenkomplex bleiben die Fachleute weitge-

formuliert: Das Flüchtlingsthema fand in der

keine Rolle

hend ausgespart – und dies, obwohl in Deutsch-

medialen Öffentlichkeit der Leitmedien (weit-

land schon seit Jahren eine intensive Islam- und

gehend) ohne Flüchtlinge statt. Dies gilt noch

Migra­tionsforschung betrieben wird. So man-

ausgeprägter für die Menschen, die es als An-

cher kompetente Wissenschaftler hätte Sach-

wohner, Nachbarn, Helfer, Widersacher usw.

dienliches, auch Lösungshilfen zu den akuten

unmittelbar mit den Vorgängen rund um die

Problemen auf der Vollzugsebene in den Diskurs

Flüchtlinge zu tun bekamen: In dem von den

prominent einbringen können – ein Manko, auf

drei Leitmedien gesteuerten Diskurs kommen

Die Helfer hatten

das ich in Teil 2 zurückkommen werde.

sie ähnlich selten zur Sprache wie die Flücht-

keine Presse

Allerdings gibt es zwischen den drei Leit-

linge. Praktisch keine Beachtung fanden Pri-

medien ein paar auffällige Unterschiede: In

vatpersonen, die sich als Geldgeber, Spender

der FAZ kommen die Akteure der Institutio-

u. Ä. engagierten.

nenebene am häufigsten, in der Welt deutlich

Die Feinanalyse der Akteure und Sprecher

weniger oft zu Wort; dafür treten Einzelper-

auf der politisch-institutionellen Ebene (ge-

sonen (konkret Beteiligte) in der Welt etwa

mäß Tab. 9 rund zwei Drittel aller als relevant/

doppelt so häufig auf. Unerwartet auch, dass

prominent identifizierten Akteure/Sprecher)

Vertreter der Wirtschaft in der Welt mehr (bzw.

unterstreicht die Dominanz der bundespoliti-

häufiger etwas) zu sagen haben als in der FAZ.

schen Systemebene deutlich (siehe Tab. 12).

Andere Journalisten werden oft zitiert

35


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Tabelle 11: „Einzelpersonen“ (n=298) in den Berichten über die Ereignisthemen je Zeitung

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Süddeutsche Zeitung

Die Welt

Anteil*

Flüchtling, Asyl­ bewerber

37,9 %

38,9 %

45,3 %

41,6 %

Privatperson, Bürger, Anwohner u.a.m.

28,8 %

21,1 %

23,4 %

23,8 %

Verursacher; Täter; Kämpfer

13,6 %

13,7 %

12,4 %

13,1 %

Prominenter – Sportler, Schauspieler etc. (in der Rolle als Privat­ person)

4,5 %

5,3 %

5,1 %

5,0 %

Sonstige

3,0 %

5,3 %

4,4 %

4,4 %

Betroffener, Opfer

1,5 %

7,4 %

2,2 %

3,7 %

ehrenamtlich Tätiger – z. B. Organisator, Kandidat für Wahlen –, parteilos

4,5 %

1,1 %

4,4 %

3,4 %

Teilnehmer – Ver­ anstaltung, Kursus, Versammlung, Wett­ bewerb u. Ä.

4,5 %

3,2 %

1,5 %

2,7 %

Augenzeuge – nicht judikativ

1,5 %

4,2 %

1,5 %

2,3 %

Spender; Sponsor (nur Einzelpersonen, keine Unternehmen)

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

Summe

* Anteil der jeweiligen Kategorie am Insgesamt (n) Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, Anzahl Texte: 1.391. Quelle: Eigene Darstellung

36


Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

Auch hier gibt es zwischen den drei Zeitungen

levanten Akteure treten im Namen einer Partei

„Berlin“ beherrscht

keine signifikanten Unterschiede. Deutliche

in Erscheinung. Da die Nennung der Partei­

die Nachrichten

Abweichungen zeigen sich, wenn es um die Ak-

zugehörigkeit zu den Standards journalisti-

teure auf der internationalen Bühne inklusive

scher Berichterstattung gehört, dürfte diese

der EU (Brüssel) geht: Hier bringt die FAZ sehr

Auszählung für die Kategorie „relevante Ak-

viel mehr prominente Stimmen als jedes der

teure/Sprecher“ vollständig sein. Demnach

anderen Blätter. Anders ist es im Inland. Dem

gehört jeder vierte Akteur (27,4 Prozent) zu ei-

Ranking zufolge vertritt nur jeder vierte Akteur

ner der drei Parteien der Regierungskoalition.

die (für den Vollzug entscheidende) Länderebe-

In den FAZ-Berichten dominieren die Akteure

ne, nur jeder zwölfte die kommunale Ebene. Allein die FAZ räumt dem – die Flüchtlingspolitik determinierenden – internationalen Konfliktfeld mit knapp 30 Prozent aller Politikakteure einen gewissen Stellenwert ein. Übrigens ergab die zusätzliche Feinauswertung des ohnehin marginalen Bereichs „Verwaltung“ (81 von 3.308 Personen), dass zwei Drittel der Akteure/Sprecher im Namen von Bundesbehörden sprechen. Nur in den Berichten der Welt wurden relevante Sprecher ausländischer Behörden entdeckt: insgesamt drei Personen. Die Feinauswertung des Sprecherbereichs „Interessenverbände“, mit 100 Nennungen ebenfalls marginal, macht einen Unterschied zwischen den Blättern deutlich: Zivilgesellschaftliche Akteure kamen, wenn schon, dann meist in der Süddeutschen Zei-

der CDU, in der Süddeutschen Zeitung haben jene der SPD die Nase vorn. Bei beiden Zeitungen mag auch das politische Lokalkolorit eine Rolle spielen. Dass die Süddeutsche Zeitung in Bayern erscheint, ist auch daran zu erkennen, dass Akteure und Sprecher der CSU in dieser Zeitung doppelt so häufig genannt werden wie in der FAZ oder der Welt (siehe Tab. 14). Für die Oppositionsparteien im Bundestag (Die Linke, Grüne) sprachen nur knapp 12 Pro-

Opposition hat keine Presse

zent aller Parteizugehörigen. Die rechtsnatio­ nalen – auf Bundesebene außerparlamentarischen, in Länderparlamenten aber gut vertretenen – Akteure der AfD waren für die Berichterstatter offenbar irrelevant. Dies gilt auch für die in verschiedenen Bundesländern und Kommunen aktiven parteilosen Gruppierungen und Wählergemeinschaften.

tung und fast nie in der FAZ angemessen zu

Politiker links- und rechtsaußen

Wort (siehe Tab. 13).

kamen nicht zu Wort Im Verlauf der für die Meinungsbildung in der

Regierungsparteien dominieren den Diskurs

Bevölkerung vermutlich prägenden Großereig-

Diese Dominanz der Politiker unter den Akteu-

nisse des Jahres 2015 wurde die politische De-

ren und Sprechern führt zur Frage nach deren

batte in den drei Leitmedien also massiv von

Parteizugehörigkeit. Befund: Rund ein Drittel

den Regierungsparteien dominiert: Akteure

aller in den Berichten namhaft gemachten re-

und Sprecher der drei Koalitionäre kamen rund

37


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Tabelle 12: Akteure/Sprecher des Zuständigkeitsbereichs „Politik“ (n=2.068) in den Berichten über die Ereignisthemen je Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung

Süddeutsche Zeitung

Die Welt

Anteil*

Bundesebene – Regie­ rung, Parlament, Minis­ terien, Kommissionen, Bundesrat

40,8 %

44,0 %

43,2 %

42,6 %

Landesebene – Regierung, Parlament, Ausschüsse, unabhän­ gige Kommissionen

22,4 %

23,6 %

29,2 %

24,8 %

Ausland – nichtdeut­ sche Regierungen, Parlamente, Ministe­ rien etc.

21,7 %

14,4 %

13,7 %

16,9 %

Regionale und kom­ munale Ebene – Land­ kreistag und Kreistag, Landrat, Stadtrat

8,1 %

10,4 %

8,0 %

8,9 %

EU-Ebene

5,7 %

6,0 %

4,1 %

5,4 %

Internationale Staaten­ bünde und Organisa­ tionen – UNO etc.

1,2 %

1,5 %

1,9 %

1,5 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

Summe

* Anteil der jeweiligen Kategorie am Insgesamt (n) Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, Anzahl Texte: 1.391. Quelle: Eigene Darstellung

38


Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

sechsmal häufiger zu Wort als jene der par-

Ebene, Umgang mit Nachbarstaaten, insbe-

Fixiert auf die

lamentarischen Oppositionsparteien. Akteure

sondere Österreich und Ungarn, Finanzierung)

Machtträger

der Parteien und Gruppen am rechten politi-

unterschiedliche Positionen und Lösungsideen

schen Rand – die in mehreren Bundesländern

in die öffentliche Debatte einbrachten. Hinzu

in den Parlamenten sitzen – hatten in der me-

kommt, dass deren Statements für das Ent-

dialen Öffentlichkeit zu diesem Thema offenbar

scheidungshandeln der Regierung gewiss

nichts Relevantes zu sagen. Wenn sie erwähnt

bedeutsamer und insofern relevanter sind

wurden, dann nur beiläufig.

als jene der Opposition – einerseits. Anderer-

Bei der Bewertung dieses Befundes sollte

seits wird insbesondere den Leitmedien für

aller­dings bedacht werden, dass die drei Re-

den gesellschaftlichen Diskurs eine verstän-

gierungsparteien zu aktuellen Kontroversen

digungsorientierte Funktion zugeschrieben

(wie: Aufnahme und Registrierung, Obergren-

(siehe Einführung). Damit verbindet sich die

ze, Asylrechtsreform, Intervention auf EU-

normativ begründete Vorstellung, die Leitme-

Tabelle 13: Akteure/Sprecher von Interessenverbänden (n=100) in den Berichten über die Ereignis­ themen je Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung

Süddeutsche Zeitung

Die Welt

Anteil am Mittel der drei Zeitungen

Bürgerinitiative, Bür­ gerbewegung, Bürger­ allianz

9,5 %

44,4 %

30,0 %

24,0 %

Gewerkschaft, Betriebsrat

31,0 %

22,2 %

15,0 %

23,0 %

Stiftung

11,9 %

5,6 %

2,5 %

7,0 %

7,1 %

5,6 %

10,0 %

8,0 %

Sonstige(r) Interessen­ verband; Interessen­ gemeinschaft

40,5 %

22,2 %

42,5 %

38,0 %

Summe

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

Wirtschafts- und Bauern­verbände

* Anteil der jeweiligen Kategorie am Insgesamt (n) Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, Anzahl Texte: 1.391. Quelle: Eigene Darstellung

39


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

dien hätten die öffentliche politische Debatte

größere Bevölkerungsteile vertreten fühlen,

Gespaltener

so zu orchestrieren, dass möglichst alle ge-

aus dem Diskurs ausgeschlossen, spaltet sich

Diskursraum

sellschaftlich relevanten Gruppen – soweit

der öffentliche Diskursraum und der gesell-

sie sich auf dem Boden des Grundgesetzes

schaftliche Zusammenhalt erodiert.

bewegen – daran teilnehmen (sollten). Wer-

Unter diesem Blickwinkel verlief der von

den Parteien und Gruppen, von denen sich

den drei Zeitungen veranstaltete Diskurs nicht

Tabelle 14: Parteizugehörigkeit der Akteure/Sprecher (n=3.308) in den Berichten über die Ereignis­ themen je Zeitung

Frankfurter Süd­ Allgemeine deutsche Die Welt Zeitung Zeitung

Anteil an allen A/S (Mittel der drei Zeitun­ gen)

Anteil der ein­ zelnen Parteien am Mittel aller Parteien (n=1.088)

SPD

8,6 %

10,4 %

10,4 %

9,8 %

29,9 %

CDU

15,3 %

9,0 %

11,6 %

11,9 %

36,4 %

CSU

4,6 %

8,0 %

4,0 %

5,6 %

17,0 %

2 %

3,1 %

3,4 %

2,9 %

8,7 %

FDP

0,4 %

0,1 %

0,8 %

0,4 %

1,3 %

Die Linke

0,5 %

1,1 %

1,5 %

1,0 %

3,1 %

AfD

0,1 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,1 %

NPD

0,6 %

0,1 %

0,2 %

0,3 %

0,9 %

Parteilos, andere Partei, Wählergemeinschaft

0,5 %

0,9 %

1,1 %

0,8 %

2,6 %

Keine Partei

67,2 %

67,3 %

67,0 %

67,2 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100 %

Die Grünen

Summe

Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, Anzahl Texte: 1.391. Quelle: Eigene Darstellung

40


Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

integrierend, sondern segmentierend. Ausge-

Anhang, „Zur Methodologie“, S. 147). Die

schlossen wurden nicht nur Radikale, sondern

Bericht­erstattung in der Welt und der Süd-

auch politische Akteure, die keinen fremden-

deutschen brachte den Dissens der Akteure

feindlichen Parolen folgten. Insofern repräsen-

häufiger bereits im Titel zur Sprache. Die dem-

tieren die drei Leitmedien jenen geschlossenen

gegenüber unaufgeregte, sachlichere Vermitt-

Leitmedien

Kommunikationsraum, den viele Ausgegrenzte

lungsweise der FAZ zeigt sich auch darin, dass

in der Filterblase

in ihren Kommentaren mit „Mainstream“ und

die Zeitung die Kontroversen und Meinungs-

„Systempresse“ etikettierten (zum Topos „Ge-

unterschiede zwischen Akteuren und Positio­

sellschaftliches Vertrauen“ vgl. Delhy/Verba-

nen keineswegs verschwieg, jedoch eher in

lyte 2016: 99 f.).

den Texten ausbreitete. Wir wollten wissen, welche Akteure/Spre-

Viel Raum für Konfliktthemen

cher in den Berichten dominieren, die Konflik-

Mit dem politischen Diskurs verbunden ist die

te, Kontroversen und Meinungsverschieden-

Frage, ob in der Berichterstattung der drei Zei-

heit thematisieren (siehe Tab. 16; n=738 Tex-

tungen die andauernde Konflikthaltigkeit des

te). Diese Berichte nannten insgesamt 1.932

Großthemas aufgezeigt wird: Werden über­

relevante Akteure/Sprecher. Von diesen sind

wiegend Ereignisnachrichten und Einquellen-

mehr als zwei Drittel (69,4 Prozent) der insti-

berichte publiziert – oder dominieren Berichte,

tutionellen Politik zuzuordnen: Parteien, Poli­

in denen Akteure mit unterschiedlichen Posi-

tiker, Regierungen, Parlamente. Die Einrichtun-

tionen (bzw. deren Argumente) referiert und

gen und Behörden, die mit dem Management

also Kontroversen bzw. Meinungsverschieden-

der eintreffenden Flüchtlinge direkt zu tun

heiten thematisiert werden? Unser Befund: Die

hatten, operierten offenbar frei von Konflikten

drei Medien zusammengenommen brachten

und Problemen, jedenfalls fanden wir im Laufe

2015 (mit rund 53 Prozent) tatsächlich häufiger

sämtlicher Untersuchungsphasen (inklusive

solche Texte, die über kontroverse Positionen

der „heißen“ Phase August/September/Okto-

Viel Platz für

berichteten (siehe Tab. 15). Konfliktfreie Nach-

ber) nur 37 Erwähnungen (1,9 Prozent). Dassel-

streitende Politiker

richten (im Sinne unserer Definition) brachte

be gilt für die freiwilligen Helfer, die Initiativen,

die Süddeutsche (mit rund 51 Prozent) relativ

freien Träger und sozialen Einrichtungen. Über

am häufigsten.

deren Probleme etwa mit Ämtern und Behörden

Fanden die Redaktionen den Konfliktstoff

wurde so selten authentisch informiert, dass

so brisant, dass die Leser schon in der Über-

wir alle diese Bereiche in die Sammelkatego-

schrift darauf gestoßen wurden? Hier ist die

rie „Sonstiges“ gepackt haben (4,6 Prozent).

FAZ zurückhaltend: Nur jeder fünfte Bericht

Ganz anders die Konflikte mit der Rechtsord-

machte den Konfliktgehalt bereits im Titel-

nung und die darin involvierten Personen (Ver-

komplex deutlich (Überschrift, Unterzeile

dächtige, mutmaßliche Täter und Opfer): Diese

etc. – weiterführende Informationen siehe

kamen deutlich öfter zur Sprache (jeweils rund

41


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

7 Prozent). Dabei wurde auf Sensationalisie-

deutlich seltener sind es Konflikte auf der

rung weitgehend verzichtet, was sich daran

Ebene der Bundesländer, die aber dank CSU/

ablesen lässt, dass solche Konflikte häufiger

Seehofer häufiger schon im Titelkomplex an-

nur im Berichtstext, nicht aber im Titelkomplex

gekündigt werden. Die zahlreichen und für das

formuliert wurden.

Schicksal von Hunderttausenden Flüchtlingen

Andere EU-Staaten

Wegen der starken Dominanz der Politik­

verheerenden Konflikte auf der Ebene interna-

waren selten Thema

themen und -akteure haben wir untersucht,

tionaler Organisationen (EU, Uno, Unicef u. Ä.)

welchen Bereichen die 1.340 Politik-Nennun-

waren nur ausnahmsweise relevant (6,1 Pro-

gen in den 738 „konflikthaltigen“ Berichten zu-

zent). Mit 15,5 Prozent galten als deutlich

zuordnen sind. Die Zuordnung (siehe Tab. 17)

skandalträchtiger Konflikte unter den auslän-

zeigt, dass die Zeitungsberichte in erster Li-

dischen Regierungen und Ministerien.

nie Kontroversen zwischen Politikern auf der

Bei knapp 800 der auftretenden prominen-

bundespolitischen Ebene groß herausstellen;

ten Akteure/Sprecher wurde die Zugehörigkeit

Tabelle 15: Anzahl Beiträge, die über Konflikte oder Meinungsverschiedenheiten (MV) zu den Ereignisthemen berichten (n=1.386)

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Süddeutsche Zeitung

Die Welt

Gesamt

Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual

Konflikt/MV kommt im Titel­ komplex vor

Konflikt/MV wird im Bericht beschrieben

Konflikt/MV wird nicht thematisiert

Gesamt

97

171

224

492

19,7 %

34,8 %

45,5 %

100,0 %

120

115

247

482

24,9 %

23,9 %

51,2 %

100,0 %

116

119

177

412

28,2 %

28,9 %

43,0 %

100,0 %

333

405

648

1.386

24,0 %

29,2 %

46,8 %

100,0 %

Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, Anzahl Texte: 1.391. Quelle: Eigene Darstellung

42


Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

zu einer der politischen Parteien genannt. Der

rung, Finanzierung) galten Politiker der Linken

Befund: In die Kontroversen waren Politiker der

offenbar als irrelevant (während der analysier-

CDU im

CDU am häufigsten eingebunden, was deren

ten zwanzig Wochen kamen sie unter den er-

Konflikt-

„Sandwich“-Position zwischen den Koalitions-

fassten 1.932 Akteuren/Sprechern nur 31 Mal

Zentrum

partnern CSU und SPD wohl korrekt abbildet

vor).

(siehe Tab. 18). In den zahlreichen und mitun-

Sprecher der AfD – die Partei war damals

ter heftigen politischen Disputen (etwa über

schon in mehreren Bundesländer- und Kreis-

Grenzschließungen, Obergrenzen, Registrie-

parlamenten stark präsent – finden sich hier

Tabelle 16: Akteure/Sprecher in Berichten über Konflikte oder Meinungsverschiedenheiten zu den Ereignisthemen (n=1.932 Akteure) Konflikt/MV kommt im Titel­ komplex vor

Konflikt/MV wird im Bericht be­ schrieben

Anteil*

Politik-Ebene allgemein, institutio­ nell, personenbezogen

72,1 %

66,9 %

69,4 %

Verwaltung auf Bundes- und Landes­ebene

1,9 %

2,0 %

1,9 %

Wirtschaft

1,2 %

1,0 %

1,1 %

Medien

3,6 %

2,6 %

3,1 %

Judikative

4,6 %

10,0 %

7,5 %

Interessenverbände

3,1 %

3,1 %

3,1 %

Personen (keine Funktionsträger)

5,4 %

8,5 %

7,0 %

Unpersönliche Quellen

2,8 %

2,0 %

2,3 %

Sonstiges**

5,3 %

4,0 %

4,6 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

Summe

* Anteil der jeweiligen Kategorie am Insgesamt (n) ** Sammelkategorie Sonstiges: Kommunale u. stadtnahe Einrichtungen; Kirche, Religion; Einrichtungen des Bereichs Kultur und Bildung; Soziale Einrichtungen, Medizin, Gesundheit, Rettungsdienst; Militär; Internationale Nichtregierungsorganisationen/NGOs; Fachmann, Experte, Gutachter. Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, Anzahl Texte: 1.391. Quelle: Eigene Darstellung

43


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

keine. Indessen kamen, wenn es um Kontro-

und/oder bestimmter Attribute (Adjektive, Ad-

versen mit rechts Außen ging, NPD-Positionen

verbien, Partizipien u. a.) ihren Berichten eine

genau sieben Mal als relevant zur Sprache.

spezifische Tonalität und damit ihren Lesern im Subtext zu verstehen geben, was „man“

Wie neutral und sachlich wurde berichtet?

von der Person oder ihrem Auftritt oder ihrer

Stimmungsmache

Aus welcher sprachlich-stilistischen Perspekti-

Argumentation halten soll. Ob der Akteur mit

in den Berichten

ve haben die drei Leitmedien über die mit dem

starrem Blick, mit nervöser Stimme, mit spitz

Flüchtlingsthema befassten und als relevant

gestreckten Fingern, von einem Bein auf das

eingestuften Akteure und Sprecher berichtet?

andere tretend, mit feuchter Stirn, mit herab-

Journalisten können ja – ohne zu kommentie-

hängenden Mundwinkeln und eingezogenem

ren – durch die Verwendung bestimmter Verben

Bauch, hüstelnd oder säuselnd das Wort er-

Tabelle 17: Akteure/Sprecher des Bereichs „Politik“ in Berichten über Konflikte oder Meinungsverschiedenheiten (MV) (n=1.340 Akteure) Konflikt/MV kommt im Titel­ komplex vor

Konflikt/MV wird im Bericht beschrieben

Anteil*

EU-Ebene

4,4 %

5,8 %

5,1 %

Bundesebene – Regierung, Parlament, Ministerien, Kommissionen, Bundesrat

39,1 %

42,4 %

40,8 %

Landesebene – Regierung, Parlament Ausschüsse, unabhängige Kommis­ sionen

29,7 %

26,1 %

27,8 %

Regionale und kommunale Ebene – Landkreistag und Kreistag, Landrat, Stadtrat

11,5 %

8,0 %

9,7 %

Internationale Staatenbünde und Organisationen – UNO etc.

1,1 %

0,9 %

1,0 %

Ausland – nichtdeutsche Regierung, Parlament, Ministerien etc.

14,2 %

16,8 %

15,5 %

Summe

100,0 %

100,0 %

100,0 %

* Anteil der jeweiligen Kategorie am Insgesamt (n) Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, Anzahl Texte: 1.391. Quelle: Eigene Darstellung

44


Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

griff – oder ob er nur XYZ sagte, nur referierte,

Hinzu kommt eine weitere sprachlich-sti-

nur wiedergab, nur fragte usw.: Diese Unter-

listische Eigenart, die hier ebenfalls eine Rolle

schiede wirken sich auf den Tenor des Berichts

spielt: die Attitüde, als könne man gleichsam

Tendenziöse

und somit auch auf die Meinungsbildung bei

in die Köpfe derjenigen schauen, über die man

Formulierungen

den Lesern aus. Von daher geht es um die im

berichtet. Es sind Formulierungen (hier aus

Forschungsdesign in der Einleitung erläuterte

Zeitungsberichten über die Bundeskanzlerin

Qualitätsfrage: Wie neutral beschreiben die Be-

gefiltert) wie: Sie schaut glücklich, sie begeis-

richterstatter das auf viele Menschen emotio­

tert sich, sie glaubt, sie fürchtet, sie wünschte

nalisierend wirkende Großthema „Flüchtlinge

sich, sie misstraute, sie träumte. Solche For-

in Deutschland“?

mulierungen gehören eigentlich in die Welt

Tabelle 18: Akteure/Sprecher des Bereichs „Politik“ in Berichten über Konflikte oder Meinungs­ verschiedenheiten nach Parteizugehörigkeit (n=795 Akteure) Konflikt/MV kommt im Titel­ komplex vor

Konflikt/MV wird im Bericht beschrieben

Anteil*

SPD

27,0 %

31,1 %

28,9 %

CDU

34,3 %

35,2 %

34,7 %

CSU

21,0 %

13,9 %

17,7 %

Die Grünen

8,2 %

11,2 %

9,6 %

FDP

1,2 %

1,6 %

1,4 %

Die Linke

4,4 %

3,3 %

3,9 %

AfD

0,0 %

0,0 %

0,0 %

NPD

0,9 %

0,8 %

0,9 %

Parteilos, andere Partei, Wählergemeinschaft

3,0 %

2,7 %

2,9 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

Gesamt

* Anteil der jeweiligen Kategorie am Insgesamt (n) Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, Anzahl Texte: 1.391. Quelle: Eigene Darstellung

45


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Abbildung 2: Berichterstattung über Vorgänge zum Thema Flüchtlinge/Asylsuchende: Tonalität der Berichte

Beobachtend-neutraler Stil

Textbeispiel: Pistorius sagte, die an den deutschen Grenzen vorübergehend wieder eingeführten Kontrollen seien sinnvoll. Der Schritt sei nötig geworden, weil das Tempo der Zuwanderung die Aufnahmekapazitäten überschritten habe. „In Niedersachsen erleben wir jeden Tag eine gelebte Willkommenskultur, fast täglich werden neue Flüchtlingsunterkünfte eröffnet“, sagte der Minister […]. (Welt.de 15.09.2015)

Beobachtend-nichtneutraler Stil

Textbeispiel: Junks erste Antworten, keine Frage, fallen ernüchternd aus. Sie werfen einen kühlen Schatten auf die vielen wärmenden Meldungen der vergangenen Tage: auf den Jubel über unsere Willkommenskultur, auf Merkels gelobte Wir-schaffen-das-Rede, auf das viele zusätzliche Geld, das Bund und Länder gerade beginnen lockerzumachen für die Menschen in Not; auf den Ruck, der durch das Land zu gehen scheint […]. (Welt.de 10.09.2015)

Auktorial-neutraler Stil

Textbeispiel: Die Möglichkeiten Bayerns, Flüchtlinge aufzunehmen, seien erschöpft: „Mehr geht nicht.“ Die Politik dürfe nicht vor der Lebenswirklichkeit kapitulieren, sonst drohe ein Kollaps, prophezeite Seehofer düster. Dramaturgischer Mut kann Seehofer schon deshalb nicht abgesprochen werden, weil er im gleichen Atemzug nicht verhehlte, wie begrenzt seine eigenen Handlungsmöglichkeiten sind […]. (Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.10.2015)

Auktorial-nichtneutraler Stil

Textbeispiel: Lucke hört ihnen zu, angespannt zwar wie ein Vater, der fürchtet, sein Sohn könnte beim Gedichtaufsagen den Text vergessen. Aber er hört zu. „Eine pauschale und unreflektierte Willkommenskultur, wie sie derzeit von der Bundesregierung vertreten wird, ist Ausdruck naiven und illusionären Denkens“, sagt Kölmel und fordert stattdessen eine „Hilfskultur“. (Welt.de 22.09.2015)

46

der Schriftstellerei, denn dort ist der Autor der

richterstatter der drei Tageszeitungen in diese

Herrgott seiner Romangeschöpfe; er weiß, wie

auf viele Leser vermutlich anmaßend wirkende

es seinen Kreaturen psychisch gerade geht. In

Rolle des Allwissenden und schreiben im aukto-

der Literaturwissenschaft spricht man vom auk-

rialen Stil über „ihre“ Protagonisten?

torialen Schreibstil. Auch Reporter des Maga-

Wir haben von jeder der drei Zeitungen aus

zinjournalismus (Storytelling) neigen zu dieser

jedem Quartal zehn Berichte nach dem Zufalls­

Attitüde, wiewohl die damit verbundene Selbst-

prinzip als Stichprobe gezogen und eine Liste

überhöhung des Autors mitunter arrogant wirkt.

mit Attributen und färbenden Verben angelegt.

Inwieweit (und wie oft) schlüpfen nun die dem

Mit dieser Liste wurden alle 820 nachrichtli-

nachrichtlichen Geschehen verpflichteten Be-

chen Berichtstexte – das heißt keine Reporta-


Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

Tabelle 19: Attribuierung bzw. Tonalität der Berichte je Zeitung (n=820)

Anzahl Frankfurter Allgemeine Zeitung prozentual Süd­ deutsche Zeitung Die Welt

Gesamt

Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual

Beobachtend – neutral

Beobachtend – nicht neutral

Auktorial Auktorial – – neutral nicht neutral

161

28

24

65

278

57,9 %

10,1 %

8,6 %

23,4 %

100,0 %

131

49

27

84

291

45,0%

16,8%

9,3%

28,9 %

100,0 %

111

70

24

46

251

44,2%

27,9%

9,6%

18,3%

100,0%

403

147

75

195

820

49,1%

17,9%

9,1%

23,8%

100,0%

Gesamt

Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, Anzahl Texte: 1.391. Quelle: Eigene Darstellung

gen, Interviews, Essays etc. – abgesucht (siehe

Allwissenheit: Die Neigung, aus einer in­

Tab. 19; das Codebuch kann online eingese-

trojektiven und insofern allwissend wirkenden

Allwissende

hen, siehe Hinweis im Anhang, S. 147).

Position heraus auktorial zu berichten, ist den

Journalisten

Neutralität: Die Auszählungen ergaben,

Journalisten der Leitmedien nicht fremd: Rund

dass rund die Hälfte aller Berichtstexte die To-

ein Drittel der Nachrichtentexte zeigt diese

nalität des neutralen Beobachters durchhält,

Attitüde. Unter den Journalisten der Süddeut-

dass also deren Verfasser auf Euphemismen,

schen Zeitung ist dieser Hang stärker, in der

Pejorative und dergleichen weitgehend ver-

Redaktion der Welt relativ am schwächsten

zichten. Mit rund 58 Prozent (= 161 Texte) ih-

ausgeprägt – die FAZ-Journalisten bewegen

rer tatsachenbetonten Texte berichtete die FAZ

sich zwischen diesen beiden Polen.

relativ am neutralsten. Den größten Anteil an

Tonalität je Partei: Wurden manche Partei-

nichtneutralen Berichten publizierte Die Welt

en bzw. deren Akteure neutraler, auch distan-

mit 70 Texten – rund 2,5 Mal mehr als die FAZ.

ziert-sachlicher beschrieben als andere? Auch

47


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Tabelle 20: Attribuierung bzw. Tonalität in Berichten nach politischen Parteien (Akteure/Sprecher, n=880). Jede Kategorie=100 % Beobachtend – neutral

Beobachtend – nicht neutral

Auktorial – neutral

Auktorial – nicht neutral

Anteil*

SPD

29,1 %

33,7 %

25,7 %

30,1 %

30,1 %

CDU

41,0 %

34,2 %

48,6 %

29,7 %

37,2 %

CSU

15,2 %

16,6 %

14,3 %

23,6 %

17,6 %

Die Grünen

8,5 %

8,8 %

5,7 %

8,7 %

8,4 %

FDP

1,3 %

1,0 %

0,0 %

1,0 %

1,1 %

Die Linke

3,9 %

2,1 %

1,4 %

3,1 %

3,1 %

AfD

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

NPD

0,0 %

1,0 %

1,4 %

0,1 %

0,3 %

Parteilos, andere Partei, Wählerge­ meinschaft

1,0 %

2,6 %

2,9 %

3,5 %

2,2 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100 %

Gesamt

* Anteil der jeweiligen Kategorie am Insgesamt (n) Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16. Anzahl Texte: 1.391. Quelle: Eigene Darstellung

in Bezug auf dieses in der Einführung genann-

Sprecher der beiden anderen Regierungspar-

te Qualitätskriterium haben wir die Akteure/

teien – und wenn auktorial, dann meist ohne

Sprecher in den berichtenden Texten genauer

negative Tonalität. Der weitere Befund über-

angeschaut (siehe Tab. 20 und 21). Insgesamt,

rascht: Unter den 880 identifizierten Akteuren

Kaum wertfreie

so der erste Befund, hatten die CDU-Politiker

wurde nur eine – wenn auch große – Minder-

Beschreibungen

die relativ beste Presse: Sie traten am häufigs-

heit (44,1 Prozent) quasi wertfrei, das heißt

ten auf, wurden neutraler beschrieben als die

sachlich-neutral wiedergegeben. Mit rund

48


Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

Tabelle 21: Attribuierung bzw. Tonalität in Berichten nach politischen Parteien (Akteure/Sprecher, n=880). Jede Partei=100 % Beobachtend – neutral

Beobachtend – nicht neutral

Auktorial – neutral

Auktorial – nicht neutral

Summe

SPD

42,6 %

24,5 %

6,8 %

26,0 %

100,0 %

CDU

48,6 %

20,2 %

10,4 %

20,8 %

100,0 %

CSU

38,1 %

20,6 %

6,5 %

34,8 %

100,0 %

Die Grünen

44,6 %

23,0 %

5,4 %

27,0 %

100,0 %

FDP

50,0 %

20,0 %

0,0 %

30,0 %

100,0 %

Die Linke

55,6 %

14,8 %

3,7 %

25,9 %

100,0 %

AfD

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

100,0 %

NPD

0,0 %

66,7 %

33,3 %

0,0 %

100,0 %

Parteilos, andere Partei, Wählerge­ meinschaft

21,1 %

26,3 %

10,5 %

42,1 %

100,0 %

Anteile am Gesamt

44,1 %

21,9 %

8,0 %

26,0 %

100,0 %

Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16, Anzahl Texte: 1.391. Quelle: Eigene Darstellung

jedem vierten Akteur gingen die Journalisten

zepts) aufgrund dieser Intimität dysfunktional

auktorial und zugleich wertend um, vor allem

wirkt. Ganz anders der Umgang mit den Akteu-

mit Politikern der CSU und der SPD. Diese auk-

ren der Linkspartei: So selten sie überhaupt

toriale Attitüde simuliert – wenn es um Bericht-

Erwähnung fanden, wurden sie überwiegend

erstattung geht – eine intime Kenntnis bzw.

beobachtend-neutral – und das bedeutet auch:

Simulation

Vertrautheit mit den Protagonisten, die (nach

so emotionslos wie ein Sachgegenstand – be-

von Intimität

Maßgabe unseres normativen Medienkon-

handelt und beschrieben.

49


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Diese Befunde der quantitativen Inhalts-

Berichten – dies zeigt eine qualitative Auswer-

analyse könnten zu dem Schluss führen, die

tung – wurden indirekt (vermittels der zitierten

Journalisten der Leitmedien seien nur mit dem

Akteure) Probleme, auch dissonante Stim-

Viele schreiben

Thema „Die Politik und die Flüchtlinge“ derart

mungslagen in der Beziehung zwischen der Po-

von oben herab

herablassend umgegangen. Dies wäre indes-

litikebene und der Vollzugsebene thematisiert.

sen ein Fehlschluss. Zum einen lässt sich die

Beispielhaft zeigt sich diese Dissonanz in der

beschriebene Attitüde auch in Berichten zu an-

Präsentation von Manfred Schmidt, dem dama-

deren Themen beobachten, sofern darin Bun-

ligen Chef des Bundesamtes für Migration und

despolitiker als Akteure auftreten. In anderen

Flüchtlinge (BAMF), der häufig interviewt wur-

Fällen zeigen sich Abstufungen. Den deutlichs-

de. Die Süddeutsche Zeitung befragte ihn Ende

ten Unterschied entdeckten wir zwischen der

April 2015 zu Problemen bei der Bewältigung

Beschreibung von Politikern auf Bundesebene

der Asylanträge. Diese wurden an die zustän-

(Parteichefs und Minister) und Akteuren auf

digen Ministerien delegiert. Als Schmidt bei

der lokalen und regionalen Ebene. Letztere

einer entsprechenden Frage darauf bestand,

werden eher neutral beschrieben. Zum ande-

dass Deutschland „schon immer“ ein Einwan-

ren ist diese Attitüde variabel. So wurde im

derungsland gewesen sei, kam die Nachfra-

Fortgang des Jahres 2015 die auktorial-werten-

ge: „Auch im Bewusstsein der Deutschen?“

de Beschreibung der Berliner Politiker deutlich

Schmidts Antwort: „Da hat sich sowieso viel

stärker. Sie transportierte zwei widersprüchli-

geändert. Wie viel Hilfsbereitschaft und Enga-

che Botschaften: Zum einen wird den Lesern

gement heute Flüchtlingen entgegengebracht

signalisiert, der Berichterstatter sei ein ver-

wird – das hatten wir vor zwanzig, dreißig Jah-

„Heute ist alles

trauter, auch intimer Kenner der Spitzenpoli-

ren nicht. Heute ist alles entspannter“ (Süd-

entspannter“

tiker, vielleicht weil er sich selbst zur Berliner

deutsche Zeitung, 27.04.2015). Auch die FAZ

Elite zählt. Die andere Botschaft lautet, dass

brachte den BAMF-Chef ihren Lesern näher. Mit-

ihn das verbale Lavieren der Politiker missmu-

te Juli forderte Schmidt in einem FAZ-Interview

tig mache, weil drängende Probleme zerredet

von der Regierung, dass man Asylsuchenden

oder verschoben, aber nicht gelöst würden.

aus sicheren Herkunftsländern, die keine Chan-

Deshalb schildere er nun, was in den Köpfen

ce auf Bewilligung des Asylantrags hätten, das

der Politiker vor sich gehe.

Taschengeld (140 Euro) streichen solle, um den Anreiz, nach Deutschland zu kommen, zu sen-

50

Stimmung und Stimmungsmache

ken. Vier Wochen später wiederholt die FAZ in

In der Berichterstattung der drei Leitmedi-

einem lobenden Porträt-Beitrag über Schmidt

en kam zwar insgesamt selten, im Laufe des

dessen Forderung (FAZ , 10.08.2015). Kurz da­

Jahres 2015 indessen etwas häufiger auch die

rauf wurde er seiner Funktionen enthoben.

Vollzugsebene der Behörden und Regionen

Die damit verbundene implizite Botschaft

zur Sprache (siehe Tab. 16 und 17). In diesen

der Leitmedien lautete: Die Politiker in Berlin


Das Flüchtlingsthema in den Medien 2015/16

haben keine Strategie – und die Kommunen

Unterkünfte. Das bindet enorme Summen

müssen es ausbaden. So zeigte die Süddeut-

und Personal. Man kann es aber selbst

sche Zeitung im Mai 2015 die Probleme der

dem Gutwilligsten kaum noch erklären,

Kommunen musterhaft am Beispiel der Stadt

dass wir mit dem Kita-Ausbau kaum hin-

Duisburg auf – wenige Tage vor einer ange-

terherkommen, Schulen und Straßen

kündigten Konferenz der Bundesregierung

nicht sanieren können, weil wir gezwun-

mit sieben Ministerpräsidenten. Hier Auszü-

gen sind, die Lasten zu tragen, die entste-

ge aus einem Interview mit dem Duisburger

hen, wenn wir Menschen, die aus Krieg,

Oberb­ürgermeister, das die SZ ihrem Report

Not und Unterdrückung zu uns gekommen

beistellte:

sind, menschenwürdiges Wohnen ermög-

Problemsicht im Lokalen

lichen wollen. […] „SZ: Herr Oberbürgermeister, ärgert es

Wir sind darauf angewiesen, dass die

Sie, dass die Kommunen nicht mitreden

menschenwürdige Aufnahme gelingt.

dürfen, wenn es um Flüchtlinge geht?

Denn sogar in einer weltoffenen Stadt

Sören Link: Es ist bezeichnend und hoch-

wie Duisburg stößt man an Grenzen bei

gradig ärgerlich, dass diejenigen, die die

der Bevölkerung.“ (Süddeutsche Zeitung,

eigentliche Integrationsarbeit leisten,

08.05.2015)

nicht mit am Tisch sitzen. Es wird wieder nicht mit uns, sondern über uns gespro-

Die sich mit den Aufgaben alleingelassen füh-

chen.

lenden Kommunen waren ein Thema, das im

Was erwarten Sie denn?

Frühsommer 2015 hin und wieder aufbrach,

Dass sich Bund und Länder endlich zur

aber nicht weiter vertieft oder recherchiert

gesamtstaatlichen Verantwortung beim

wurde. Dies mag mit einem anderen Thema

Thema Asyl bekennen. Und dem auch

zusammenhängen, das im Sommer 2015 er-

Taten folgen lassen. Es kann nicht sein,

staunlich oft zur Sprache kam: die angeblich

dass die Koalition verspricht, Asylverfah-

gute Stimmung in der Bevölkerung. Diese

ren auf drei Monate zu verkürzen, und

wurde so beschrieben, dass sich die (west-)

dann mehr als sieben Monate Zeit dafür

deutsche Bevölkerung zu einer liberalen,

braucht.

fremdenfreundlichen und äußerst hilfsberei-

Was kommt da auf Duisburg zu?

ten Bürgergesellschaft gewandelt habe. Zwei

Schwer zu prognostizieren. Nach den

Dinge machten es diesen Wohlgesonnenen

derzeitigen Zahlen des Bundes gerech-

allerdings schwer: Das Eine sei die intern

net, erwarten wir dieses Jahr 1500 neue

uneinige Bundesregierung. Und das Ande-

Flüchtlinge in Duisburg. Und wir sind jetzt

re – im ferneren Sachsen vor allem – seien

schon am Rande unserer Kapazitäten. Wir

fremdenfeindlich und gewalttätig vagabun-

beschlagnahmen Wohnungen, wir bauen

dierende Gruppen, die wie ein Schatten die (in

51


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

den westdeutschen Kommunen) erstrahlende

der Berliner Ausländerbehörde, deren Chef

Willkommenskultur verdunkelten.

eingestand, dass dort „derzeit alles andere als

„Willkommenskultur“: Was war damit gemeint? Im Politikteil der Frankfurter Allgemei-

52

eine Willkommenskultur“ geboten werde (SZ, 09.06.2015).

nen wurden Politiker zitiert, die sich, als Flücht-

Den Medienberichten zufolge gewann das

lingsheime brannten, mit der erbaulichen

Schlagwort „Willkommenskultur“ im Früh­

„Willkommenskultur in unserem Lande“ beru-

sommer 2015 eine für die Bewältigung der

higten (FAZ, 07.05.2015). Im Wirtschaftsteil der

Flüchtlingsproblematik geradezu magische

FAZ wurde mit „Willkommenskultur“ wiederum

Bedeutung und soll daher genauer in den Blick

Das Arbeits­-

ein freundliches Arbeitsklima beschworen, um

genommen werden. Im nun folgenden zwei-

klima leidet

Fachkräfte nach Deutschland zu holen (z. B.

ten Teil wird in der Art eines Exkurses dieses

FAZ, 24.06.2015). In der Süddeutschen Zeitung

Medienthema untersucht. Mit dem dritten Teil

finden sich aus derselben Zeit Berichte, in de-

kehren wir dann zu den ausgewählten Großer-

nen Akteure über dringende Verbesserungen

eignissen zurück, die wir per Inhaltsanalyse

in dieser Hinsicht sprechen, zum Beispiel in

der Leitmedien unter die Lupe nehmen werden.


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

Teil 2: Die Erfindung der „Willkommenskultur“

1.

Turbulentes Meinungsklima

seien seitens der Bevölkerung in Deutschland nicht willkommen, glaubt das im Osten fast je-

Die überraschende Fremdenfreundlichkeit

der Zweite (47 %)“ (ebd.: 6 f.).

Zu Beginn des Jahres 2015 erschien der über-

Vor allem unter den jungen Erwachsenen, so

wiegende Teil der Deutschen im Licht der Auf-

die Emnid-Befragung, gäbe es praktisch keine

geschlossenheit, der Fremdenfreundlichkeit

Fremdenfeindlichkeit. Nur eine kleine Minder-

Fremdenfreundliche

und Hilfsbereitschaft: Dieses Bild vermittel-

heit sei der Meinung, „dass Einwanderer sich der

Deutsche

ten die Daten, die TNS Emnid im Auftrag der

deutschen Kultur anpassen“ und „mehr soziale

Bertelsmann Stiftung über das Meinungsbild

Kontakte zu Deutschen haben“ sollten. Woraus

zum Thema „Einwanderung“ erhoben hatte.

die Verfasser der Studie ableiteten, dass der

Ende 2012 und erneut Anfang 2015 war die Er-

„Umgang mit Vielfalt“ unter jungen Deutschen

wachsenenbevölkerung repräsentativ befragt

eine „Selbstverständlichkeit“ sei. Ausgeprägt

worden. Den Ergebnissen zufolge wurde „die

sei „auch das Bewusstsein in der Bevölkerung,

Willkommenskultur in Deutschland heute deut-

dass gelingende Integration und erfolgreiche

lich positiver bewertet als noch vor wenigen

Teilhabe spezielle Vorleistungen und Hilfestel-

Jahren“ (TNS Emnid 2015: 6). Auch in Bezug

lungen von Seiten der Aufnahmegesellschaft“

auf die Erwartungen an die Migranten war das

erforderten. Deshalb sähen die Befragten „pri-

Meinungsbild voller Optimismus: „97 Prozent

mär Handlungsbedarf darin, die Willkommens-

der Befragten [sagen], dass Einwanderer sich

kultur auszubauen“. Beispielsweise hätten sich

um ein gutes Zusammenleben mit Deutschen

„82 Prozent für spezielle Hilfen beim Arbeitsamt“

bemühen“; 2012 waren es 88 Prozent (siehe

ausgesprochen, während es im Herbst 2012 erst

Abb. 3). Und um den Integrationsprozess zu

68 Prozent waren (ebd.: 9).

stärken, „befürworten 62 Prozent, dass dauer­

Diese ausgeprägte, zudem markant ge-

hafter Aufenthalt ermöglicht werden sollte

stiegene Fremdenfreundlichkeit überrascht

(2012: 55 %). 56 Prozent meinen, Deutschland

auch deshalb, weil die Migrationsforschung in

sollte die Einbürgerung erleichtern (2012:

Deutschland mit Beginn der 1990er Jahre – un-

44 %), und 54 Prozent meinen, die Benachtei-

ter dem Eindruck der Ausschreitungen in Ros-

ligung von Zuwanderern solle durch Gesetze

tock im August 1992 (vgl. Schmidt 2002: 61 ff.,

bekämpft werden (2012: 47 %)“. Allerdings war

200, 205; Brosius/Esser 1995: 19 f.) und ihren

„eine deutliche Ost-West-Differenz zu konsta-

Folgen – mit der Verbreitung fremdenfeindlicher

Fremdenfeindliche

tieren. Während in Westdeutschland lediglich

Einstellungen auch deren Merkmale zu untersu-

Deutsche

ein Drittel der Befragten glaubt, Einwanderer

chen begonnen hatte. Mehrere Studien stütz32

32 „Die ‚Asylantenschwemme‘ war Topos einer menschenfeindlichen Propaganda, die im Zuge der neuen Zuwanderung von Asylbewerbern aus Nordafrika wieder auftaucht. Die aggressive Abwertung, der Hass und die Gewalt gegen Asylbewerber verbanden sich übergangslos mit einer Fremdenfeindlichkeit und einem Rassismus, die sich auch gegen andere Gruppen von sogenannten Fremden richteten“ (Heitmeyer über die frühen 1990er Jahre, in: ders., 2012: 66).

53


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Abbildung 3: „Willkommenskultur“ in Deutschland Ende 2012 Februar 2015

97 88 62

59 49

Einwanderer werden bei uns willkommen geheißen

55

55 44

Einwanderer bemühen sich um gutes Zusammenleben

Dauerhaften Aufenthalt ermöglichen

Einbürgerung erleichtern

Datenbasis: TNS Emnid, n=2.024. Quelle: Eigene Darstellung

ten sich auf die im Zweijahresrhythmus durchge-

zurückging, „wählte die Hälfte der Befragten

führte Repräsentativerhebung der Allgemeinen

die ‚sorgenvollste‘ Antwortvorgabe: 55 Prozent

Die Mehrheit

Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften

im Westen und 47 Prozent im Osten machen sich

machte

(ALLBUS), deren Stichproben, zwischen Ost und

über die Zahl der Zuwanderer ‚große Sorgen‘,

sich Sorgen

West proportional verteilt, mehr als 3.000 Per-

und Befragte, für die das Thema kein Problem

sonen umfasst. Während noch für die 1980er

darstellt, bilden im Westen (11 Prozent) wie im

Jahre ein leichter Rückgang der Ausländerfeind-

Osten (13 Prozent) nur eine kleine Minderheit“

lichkeit ermittelt wurde (u. a. Wiegand 1992:

(Ahlheim/Heger 2000: 23). Dabei fällt auf, dass

623), kehrte sich der Trend in der Zeit nach der

Ende der 1990er Jahre in den neuen Bundes-

Wiedervereinigung um. Ungeachtet der Tatsa-

ländern in der Zuwandererfrage anscheinend

che, dass die Zahl der Asylbewerber infolge der

eine gegenüber den Westdeutschen liberalere

Asylgesetzänderung von 1993

Einstellung ermittelt wurde.

33

34

kontinuierlich

33 Näheres zum ALLBUS-Stichprobenverfahren findet sich im GESIS-Technical Report 4/2010: 44 ff., online unter http://www.gesis.org/fileadmin/upload/forschung/publikationen/gesis_reihen/gesis_methodenberichte/2010/ TechnicalReport_10-4.pdf (abgerufen Januar 2017). 34 Der sogenannte Asylkompromiss von 1993, mit dem das deutsche Asylrecht rigider gefasst und zu Teilen an das EURecht angepasst wurde.

54


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

Prekärer „gesellschaftlicher Zusammenhalt“

mittelte im Rahmen einer Langzeitstudie über

Über die ALLBUS-Sekundäranalysen fanden

„Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“

Die ALLBUS-

die Sozialforscher heraus, dass ein ganzes

2004 (GMF) in der ostdeutschen Bevölkerung

Analysen

Bündel von Faktoren mit dem Merkmal Frem-

bei 56,1 Prozent der Befragten einen Hang zur

denfeindlichkeit zusammengeht.

Dies sind:

Fremdenfeindlichkeit, unter Westdeutschen

die persönliche wirtschaftliche Lage (niedri-

bei 36,3 Prozent (GMF-Survey 2005: 13-34). Zur

ges Haushaltsnettoeinkommen), ausgeprägter

Erklärung ihrer Befunde bezogen sich die GMF-

„Standortpessimismus“ („Unsere wirtschaftli-

Forscher auf das weit gefasste Leitbild des „ge-

che Lage verschlechtert sich“), das Gefühl der

sellschaftlichen Zusammenhalts“, dem auch

persönlichen Benachteiligung sowie niedrige

unser deliberatives Konzept gesellschaftlicher

Schulbildung und autoritäre Erziehung. Aber

Verständigung zugrunde liegt.36 In der Alltags-

auch das Gefühl, politisch nicht gut informiert

welt zeige sich die Erosion des Zusammenhalts

zu sein, spielte eine prägende Rolle (Ahlheim/

vor allem darin, dass Teile der Bevölkerung

Heger 2000: 59-95). Reale Erlebnisse mit Aus-

andere Gruppen als minderwertig, störend,

ländern haben de facto keinen Einfluss: Sie

fremd, gar bedrohlich empfinden. Von daher

kommen im Faktorenset gar nicht vor. Die

der Titel der Langzeitstudie: „Gruppenbezoge-

Verfasser schreiben über diese Einflussgrö-

ne Menschenfeindlichkeit“. Sieben Jahre nach

ßen: „Sie spiegeln auch das öffentliche, ge-

dem Start beschrieben die Sozialforscher,

sellschaftlich-kulturelle Klima, das seinerseits

wie Fremdenfeindlichkeit mit der Abwertung

durch politische Programme und Ideologien,

sozial schwacher Gruppen einhergeht. Diese

Merkmale

durch öffentliche Reden und veröffentliche

sei bei jenen ausgeprägt, die „eine homoge-

der Feindlichkeit

Meinung stark bestimmt wird“ (ebd.: 74). Die-

ne Gesellschaft für erstrebenswert halten“

se Deutung war wohl seinerzeit plausibel, aber

(Zick/Küpper 2012: 171). Einerseits habe die

indem sie Fremdenfeindlichkeit mit Faktoren

Akzeptanz soziokultureller Vielfalt eher zuge-

erklärt, die keinen theoretischen Hintergrund

nommen. Andererseits äußerten mehr als die

besitzen, vereinfacht sie vermutlich zu stark.

Hälfte der Befragten „Überfremdungsängste“;

35

Andere, in den folgenden Jahren durchge-

rund 37 Prozent hielten „kulturelle Unterschie-

führte Erhebungen bestätigten zwar die zuvor

de“ gar für schädlich. Die Befragten wünschten

referierten Tendenzen, beobachteten aber eine

von Einwanderern „Anpassung“ an die deut-

Verschiebung der Fremdenfeindlichkeit in Rich-

sche „Leitkultur […], um ‚wie wir‘ zu werden“.

tung Ostdeutschland. Die Gruppe um Sozial-

Dabei gäbe es gar keinen Konsens über das,

forscher Wilhelm Heitmeyer beispielsweise er-

was „Leitkultur“ inhaltlich ausmache; das Kon­

35 Korrelation: Die erwähnten Regressionsanalysen weisen für die unabhängigen Variablen einen „hochsignifikanten Einfluss“ auf Fremdenfeindlichkeit (als abhängiger Variable) nach. 36 Zur deliberativen Demokratietheorie als Theorie des verständigungsorientierten öffentlichen Diskurses siehe Einführung, S. 6-8.

55


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

strukt funktioniere wie eine Ideologie, mit der

Das Meinungsklima in der

man die anderen als Fremde stigmatisieren

lokalen Lebenswelt

Forderung nach

könne. „Die Forderung nach einer homogenen

Demoskopisch erfasste Stimmungslagen sind

homogener Kultur

Kultur richtet sich nach außen, und genau da-

Konstrukte. Sie zeichnen „weiche“ Bilder und

durch kann sie ausgrenzend sein“ (ebd.: 172 f.).

differieren infolge externer Einflussgrößen

Zu dieser Beschreibung passt auch der Befund,

(Wirtschaftslage; aktuelle politische Slogans

dass jeder vierte Befragte meinte, „Muslimen

u. a.) wie auch aufgrund verfahrensmethodi-

sollte die Zuwanderung nach Deutschland un-

scher Unterschiede (Frageformulierung und

tersagt werden“, und jeder zweite der Ansicht

Fragebogenkontext, Erhebungszeitraum, Mo-

zustimmte: „Es leben zu viele Ausländer in

dus der Befragung u. a.). Doch diese Schwan-

Deutschland“ (GMF-Survey 2010, in: Heitmey-

kungen verbleiben im niedrigen einstelligen

er 2012: 38).

Bereich. Langzeitstudien wie die oben zitierten

Einstellungen

Aus beiden Langzeitstudien hätten die Me-

sind zudem zuverlässiger, weil sie mit dem-

sind Konstrukte

dien also schon im Jahr 2012 folgern (und dies

selben Instrumentarium arbeiten (und insofern

auch thematisieren) können, dass die Bereit-

systembedingte Fehler neutralisieren). Sie ma-

schaft, Flüchtlinge aufzunehmen bzw. willkom-

chen deutlich, dass Auffassungen und Einstel-

men zu heißen, vor allem dort gering ist, wo

lungen gegenüber anderen Menschengruppen,

das Gefühl der eigenen Benachteiligung, der

Gesellschaften und Staaten relativ langlebig

Perspektivlosigkeit und des Missachtetwer-

sind. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen,

dens ausgeprägt ist. Man hätte erkennen kön-

wie sich der von Emnid (und anderen Markt-

nen, dass diese prekäre Gefühlslage mit dem

forschungsinstituten) nach 2012 gemessene

Wunsch zusammenging, in einer möglichst

Wandel zur fremdenfreundlichen Einstellung

sicheren, homogenen Welt (das heißt unter

in der Erwachsenenbevölkerung erklären lässt.

seinesgleichen) leben zu wollen. Und auch,

Im ersten Teil haben wir das medienwissen-

dass sich diese aversiven Gefühle gegen jene

schaftlich gut etablierte Modell der Leit- und Fol-

richteten, die den Sicherheitswunsch anschei-

gemedien erwähnt. Während wir dort zunächst

nend nicht ernst (genug) nahmen: in erster

die Berichterstattung dreier Leitmedien unter-

Linie die Eliten (Politiker, Wirtschaftsgrößen,

sucht hatten, geht es uns in Teil 2 um die Lokal-

Intellektuelle) inklusive des Journalismus der

und Regionalmedien, die sich – was das Über-

überregionalen Medien. Die Publizisten hätten

regionale betrifft – grosso modo an den Leitme-

damals erkennen können, dass das von den Eli-

dien orientieren. Angenommen, die Art und Wei-

ten verfochtene Vielfaltsparadigma diejenigen

se, wie die Medien über Migranten, Flüchtlinge

ausgrenzte, die sich als die Zukurzgekomme-

und Asylsuchende berichten, hat einen Einfluss

nen und Missachteten fühlten.

auf die Meinungsbildung der Erwachsenenbe-

37

37 Zum kulturellen Dissens zwischen Diversität und Identität vgl. Reckwitz 2016.

56


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

völkerung, dann trifft dies in besonderem Maße

sind und zugleich das Zusammenleben der

auf die lokalen Informationsmedien zu. Trotz

Menschen in der lokalen Alltagswelt direkt be-

sinkender Auflagen erreichen die Lokal- und

treffen. Beim emotional aufgeladenen Thema

Regionalzeitungen in ihren Verbreitungsgebie-

„Flüchtlinge in Deutschland“ ist dies gewiss

ten bis zu zwei Drittel der Deutsch sprechenden

der Fall. Um das von den Zeitungsberichten

Erwachsenenbevölkerung. Im Unterschied zu

vermittelte Stimmungsbild zu verstehen, das

den überregionalen Medien „übersetzen“ sie

der Flüchtlingsberichterstattung eine spezifi-

die thematische Großwetterlage ins Lokale und

sche Prägung gab (in der Einführung sprachen

Das lokale

bringen nicht nur eher abstrakt wirkende Nach-

wir vom Frame, der Akteure, Medien und Pu-

Meinungsklima

richten aus den Hauptstädten der Welt, sondern

blikum gleichsam zusammenbindet), haben

auch Nachrichten, Berichte und Geschichten aus

wir aus der WISO/Genios-Datenbank „Presse

der nahen Alltagswelt ihrer Leser. Sie vermitteln

Deutschland“ von 50 bundesweit gestreuten

zudem die von den lokalen Meinungsführern

Regionalzeitungen (aus den Jahren 2010,

vertretenen Auffassungen und beeinflussen die

2011 und 2015) eine Zufallsstichprobe von

lokale Themenagenda.

250 Berichten gezogen, die das Wort „Will-

38

Diesen spezifischen Leistungen der Lo-

kommenskultur“ enthielten. Bei der Lektüre

kalpresse – wir nannten sie in der Einführung

der Texte fiel uns auf, dass die meisten Zeitun-

die „Orientierungsfunktion“ – kommt auch

gen ungeachtet ihres Erscheinungsortes über

deshalb besondere Bedeutung zu, weil die

Äußerungen zur „Willkommenskultur“ nicht

Suche nach der

Lokalzeitung ebenso wie die Nachrichten des

nur positiv, sondern geradezu werbend be-

„Willkommens-

öffentlich-rechtlichen Rundfunks eine hohe

richteten. Der Subtext vieler Berichte enthielt

kultur“

Glaubwürdigkeit besitzt.

So gesehen, ge-

die Botschaft, dass die Stärkung dessen, wo-

stalten bzw. prägen die Lokal- und Regional-

für das Wort Willkommenskultur steht, wirt-

zeitungen auch im Zeitalter des Web 2.0 mit

schaftlich notwendig und gesellschaftlich er-

seinen digitalen Plattformmedien das lokale

wünscht sei. Kritische Äußerungen betrafen

Meinungsklima wie auch die Einstellung zum

unzureichende Gegebenheiten, weshalb die

sozialen Zusammenleben wesentlich mit.

Willkommenskultur dringend verbessert wer-

39

Man kann also vermuten, dass die spezi-

den müsse (siehe die Zufallsauswahl von Aus-

fische Orientierungsfunktion bei solchen The-

zügen aus Lokal- und Regionalzeitungen des

men einflussstark ist, die politisch folgenreich

Zeitraums 2005 bis 2016 (S. 62-69).

38 Laut Media-Analyse 2016 erreichen die lokalen und regionalen Abonnementszeitungen mit werktäglich 33,4 Millionen Erwachsenen (48,0 % der Erwachsenenbevölkerung) mehr als jedes andere Informationsmedium (Quelle: BDZV 2016: 15). Dies gilt auch für die Internetnutzer, die sich für Lokales interessieren. Einer Erhebung von Bitcom im August 2016 zufolge nutzt mehr als ein Viertel der lokal Interessierten den Webauftritt der Lokalzeitung („Regionalzeitung wichtigste Quelle für lokale News im Web“), online unter https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/ Regionalzeitungen-wichtigste-Quelle-fuer-lokale-News-im-Web.html; abgerufen Januar 2017). 39 Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach: „Vertrauenskrise der Medien?“ November 2016, Allensbacher Archiv, IfDUmfrage 11049.

57


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Die Annahme, dass mit dem Thema „Will-

„Kultur des Willkommens“) im Verlauf der ver-

kommenskultur“ ein vermutlich einflussstarkes

gangenen rund zehn Jahre in den Printmedi-

mentales Klima erzeugt wurde, ist also nicht aus

en eine beeindruckende Karriere.41 Der hohe

der Luft gegriffen. Deshalb soll im Folgenden

mentale Nutzwert des Wortes lässt sich damit

der Frage nachgegangen werden, seit wann,

erklären, dass die Wortbedeutung einerseits

durch wen (Akteure/Sprecher) und in welchen

abstrakt-allgemein und insofern unbestimmt

Positiv

Kontexten das Thema „Willkommenskultur“ in

und auslegungsoffen, andererseits positiv

aufgeladenes

den Lokal- und Regionalzeitungen quasi auf

aufgeladen, also ein Euphemismus, ist. Seine

Schlagwort

Augenhöhe der Einheimischen verhandelt wur-

alltagssprachliche Bedeutung lautet: Fremden

de. Dabei interessiert uns, wie die Zeitungen

Menschen respektvoll begegnen und gegen-

den politischen Diskurs zum Komplex Willkom-

über Bedürftigen als der Gebende auftreten.

menskultur verarbeitet haben: Funktionierten

Dieser Modus gilt als eine den Zivilisationspro-

sie in Hinsicht auf die politisch-wirtschaftlichen

zess begleitende Tugend und gehört in (fast)

Meinungsführer eher als deren Verstärker, eher

allen Kulturen zum normativ begründeten Set

als neutraler Vermittler oder eher als kritisch

des reziproken Sozialverhaltens.42 Während

nachfragende Instanz? Um die Befunde der In-

dieses Verhalten in nomadisch strukturierten

haltsanalyse entsprechend interpretieren zu

Armutsgesellschaften vermittels strenger Ri-

können, müssen wir zuerst in Erfahrung brin-

tuale gelernt und internalisiert wird, kennen

gen, welche Bedeutung (bzw. welchen Bedeu-

die soziokulturell ausdifferenzierten Wohl-

tungswandel) das Wort Willkommenskultur

standsgesellschaften derart verbindliche Sit-

im Diskurs der politisch-wirtschaftlichen Mei-

ten und Gebräuche nicht (mehr). In unserer

nungsführer auszeichnete.

Gesellschaft wird das mit Willkommenskultur

40

etikettierte Sozialverhalten den verschiedenen Gastfreundschaft und Willkommen

Milieus und dort der Privatsphäre zugerechnet:

Ganz augenscheinlich durchlief das Wort Will-

Manche Gruppen und Individuen verhalten sich

kommenskultur (als Raffer des Ausdrucks

aus vielerlei Gründen fremdenfreundlich, an-

40 Zeitgleich lief dieses Thema natürlich auch über die Leitmedien, insbesondere die Fernsehnachrichten. Die damit verbundenen Interferenzen wie auch Verstärkereffekte müssen als Einflussgröße mit bedacht werden, wenn von Medienwirkungen die Rede ist. Im Rahmen dieser Inhaltsanalyse werden Wirkungen nur hypostasiert, nicht belegt. 41 Der Bedeutungszuwachs des Stichworts „Willkommens- und Anerkennungskultur“ kann in der Rubrik „Diskussion“ bei Wikipedia nachvollzogen werden. Die Begriffserklärung selbst hat sich dort inzwischen zu einem Volumen von 10.000 Wörtern bzw. 79.000 Zeichen aufgebläht (Stand Februar 2017). 42 Beispielhaft das Alte Testament: „Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott“ (3. Mose 19, 33 f.). Der gleiche Gedanke in der heutigen Politikersprache: „Menschen (haben sich) darum gekümmert, dass diejenigen Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen hierhergekommen sind, bei uns auch aufgenommen werden. Das bezeichnen wir als Willkommenskultur. Es ist die Bringschuld der Menschen, die hier sind, Menschen mit offenen Armen zu empfangen und ihnen einen Weg zu ebnen in unsere Gesellschaft“ (Rede von Klaus Wowereit auf dem außerordentlichen SPDBundesparteitag, 26.09.2010).

58


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

dere eher abgrenzend oder unfreundlich, man-

wohl nur durch deutlich erleichterte Aufnahme

che auch feindselig. Vor allem in sozial schwa-

und bessere Integration qualifizierter Arbeits-

chen Milieus mit hoher Fluktuation neigen

kräfte aus dem Ausland abgemildert werden.

Menschen offenbar dazu, ein fremdes Umfeld

Dazu ein Auszug aus einem Bericht des Mana-

(das betrifft etwa schon andere Stadtgebiete)

ger Magazins im Mai 2009 über eine Tagung

mit Stereotypen und Vorurteilen zu belegen;

des Wirtschaftsrates in Berlin:

in diesen Milieus beschränkt sich das mit Willkommenskultur benennbare Sozialverhalten

„‚Die Firma Deutschland hat Personal-

meist auf den engen Kreis der Verwandten und

probleme‘, resümierte Ratsvorsitzender

Freunde.

Klaus J. Bade am Dienstag in Berlin. ‚Wir

43

Der tradierte Sinn des Wortes wurde im

haben keine Willkommenskultur.‘ Und

Laufe der vergangenen zehn Jahre im politi-

das habe verheerende Folgen: Wenn es

schen Diskurs grundlegend verändert.

Aus-

jetzt nicht gelinge, die negative Wande-

Radikaler

gangspunkt war der von der Industrie rekla-

rungsbilanz zu verbessern, werde der

Sinnwandel

mierte Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften.

ohnehin harte Weg aus der Krise weiter

Die von der rot-grünen Regierung (Gerhard

erschwert, sagte Bade.“ (Manager Maga-

Schröder) geförderte Anwerbung ausländi-

zin 2009)46

44

scher Fach- und Spitzenkräfte blieb ohne nachhaltige Effekte; die Angeworbenen ver-

Argumente der Arbeitsmarktpolitik

ließen Deutschland nach kurzer Zeit wieder.

Aus Sicht der Wirtschaft sollten nun der Staat

Zudem entwickelte sich die Wanderungsbilanz

und seine politischen Behörden dafür sorgen,

deutscher Hochschulabsolventen, die zu Wei-

dass die in Deutschland lebenden Migranten

terbildungszwecken ins Ausland gingen, eher

wie auch qualifizierte Zuwanderer einfacher,

negativ. Seit 2005 berichteten Wirtschaftsme-

rascher und nachhaltiger in die Arbeitswelt ein-

„Die Firma

dien über Hochrechnungen und Prognosen,

gegliedert werden. Dies könne durch wirksame

Deutschland“

denen zufolge Deutschland „ab 2010“ ein

Hilfestellungen (wie kostenlose Sprachvermitt-

Fachkräftemangel drohe, der auch das Wirt-

lung, Einführungen in das deutsche Rechtssys-

schaftswachstum massiv gefährden und den

tem, Bereitstellung von Betreuern oder Paten

„unaufhaltsamen Niedergang des Westens“

für Behördengänge u. Ä.) geschehen – For-

nach sich ziehen werde. Dieser Trend könne

derungen, die nun mit dem der Sozialkultur

45

43 Die Sozialpsychologie bietet hierzu eine reich entfaltete Theoriewelt anhand der Begriffe „Einstellung“ und „Vorurteil“ (nach Davis 1964: 78). Aus unserer Sicht hat das Dual-Concern-Modell von Pruitt/Rubin (1986) viel Plausibilität (Näheres: Van Lange u. a. 2002: 387-403). 44 Vgl. die Systematisierung des Begriffs „in verschiedenen Ebenen“ bei Heckmann (2012) und, darauf aufbauend, bei Stehr/Jakob (2015). 45 Ulrich Berger/Christoph Stein, unter: https://www.heise.de/tp/features/Der-unaufhaltsame-Niedergang-des-Westens-3402046.html; 12.08.2005 (abgerufen Januar 2017). 46 Vgl. http://www.manager-magazin.de/unternehmen/karriere/a-627122.html (abgerufen Januar 2017).

59


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

entlehnten Euphemismus „Willkommenskul-

Entfaltungsmöglichkeiten offenstünden

tur“ verbrämt wurden. Die daran anschlie-

wie den Einheimischen. Gleichzeitig wur-

Die neuen

ßende Eingliederung in den Arbeitsprozess

den neue Programmrichtlinien beschlos-

Paradigmen

sollte durch Änderung der Bewilligungspro-

sen, denen zufolge das „Zusammenleben

zeduren (etwa Abschaffung der sogenannten

von Menschen unterschiedlicher Herkunft

Vorrangprüfung) sowie Erleichterungen (etwa

in allen Programmen des Senders als

bei der Anerkennung im Ausland erworbener

selbstverständliche Alltagswirklichkeit

Abschlüsse) verbessert werden, Maßnahmen,

darzustellen und zu thematisieren“ sei

für die man seit Anfang des Jahrzehnts den

(aus dem Tätigkeitsbericht Zambonini

in der Soziologie beheimateten Begriff Inte-

2007).

gration adaptierte, simplifizierte und mit der Schaffung von Integrationsbeauftragten u. Ä.

Auch der Politik gefiel die vieldeutige Beschwö-

behördlich organisierte.

rung einer neuen Sozialkultur. In zahlreichen

47

Länderparlamenten überboten sich AbgeordExkurs: Paradigmatisch für den Bedeu-

nete aller Parteien mit Kritik an der in Deutsch-

tungswandel des Begriffs Integration

land offenbar unzureichenden Willkommens-

wirkte die Anfang 2002 als eine Art Pi-

kultur. In der von uns durchgesehenen Par-

lotkampagne im Bundesland NRW partei-

lamentsberichterstattung blieb das von der

Fremden-

übergreifend beschlossene „Integrations­

Mi­grationsforschung gut durchleuchtete Pro-

­feindlichkeit

offensive“. Deren „Leitidee“ sei gewesen,

blem verbreiteter Fremdenfeindlichkeit tabu.

war tabu

„dass Migration nicht in erster Linie ein

Die Volksvertreter sprachen nicht über die Ur-

Problem, ein Defizit darstellt, sondern

sachen von Ressentiments und Feindseligkeit

dass Zugewanderte unerahnte (sic!) Po-

in der deutschen Gesellschaft, sondern über

tentiale für die wirtschaftliche und sozia-

Maßnahmen, die auf die Bleibebereitschaft

le Entwicklung sind. Die Landesregierung

der Zuwanderer in der Arbeitswelt fokussiert

suchte den Schulterschluss mit den Medi-

waren. Mit dieser Perspektive traten die Inte-

en, um eine Sensibilisierungskampagne

grationsbeauftragten mit unterschiedlichsten

zu starten.“ Der Westdeutsche Rundfunk

Vorschlägen und Forderungen in der Öffentlich-

„erkannte die Zeichen der Zeit“ und sorg-

keit auf. Hier zwei Berichte pars pro toto:

te mit seiner hausinternen „Offensive“

„Ihre 2008 begonnene Einbürgerungs-

dafür, dass Medienschaffenden mit Mig-

kampagne in Rheinland-Pfalz will die

rationshintergrund dieselben beruflichen

SPD-Landesregierung [...] fortführen.

47 Dabei wurde der in der soziologischen Theorie auf die Binnengesellschaft (und nicht auf Zuwanderung) festgelegte Begriff umfunktioniert und instrumentalisiert. „Integration ist heute ein verdächtig positiv besetzter Begriff. Alle politischen Lager, alle Religionsgemeinschaften, alle Vereine, ja selbst die zuständigen Innenminister, sprechen von der Notwendigkeit von mehr und besserer Integration. Niemand diskutiert jedoch darüber, wann es genug – oder auch zu viel – Integration gibt“ (Perchinig 2010: 19).

60


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

Die Integrationsbeauftragte des Landes,

abgeordnete [und Integrationsbeauftragte;

Maria Weber (FDP), ergänzte: ‚Wir sind

M. H.] Martin Neumayer zu Beginn seines

ein Einbürgerungsland. Wir brauchen

Vortrags [...] Einen Schwachpunkt sieht der

Zuwanderung aus demografischen und

Integra­tionspolitiker auch darin, dass die Kri-

wirtschaftspolitischen Gründen. Dafür

terien für die Integration nicht genau definiert

„Zuwanderung aus

brauchen wir eine Willkommenskultur.‘

sind. Die Gesellschaft brauche jedoch klare

wirtschafts­politischen

[...] Nach Meinung der sozialpolitischen

Richtlinien, an die sich jeder Zuwanderer un-

Gründen“

Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion,

abhängig von Herkunft, Religion, Rasse und

Hedi Thelen, [...] gibt es bei der frühkind-

Geschlecht zu halten habe. Neumeyer [...]

lichen Sprachförderung als einem ‚der

wertet auch die Einrichtung des islamischen

wichtigsten Bausteine erfolgreicher Inte-

Religionsunterrichts als weiteres Beispiel für

grationspolitik‘ im Gegensatz zu anderen

Willkommenskultur. Denn dieser zeige, dass

Bundesländern deutliche Unzulänglich-

der Islam Teil unserer Gesellschaft sei, ‚Reli­

keiten“ (Rhein-Zeitung 14.01.2010).

gionserziehung aber nur auf Grundlage unserer Werte und Rechtsgrundsätze erfolgen

„‚Wir haben jahrzehntelang Integration nicht

kann“ (Passauer Neue Presse 20.02.2010).

betrieben‘, sagte der Kelheimer Landtags-

61


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Die mediale Willkommenskultur 2005-2008 Auszüge aus Berichten zum Thema Migration, Flüchtlinge und Willkommenskultur (Zufallsauswahl aus Lokal- und Regionalzeitungen) „Im In- und Ausland kann man zunehmend auf die Marke Berlin und das gute Image der ‚Stadt bauen‘, sagt der Chef der Wirtschaftsförderung Berlin International (WFBI), Roland Engels. Man müsse aber auch eine ‚Willkommenskultur‘ schaffen. Die Wirtschaftsförderung habe mit dem ‚Business Welcome Package‘ sowie dem neuen, bundesweit einzigartigen ‚Business Recruiting Package‘ zwei Instrumente, die Investoren den Schritt nach Berlin leichter machen“ (Berliner Morgenpost 02.04.2005). „Mit Hilfe von zehn Integrationsleitlinien will die Landeshauptstadt eine Willkommenskultur aufbauen. Teil des Integrationskonzepts ist die Plakat-Aktion, mit der ältere Zuwanderer angesprochen werden. […] Die Aktion, die noch bis 30. November in Bussen und Bahnen laufen soll, ist ein Beitrag zu jener ‚Willkommenskultur‘, die die Landeshauptstadt mit Hilfe von zehn Integrationsleitlinien aufbauen und pflegen möchte“ (Saarbrücker Zeitung 26.11.2007). „Speziell die Kultur ist überhaupt ständig in aller Munde. Alles wird mit dem Wort Kultur verziert, sie treibt komische Blüten. So reden unsere Politiker neuerdings öfter von der ‚Willkommenskultur‘ für Investoren und Zuwanderer oder gar von der ‚Welcome-Kultur‘, das macht noch mehr her. Felicitas Kubala (Grüne) wünschte sich in der Haushaltsdebatte eine ‚parlamentarische Diskussionskultur‘“ (Der Tagesspiegel 30.12.2007). „,Die liberale Grundmelodie verliert sich‘ [Titel] Für den FDP-Bundestagsabgeordneten Hartfrid Wolff ist Schwarz-Gelb im Bund nach wie vor die Wunschkonstellation für 2009. In der Einwanderungspolitik dagegen vermisst er bei beiden ‚Staatsparteien‘, wie er CDU und SPD nennt, klare Bekenntnisse zum Einwanderungsland Deutschland. Dabei brauche die Gesellschaft Zuwanderung – vor allem die Qualifizierten. Hier fordert er ein Punktesystem angelehnt an Modelle der USA oder Großbritanniens und eine ‚Willkommenskultur‘“ (Badische Zeitung 03.04.2008). „,Je mehr kulturelle Vielfalt in einer Region integriert ist, desto besser ist ihre messbare Wirtschaftsleistung‘, betonte Hans Dietrich von Loeffelholz, Chefvolkswirt und Leiter der ökonomischen Migrations- und Integrationsforschung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, die positiven Auswirkungen einer ausgeprägten ‚Willkommenskultur‘, die allerdings in Deutschland noch fehle“ (Trierischer Volksfreund, Ausgabe Trierer Zeitung 25.08.2008).

62


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

„Die Integrationsminister der Länder wollen den Rückgang der Einbürgerungen in Deutschland stoppen. Sie wollten bei Ausländern künftig stärker für die deutsche Staatsbürgerschaft werben, kündigten sie in Hannover nach ihrer ersten gemeinsamen Konferenz an. ‚Wir wollen eine Willkommenskultur ausstrahlen‘, sagte Nordrhein-Westfalens Integrationsminister Armin Laschet. Eine Arbeitsgruppe werde Vorschläge erarbeiten, damit sich mehr Menschen für die Einbürgerung entscheiden“ (dpa – hier: Gießener Anzeiger 01.10.2008). „Der 37-Jährige, der für den Stadt- und Kreisjugendring im Integrationsbeirat sitzt, als Marketingdirektor arbeitet und mehrere Sprachen spricht, ärgert sich über den ruppigen Ton, den Behördenmitarbeiter ihm gegenüber bisweilen an den Tag legen: ‚So würde man jemandem nicht begegnen, wenn er Karlheinz Müller heißt.‘ Integration, wünscht er sich, ‚muss gekoppelt sein an gelebte Willkommenskultur‘: Wenn Zuwanderer der vierten Generation sich in dem Land, in dem sie leben, nicht willkommen fühlen, ist etwas schief gelaufen“ (Heilbronner Stimme 05.11.2008).

Die mediale Willkommenskultur 2009 Auszüge aus Berichten zum Thema Migration, Flüchtlinge und Willkommenskultur (Zufallsauswahl aus Lokal- und Regionalzeitungen) „,Arbeiten wir entschlossen und ausdauernd genug daran, in diesem Land (wie in Deutschland überhaupt) eine Art ‚Willkommenskultur‘ zu schaffen, die Menschen – zu unser aller Vorteil übrigens – gern zuwandern lässt? Viele offene Fragen, gewiss. Sollten wir diese Fragen nicht mit einem entschlossenen ‚Ja!‘ beantworten können, dann tun wir offenbar nicht genug dafür, unser Land bzw. unser unmittelbares Umfeld zu einem solchen weltoffenen Ort zu machen. Das wäre enttäuschend genug […]“ (Mitteldeutsche Zeitung/Dessau 03.03.2009). „Ihre Integration passiert vor Ort. In Aachen. In Bonn. In Essen. In Düsseldorf. Zwischen den Bürgern und den Neubürgern. ‚NRW hat den Weg für die schutzbedürftigen Irakerinnen und Iraker bis zu ihrer Ankunft geebnet‘, sagte Laschet. ‚Nun muss er beschritten werden.‘ Der Minister will eine neue Willkommenskultur schaffen: eine, in der die Menschen Flüchtlinge als Bereicherung empfinden, und nicht als Belastung. Er ist sicher, dass die Menschen helfen. Aus Mitgefühl. Weil die angekommenen Flüchtlinge aufgrund ihres christlichen Glaubens im Irak verfolgt werden“ (Aachener Zeitung 06.04.2009).

63


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

„Fast alle einbürgerungswilligen Ausländer im Südwesten bestehen den seit einem Jahr vorgeschriebenen Test. Von September 2008 bis Ende Juli 2009 haben 8365 Menschen den Einbürgerungstest absolviert – davon 8256 mit Erfolg (98,7 Prozent). Nach Ansicht des Integrationsexperten Kerim Arpad hält der Fragebogen aber viele Ausländer davon ab, Deutsche zu werden: ‚Der Test ist keine schöne Willkommenskultur.‘ Der Städtetag Baden-Württemberg spricht dagegen von einem notwendigen Prüfstein für die Berechtigung zur Einbürgerung“ (dpa – hier: Badische Zeitung 26.09.2009). „Die Grünen-Integrationsexpertin Mürvet Öztürk mahnte deshalb die Landesregierung, in der Zwischenzeit ‚das Handeln nicht zu vergessen‘. Es gebe schon viele Erkenntnisse auf kommunaler Ebene, hier müsse konkretes Handeln auch ansetzen. Auch die Kommission selbst sollte sich ‚mutige Ziele‘ zu konkreten Verbesserungen etwa im Bildungsbereich setzen, forderte sie. Vor allem aber müsse sie einen gemeinsamen Konsens schaffen, eine ‚Willkommenskultur‘ etablieren helfen und Ängste in den Köpfen abbauen“ (Frankfurter Neue Presse 07.10.2009). „Seit 2003 gibt es in Saarbrücken ein Zuwanderungs- und Integrationsbüro (ZIB). Die Vorsitzende, Veronika Kabis, erklärt im Interview: Was ist die Aufgabe der Integrationspolitik? Sie muss die Migranten an die Institutionen hinführen, an Beratungs- und Bildungsangebote. Das ist Aufgabe der Kommune und der Einrichtungen in den Stadtteilen. Wir müssen eine Willkommenskultur schaffen, die die Menschen motiviert, sich einzubringen“ (Saarbrücker Zeitung 09.10.2009). „Sachsens Ausländerbeauftragte De Haas (65) ist seit 2004 im Amt und leitet es noch bis zur Neuwahl eines neuen Beauftragten geschäftsführend. ‚Zu einer Kultur des Willkommens zählt auch, dass sie verlässliche und kompetente Ansprechpartner haben‘“ (Leipziger Volkszeitung 19.10.2009). „Podiumsdiskussion zur Integration von Flüchtlingen im CPH – ‚Bayern braucht eine Willkommenskultur‘ [Titel] Elke Leo, die seit 2008 für die Grünen im Stadtrat sitzt, antwortet ganz klar: ‚Wenn wir die entsprechenden Mehrheiten bekommen, wird sich eine Willkommenskultur entwickeln.‘ Noch herrsche in Bayern zu sehr das Problemdenken, statt des Bewusstseins, dass Vielfalt bereichernd sein kann. Leo plädiert unter anderem für die Abschaffung von Gemeinschaftsunterkünften, für mehr Investitionen in Integrationsprojekte“ (Nürnberger Zeitung 16.07.2009).

64


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

Die mediale Willkommenskultur 2010 Auszüge aus Berichten zum Thema Flüchtlinge und Willkommenskultur (Zufallsauswahl aus Lokal- und Regionalzeitungen) „Rheinland-Pfalz registriert immer weniger Einwanderer. 2007 wurden 6.667 Ausländer eingebürgert, 2008 nur noch 5.159, sagte Sozialministerin Malu Dreyer (SPD). […] Die Integra­ tionsbeauftragte des Landes, Maria Weber (FDP), ergänzte: ‚Wir sind ein Einbürgerungsland. Wir brauchen Zuwanderung aus demografischen und wirtschaftspolitischen Gründen. Dafür brauchen wir eine Willkommenskultur‘“ (Rhein-Zeitung 14.01.2010). „Berlin – ‚Wir müssen Kriterien festlegen, die unserem Staat wirklich nützen‘, sagte der innenpolitische Sprecher der Berliner CDU, Peter Trapp, der ‚Bild‘-Zeitung. Maßstab müsse deswegen neben einer guten Berufsausbildung und fachlichen Qualifikation ‚auch die Intelligenz sein‘. ‚Ich bin für Intelligenztests bei Einwanderern‘, betonte Trapp“ (Berliner Morgenpost 29.06.2010). „Nach den Vorstößen aus der Union für Intelligenztests bei Zuwanderern haben aktuelle Statistiken über eine anhaltend niedrige Einbürgerungszahl die Debatte über eine sogenannte Willkommenskultur in Deutschland angefacht. Die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer (CDU) plädierte am Dienstag für ‚eine Willkommenskultur, die Migranten mit ihren Potenzialen offen empfängt‘“ (Badische Zeitung 30.06,2010). „,Wir brauchen eine Willkommenskultur, die Migranten mit ihren Potenzialen offen empfängt. In den Einbürgerungsbehörden sollte verstärkt die Hand ausgestreckt werden‘, sagte die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU)“ (Heilbronner Stimme 09.07.2010). „,Die Zuwanderung kann den Arbeitskräftemangel dämpfen, aber nicht beheben‘, sagte von der Leyen. De Maizière betonte, für Ingenieure aus Nicht-EU-Ländern gelte schon jetzt ein erleichtertes Verfahren. Ohnehin sei das Zuwanderungsrecht schon jetzt flexibel genug. Viele Ausländer wollten aber nicht nach Deutschland kommen, weil es hier zu Lande häufig an einer ‚Willkommenskultur‘ mangele. Die Angebote an Hochqualifizierte seien im Vergleich zu denen in anderen Ländern zudem oft nicht attraktiv genug“ (Rheinische Post 25.08.2010). „,Es müssen uns auch Menschen mit fremdländisch klingenden Namen willkommen sein‘, sagte Grünen-Landtagsfraktionschef Winfried Kretschmann gestern in einer Debatte im Landtag. […] Das Land brauche keine Leitkultur, sondern eine Willkommenskultur. […] Der Integrations-

65


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

beauftragte und Justizminister Ulrich Goll (FDP) verwies dagegen auf Erfolge: ‚Wir haben die höchste Erwerbsquote bei Migranten und die geringste bei den Sozialleistungsempfängern‘“ (Heilbronner Stimme 28.10.2010). „Ein neues ‚Wir-Gefühl‘, das Menschen mit und ohne Migrationshintergrund einschließt, als Fundament der Integration, fordert auch FDP-Stadtverordneter Stefan von Wangenheim. Inte­ gration bedeute nicht Assimilation. Er plädiert für eine ‚Willkommenskultur‘, zumal Deutschland Zuwanderung brauche und ein Einwanderungsland sei. Dafür erntete er Widerspruch von einem Zuhörer, der für sich in Anspruch nahm, für die Mehrheit der Deutschen und der FDP-Wähler zu sprechen. Er kritisierte, in der Diskussion werde zu viel Rücksicht auf Minderheiten genommen“ (Frankfurter Neue Presse 05.11.2010). „Selbst im Krisenjahr 2009 hätten fehlende Spezialisten die Wertschöpfung um 15 Milliarden gedrückt, warnte Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP). […] Das Handlungsgebot sei offenkundig, Deutschland brauche ein modernes Zuwanderungsrecht und eine ‚Willkommenskultur‘. Denn tatsächlich gäbe es seit zwei Jahren mehr Ab- als Zuwanderer, 2009 per Saldo 13.000. Gerade gut qualifizierte und leistungsbereite Mitbürger verabschiedeten sich“ (Fränkischer Tag 19.10.2010).

Die mediale Willkommenskultur 2015 Auszüge aus Berichten zum Thema Flüchtlinge und Willkommenskultur (Zufallsauswahl aus Lokal- und Regionalzeitungen im 1. Quartal 2015) „Das Forum für Willkommenskultur berät Willkommensinitiativen und qualifiziert deren Mitglieder, damit sie den Flüchtlingen sinnvolle Hilfestellungen bieten können“ (Kölner Stadtanzeiger 13.01.2015). „Augustinum unterstützt Flüchtlingshilfe [Titel] ‚Unser größtes Pfand ist die derzeit großartige Willkommenskultur in Überlingen‘, sagt Pursche. Auch wenn es noch viel zu tun gebe. Der Landkreis müsse die alten Unterkünfte gründlich sanieren, dies sei überfällig“ (Südkurier 13.01.2015). „Auch Landrat Ralf Reinhardt (parteilos) sprach sich für eine Willkommenskultur aus. ‚Niemand verlässt gerne seine Heimat in dem Wissen, vielleicht niemals mehr zurückkehren zu können.‘ Flüchtlinge seien eine Bereicherung für Deutschland. ‚Statt Abwanderung haben wir Zuwanderung. Endlich‘“ (Märkische Allgemeine 14.01.2015).

66


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

„Gemeinsam mit Vereinen, Kirchengemeinden und engagierten Bürgern will der Magistrat in den nächsten Wochen ein Programm erarbeiten, welche Hilfen den in Rüsselsheim untergebrachten Flüchtlingen über die grundlegenden Dinge hinaus noch angeboten werden können […]. ‚Entwurf eines Konzeptes zur Stärkung der Anerkennungs- und Willkommenskultur in Rüssel­sheim‘, heißt das Schriftstück, das Bürgermeister Dennis Grieser (Grüne) am Donnerstag der Presse vorstellte“ (Main-Spitze 23.01.2015). „Willibrord Haas, erster Beigeordneter der Stadt Kleve, sagt: ‚Die Stadt legt großen Wert auf eine Willkommenskultur. Das Ziel ist es, allen Flüchtlingen eine Privatwohnung zu ermöglichen‘“ (Rheinische Post 24.01.2015). „Von einer Bürgerinitiative ausgehend, will die Stadt Jarmen eine Art Willkommenskultur für die demnächst erwarteten Flüchtlinge auf die Beine stellen. Und auch im benachbarten Tutow laufen bereits Bemühungen zur Integration der Menschen“ (Nordkurier 25.02.2015). „,Den Flüchtlingen muss geholfen werden‘ [Titel] Am WZ-Mobil zeigten sich die meisten Wupper­taler hilfsbereit. Kritische Stimmen gab es nur wenige […]. Für Bezirksbürgermeister Heiner Fragemann bleibt es auch angesichts des neuen Übergangsheims in der Grundschule bei der Solidarität für Flüchtlinge: ‚Eine Willkommenskultur hat nichts mit der Zahl zu tun‘“ (Westdeutsche Zeitung/Wuppertal 28.02.2015). „Flüchtlinge: Hilfe setzt auf vielen Ebenen ein [Titel] Willkommenskultur: Private und kommunale Initiativen zeitigen erste Erfolge – 185 Neuankömmlinge in der VG Zell im Vorjahr“ (RheinZeitung 16.03.2015). „Über 1000 Flüchtlinge leben derzeit im Landkreis Passau. Und man stellt sich auf weitere ein: Die Regierung sucht nach wie vor dezentrale Unterkünfte, der Landkreis wirbt für eine Kultur des Willkommens, Schulen richten Asylbewerber-Klassen ein, Gemeinden sind stolz auf ihre Helferkreise“ (Passauer Neue Presse 07.03.2015). „,Wir haben uns in Idstein dafür entschieden – Politik und Arbeitskreise –, dass die Menschen dezentral in kleinen Gruppen untergebracht werden – und zwar mitten unter uns, in unserer Bürgergesellschaft. Das ist für uns die richtige Lösung, weil in unserer Stadt eine positive Stimmung herrscht. Daraus resultiert eine hervorragende Willkommenskultur‘, sieht es Herfurth“ (Wiesbadener Tagblatt 18.03.2015).

67


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Die mediale Willkommenskultur 2016 Auszüge aus Berichten zum Thema Migration, Flüchtlinge und Willkommenskultur (Zufallsauswahl aus Lokal- und Regionalzeitungen im 1. Quartal 2016) „Jetzt erst scheinen die Politiker aufzuwachen. Innenminister de Maizière kündigte schon mal an, Straffälligkeiten strenger in die Asylverfahren einzubringen. Das ist sicher gut und richtig, aber es löst nicht das Problem, das seit Jahren wahlweise mit dem Mythos der ‚Willkommenskultur‘ oder der ‚Multi-Kulti-Gesellschaft‘ verschleiert wird. Dieses Problem ist, dass sich breite Schichten der Zuwanderer der Integration widersetzen“ (Taunus Zeitung 07.01.2016). „Nur wenige Monate liegen zwischen den Bildern: Münchner begrüßen klatschend Flüchtlinge am Bahnhof und skandieren ‚Refugees welcome‘ – Flüchtlinge willkommen. In Köln schreit wenige Tage nach den sexuellen Übergriffen von Ausländern auf deutsche Frauen ein wütender Mob Hassparolen in die Kameras. Die Stimmung ist gekippt. Mitgefühl und Verständnis für die Menschen, die Krieg, Folter und Bomben entfliehen, in mickrigen Schlauchbooten bei der Fahrt übers Mittelmeer erneut ihr Leben riskieren, um sich und ihren Kindern ein sicheres Leben zu bieten, verwandeln sich in Ablehnung“ (Passauer Neue Presse 16.01.2016). „Und pünktlich zum großen Finale der wochenlangen Spendensammlung setzte der Handballsport ein weiteres Zeichen für eine offene Willkommenskultur in Worms. Kurz vor dem Anpfiff des letzten Handballspiels des Jahres 2015 übergaben die Oberligamannschaft der HSG Worms und deren Gäste vom HV Vallendar weitere 40 Happy-Boxen an die Initiatoren“ (Wormser Zeitung 18.01.2016). „Die kritischen Stimmen werden lauter. Wo immer Flüchtlinge auf die hiesige Gesellschaft treffen, mehren sich Zweifel und Skepsis. Auf der einen Seite dominiert die Willkommenskultur, auf der anderen Seite macht sich Abneigung breit. Ist das gesunder Menschenverstand, Pessimismus oder schon Rassismus? Dieser Frage ging ein Vortrag im Borchener Mallinckrodthof nach“ (Neue Westfälische/Paderborner Kreiszeitung 23.01.2016). „Die Grünen-Vorsitzende Simone Peter sagte, Merkel gebe neue Töne von sich, die ‚ein trauriges Abrücken von der Willkommenskultur‘ markierten. Seit fast fünf Jahren herrscht Bürgerkrieg in Syrien, ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht. Friedensgespräche in Genf sollen den Weg für eine politische Lösung bahnen“ (Nürnberger Zeitung 01.02.2016).

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Die Erfindung der „Willkommenskultur“

„Dass die Aktion in Torgelow stattfinden konnte, ist in erster Linie […] ehrenamtlichen Helfern aus der Flüchtlings-Gemeinschaftsunterkunft in Torgelow und aus dem Verein Willkommenskultur zu verdanken. Sie kennen den an Blutkrebs erkrankten Muslim. ,Wir können nichts gegen die Krankheit tun, aber mit dieser Aktion können wir die Hoffnung stärken, dass ein lebensrettender Stammzellenspender gefunden wird‘“ (Nordkurier/Haff-Zeitung 22.02.2016). „‚Hannover war gut zu uns‘, sagt die heute 38-jährige Düzen Tekkal, ‚durch die Politik der SPD war unsere Integration, waren unsere Karrieren möglich. Aber dann hat sie uns nicht mitgenommen. Wir brauchen jetzt Ankommenskultur statt Willkommenskultur‘“ (Leipziger Volkszeitung/ Dresdner Neueste Nachrichten 10.03.2016). „Die Landkreise Wunsiedel, Tirschenreuth, Hof und die Stadt Hof sind vier der bundesweit 218 Kommunen, die seit 2015 bis 2019 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Geld für Demokratieförderung und zur Extremismusprävention bekommen. […] Gefördert werden Projekte, die die politische Bildung, die Vernetzung und das gegenseitige Kennenlernen von Einheimischen und Asylsuchenden ermöglichen und verbessern. Gefragt sind Vorhaben, die Positionen gegen Menschenfeindlichkeit stärken, beispielsweise mit Aktionen gegen Antisemitismus, Homophobie oder Islam-Feindlichkeit sowie auch aktuelle Projekte zur Willkommenskultur“ (Frankenpost/Marktredwitz 30.03.2016).

69


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

2. Die Politik – Vom Argument zur Kampagne

ner primär ökonomischen Motivation heraus“ (Stehr/Jakob 2015). Nach Maßgabe dieser Zwecksetzung wurde

Im August 2010 übernahm Innenminister

das neue Schlagwort in der Wirtschaft und von

Thomas de Maizière das Stichwort Willkom-

der Politik instrumentell durchbuchstabiert

menskultur, als er den Forderungen der In-

und entsprechend operationalisiert. Eine die-

dustrievertreter nach Bewilligungserleichte-

ses Verständnis repräsentierende Umschrei-

rungen Folgendes entgegenhielt: „Wir haben

bung lautete:

in Deutschland leider keine ‚Willkommenskultur‘. Entscheidend ist doch auch, wie die Men-

„Der Begriff ‚Willkommenskultur‘ signali-

schen behandelt werden, die zu uns kommen.

siert ein aktives Zugehen auf ausländische

„Da liegt

Da liegt manches im Argen“ (Handelsblatt

Fachkräfte und verdeutlicht darüber, dass

manches

10.08.2010). Diese Reklamation einer „not-

erkannte gesellschaftliche Defizite beho-

im Argen“

wendigen“ Willkommenskultur signalisierte

ben werden sollen. Es handelt sich damit

einen Paradigmenwechsel (vgl. Buscher u. a.

um einen politisch-programmatischen

2013: 3). Von nun an befassten sich zahllose

Begriff der Arbeitsmarktpolitik. Willkom-

Gesprächskreise, Ausschüsse und Treffen von

menskultur wird definiert als alle zwischen

Beauftragten im Umfeld von Politik und Wirt-

den beteiligten Institutionen des Anwer-

schaft mit der Implementierung dessen, was

belandes abgestimmten Maßnahmen, die

unter Willkommenskultur verstanden wurde.

darauf gerichtet sind, die mit einer Ein-

Die Bundesvereinigung deutscher Arbeit-

wanderung nach Deutschland tatsächlich

geberverbände (BDA) verteilte im Juni 2012

oder vermeintlich verbundenen Hürden

eine Broschüre namens „Willkommenskul-

(‚Transaktionskosten‘) für Migranten und

tur – ein Leitfaden für Unternehmen“. Darin

ihre Angehörigen zu senken, wobei dieser

wurde den Geschäftsleitungen klargemacht,

Aufwand allein aus Sicht der Einwanderer

dass ausländische Mitarbeiter ihr Unterneh-

bestimmt wird. Denn an sie richten sich

„Zugehen

men „bereichern“ könnten, sofern ihnen dort

diese willkommen heißenden Maßnah-

auf Fachkräfte“

„Sprachkenntnisse, Kulturkompetenz, Mobili-

men.“ (Siegert/Buscher 2013: 69 f.)

tät, Belastbarkeit, Mut und Risikobereitschaft“ vermittelt würden.48 Zusammengefasst: „Der

Das Dreiphasenmodell

Begriff Willkommenskultur – ebenso wie die

Die Bundesregierung blieb nicht untätig.49 Da-

Forderung nach selbiger – entstand aus ei-

von ausgehend, dass die regionalen Amts- und

48 Zit. nach Die Welt 26.07.2012. Unter der Überschrift „Deutschland unattraktiv für qualifizierte Ausländer“ wurde auch Michael Stahl von Gesamtmetall zitiert: „,Eines unserer größten Probleme ist die Willkommenskultur‘, Deutschland werde im Ausland immer noch als bürokratisch und intolerant wahrgenommen.“ 49 Beschlossen wurden Gesetzesänderungen und neue Verordnungen zur Verbesserung der Aufenthalts- und Arbeits­ bedingungen vor allem für hochqualifizierte Zuwanderer.

70


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

Funktionsträger Handreichungen zur Organisa-

Zum Beispiel sind hochqualifizierte Neu-

tion des neuen Willkommenskulturklimas be-

zuwanderer insbesondere dann an einem

nötigten, schufen das Bundesministerium des

langfristigen Aufenthalt in Deutschland

Innern (BMI) und das Bundesministerium für

interessiert, wenn sie in Deutschland auf

Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)

eine ausgeprägte Anerkennungskultur

„Richtlinien zur Förderung von Maßnahmen zur

und eine insgesamt offene Gesellschaft

gesellschaftlichen und sozialen Integration

treffen.“ (BAMF 2011)50

von Zuwanderinnen und Zuwanderern“, die im März 2010 in Kraft traten. Der im fachöffent-

Diese Umschreibung traf die von der Wirtschaft

lichen Diskurs mit der Bezeichnung „unzurei-

gewollte Zwecksetzung: Die neue Willkom-

chende Willkommenskultur“ deutlich gemach-

menskultur solle insbesondere „im Sinne der

te Problemdruck bewirkte, dass nun auch die

Attraktivität Deutschlands für hochqualifizierte

Ämter und Behörden mit diesem Schlagwort

Zuwanderer“ funktionieren (ebd.). Doch dann,

hantierten. So mühte sich das Bundesamt für

im Laufe der folgenden zwei Jahre, wurde der

Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Sommer

Begründungszusammenhang verändert: Die

Neue BAMF-­

2011, das Begriffskonglomerat (Willkommens-

utilitäre Zwecksetzung verschwand zugunsten

Richtlinien 2011

und Anerkennungskultur plus Integration)

einer auf das Gesellschaftsganze bezogenen

im Sinne der auf Integration ausgerichteten

normativen Rechtfertigung. In seinem Projekt-

„Richtlinien“ zu beschreiben. Im Mai 2011 lau-

bericht des Jahres 2012 schrieb das BAMF, es

tete seine Definition so:

gehe jetzt um die „Förderung des sozialen Zusammenhalts durch Etablierung einer Willkom-

„Legt man einen modellhaften Zuwan-

menskultur“ (S. 13). Diese Etablierung bedeu-

derungsprozess aus den drei Phasen

tet, „die gesellschaftlichen Rahmenbedingun-

‚Vorintegration‘, ‚Erstorientierung‘ und

gen für Menschen mit Migrationshintergrund

‚Etablierung in Deutschland‘ zugrunde,

möglichst attraktiv zu gestalten, und beziehe

so eignet sich die Verwendung des Be-

sich auf die Phase der Erstinformation und Erst­

griffs Willkommenskultur insbesondere

integration“. Besonders wichtig war nun dem

für die ersten beiden Phasen. Hier findet

BAMF dies: „Das Willkommenheißen darf nicht

das eigentliche ‚Willkommen‘ statt und

nur durch offizielle Stellen erfolgen. Vielmehr

hier können/sollen Angebote der Vor-

erwächst das Gefühl, willkommen zu sein, aus

integration dafür sorgen, dass Zuwan-

persönlichen Begegnungen und wird durch das

„Persönliche

derer zielgruppengerecht auf das Leben

zivilgesellschaftliche Engagement unterstützt“

Begegnungen“

in Deutschland vorbereitet werden. [...]

(S. 15).

50 http://www.bamf.de/SharedDocs/Meldungen/DE/2011/20110519-nuernberger-tage-integration-willkommenskultur. html (abgerufen Januar 2017).

71


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Rückblickend kann man diesen Begrün-

gab es bereits mehr als 200.000 Asylanträge

Übernahme in

dungswandel als einen Strategiewechsel deu-

in Deutschland) für die Einwanderungs- und Ar-

Parteiprogramme

ten, nachdem das BAMF wie auch einschlägige

beitsmarktpolitik reserviert. Nachfolgend ein-

Einrichtungen auf Länderebene erkannt hatten,

schlägige Passagen aus den Parteibeschlüssen:

dass bundesbehördliche Maßnahmen allein nicht greifen. Folgenreicher sei eine im Alltag

Beschluss des SPD-Parteitages im De­

spürbare, veränderte Einstellung in der Bevöl-

zember 2011: „Fachkräftemangel und

kerung. In den Projekt- und Tagungsberichten

Einwanderungspolitik:

des BAMF lässt sich dieser Wandel nachvollzie-

berichten, dass es oftmals nicht gelingt,

hen. So wurden in den Jahren 2011 bis 2014 sol-

die besten Köpfe für Existenzgründungen

che „Best-Practice“-Projekte gefördert, die sich

in Deutschland zu akquirieren. Wir brau-

„Wir brauchen

am Ort des Geschehens etwa um die „Stärkung

chen erleichterte Visaregelungen und vor

vor allem ...“

der interkulturellen Kompetenz“ zwischen Deut-

allem eine Willkommenskultur [Hervorhe-

schen und Migranten, um „Gewalt- und Krimina-

bungen M. H.] für Hochqualifizierte, wie

litätsprävention“ und um die „Erziehungskom-

sie z. B. in den USA oder in Canada, aber

petenz“ etwa türkischer Eltern kümmerten.

auch in Singapur Gang und Gebe sind.“

51

Unternehmen

(Beschlussbuch S. 100) Willkommenskultur in den

Beschluss des SPD-Bundesparteitages

Parteiprogrammen 2010-2014

vom 14. bis 16. November 2013: „Auf-

Dieser Lernprozess auf der behördlichen Voll-

grund der demographischen Entwicklung

zugsebene lässt sich auf der Ebene der Partei-

werden wir in Zukunft noch stärker darauf

enpolitik nicht nachzeichnen. In den maßgeben-

angewiesen sein, junge und talentierte

den Parteiprogrammen und Entschließungen

Fachkräfte für ein Leben in Deutschland

wurde weiterhin getrennt zwischen den utili-

zu gewinnen. Das kann nur mit einer ech-

tären Zwecken, die sich mit dem ökonomisch

ten Willkommenskultur gelingen, für die

gewollten „Einwanderungsland Deutschland“

wir uns offensiv einsetzen.“ (Beschluss-

verbinden, und den humanitären Geboten, die

buch S. 133)

sich aus dem Asylrecht ergeben. Dementspre-

Beschluss des CDU-Parteitags im Novem­

chend blieb das Schlagwort Willkommenskultur

ber 2011 (gemeinsam mit der CSU): „In

in den Parteiprogrammen bis ins Jahr 2014 (da

den nächsten zehn Jahren soll der Anteil

52

51 Ein gutes Beispiel für andere: Unter dem Dach des Caritasverbandes betrieb der „Sozialdienst katholischer Frauen e. V.“ in Bamberg drei Jahre lang das Projekt „STOPP! gegen Rassismus – für Zivilcourage und interkulturelle Sensibilisierung für Oberfranken West“. Dabei wurden u. a. „aktuelle Recherchen zur regionalen Antirassismusarbeit“ durchgeführt und „Datenmaterial zu Rechtsextremismus beschafft, ausgewertet und Kooperationspartnern sowie der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt“ (Projektbericht 2012: 97). 52 Den Begrifflichkeiten des Bundesinnenministeriums zufolge wird zwischen Zuwanderern (alle Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, nach Deutschland kommen und wohnhaft werden wollen) und Einwanderern (deren Einreise und Aufenthalt von „vornherein auf Dauer geplant und zugelassen werden“) differenziert.

72


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

ausländischer Wissenschaftlerinnen und

erfolgreichen Einstieg in das Leben in

Wissenschaftler an den Hochschulen auf

Deutschland und den Start in den Berufs-

„Start in den

mindestens 20 Prozent steigen. Attrak-

alltag unterstützen.“ (Kapitel: „Vielfalt be-

Berufsalltag“

tive Rahmenbedingungen sind Teil einer

reichert – Willkommenskultur schaffen“)

neuen Willkommenskultur. Dazu gehören

Beschluss des CDU-Parteitags (gemein­

neben langfristigen Beschäftigungsper-

sam mit der CSU) vom 5. April 2014:

spektiven für Nachwuchswissenschaft-

„Willkommens- und Anerkennungskultur

lerinnen und Nachwuchswissenschaftler

für Fachkräfte[:]„Um den wirtschaftlichen

auch Bleibemöglichkeiten für Hochschul-

Erfolg und den Wohlstand in Deutschland

absolventen ausländischer Herkunft.

auf Dauer zu erhalten, müssen wir ver-

Insbesondere dort, wo Fachkräftebe-

stärkt qualifizierte und leistungsbereite

darf besteht, wollen wir prüfen, ob eine

Menschen aus anderen Ländern für uns

Verbesserung möglich ist, zum Beispiel

gewinnen. Sie sind bei uns willkommen.

durch eine Senkung der für eine Aufent-

Bereits heute fehlen uns Fachkräfte in

haltsgenehmigung nötigen Einkommens-

einigen Branchen. Dieser Mangel wird in

grenze.“ (Beschluss „Bildungsrepublik

den nächsten Jahren zunehmen. Daher

Deutschland“, S. 38)

haben wir die Weichen für die Zuwande-

Beschluss des CDU-Parteitags (gemein­

rung von Fachkräften bereits richtig ge-

sam mit der CSU) am 4. Dezember 2012:

stellt: Berufsabschlüsse aus dem Ausland

„Wir brauchen eine gelebte Willkom-

werden leichter anerkannt. Und die soge-

menskultur und eine gezielte Ansprache

nannte Blaue Karte gibt Hochqualifizier-

von Hochqualifizierten im Ausland. Eine

ten ein Aufenthaltsrecht in Deutschland

Willkommenskultur muss sichtbar und

und der EU. Zudem setzen wir uns für eine

spürbar werden – beginnend mit der An-

Willkommenskultur ein, die dafür sorgt,

kunft in Deutschland [...].“ (Beschluss

dass Deutschland für qualifizierte Zuwan-

Für „qualifizierte

„Starkes Deutschland“)

derer attraktiver wird.“

Zuwanderer“

CDU-Wahlprogramm

2013:

„Willkom-

menskultur für kluge Köpfe[: …] Wir brau-

Diese Passagen zeigen, dass sich beide Volks-

chen eine Kultur, die eine schnelle und

parteien um den „Wohlstand in Deutschland“

erfolgreiche Integration ermöglicht. Eine

sorgen. Ihnen ging es seit 2008 (sogenann-

solche Willkommenskultur muss sichtbar

te „Einbürgerungskampagne“ in Rheinland-

und spürbar werden – beginnend bereits

Pfalz) und noch im Jahr 2014 allein darum, dass

in den Herkunftsländern […]. Wir wollen,

möglichst viele „Hochqualifizierte“, „kluge

dass Rathäuser zu ‚Willkommenszentren‘

Köpfe“ usw. möglichst lange in Deutschland

werden, die neue Zuwanderer in prakti-

arbeiten. Da aber das ausländerunfreundliche

schen und rechtlichen Fragen für den

Meinungsklima in Deutschland dem entgegen-

73


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

stehe, solle jetzt eine „echte“, „neue“, „ge-

Beschluss des CSU-Parteitags 29. und

lebte“ Willkommenskultur „etabliert“ werden.

30. Oktober 2010: „Ungesteuerte Zuwan-

Dieser Appell hat keinen realen Adressaten;

derung birgt das große Risiko neuer In-

wo einer genannt wird, dient er als Sinnbild

tegrationsprobleme. Ein prognostizierter

(Rathäuser als „Willkommenszentren“ u. Ä.).

Fachkräftemangel kann kein Freibrief für

Deutlich wird indessen: Den Parteien liegt dar-

ungesteuerte Zuwanderung sein. Der Zu-

an, „dass Deutschland für qualifizierte Zuwan-

zug von Hochqualifizierten und von Fach-

derer attraktiver wird“ (siehe oben). Überspitzt

kräften ist ausreichend geregelt“ (7-Punk-

gesagt: Die Bürger und Einrichtungen sollen

te-Integrationsplan, S. 2); „Der Sprach-

„Sprachnachweis

sich im Interesse der deutschen Industrien,

nachweis muss mit aller Konsequenz ein-

einfordern“

des Arbeitsmarktes und des Wirtschaftswachs-

gefordert werden. Für den Nachzug von

tums aktiv dafür einsetzen, dass Zuwanderer,

Kindern soll das Alter, ab dem die deut-

sofern qualifiziert und arbeitsam, sich unter

sche Sprache beherrscht werden muss,

Deutschen so wohlfühlen, dass sie als Migran-

von 16 auf 12 Jahre herabgesetzt werden.

ten möglichst lange dableiben.

Je jünger Kinder bei der Einreise sind,

Opportunistisches

Dieses opportunistische Denken wurde von

desto besser können sie sich inte­grieren

Denken

der CSU, soweit sie für Bayern spricht, zunächst

und desto größer sind ihre Chancen auf

nicht geteilt. Sie reklamierte seit 2007 eine

Teilhabe in Gesellschaft und Arbeits-

kulturkonservative, die Werteordnung schüt-

markt“ (ebd., S. 3); „Jeder Integrations-

zende, weiche Integrationspolitik, die den

willige hat Anspruch auf Förderung und

„Grundwertekonsens“ nicht gefährden dürfe.

Unterstützung. Wer nicht bereit ist, sich

Diese Position machte sie mit ihrem „Integra-

zu integrieren, muss konsequent sank-

tionsplan“ 2010 erneut augenfällig (siehe die

tioniert werden. […] Wer die Inte­gration

folgenden Beschlusstexte). Drei Jahre später –

seiner Familienangehörigen behindert,

zum Start der renovierten Großen Koali­­­­­t­i­on –

wird wie bei eigener Integrationsverwei-

ändert die CSU ihr Argumenta­tionsmuster und

gerung sanktioniert“ (ebd., S. 4); „Die

schwenkt auf den Opportunitätskurs der Koali-

Verhinderung von Parallelgesellschaften

tionspartner ein. 2014 sieht sie auch bei ihren

muss eine Querschnittsaufgabe für alle

Bayern gewisse Defizite im Umgang mit Mi­

Politikbereiche werden: im Einwande-

gran­ten und Flüchtlingen. Jedenfalls wünscht

rungsrecht, in der Bildungspolitik, in der

sie zum Thema Willkommenskultur eine PR-

gesamten Gesellschaftspolitik“ (ebd.,

CSU will

Kampagne, mit der die Situation der Flücht-

S. 5); „Jede humane und solidarische Ge-

PR-Kampagne

linge und Asylsuchenden den Einheimischen

sellschaft braucht einen Wertekonsens,

nahegebracht werden soll.

der im Alltag freiwillig und aus Überzeugung gelebt wird. Deshalb: Integrationsbereitschaft und Integrationsfähigkeit

74


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

müssen als zusätzliche Voraussetzung

vor allem den Ausländerbehörden auferlegt,

für gelingende Integration eingefordert

die sich nun als „Dienstleister“ für Migranten

„Dienstleister“

werden“ (ebd., S. 6); „Die Einbürgerung

definieren (sollen). Zum andern wird der „ge-

für Migranten

ist als Abschluss erfolgreicher Integration

sellschaftliche Zusammenhalt“ beschworen

zu verstehen“ (ebd., S. 7).

und zugleich für eine „interkulturelle Öffnung

Beschluss des CSU-Parteitags vom 22.

von Staat und Gesellschaft“ geworben, die ins-

und 23. November 2013: „Erforderlich

besondere „Ehrenamtliche“ mit Leben zu füllen

sind außerdem die weitere Vereinfachung

hätten – Formulierungen, deren Widersprüche

der Verfahren in den kommunalen Aus-

und Mehrdeutigkeiten quasi zwangsläufig zu

länderämtern und die Etablierung einer

einem Auslegungsstreit führten.

eigenen Willkommenskultur. Bayern wird sich auf Bundesebene für die notwendi-

Koalitionsvertrag der drei Regierungspar­

gen ausländerrechtlichen Maßnahmen

teien vom 16. Dezember 2013, im Kapitel

einsetzen.“ (Beschlussbuch S. 84 f.)

„Wachstum, Innovation und Wohlstand“:

Beschluss des CSU-Parteitags vom 12.

„Wir setzen uns für bedarfsgerechte qua-

und 13. Dezember 2014: „Willkommens-

lifizierte Zuwanderung ein und wollen

kultur – Öffentlichkeitsarbeit[:] Die CSU-

insbesondere eine größere Mobilität im

Fraktion im Bayerischen Landtag soll bei

europäischen Arbeitsmarkt erreichen.

der Bayrischen Staatsregierung darauf

Flankierend wollen wir die Willkommens-

hinwirken, in verschiedenen Medien eine

und Bleibekultur für ausländische Fach-

Informationskampagne in Bezug auf die

kräfte in Deutschland verbessern“ (S. 28).

‚Willkommenskultur‘ zu starten, um das

Unter „Zusammenhalt der Gesellschaft“

öffentliche Verständnis für die Nöte und

heißt es:

Belange von Migranten, Flüchtlingen und

„Wir werden die Willkommens- und An-

Asylsuchenden zu steigern.“ (Beschluss-

erkennungskultur in unserem Land stär-

buch S. 197)

ken. Dies fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt und steigert zugleich die

Die drei „Kulturen“:

Attraktivität unseres Landes für ausländi-

Willkommen, Anerkennen, Bleiben

sche Fachkräfte, die wir brauchen.

Zum Jahresende 2013 versucht der neue

Für die Verbesserung der Willkommens-

Koali­tionsvertrag der Bundesregierung – ab-

kultur haben Ausländerbehörden eine

weichend von den deklamatorischen Partei-

Schlüsselfunktion inne. Viele Ausländer-

beschlüssen – eine Art Quadratur des Kreises:

behörden haben daher begonnen, den

Zum einen dient die (jetzt so genannte) „Will-

Dienstleistungscharakter für Migranten

kommens- und Bleibekultur“ weiterhin dem

mehr in den Vordergrund zu stellen“

Zweck der Arbeitskräftegenerierung und wird

(ebd., S. 74).

75


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Und: „Zur Willkommens- und Anerken-

Bürger erwarten wir auch von Zuwande-

nungskultur gehört die interkulturelle

rern die Anerkennung unserer Rechtsord-

Öffnung von Staat und Gesellschaft. Wir

nung, die Verantwortung für die eigene

setzen uns dafür in allen Lebensbereichen

Bildung, für die eigene Emanzipation und

ein, insbesondere im Bereich des ehren-

für den eigenen Lebensunterhalt. Voraus-

amtlichen Engagements (z. B. Feuer­wehr,

setzung dafür ist das Beherrschen der

Rettungsdienste) und der Kultur, im Sport

deutschen Sprache. Sie ist der Schlüssel

und im Gesundheits- und Pflegebereich“

zu einem gesellschaftlichen Miteinander.

(ebd., S. 75).

Wir bekennen uns aber auch klar dazu, dass wir die Voraussetzung dafür schaf-

Die Oppositionsparteien und die „echte“

fen müssen, dass unser Land attraktiv

Willkommenskultur

für die klugen Köpfe ist. Zentral dafür ist,

Erwähnenswert ist auch die Programmatik der

eine Willkommenskultur inhaltlich zu ge-

FDP (Koalitionspartner bis 2013) und die der

stalten und die weitere Öffnung unserer

Grünen, die im Bundestag seit 2013 neben

Gesellschaft voranzutreiben.“

der Partei der Linken in der Opposition sind.

Das Präsidium der FDP, die damals noch

FDP anfangs

Deutlich wird, dass die FDP noch 2012 ihrem

Koalitionspartner war, fasste am 5. März

wie die CSU

Koali­tionspartner CDU bis in einzelne Formu-

2012 unter der Überschrift „Wir halten

lierungen hinein folgt und „die Öffnung der Ge-

Deutschland auf Wachstumskurs“ (Ka-

sellschaft vorantreiben“ möchte, zugleich aber

pitel: „Bildungs-, Arbeits- und Aufstiegs-

denselben kulturkonservativen Duktus (Inte­

chancen“) einen Beschluss. Darin heißt es:

gration als Anpassungsleistung) hochhält wie

„Bei der Zuwanderung ausländischer

die CSU. Bemerkenswert ist der Präsidiums-

Fachkräfte haben wir einen Paradigmen-

beschluss vom März 2012: Hier wird erstmals

wechsel durchgesetzt, der jetzt rasch und

explizit auf die „Herausforderungen“ durch

umfassend umgesetzt werden muss. Aber

den „steigenden Flüchtlingsstrom“ hingewie-

wir dürfen die Tür nicht nur öffnen – wir

sen, die von Politik und Behörden allein nicht

brauchen in Deutschland auch eine neue

bewältigt werden könnten.

Willkommenskultur.“ Und zum Thema Flüchtlingspolitik lautete der Beschluss:

76

Aus dem Grundsatzprogramm der FDP

„Wir Freien Demokraten erkennen die

vom 22. April 2012: „Gerade vor dem Hin-

gewaltigen Herausforderungen, die der

tergrund des demographischen Wandels

steigende Flüchtlingsstrom nach Europa

setzen wir auf gesteuerte Zuwanderung.

mit sich bringt. Es wird nicht ausreichen,

Dafür wollen wir die Möglichkeiten einer

wenn sich allein die Politik diesen He­

aktiven und qualitativen Zuwanderungs-

rausforderungen stellt. Integrationsbe-

politik nutzen […]. Wie von jedem anderen

reitschaft und eine Willkommenskultur


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

müssen von der gesamten Gesellschaft

ten. Dazu gehören vor allem die Einfüh-

gelebt werden.“

rung eines liberalen und transparenten Punktesystems und das Etablieren einer

Im Unterschied zu den beiden Volksparteien

wirklichen Willkommenskultur.“

forderten die Grünen im Jahr 2007 mit dem

Im Kapitel „Einbürgerung erleichtern –

Schlagwort Willkommenskultur keine ver-

Rechte von AsylbewerberInnen stärken“

besserte Arbeitsmarktpolitik, sondern einen

heißt es: „Wir treten deshalb für ein groß-

irgendwie toleranteren Umgang mit den in

zügiges Recht auf Familiennachzug ein

Grüne wollen

Deutschland lebenden Migranten. Erst sechs

sowie für einen sicheren Aufenthaltssta-

mehr Toleranz

Jahre später findet sich im Wahlprogramm der

tus für Menschen, die lange in Deutsch-

Grünen die in etwa gleiche Argumentations-

land leben. Wir wollen eine Willkommens-

linie wie bei den Regierungsparteien, indem

kultur etablieren unter anderem durch

die „wirkliche“ oder „echte“ Willkommenskul-

eine interkulturelle Öffnung von Schulen,

tur dafür sorgen soll, dass sich ausländische

Krankenhäusern, Behörden und anderen

Arbeitnehmer in Deutschland wohlfühlen kön-

öffentlichen Einrichtungen. Die Grund-

nen: Willkommenskultur als Integrationshilfe

rechte gelten für alle in Deutschland le-

nicht für Flüchtlinge und Asylsuchende, son-

benden Menschen.“

dern für Zuwanderer und Ausländer aus der EU.

Beschlüsse des Parteirats der Grünen Berlin, 28. April 2014: „Wir Grüne machen

Bundesvorstandsbeschluss der Grünen

uns stark für eine echte Willkommens-

vom März 2007: „Statt ein Klima der

kultur, die Vielfalt wertschätzt, gerechte

Ausgrenzung und Sanktionierung muss

Teilhabe möglich macht und Freizügigkeit

die Bundesregierung endlich eine Atmo-

als Chance erkennt […]. Statt Abschottung

sphäre der Wertschätzung gegenüber

brauchen wir in Deutschland einen Wan-

Migrantinnen und Migranten und somit

del hin zu einer echten Willkommens-

eine längst fällige Willkommenskultur för-

kultur. Wir wollen EU-Bürgerinnen und

dern.“ (Beschlussbuch S. 6)

-Bürger, die ihr Grundrecht auf Arbeitneh-

Im Wahlprogramm der Grünen von 2013

merfreizügigkeit wahrnehmen, entspre-

steht im Kapitel „Gute Arbeit für gute

chend der gemeinsamen europäischen

Fachkräfte“: „[…] die bessere Förderung

Beschlüsse aktiv dabei unterstützen, hier

von inländischen Arbeitskräften wird

eine Beschäftigung aufzunehmen.“

nicht ausreichen, um den zunehmenden Bedarf an qualifizierten Fachkräften zu

Von der Arbeitsmarkt- zur Flüchtlingspolitik

decken. Vor diesem Hintergrund wollen

Dieser Blick auf die Argumentations- und Be-

wir den Zuzug ausländischer Fachkräfte

gründungsmuster in den Parteiprogrammen

vereinfachen und transparenter gestal-

führt uns das Dilemma der Regierungsparteien

77


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

vor Augen. Offenbar erkannten die Politiker im

sollen in der Zukunft Arbeitgebern auch

2014: neue

Laufe des Jahres 2014, dass die mit „Willkom-

dabei helfen, Flüchtlinge und Asylbewer-

Zwecksetzungen

menskultur“ etikettierten behördlichen Maß-

ber überhaupt erreichen zu können.“ (Die

nahmen zumal bei den Ausländerbehörden

Welt 26.11.2014)

nicht den erwünschten Erfolg brachten – was auch nicht verwundert, weil sich das Image der

Im Folgejahr 2015, als im August viele Hun-

Vollzugsbehörden nur über längere Zeiträume

derttausend Asylsuchende nach Deutschland

hinweg verändern lässt. Zeitgleich stieg die

kamen, brach dieses Programm in sich zusam-

Zahl der asylsuchenden Flüchtlinge vor allem

men. Anstelle der integrativen kamen desinte-

aus Syrien, dem Irak und Afghanistan sprung-

grative Prozesse in Gang, die den gesellschaft-

haft an. So gesehen war es naheliegend, das

lichen Zusammenhalt mehr und mehr gefähr-

Credo „Willkommenskultur“ auf das Insgesamt

deten und neue entkoppelte, segmentierte

der in Deutschland eintreffenden Ausländer

Gruppenöffentlichkeiten erzeugten. Die damit

auszuweiten, soweit diese ihren Status lega-

verbundene Überforderung, auch Hilflosig-

lisieren wollten. Die Umsetzung dieses neuen

keit der politischen Akteure und zuständigen

Programms wurde nach dem Top-down-Verord-

Behörden lassen sich aus dem Beschluss des

nungsmuster abwärts delegiert, mit Schmuck-

CDU-Parteitags vom 14. Dezember 2015 her-

„Zusammenhalt

wörtern aus der zivilgesellschaftlichen Welt

auslesen. Unter der Überschrift „Zusammen-

stärken“

(„ehrenamtliches Engagement“) schöngeredet

halt stärken – Zukunft der Bürgergesellschaft

und mit der Formel „Stärkung des gesellschaft-

gestalten“ heißt es: „Weiterhin wollen wir in

lichen Zusammenhalts“ verbrämt. Derselbe

Deutschland eine Willkommenskultur voran-

Befund mit den Worten der Wirtschaftsredak-

treiben, indem wir die Bürgerinnen und Bürger

tion der Welt:

ermuntern, z. B. als ehrenamtlicher Integrationshelfer aktiv zu werden. Das gegenseitige

78

„Die Wirtschaft hat das Potenzial Asylsu-

Aufeinanderzugehen kann ein emo­tionales Ge-

chender für den Arbeitsmarkt erkannt.

fühl der Zusammen- und Zugehörigkeit stär-

Und ihre Lobbyisten entsprechend in

ken“ (Beschlussbuch S. 25). Dieselbe Sicht der

Stellung gebracht. Auch auf ihr Drängen

Dinge findet sich im Beschlusspunkt „Verant-

hin ist gerade ein Gesetz verabschiedet

wortung in der Flüchtlingshilfe übernehmen:

worden, das die Barrieren für Asylbewer-

Wir schaffen Willkommenskultur“ des SPD-

ber zum Arbeitsmarkt abbaut. Die Bun-

Parteitags vom 10. bis 12. Dezember 2015:

desagentur für Arbeit sucht an mehreren

„Die Kommunen bewältigen die Aufnahme mit

Standorten gemeinsam mit Pro Asyl gut

hohem Engagement. Gerade ländliche Räume

quali­fizierte Asylbewerber in Flüchtlings-

ermöglichen dabei mit ihren überschaubaren

heimen, um sie für den Arbeitsmarkt fit

Strukturen persönliche und soziale Beziehun-

zu machen. Die ‚Willkommensbehörden‘

gen und Kontakte, die die Integration begüns-


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

tigen. Der große Einsatz ehrenamtlicher Helfer

Zuwanderer in Deutschland sesshaft zu ma-

verdient hier große Anerkennung. Wir fordern

chen – mit eher geringem Erfolg. Im Laufe des

und fördern weiterhin eine Willkommenskultur

Jahres 2014 wurde das Willkommenskultur-Pa-

– in den ländlichen Räumen –, damit die Inte­

radigma umformuliert und auf asylsuchende

gration gelingt“ (Beschlussbuch S. 490).

Flüchtlinge ausgedehnt, dann zum Anliegen der „Bürgergesellschaft“ erklärt und freie Trä-

Die Politik der Willkommenskultur – Fazit

ger, ehrenamtlich Tätige und zivilgesellschaft-

Diese kursorische Rekonstruktion des politi-

lich engagierte Gruppen zur Mithilfe moralisch

schen Diskurses rund um den Euphemismus

verpflichtet.

Willkommenskultur führt uns – zugespitzt

Die Auszüge aus Zeitungsberichten der

formuliert – Folgendes vor Augen: Die Ber-

Lokal- und Regionalzeitungen haben uns ge-

liner Regierungsparteien machten sich die

zeigt, dass die Politikakteure im öffentlichen

Begehren der Industrie- und Arbeitgeberver-

Diskurs sich meist rhetorisch aufgeladener For-

bände zu eigen und suchten nach Wegen, wie

meln und Phrasen („wir brauchen“) bedienen.

Deutschland für hochqualifizierte Zuwanderer

Diese erwecken den Anschein, als könnte die

attraktiver gemacht werden könnte. Die in den

malade Willkommenskultur sozusagen dekla-

Jahren 2011 bis 2013 beschlossenen aufent-

matorisch saniert werden. Den Parteitagsbe-

halts- und arbeitsrechtlichen Erleichterungen

schlüssen zufolge realisierten sie erst im Laufe

erzielten nicht die erhoffte Wirkung. Auch das

des „Flüchtlingsjahres“ 2015, dass in der föde-

von Zuwanderern in verschiedenen Regionen

ralen Grundordnung Deutschlands der Kultur-

Deutschlands erlebte ausländerfeindliche Kli-

bereich der Hoheit der Bundesländer zusteht.

ma wirkte sich negativ aus. Um dies zu ändern,

Diese entscheiden, ob und wie sie bürgerge-

hätten praktisch verwertbare Erkenntnisse aus

sellschaftliches Engagement fördern. Haltun-

der einschlägigen Fremden- und Migrationsfor-

gen, Einstellungen und Denkmuster, die mit

schung herangezogen und lokale Programme

dem Slogan Willkommenskultur beeinflusst

in Gang gesetzt werden können. Doch solche

werden sollten, lassen sich demzufolge nicht

Aktivitäten blieben die Ausnahme. Stattdes-

von oben nach unten (top-down) umkrempeln;

sen wurde der Slogan der Wirtschaftsvertreter

sie wachsen, wenn schon, dann umgekehrt

„Etablierung einer neuen Willkommenskul-

(bottom-up) in die „Repräsentationslücken“

tur“ übernommen und als bundespolitisches

hinein, vernetzen sich und können – wie meh-

Programm operationalisiert. Mit ihm wurden

rere Studien zeigen – zu Bewegungen werden,

zunächst behördliche Top-down-Maßnahmen

die opponieren, wenn sie sich „von denen da

Von oben nach

definiert, die helfen sollten, hochqualifizierte

oben“ übergangen fühlen.

unten verordnet

53

54

53 Diese Feststellung bezieht sich auf Bundesbehörden und die Bildungsministerien – unbesehen der Tatsache, dass sich auf lokal-regionaler Ebene vor allem freie Träger konstruktiv mit dem Thema Fremdenfeindlichkeit befassten. 54 Vgl. Jesse (2015: 26); Ziller (2016); Patzelt/Klose (2016).

79


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

3. Willkommenskultur in der regionalen Tagespresse

werden, was nur vermittels geeigneter Datenbanken zu bewältigen ist. Wir haben uns für die von Genios gewar-

WISO-Datenbank

Die Rekonstruktion der Themenkarriere des

tete WISO-Datenbank „Presse Deutschland“

„Presse Deutschland“

mehrdeutigen Narrativs55 „Willkommenskul-

als Materialfundus entschieden.56 Dort wer-

tur“ (auch: „Kultur des Willkommens“) in der

den alle publizierten Artikel von derzeit 138

Politik führt uns jetzt weiter zur Frage, wie

Tageszeitungen (Printausgaben) als Volltexte

dieser Frame von den Lokal- und Regionalzei-

mitsamt Metadaten (Datum, Erscheinungsort

tungen ihren Leserschaften vermittelt wurde.

u. a.) abge­legt. Doch diese Datenbank hortet

Dies herauszufinden ist nicht ganz so einfach,

nicht nur die Hauptausgaben (= publizistische

weil geklärt werden muss, welche Zeitungen

Einheiten), sondern bei einigen Zeitungen auch

überhaupt herangezogen werden können.

Lokalausgaben der jeweiligen Hauptausgabe,

Derzeit erscheinen in Deutschland 329 loka-

die oftmals unter einem anderen Zeitungstitel

le und regionale Abonnementszeitungen mit

firmieren. Dies bedeutet, dass dort, wo Lokal-

knapp 1.500 lokalen Ausgaben (BDZV 2015).

ausgaben ihren überlokalen Teil als Mantel von

Das in der Medienforschung übliche Vorge-

der Hauptausgabe beziehen, die Artikel der

hen, eine kleine Titelauswahl zu treffen und

Hauptausgabe zusätzlich gespeichert werden.

aus den im Zeitraum X publizierten Ausgaben

Gleichwohl sind die Lokalausgaben unverzicht-

eine Stichprobe zu ziehen, würde unsere Fra-

bar. Denn: Würde man vorsichtshalber nur die

ge nicht beantworten, weil offen ist, ob unser

am Verlagsort erscheinende Hauptausgabe be-

Thema „Willkommenskultur“ je nach politi-

rücksichtigen, würden alle Beiträge wegfallen,

scher Ausrichtung und je nach Verbreitungs-

die in den verschiedenen Lokalausgaben exklu-

gebiet unterschiedlich behandelt wurde.

siv veröffentlicht wurden. Das Gattungsmerkmal

Unsere Frage richtet sich ja an die Gattung

„Lokales“ würde zu großen Teilen eliminiert.

Redaktionen

Lokal-/Regionalzeitung und muss Antworten

Nun soll diese Studie das Entscheidungs-

sind Entscheider

auf der Struktur­ebene suchen. Deshalb soll-

handeln der Redaktionen abbilden: Welche

ten möglichst viele Tageszeitungen in mög-

Beiträge hat die fragliche Redaktion bzw. der

lichst vielen Regionen erfasst und untersucht

Lokalchef willentlich publiziert? Hier fällt die

55 Der inzwischen inflationär gebrauchte Ausdruck „Narrativ“ steht für Auffassungen, die historisch entstanden, doch faktenarm und begrifflich vage sind. Sinn und Bedeutung solcher Auffassungen wurden deshalb über schon bekannte Erzählungen und Termini zum Ausdruck gebracht (wie Sinnbilder, Metaphern usw.). 56 Auch diese Datenbank ist nicht mängelfrei (eine Regionalzeitung beispielsweise speicherte die Daten ein und derselben Ausgabe vielfach ab). Deshalb haben wir über Trefferlistenvergleiche Redundanzen ermittelt und diese aussortiert. Gleichwohl sind WISO und Genios für solche Big-Data-Strukturanalysen konkurrenzlos. Die bei manchen Forschern beliebte Datenbank Nexis enthielt (zur Zeit unserer Erhebung) nur 26 Tageszeitungen (Überhang an Straßenverkaufszeitungen und Blättern der Verlagsgruppe Rhein-Main). Die Datenbank DIGAS (AS Syndication) hostet vor allem Printprodukte von Springer und der Funke-Gruppe. Beide sind darum für gattungsbezogene Analysen ungeeignet. Die digitalen Zeitungsarchive wiederum bieten keine brauchbaren Retrieval-Instrumente, sie helfen aber bei Vollständigkeitsvergleichen.

80


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

Antwort je Zeitungshaus anders aus. Bei man-

deckungsgleich mit der tatsächlichen Vertei-

chen Regionalzeitungen haben die Lokalchefs

lung sämtlicher Lokal-/Regionalzeitungen auf

die Kompetenz, etwa auf die Frontseite, die

die Regionen (der Norden ist im Set von WISO/

Kommentar- oder Regionalseite zuzugreifen

Genios unterrepräsentiert). Indessen bildet sie

und Texte zu ändern oder Bilder auszutau-

das publizistische Geschehen deutschlandweit

schen. Auch wenn sie es de facto nur aus-

hinreichend gut ab und repräsentiert die Ta-

nahmsweise tun, so tragen sie damit für diese

geszeitungswelt der neuen Bundesländer in

Seiten publizistische Mitverantwortung. Um

einem realistischen Verhältnis zur süd- und

nach Maßgabe dieser Kompetenzen die Quel-

westdeutschen Zeitungslandschaft.

lenliste bereinigen zu können, haben wir den

Da die Inhaltsanalyse untersuchen soll, ob

Grad der Eigenständigkeit der Lokalausgaben

und wie sich die Vermittlung des Themas Will-

(soweit möglich) recherchiert.

kommenskultur verändert hat, wurde die Datenbankrecherche als Längsschnitt angelegt.

Methodisches: Zum Aufbau der Datenbank

Damit war ein weiteres Handicap verbunden:

„Lokal-/Regionalzeitungen“

Die Zahl der bei WISO/Genios archivierten Zei-

Die auf diesem Wege bereinigte Quellenliste

tungstitel nahm während des Untersuchungs-

umfasst 85 Zeitungstitel, darunter auch „Sam­

zeitraums zu. Um für die Dauer des Längs-

mel­titel“, indem unter einem Zeitungsnamen

schnitts einen (in Bezug auf die Zeitungsre-

auch eigenständige Lokalzeitungen subsum-

daktionen) konsistenten Korpus zu generieren,

miert sind (z. B. bei der Südwest-Presse und

haben wir die Quellenliste aus dem Jahr 2010

der Frankfurter Neuen Presse). Aber auch um-

herangezogen. Auf die in den folgenden Jahren

gekehrt finden sich eigenständige Regionalzei-

bei WISO neu hinzugekommenen Titel wurde

tungen, die Korrespondentenpools haben (z. B.

verzichtet.

Coburger Tagblatt, Fränkischer Tag, Main-Post,

Ein weiteres Handicap betrifft die exter-

Saale-Zeitung) oder de facto einen Verbund

nen Faktoren, die während des Längsschnitts

bilden (z. B. Thüringer Zeitungsgruppe). Dies

eigentlich konstant bleiben sollten (ceteris

erschwert den Bau einer validen Datenbank.

paribus). Diese Bedingung mag im Labor er-

57

Nach Maßgabe der von Genios definier-

füllbar sein, nicht aber in der Medienrealität.

Anpassung

ten Regionen-Kategorien verteilen sich diese

So wurden im Verlauf unserer Untersuchungs-

an die Medienrealität

Zeitungen (inklusive ihrer Lokalausgaben)

phase Lokalausgaben eingestellt, Zeitungs-

wie folgt: 18 Zeitungen erscheinen in „Ost“,

häuser verkauft, Titel fusioniert, Redaktionen

30 Zeitungen in „West“, 24 Zeitungen in „Süd“,

umstrukturiert, neue Mantelredaktionen ge-

8 Zeitungen in „Nord“ und 5 blieben ohne Zu-

schaffen und wieder aufgelöst. Viele dieser

ordnung. Diese regionale Verteilung ist nicht

Veränderungen wirkten sich notabene auch

57 Weitere Informationen zum methodischen Vorgehen sind online abrufbar; siehe Anhang „Zur Methodologie“, S. 147.

81


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

auf die Inhalte aus (z. B. die mehrstufige Reor-

der kurzen Zeitspanne vom 1. Januar 2015 bis

ganisation der Madsack-Zeitungsgruppe). Für

31. März 2016 erschienen.

das Jahr 2015 haben wir daher mit einer er-

Im Verlauf der elf Jahre wurde Bundeskanz-

weiterten Quellenliste eine Kontrollrecherche

lerin Angela Merkel im Zusammenhang „Flücht*

durchgeführt, der Datenabgleich zeigte gering-

OR Asyl*“ in 17.256 Texten genannt, also in etwa

fügige Abweichungen. Wir können also davon

jedem zehnten Text. Weit abgeschlagen CSU-

ausgehen, dass die genannten Störfaktoren,

Chef Horst Seehofer in 3.827, gefolgt vom SPD-

die Konsistenz des Korpus nur wenig beein-

Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel in 2.424

trächtigt haben.

und knapp dahinter Thomas de Maizière mit 2.365 Texten. Auf der anderen Seite kamen im

82

Die Beiläufigkeit des Themas „Flüchtlinge“

Themenfeld „Flücht* OR Asyl*“ die Staatschefs

Anhand unserer bereinigten Quellenliste „Lo-

Gaddafi, Assad und Erdogan in je rund 1.200

kal-/Regionalpresse“ haben wir zunächst die

Texten „ausgewogen“ zur Sprache.

WISO-Datenbank nach strukturierenden Merk-

Sucht man beim Thema Flüchtlinge und/

malen abgesucht. Um ein paar Größenordnun-

oder Asyl nach den hauptsächlichen Hand-

Brennpunkt

gen zu nennen: Zwischen dem 1. Januar 2005

lungsorten, dann steht das Bundesland Sach-

ist Sachsen

und dem 31. März 2016 finden sich in der Daten-

sen mit 56.716 Texten an der Spitze, gefolgt

bank rund 85 Millionen Texte, die die 85 Tages-

von Brandenburg mit 50.440. Deutlich selte-

zeitungen dort abgespeichert haben (nur aus

ner genannte Regionen waren Thüringen mit

deren redaktionellen Teilen). In etwas mehr als

26.857 und Sachsen-Anhalt mit 15.601 Texten.

einem Prozent davon, nämlich in 980.479 Tex-

Das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern

ten, wird das Thema „Flücht*“ (das heißt Wör-

kam in nur 7.981 Texten zur Sprache (obwohl

ter mit diesem Stamm plus sämtlichen Wort­

die Schweriner Volkszeitung und der Nordku-

erweiterungen und -flexionen, ausgeschlos-

rier dabei sind). Zum Vergleich: Hessen, Ba-

sen „flüchtig*“) behandelt. Ein Prozent, rund

den-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen

838.000 Texte, haben etwas mit „Ausländer*“

(NRW) wurden in 22.000 bis 26.000 Texten

zu tun; eine halbe Million Texte greifen das

genannt. Das vergleichsweise kleine Bundes-

Thema „Asyl*“ auf (180.000 Texte behandeln

land Hamburg (zwei Tageszeitungen) tauchte

beides: Flücht* und Asyl*) und rund 200.000

in diesem Themenzusammenhang in 33.566,

Texte drehen sich um den Komplex Migranten/

Bremen (Bundesland und Stadtstaat) nur in

Migration (ungeachtet der Schnittmengen mit

7.939 Texten auf. Ein Vergleich der Treffer bei

Flüchtling*/Asyl*). Insgesamt haben die 85 Zei-

den Zeitungen, die in Baden-Württemberg

tungsredaktionen über unser Thema (Flücht*

erscheinen und zu Vorgängen in den Bundes-

OR Asyl* NOT flüchtig) vom 1. Januar 2005

ländern Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern

bis 31. März 2016 genau 980.479 Texte publi-

und Hamburg berichteten, zeigt, dass die ge-

ziert bzw. archiviert. 56 Prozent davon sind in

nannten Unterschiede fortbestehen und darum


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

nicht mit dem Nachrichtenfaktor Nähe erklärt

kommenskultur untersuchten.58 So konnten

werden können.

Textmining-Tools der „Automatischen Sprach-

Wohlgemerkt: Diese Daten umfassen den gesamten Zeitraum von elf Jahren und drei Mo-

verarbeitung“ (ASV) der Informatiker für unsere Untersuchungsfragen genutzt werden.59

naten. Und sie bilden nur das ab, was die aus-

Die Textanalyse erfolgte in folgenden Schrit-

gewählten 85 Lokal-/Regionalzeitungen in der

ten: Zunächst wurde die WISO-Datenbank mit

der Analyse-

WISO/Genios-Datenbank abgelegt haben. Wie

unserer bereinigten Quellenliste „Lokal-/Re-

Datenbank

oben angemerkt, kann dieser Datenkorpus die

gionalpresse“ im Zeitraum vom 1. Januar 2010

Ceteris-paribus-Bedingung nicht ganz erfüllen

bis zum 31. März 2016 nach Texten abgesucht,

(manche der genannten Zeitungen werden erst

die das Wort „Willkommenskultur“ oder die

seit 2008 oder 2009 oder 2010 gespeichert).

Wortfolge „Kultur des Willkommens“ enthalten.

Deshalb können nur Häufigkeitsvergleiche

Unsere Lektüre der weiter oben erwähnten Zu-

über den ganzen Zeitraum angestellt werden

fallsstichprobe (250 Texte von 50 verschiedenen

(hier heben sich die systematischen Fehler

Tageszeitungen) hatte ergeben, dass für die

weitgehend auf); doch kleinteilige Verglei-

beiden Formulierungen „Willkommenskultur“

che im Längsschnitt lassen sich damit nicht

und „Kultur des Willkommens“ keine Synony-

anstellen.

me in Gebrauch waren.60 Deshalb wurden mit

Aufbau

diesem Suchstring (in eine Suchmaske eingegeTextmining: Willkommenskultur

bene Wortfolge oder -kombination) mit großer

unter der Lupe

Wahrscheinlichkeit alle Texte erfasst, die diese

Doch auf eine ebensolche Längsschnittanalyse

Thematik behandeln. Um die Themenkarriere

kam es uns beim Narrativ „Willkommenskul-

vollständig nachzeichnen zu können, wurde die

tur“ an. Deshalb sollen alle Berichte, die un-

Datenbank zusätzlich für den Zeitraum von 2005

ser Thema zur Sprache bringen, textanalytisch

bis 2009 abgesucht. Dabei wurden 105 Texte ge-

durchleuchtet werden. Hier kamen uns das

funden, die meisten aus den Jahren 2008 und

Leipziger Institut für Journalismus- und Kom-

2009 (wie erwähnt, war vor 2010 die Zahl der

munikationsforschung (EIJK) und das Informa-

von WISO gehosteten Quellen deutlich gerin-

tik-Institut der Universität Leipzig zu Hilfe, die

ger). In den Tabellen und Abbildungen zeigen

zeitgleich mit unserer Studie das durch die Me-

wir deshalb den vollständigen Längsschnitt (ab

dien erzeugte Meinungsklima am Beispiel Will-

2005 bis einschließlich 1. Quartal 2016).

58 Offenlegung: Der Verfasser ist wissenschaftlicher Leiter des EIJK wie auch dieser Untersuchung. 59 Aufbau und Arbeitsweise des Leipzig Corpus Miner (LCM) siehe: http://www.epol-projekt.de/tools-nlp/r-for-text-­ mining-in-social-sciences/ (abgerufen Januar 2017). Zum dort angewandten Textmining-Verfahren: Wiedemann/ Niekler 2016: 65-88. 60 Sinnähnliche Wörter wurden von den Medien für diesen Themenzusammenhang nicht gebraucht. Beispiel: Das Wort „Willkommenheißen“ (oder „hieß* willkommen“) wurde im Laufe der zehn Untersuchungsjahre in den rd. 50 Mil­ lionen gespeicherten Texten unserer bereinigten Quellenliste exakt 138 Mal verwendet, davon überwiegend für typische lokale Themen, etwa für Eröffnungen, Vereinsanlässe und dergleichen.

83


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Im folgenden Arbeitsschritt wurden die Tex-

(identische Texte derselben Zeitungsausgabe

te sämtlicher Treffer ab 2005 bis Ende 2012

am selben Erscheinungstag) waren, (b) nicht

– quasi der Früh- und Startphase der Karriere –

zum redaktionellen Teil der Zeitung gehörten

und erneut für die Zeit vom 1. Januar 2015 bis

(Verlagstexte, Zuschriften und Leserbriefe

31. März 2016 – der Kulminations- und Abkling-

u. Ä.), (c) in Bezug auf den redaktionellen Inhalt

phase der Karriere – identifiziert. Dies waren

redundant waren (etwa Inhaltsverzeichnisse).

Über 26.000 Texte

26.395 Texte. Um nun Speicherfehler der Da-

Deshalb musste in einem nächsten Schritt je-

erfasst

tenbank zu eliminieren, vor allem aber um das

der der Texte der zwei Zeitphasen (2005 bis

redaktionelle Entscheidungshandeln möglichst

Ende 2012 und Januar 2015 bis 31. März 2016 =

zutreffend abzubilden, wurden sämtliche Texte

20.499 Texte) „händisch“ geprüft werden. Üb-

eliminiert, die (a) offensichtliche Doubletten

rig blieben 17.982 Texte (Schwund: 12,3 %). Sie

Abbildung 4: Häufigkeiten der Berichte zum Thema Willkommenskultur in 85 Lokal- und Regionalzeitungen 5.000 4.500

Anzahl publizierter Texte

4.000 3.500 3.000 2.500 2.000 1.500 1.000 500 0

Treffer (Texte) der Quellenliste „Lokal-/Regionalpresse“ (n=26.395) davon redaktionelle Texte für den Analyse-Korpus (n=17.982) Datenbasis: WISO/Genios-Datenbank. Quelle: Eigene Darstellung

84


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

bilden unsere Offline-Datenbank und den Ana-

ses Wortes nach oben schnellte, so rasch flachte

lyse-Korpus für das Textmining.

Allerdings

sie gegen Ende 2015 auch wieder ab; die Ge-

haben wir für die folgende morphologische

schehnisse rund um die Silvesternacht 2015/16

Textanalyse auch noch die (in Bezug auf die

wirkten sich zusätzlich wie ein Dämpfer aus.

Zugriffskompetenz von Lokalchefs) als „Zwei-

Im Frühjahr 2016 war die mediale Vermittlung

felsfälle“ markierten Texte herausgenommen,

wieder auf dem Niveau von Herbst/Winter 2014,

wodurch sich der Korpus für das Textmining um

als es überwiegend um Arbeitsmarkt- und Ein-

1.110 Texte auf 16.972 Untersuchungseinheiten

wanderungspolitik ging. Überspitzt gesagt, war

verdichtete. Für unsere Analysen im Zeitverlauf

im medialen Diskurs von Frühjahr 2016 an das

wurden sie ab 2010 in Quartale untergliedert.

Narrativ Willkommenskultur quasi verbrannt.

61

Abbildung 4 zeigt die Dynamik der Themen-

Die Textmengen des Analysekorpus (hell-

karriere (blaue Linie): Parallel zum politischen

blaue Linie = redaktionelle Beiträge) folgen

Synchron mit

Diskurs sickert das Narrativ Willkommenskultur

dieser Karrierekurve. Bis Ende 2012 sind die

dem politischen

im Verlauf des Jahres 2010 in die Medienbericht-

Differenzen zwischen beiden Mengen marginal.

Diskurs

erstattung ein und verbreitet sich. Vom Winter

In der Hochphase aber, vor allem im ersten Halb-

2012/13 an steigt die Verwendung stetig und

jahr 2015, zeigen sich Abweichungen. Unserer

explodiert im Verlauf des Herbsts 2014 gerade-

„händischen“ Überprüfung zufolge erklären

zu auf das Achtfache. Dies ist die Phase des po-

sich diese durch ein Bündel von Umständen:

litischen Diskurses, in der die arbeitsmarktzentrierten Argumente auf die sozial-humanitären ausgeweitet wurden. Den Kulminationspunkt erreicht die Medienkarriere des Narrativs im Herbst 2015, also rund zwei Monate nach dem Höhepunkt der Flüchtlingsberichterstattung in den reichweitestarken Online- und TV-Newsmedien (siehe Abb. 1 in Teil 1). Das heißt: Zeitgleich mit den vielen Hunderttausend Flüchtlingen

Speicherfehler in der Datenbank infolge von inkomparablen Produktänderungen in einigen Zeitungshäusern; Zunahme von Redundanzen durch Titelzusammenlegungen (z. B. erweiterte Mantelredaktionen), also externe Faktoren, die auf die Umbrüche in der Presselandschaft verweisen.

bzw. Asylsuchenden und den ungeheuren Ver-

Den Schwund erklären aber auch die 2015 ra-

Störungen im

sorgungsproblemen dominiert der Willkom-

sant angewachsene Zahl von (von uns aussor-

Sommer 2015

mensdiskurs das Flüchtlingsthema – für kurze

tierten) redaktionsfremden Texten zum Thema

Zeit. Denn so blitzartig die Medienkarriere die-

(Zuschriften, Leserbriefe u. Ä.), die man als In-

61 „Text Mining beschreibt ein Verfahren zur Analyse von schwach- oder unstrukturierten Textdaten mit Hilfe verschiedenster Techniken und Algorithmen. Das Ziel des Text Mining ist es, mit linguistischen sowie statistischen Mitteln möglichst genau die Kerninformation eines Textes herauszufiltern. Text Mining gilt außerdem als einfacher Weg, um Muster in Texten zu erkennen, mit Hilfe einer morphologischen, syntaktischen und semantischen Analyse“ (Klein/ Becirovic 2014). Mit anderen Worten: Textmining bewerkstelligt die algorithmische Aufschlüsselung „semantischer Relationen zwischen einzelnen Ausdrücken“ (Heyer u. a. 2006: 6).

85


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

dikator für die hohe öffentliche Erregung deu-

der Zusammenhang zwischen „Willkommens-

ten kann. Dabei fällt auf, dass diese Einflüsse

kultur“ und „Wirtschaft“ durchleuchtet wird.

bald wieder abnahmen: Die Differenz zwischen

Insgesamt wurden 14 Kontexthemen mit zuge-

beiden Mengen schrumpfte vom Herbst 2015

hörigen Dictionairs erarbeitet und eingesetzt.

an wieder deutlich.

Die umfangreichste Wortliste entstand für das erweiterte Kontextthema „Flücht* und/oder

Die Texte: Inhalt und Struktur Textmining-­ Werkzeugkoffer

Asyl*“ mit 1.319, die geringste für „Zuwande-

Für die inhaltlichen Textanalysen wurde das Textmining-Programm „R“ eingesetzt.

rung*“ mit 7 Items.

Dazu

Die eigentliche Analyse erfolgt auf zwei Ebe-

wurden in einem weiteren Schritt die (im in-

nen. Zuerst werden mit einer Frequenzanalyse

formatischen Sinne) unstrukturierten Daten

die Häufigkeiten ausgewählter Aussagen bzw.

strukturiert und aufbereitet. Dieser und die

Bezeichnungen im Zeitverlauf ermittelt (zum

folgenden Arbeitsschritte lagen in der Hand

Beispiel die Nennung von Parteinamen oder Na-

der Informatiker des Informatik-Instituts der

men von Personen). Auf der zweiten Ebene wer-

Universität Leipzig. Unsererseits wurde nach

den der Kontext, in dem das Suchwort auftritt,

dem Konzept des „Blended Reading“ (Verbin-

errechnet und überhäufig (= signifikant) auftre-

dung aus Close und Distant Reading – vgl.

tende Wörter ermittelt und dargestellt (= Ko-

Moretti 2000; Stulpe/Lemke 2015) über die

okkurrenzen).63 Aufgrund der Frequenzanalyse

oben erwähnten 250 Texte (Stichprobe) in den

können im Zeitverlauf kookkurrente Signifikanz-

Passagen, die das Wort „Willkommenskultur“

verschiebungen – quasi als Zeitscheiben oder

enthielten, der jeweilige thematische Fokus er-

Flashs – ermittelt, anschaulich gemacht (Word-

fasst und das zugehörige Schlagwort definiert

clouds/Wörterwolken) und vermittels „Close

(wie: „Sprache*“; „Recht*“; „Integration*“).

Reading“ interpretiert werden (Stulpe/Lemke

Zudem wurden Kontextthemen über externe

2016: 54 ff.). Im Folgenden beschränke ich mich

Quellen (wie: Synonymenwörterbücher) erar-

auf zwei für dieses Thema aufschlussreiche

beitet. Beides wurde zu Item-Listen (sogenann-

Häufigkeiten und Kontextthemen.

62

ten Dictionairs) zusammengeführt. BeispielsWillkommen

weise umfasst beim Kontextthema „Wirtschaft“

Willkommenskultur und Integrationswunsch

für die Integration

die zugehörige Liste 403 Attribute (Items), von

Wir greifen den oben beschriebenen, von In-

„arbeitsmaerkte“ über „gewerkschaftsvorsit-

dustrie und Politik erzeugten Frame einer

zender“ bis „hartz-IV-regelsaetze“, mit denen

„neuen“ Willkommenskultur (synonym mit

62 Eine allgemeinverständliche Beschreibung des Mining-Programms „R“ findet sich unter: http://winfwiki.wi-fom.de/ index.php/Analyse_Text_Mining_mit_R (abgerufen Januar 2017). 63 Kookkurrenz bezeichnet „das gemeinsame Auftreten zweier Wortformen in einem definierten Textabschnitt“ (Heyer u. a. 2006: 135). Dadurch lassen sich die statistische Signifikanz des gemeinsamen Vorkommens (z. B. mit Word­ clouds) und die Veränderung dieser Signifikanz im Zeitverlauf als semantische Zusammenhänge ermitteln und deuten (vgl. Wiedemann/Niekler 2016: 76 f.).

86


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

„Kultur des Willkommens“) auf. Er sollte ja

(was notabene auch den berichteten Ereig-

der Akquise und Verweildauer von hochqua-

nissen zuzuschreiben ist): der Vorwurf eines

lifizierten Berufstätigen dienen und dem Bild

menschenverachtenden Rassismus und die

von den fremdenfeindlichen Deutschen ent-

Bemühungen der um das Wohl der Migranten

gegenwirken. Unsere Frage lautet daher: In

besorgten Einrichtungen zwecks Verbesserung

Meinungsklima

welchem Zusammenhang treten das Narrativ

des Meinungsklimas. Es fällt auf, dass 2012 der

aufhellen

Willkommenskultur und das Wort Integration

Komplex Flüchtlinge/Asylsuchende in diesem

in den Zeitungstexten auf? Und wie hat sich

Zusammenhang keine Bedeutung hat.

dieser Kontext verändert? Dabei wurden die in

Drei Jahre später – im 1. und 2. Quartal

der fraglichen Textpassage auftretenden Wör-

2015 – hat sich der Themenzusammenhang

ter erfasst und deren Signifikanz ermittelt.

64

verändert. Jetzt stehen die mit den Flüchtlingen

Die auf den folgenden Seiten abgebildeten

verbundenen akuten Aspekte im Vordergrund:

Wortwolken stellen die errechneten Wörter in

Unterkünfte, Treffpunkte, Gesundheitspflege,

zwei Dimensionen dar: Die Grauabstufung ba-

Finanzierung. Die mit Angst und Fremdenfeind-

siert auf denselben Signifikanzwerten (von 0 =

lichkeit verbundenen Attribute bleiben – trotz

nicht signifikant, bis 0,9 = sehr signifikant), die

der Pariser Terroranschläge – im Hintergrund

Wortgröße zeigt die relativen Signifikanzwerte,

zugunsten der mit dem Asylrecht verknüpften

die sich auf die im Cluster gezeigten Wörter

akuten Probleme. Im 3. Quartal 2015 spiegelt

Herbst 2015

beziehen (je kleiner, desto weniger signifikant;

sich in den Kookkurrenzen die Kontroverse,

Stimmungskrise

die Anordnung – vertikal oder horizontal – ver-

die mit der im August und September erleb-

mittelt keinen Aussagewert).

ten sogenannten Flüchtlingsflut aufbrach:

Der Vergleich der Jahre 2010 mit 2012

die Wahrung der Menschenrechte, Fragen der

zeigt, dass sich in den Zeitungsberichten der

Gleichberechtigung, die Bedrohungslage und

Themenzusammenhang Willkommenskultur/

die Aktivitäten der Willkommensfreundlichen,

Integration 2010 fast nur um die von den Ar-

die Menschenketten bilden und sich (bezogen

beitgeberverbänden vorgebrachten Anliegen

auf Pegida, Brandanschläge und dergleichen)

dreht (Fachkräftemangel und Förderung der

„fremdschämen“. Gegen Ende des Jahres

Zuwanderung) und auch die Umstände he­

kommt in den Zeitungsberichten überraschend

rausstellt, die als Zuwanderungshindernis ge-

auch die Arbeitskräfteperspektive zurück auf

sehen werden (Übergriffe, Fremdenfeindlich-

die Agenda.

keit u. Ä.). Die in dieser verdoppelten Strate-

Im Januar 2016 zeigt sich die Stimmungs-

gie (Arbeitsmarkt/Menschenrecht) angelegte

lage erneut ganz anders, was auf die Ereig-

Ambivalenz bricht zwei Jahre später offen aus

nisse der Silvesternacht 2015/16 zurückgeht:

64 Die Signifikanzen bewegen sich in den gezeigten Wordclouds nach dem Dice-Maß zwischen 0 und 1. Zur Signifikanzmessung bei Textmining-Analysen siehe die Einführung von G. Heyer u. a. unter: http://asv.informatik.unileipzig.de/uploads/document/file_link/401/TM10_Kookkurrenzbasiertes_Text_Mining.pdf (Folie 14 f.) (abgerufen Juni 2017).

87


Abbildung 5 (a)-(d): „Willkommenskultur“ und „Integration“ im Berichterstattungskontext (Textmining-Analysen) (a) 2010

(b) 2012

(c) 2015, 1. Quartal

(d) 2015, 2. Quartal

Datenbasis: „Willkommenskultur“-Analysekorpus (85 Lokal-/Regionalzeitungen), redaktionelle Beiträge vom 01.01.200530.03.2016, n=16.972. Quelle: Eigene Darstellung (Wordclouds der Textmining-Software „R“)


Abbildung 5 (e)-(h): „Willkommenskultur“ und „Integration“ im Berichterstattungskontext (Textmining-Analysen) (e) 2015, 3. Quartal

(g) 2016, Januar

(f) 2015, 4. Quartal

(h) 2016, März

Datenbasis: „Willkommenskultur“-Analysekorpus (85 Lokal-/Regionalzeitungen), redaktionelle Beiträge vom 01.01.200530.03.2016, n=16.972. Quelle: Eigene Darstellung (Wordclouds der Textmining-Software „R“)

89


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Jetzt sind – vorübergehend – die mit der

setzt sich aus verschiedenen Akteuren und

Bestürzung und dem Gefühl der Bedrohung

Quellen zusammen. Mit 28,5 Prozent gehört

Starke

verbundenen Aussagen signifikant. Weitere

die größte Gruppe zur Arbeitswelt (Vertreter

Ambivalenzen

zwei Monate später, im März 2016, scheint

aus Industrie und Wirtschaft, Verbänden, der

den Text­analysen zufolge die Stimmungskrise

Arbeitgeber, Gewerkschaften, Arbeitsagen-

überwunden zu sein, das bürgergesellschaftli-

tur, anderer zuständiger Behörden und Ämter,

che Engagement steht wieder im Vordergrund.

Ökonomen u. a.), weit abgeschlagen die freien

Die hier nur in aller Kürze skizzierten

Träger (vor allem kirchliche Organisationen)

Ausprägungen zeigen, dass die Lokal- und

mit 11 Prozent, marginal die Amts- bzw. Be-

Regionalpresse den Themenzusammenhang

hördenvertreter vornehmlich der regionalen

zwischen Willkommenskultur und Integration

Ebene (rund 6 Prozent) und die Bürgergrup-

„im Sinne der Erfinder“ vermittelt und ihre

pen, Helfer und Initianten mit rund 7 Prozent.

Berichterstattung bis zum Sommer 2015 über-

Die nach Quartalen untergliederten Häu-

wiegend aus der Perspektive der Politik und

figkeiten zeigen, dass der arbeits- und wirt-

der „Willkommenheißenden“ stattfand. Ihre

schaftspolitische Diskurs die Berichterstat-

Sorgen bezogen sich auf die Feindseligen.

tung der Lokal- und Regionalzeitungen bis

Grundrechtsbezogene Ängste und Bedenken

zum Sommer 2015 dominiert: In zwei von drei

wurden erst im Januar 2016 während ein paar

Zeitungsberichten zum Thema Willkommens-

Wochen relevant, als sich mit der sogenann-

kultur hatten Politiker und/oder Wirtschafts-

Silvesternacht

ten „Kölner Silvesternacht“ eine andere, man

sprecher das Wort. Die Lebenswelt, in der sich

brachte Umschlag

möchte sagen: dunkle Seite zeigte, die mit dem

Willkommenskultur ereignet bzw. ereignen

Euphemismus der Willkommenskultur nicht

sollte, wurde zumeist nur indirekt – über das

zusammenpasste.

Reden der Politiker – thematisiert. Natürlich kam das Thema auch im Lokalen vor; aber

Befunde: Parteien und deren Politiker

auch dort mittels der Akteure aus der Partei-

als Sprecher

politik (mit der Besonderheit, dass manche

Unsere zweite Frage lautete: Über welche

der Akteure in einer Doppelrolle auftraten,

Akteu­re (in den Texten auftretende Personen,

etwa als Parteipolitiker*in und als Migrations-

Sprecher und Quellen) kam das Narrativ Will-

oder Integrationsbeauftragte).

kommenskultur in den Berichten der Lokal-/

Nun war ja das Narrativ Willkommenskul-

Regionalzeitungen zur Sprache? Sie beantwor­

tur, wie im vorigen Abschnitt dargelegt, von

Lokalzeitungen

tet sich so: Knapp die Hälfte (47,4 Prozent)

den Parteien übernommen und popularisiert

folgen der Politik

sämt­licher Beiträge unseres Korpus (bereinig-

worden. Von daher wundert es nicht, dass die-

te Beiträge ab 2005 bis Ende 2012 und ab 2015

se auch den medialen Diskurs zu beherrschen

bis Ende März 2016) berichten über Aussagen

suchten. Unsere nächste Frage lautet daher:

von Parteivertretern. Die starke andere Hälfte

Konnten die Parteiakteure in der Lokal-/Regio­

90


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

nalpresse ihre Sicht der Dinge quasi ungestört

Nicht Politik-PR zu verbreiten und auch nicht

vertreten – oder kamen in den Berichten auch

Lautsprecher nur einer Losung zu sein, viel-

andere, davon abweichende Auffassungen zu

mehr für Meinungsvielfalt als Diskursbedin-

Wort?

Die Berichterstattung über eine Po-

gung zu sorgen – diese Arbeit gehört unstrittig

diumsveranstaltung beispielsweise, auf der

zur „öffentlichen Aufgabe“ des Journalismus.

ver­schiedene politische Gruppen bzw. deren

Sind die Lokal-/Regionalredaktionen ihr auch

Sprecher auftraten, vermittelt bereits ein brei-

nachgekommen?

65

teres Meinungsspektrum. Will nur ein Politi-

Um diese Leistung zu erfassen, haben wir

ker mit seiner Sicht in die Presse kommen,

unterschieden zwischen Berichten, (a) in denen

sollte ein Journalist zusätzlich auch die Sicht

nur eine Partei bzw. deren Politiker vorkommen

Monologe

der anderen Seite (andere Partei, Betroffene,

(Monologe), (b) in denen zwei verschiedene

oder Diskurse

Gegner usw.) recherchieren und mitliefern:

Parteien bzw. deren Politiker zu Wort kommen

Abbildung 6:

Anzahl redaktioneller Beiträge

Die Parteien in den Berichten zur Willkommenskultur

Parteien in Berichten insg.

eine Partei (Monologe)

drei Parteien (Diskurs)

mehr als drei Parteien

zwei Parteien (Dialoge)

* Jahr/Quartal Datenbasis: Analysekorpus „Lokal-/Regionalpresse“ (EIJK) Quelle: Eigene Darstellung

65 Es gehört zu den Standards journalistischer Berichterstattung, bei Politikern stets auch deren Parteizugehörigkeit anzugeben (Abweichendes findet man nur in Bezug auf Regierungsmitglieder). Deshalb gehen wir davon aus, dass mit der Codierung der Parteinamen bzw. -kürzel alle Texte erfasst wurden, die über Politik/Politiker berichteten.

91


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

(Dialoge), (c) in denen drei verschiedene Par-

weise vor – und sind meist durch den Anlass

Bundespolitiker

teien bzw. deren Politiker auftreten (meist ar-

(Parlaments-, Ausschussberichte, Umfragen,

dominieren

gumentierend, darum: Diskurse), sowie (d) in

Podiumsdiskussion u.  Ä.) als Sammlung von

denen vier und mehr Parteien bzw. Politiker

Statements gerechtfertigt.

genannt werden (meist per Zitate und insofern

Schauen wir uns die Parteimonologe genau-

eine unstrukturierte Häufung). Unter norma-

er an (siehe Abb. 7) und berücksichtigen auch

tivem Blick wären dialogische und diskursive

hier den Bruch zwischen der ersten Phase (bis

Berichte wünschenswert, weil sie verschiede-

2012) und der zweiten (ab 2015). Hier haben wir

ne Haltungen bzw. Argumente wiedergeben.

nicht die Beiträge, sondern die Parteinennun-

Zu viele Positionen wiederum sind aus Sicht

gen in allen Zeitungsberichten gezählt. Man

des Publikums unübersichtlich und wirken wie

erkennt deutlich, dass die CDU – im Jahr 2011

Gerede nach dem Motto: Jetzt haben alle etwas

noch unterstützt vom Junior-Koalitionspartner

gesagt, egal was.

FDP – mit dem Narrativ Willkommenskultur in

66

Abbildung 6 zeigt unsere Befunde (dabei

der Presseöffentlichkeit dominiert (beide sind

ist zu beachten, dass wir aus Übersichtsgrün-

in 125 Berichten präsent, die SPD in 50, die

den bis inklusive 2012 ganze Jahre skaliert, das

Grünen in 11). Dies ist die Phase, in der die Poli-

heißt jeweils vier Quartale zusammengefasst

tiker die „neue“ Willkommenskultur als Slogan

haben): Im Verlauf des Jahres 2015 – insbeson-

für die Einwanderungspolitik publik machten.

dere im turbulenten zweiten Halbjahr – zogen

Mit der neuen Regierung (Große Koali­tion) ver-

die Politiker das Willkommenskultur-Thema

schiebt sich die mediale Präsenz: In der Presse

an sich. Und die Journalisten folgten ihnen.

beherrscht jetzt die SPD das Thema, gefolgt

Beispiel Spätherbst 2015: Im 4. Quartal pu­

von der CDU. Im 4. Quartal 2015, als die Un-

blizierten die Zeitungen 2.005 Willkommens-

terbringung und Versorgung der vielen Hun-

kultur-Berichte, in denen Politiker das Sagen

derttausend Flüchtlinge höchst prekär wurde,

hatten. Zwei Drittel davon (1.254 Berichte bzw.

dominieren die drei Regierungsparteien die

62,5 Prozent) berichten nur aus der Sicht einer

Diskussion rund um die Willkommenskultur,

Partei, sind also Parteimonologe. Ein Viertel

sie werden fünfmal häufiger genannt als die

(488 bzw. 24,3 Prozent) referiert Argumente

Oppositionsparteien. Die Durchsicht der Be-

aus Sicht zweier Parteien, wirkt also dia­logisch.

richte (Close Reading) verdeutlicht, dass sich

Nur jeder zehnte Bericht (232 bzw. 11,6 Pro-

der Kontext des Themas im Vergleich zu 2012

zent) vermittelt drei Sichtweisen und zeigt

radikal verändert hat: Jetzt geht es nicht um

damit einen diskursiven Modus. Berichte mit

ausländische Arbeitskräfte, sondern um die

vier und mehr Parteien kamen nur ausnahms-

Mobilisierung des „bürgergesellschaftlichen“

66 Die Bezeichnungen Monolog/Dialog/Diskurs/Häufung sind nicht theoriegestützt, sondern etikettieren die angetroffenen Tendenzen der Berichterstattungsmuster (eher monologisch, eher dialogisch, eher diskursiv, eher eine Häufung von Statements und insofern nicht diskursiv).

92


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

Abbildung 7:

Anzahl der Parteinennungen in redaktionellen Beiträgen

Monologe – nur eine Partei kommt zu Wort

SPD

CDU

CSU

FDP

Grüne

Linke

AfD

NPD

* Jahr/Quartal Datenbasis: Analysekorpus „Lokal-/Regionalpresse“ (EIJK) Quelle: Eigene Darstellung

Engagements, weil die staatlichen Einrichtun-

wenden es gegen seine Promotoren. Nachdem

gen mit der Problemlösung überfordert sind.

sie bis zum Sommer 2015 von der Presse im

Recherchen über die Ursachen der Probleme

Kontext der Willkommenskultur kaum beach-

haben wir in diesem Zusammenhang keine

tet worden war, wird die AfD nun als Wort-

AfD drängt

gefunden.

führer der Willkommenskultur-Kritiker quasi

nach vorn

Im Laufe des 4. Quartals kommt nun aber

entdeckt und – vor allem im Anschluss an die

auch eine völlig andere Tonlage, Stoßrichtung

Silvesternacht 2015/16 – in der Presse häufi-

und Stimme im Parteienkonzert zu Gehör: Die

ger genannt als jede der Regierungsparteien.

Akteure der „Alternative für Deutschland“ grei-

Grüne und Linke bewegen sich weiterhin auf

fen das Narrativ Willkommenskultur auf und

sehr niedrigem Niveau.

93


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Abbildung 8:

Anzahl der Parteinennungen in red. Beiträgen

Dialoge – zwei Parteien kommen zu Wort

CDU SPD

CDU CSU

CDU FDP

CDU Grüne

CDU Linke

CSU Grüne

CSU SPD

CSU AfD

* Jahr/Quartal Datenbasis: Analysekorpus „Lokal-/Regionalpresse“ (EIJK) Quelle: Eigene Darstellung

94


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

Abbildung 9:

Anzahl der Parteinennungen in red. Beiträgen

Diskurs – drei Parteien kommen zu Wort

CDU CSU SPD

CDU SPD Grüne

CDU SPD AfD

CDU CSU AfD

CDU SPD FDP

CDU CSU Linke

CDU CSU FDP

CDU SPD Linke

CDU FDP Grüne

CDU Grüne Linke

SPD Grüne Linke

SPD FDP Linke

* Jahr/Quartal Datenbasis: Analysekorpus „Lokal-/Regionalpresse“ (EIJK) Quelle: Eigene Darstellung

95


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Die

normativ erwünschten

Parteidia­

nur im Lichte der Argumente der beiden Re-

loge fanden in der Lokal- und Regionalpres-

gierungsparteien referiert wurden. In diesem

se rund um das Thema Willkommenskultur

Zusammenhang spielen die beiden Oppo­

mit 1.470 Berichten relativ selten statt – und

sitionsparteien im Bundestag praktisch keine

Die Monologe

wenn, dann zwischen den zwei großen Re-

Rolle; Diskurse mit ihrer Beteiligung haben

herrschen vor

gierungsparteien (siehe Abb. 8). Erst mit der

Ausnahmecharakter.

sogenannten „Flüchtlingsflut“ (Bild-Zeitung

96

03.08.2015) häuften sich die Anlässe (und so

Befunde: Sonstige Akteure und Sprecher

auch die Zeitungsberichte), bei denen Vertreter

Fungierte die Berichterstattung der Lokal-/

beider Parteien miteinander argumentierten.

Regionalpresse rund um das Narrativ Will-

Im Herbst gewann dann das Schlagwort „Ober-

kommenskultur tatsächlich als Podium für

grenze“ und die Kontroverse der CSU mit der

die Politiker, die mit ihrer Sicht der Dinge die

CDU (abgeschwächt auch mit der SPD) große

„herrschende Meinung“ prägten? Die referier-

Aufmerksamkeit, die notabene auf das Narrativ

ten Häufigkeiten können dies natürlich nicht

Willkommenskultur abfärbte. Auffällig ist auch

belegen; man kann sie aber als Indikatoren

hier, dass die Oppositionsparteien, und das-

lesen, die diese These stützen. Die Frage lässt

selbe gilt für die AfD, an dem Dialog praktisch

sich jedoch anhand eines weiteren Indikators

nicht beteiligt wurden.

überprüfen: Wer alles kam sonst noch in den

Der für Meinungsbildungsprozesse be-

rund 17.000 Presseberichten zum Thema Will-

deutsame Modus des Diskurses – die Dar-

kommenskultur zu Wort? Gab es andere Grup-

stellung dreier politischer Positionen – kam

pen, Einrichtungen und Sprecher, die aus der

in den untersuchten zwei Zeitphasen mit

engen politischen Bühne ein breites Forum

827 Treffern bzw. 4,8 Prozent selten vor (sie-

machten?

he Abb. 9). Allerdings häufen sich solche

Auf der Suche nach einer Antwort sind

komplexen Darstellungen im zweiten Halb-

wir von der Annahme ausgegangen, dass die

jahr 2015 und vermitteln die Kontroversen

Häufigkeit, mit der eine Person oder Institu-

zwischen den Regierungsparteien in Bezug

tion in den Texten namentlich genannt wird,

auf die Flüchtlingsregistrierung, anschlie-

ein Indikator für ihre Prominenz ist. Beispiel:

ßend zur Frage der EU-Grenzsicherung, des

Ein ausführlicher Bericht über den Einsatz von

Dublin-Abkommens sowie den Disput über die

fünf namentlich genannten Helfern der Pfarrei

Aufnahmebegrenzung. Man sieht daran, dass

St. Georg oder ehrenamtlicher Mitglieder der

auch hier das Narrativ Willkommenskultur von

Initiativgruppe „Offenes Land“ hat ein größe-

den Parteien politisiert wurde und in deren

res Gewicht als eine fünfzeilige Meldung, in der

Argumenterepertoire im öffentlichen Schlag-

nur der Veranstalter genannt wird. Oder wenn

abtausch eingegangen ist. Deutlich tritt auch

die Lokalpresse den Migrationsbeauftragten im

zutage, dass die Positionen der AfD zumeist

Laufe eines Monats dreimal so oft zur Sprache


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

bringt wie den für Soziales zuständigen Bürger­

gesellschaftlichen“ Aktivitäten (Bürgerinitia-

Sachverständige

meister, dann gilt die öffentliche Aufmerksam-

tiven und „Runder Tisch“) wurden 76 Mal ge-

kommen nicht vor

keit vermutlich eher dem Migrationsbeauftrag-

nannt. Akteure des rechtsradikalen Spektrums

ten. Wie also sieht demzufolge das Ranking

traten – wenn auch in ganz anderen Zusam-

der im Zusammenhang mit Willkommenskul-

menhängen – etwa genauso oft in Erscheinung

tur am häufigsten genannten Personen bzw.

wie die Beauftragten für Integration (180). Un-

Amtsträger und Einrichtungen aus? Antwort: In

terscheidet man nach den politischen Hand-

der Gesamtheit der von uns untersuchten zwei

lungsebenen, dann agierten fast zwei Drittel

Zeitphasen dominiert Bundeskanzlerin Angela

der von uns identifizierten Akteure/Sprecher

Merkel mit 11.599 Nennungen unangefochten

auf der Bundesebene, rund jeder Achte auf

auf dem ersten Rang. Der Zweitplatzierte ist

der regionalen Ebene (gilt insbesondere für

Bundesinnenminister Thomas de Maizière mit

die rechtsextremen Positionen) und nur jeder

1.117 Nennungen, also mit nur einem Zehntel

Zehnte auf der lokalen (das heißt im Einzugs-

der Nennungen der Erstplatzierten. An dritter

gebiet der fraglichen Zeitung).

Stelle finden sich die Integrationsminister und

In der Flüchtlingshochphase, also dem

-beauftragten mit 936 Nennungen, gefolgt von

3. Quartal 2015, liegt die Bundeskanzlerin um

den einschlägigen Bundesämtern. Die den Be-

ein Vielfaches vor allen andern (1.617); auf

fund differenzierende Anschlussfrage lautet:

dem 2. Rang folgt Innenminister de Maizière

Bestand diese herausragende Medienpromi-

gleichauf mit den für Flüchtlinge zuständigen

nenz der Bundeskanzlerin schon von Anfang

Bundesämtern (262); weit zurück liegen jetzt

an – oder ist sie kennzeichnend für das Kri-

die Beauftragten für Migration und Integration

senmanagement im Spätsommer, Herbst und

(165). Die „bürgergesellschaftlichen“ Aktivitä-

Winter 2015/16?

ten werden jetzt 380 Mal genannt (überwie-

Um eine Antwort zu finden, haben wir das

gend der „Runde Tisch“); lokale Personen, Gre-

Ranking für das ganze Jahr 2012 mit dem des

mien und Einrichtungen kommen gehäuft vor,

3. Quartals 2015 (Höhepunkt der Flüchtlings-

doch bleiben sie im Vergleich zu den Akteuren

einreise) und dem 1. Quartal 2016 (nach der

auf der Bundesebene zahlenmäßig marginal.

Silvesternacht) verglichen.

Einen ebenfalls rasanten Aufmerksamkeits-

Zum Thema Willkommenskultur nannten

zuwachs erzielen die rechtsradikalen Akteure

die Zeitungen im Laufe des Jahres 2012 am häu-

(343) sowie die mit dem Namen Pegida (*gida)

figsten Bundeskanzlerin Merkel (287), gefolgt

verbundenen Aktionen (476). Was die Hand-

von den Amtsträger*innen bzw. Beauftragten

lungsebenen betrifft, so tritt nun die bundes-

für Integration (187), der Bundesagentur für

politische Ebene stärker hervor ebenso wie die

Arbeit (129) und den Ausländerbeauftragten

regionale; die für die Versorgung der Flüchtlin-

(109). Sämtliche Bundesminister*innen kamen

ge (im wörtlichen Sinne) naheliegende lokale

auf 77 namentliche Nennungen. Die „bürger­

Ebene wird überdeckt.

Kanzlerin Merkel ist top

97


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Ein Vierteljahr später, im 1. Quartal 2016,

runtergebrochen“ in die lokale Alltagswelt der

ist die Bundeskanzlerin in den Zeitungs­

Leser und es damit quasi neutralisiert – oder

berichten zum Thema Willkommenskultur

wurde es weiter verstärkt?

Opposition

erneut hochpräsent (3.655 Nennungen).

Mit dieser dritten Frage soll analysiert

hat keine Stimme

Geradezu marginalisiert der Innenminister

werden, ob und in welchem Umfang bis zum

(247), dann die sachzuständigen Bundes-

Ende des 2. Quartals 2015 neben neutral-

ämter (106); noch seltener kommen die für

vermittelnden auch distanziert-kritische Dar-

Migration und Integration Zuständigen vor

stellungen auffindbar sind. Auch dies kann

(77). Unter „Ferner liefen“ werden die übri-

im Umgang mit Big Data nicht mit der „hän-

gen Bundesminister genannt (36). Die „bür-

dischen“ Inhaltsanalyse geschehen, sondern

gergesellschaftlichen“ Aktivitäten wie auch

hier dient die algorithmische Berechnung von

lokalen Gruppen haben an Aufmerksamkeit

sprachlich-syntaktischen Zusammenhängen

verloren (244), die rechtsradikalen Akteure

(Kookkurrenzen), die dann mit dem Zugriff auf

hingegen legen zu (386), während Pegida auf

identifizierte Texte – Close Reading – inhaltlich

319 zurückgeht. Wohlgemerkt, wir sprechen

geprüft und belegt werden, als Indikator für

hier nur über den Themenfokus des Narrativs

eine Thesenüberprüfung.

Willkommenskultur.

Das Analysekorpus – nun verkürzt auf die Zeit bis Ende des 2. Quartals 2015 – umfasst

Positiv – neutral – kritisch?

6.982 Texte. Nun trennen wir (soweit möglich)

Wenn schon der bundespolitische Diskurs

die redaktionellen Meinungsbeiträge von den

in den Leitmedien und weiter in der Lokal-/

Texten, die berichterstatten oder Sachverhal-

Regionalpresse in seiner Dominanz fortge-

te schildern (Meldungen, Berichte, Reporta-

schrieben wurde: Geschah dies vielleicht so,

gen, Dokumentationen u.  Ä.).67 Entsprechend

dass die positive Besetzung des Wortes quasi

schrumpft sein Umfang um 7,2 Prozent auf

neutralisiert und seine persuasive Wirkung

6.479 Texte, die mit dem Thema Willkommens-

Suche nach

gemildert wurde, indem auch kritische Stim-

kultur berichtend verfahren.68

kritischen Stimmen

men zu Wort kamen? Hat die Regionalpresse

Hier unsere Befunde: Von diesen 6.479 Berich-

in der Zeit vor August 2015, als die vielen Hun-

ten, die bis zum 30. Juni 2015 publiziert wurden,

derttausend Flüchtlinge nach Deutschland kamen, das von der Wirtschaft erwünschte und

konnten wir 385 Texte identifizieren, in de-

von der Politik auf allen Ebenen propagierte

nen Äußerungen enthalten sind, die zum

„Willkommensklima“ differenziert und „he­

Thema Willkommenskultur eine mehr oder

67 Die meisten (aber leider nicht alle) Zeitungstexte der WISO-Datenbank geben in ihren Metadaten auch die Platzierung und bei Meinungsbeiträgen die Darstellungsform (meist: Kommentar) an. 68 Aufgrund von Stichproben ist eine Unschärfe von rund 2,5 Prozent (bezogen auf den reduzierten Korpus) zu berücksichtigen.

98


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

weniger kritische Position beziehen.69 Dies

attraktiv machen) jetzt übertragen wurde auf die

sind rund 6 Prozent aller untersuchten Be-

Lage der Flüchtlinge und Asylsuchenden, indem

richterstattungen jenes Zeitraums.

das Narrativ Willkommenskultur mit dem ope-

haben 728 Berichte (11,2 Prozent) Mel-

rativen Begriff Integration verknüpft wird (mehr

dungs- oder Mitteilungscharakter, in denen

dazu im folgenden Abschnitt). In zahlreichen

das Wort Willkommenskultur ohne Bedeu-

Berichten finden sich Forderungen („wir brau-

tungskontext vorkommt und insofern auch

chen …“) oder Ankündigungen („wir wollen …“).

keine Wertung transportiert.

Sie gelten integrationsfördernden Maßnahmen

zeigen die verbliebenen 5.366 Berichte im

(vor allem Förderschulen und Sprachunterricht,

Ein Hoch auf die

Korpus eine durchwegs positive, manche

bessere Unterkünfte, administrative Erleichte-

Willkommenskultur

eine belobigende, viele eine einfordernde

rungen u.  Ä.) – ein Kanon, der den Forderungen

Haltung zum Narrativ Willkommenskultur.

der Industrie- und Arbeitgeberverbände aus der

Dies sind knapp 83 Prozent aller Berichte

Zeit bis 2012 entspricht.

(die das Narrativ Willkommenskultur ent-

Ein mit Euphemismen eingekleidetes Stim-

halten) in den untersuchten Lokal- und Re-

mungsbild vermitteln Zeitungsberichte, die auf

gionalzeitungen.

der regionalen und lokalen Ebene Akteure und

vermitteln 43 Prozent der 6.479 Texte (nur)

Protagonisten zu Wort kommen lassen bzw.

die Sicht der Parteien, die als Promotoren

über deren Tätigkeit berichten (freie Träger,

des Narrativs Willkommenskultur auftreten

Vollzugsbehörden, Initiativ- und Bürgergrup-

(SPD, CDU, FDP, Grüne und – weniger eu-

pen, Ovaler bzw. Runder Tisch u. Ä.). Im Früh-

phorisch – auch die CSU).

jahr 2015 finden sich in vielen Lokalausgaben Schilderungen mit dem Tenor: „Eine Willkom-

Nun gab es natürlich auch Berichte, in denen ne-

menskultur gibt es schon“ (Neue Osnabrücker

ben den Parteisprechern noch andere Akteure zu

Zeitung 20.03.2015), oder die Nachricht, dass

Wort kamen. Doch diese vermittelten gegenüber

„unerwartet viele“ Bürgerinnen und Bürger

der Politik keine distanzierte Sicht. Sie verstärk-

zu Veranstaltungen gekommen oder mit da-

ten vielmehr das Willkommenskultur-Plädoyer,

bei seien. Auch in dieser Gruppe finden sich

indem die Protagonisten die real existierende

kritische Äußerungen. Sie gelten freilich nicht

Willkommenskultur als unzureichend, verbesse-

dem Thema Willkommenskultur, sondern der

rungs- bzw. verstärkungs­bedürftig bezeichnen.

Bürokratie, namentlich den Ausländerbehör-

Dabei fällt auf, dass die von den Wirtschafts-

den, die aus Sicht der Helfer nicht konstruktiv

vertretern bis 2012 eingebrachte Argumentat­ion

tätig seien – also Kritik im Sinn und Geist einer

Im Sinn des

(Deutschland für hochqualifizierte Migranten

Stärkung der Willkommenskultur.

Arbeitsmarktes

69 Die Item-Liste umfasst Lemmata, die Bestandteil von Wörtern sind, die Skepsis, Bedenken, Einwände, Vorbehalte, Zweifel, Kritik, Abwehr zum Ausdruck bringen. Zwischen den Objektgruppen Kritik/keine Kritik gibt es Unschärfen, die sich nicht berechnen lassen.

99


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

100

Ungetrübte Willkommenseuphorie

identifizierten wir 59 Berichte (1,9 Prozent),

In den vier Wochen nach dem Terrorakt gegen

die Willkommenskultur-kritische Äußerungen

die Redaktionsmitglieder von Charlie Hebdo im

von Vertretern des rechten Politspektrums

Januar 2015 in Paris publizierten die 85 Lokal-/

referierten.

Regionalzeitungen 3.112 Texte, in denen das

Kann man diese Befunde auf die gesam-

Thema Willkommenskultur vorkam. Daraus

te Lokal- und Regionalpresse beziehen? Wie

konnten wir 48 Zeitungsberichte (1,5 Prozent)

oben beschrieben, liegt unserem Analysekor-

identifizieren, die Äußerungen zitierten, die

pus die Quellenliste zugrunde, die wir wegen

Bedenken oder Skepsis zum Ausdruck brin-

des Längsschnitts für das Jahr 2010 ermittelt

gen. Tenor: Die öffentlichen Willkommenskul-

hatten. Wir haben nun für das 1. Quartal 2016

tur-Selbstbelobigungen könnten im Ausland

mit einer aktualisierten, um 15 Zeitungen er-

einen unerwünschten Werbeeffekt entfalten;

weiterten Quellenliste in derselben Daten-

einige Stimmen meinten, dass in Deutschland

bank (WISO/Genios) die Häufigkeiten vergli-

Schutz und Sicherheit vernachlässigt würden.

chen, die über Suchstrings (Willkommenskul-

Berichtsgegenstand waren meist Versamm-

tur und Parteinennungen) erzielt wurden. Die-

lungen oder Podiumsdiskussionen, bei denen

se zeigen bei höheren Trefferzahlen dieselben

auch Skeptiker oder Oppositionelle das Wort

Relationen wie die alte Quellenliste (Näheres

ergriffen. Keiner der Texte war Ergebnis jour-

hierzu siehe Anhang). Die Vermutung ist da­

nalistischer Recherchen.

rum gut begründet, dass sich auch dann die-

Über politische Konflikte im Zusammen-

selben Relationen zeigen würden, wenn wir

hang mit der Willkommenskultur berichteten

mit den heute verfügbaren Zeitungsinhalten

vor allem Lokalausgaben aus den Städten

erneut einen – nach Maßgabe der zu Beginn

und Dörfern der neuen Bundesländer, wo sich

dieses Teils genannten Kriterien – bereinig-

Konflikt mit

rechtsnationale und rechtsextreme Gruppen

ten Analysekorpus gebaut und unsere Textmi-

Ultrarechten

bemerkbar machten. Dort äußerten sich nicht

ning-Analyse wiederholt hätten (was wegen

nur AfD-Vertreter, sondern auch Politiker bür-

des enormen Aufwands nicht möglich war).

gerlicher Parteien mitunter skeptisch zur Will-

So gesehen haben die referierten Befunde

kommenskultur – etwa mit dem Verweis auf die

unseres Erachtens Gültigkeit für die gesam-

hohen Kosten für Sicherheit oder auf die Risi-

te Lokal- und Regionalpresse in Deutschland,

ken, die mit den angeblich nicht integrations-

soweit sie über die WISO/Genios-Datenbank

willigen Muslimen verbunden seien. Insgesamt

zugänglich ist.


Die Erfindung der „Willkommenskultur“

4. Mitmachen – Schweigen – Schimpfen

den neuen Rechtspopulismus, die Angst der Thüringer vor dem Islam und Pegida“. Auf die

Die referierten Untersuchungsergebnisse zei-

Frage: „Die Landesregierung rühmt sich seit

gen, dass die Lokal- und Regionalzeitungen

ein paar Jahren ihrer Willkommenskultur für

das Narrativ Willkommenskultur im Sinne der

Ausländer. Nur Lippenbekenntnisse?“, ant-

Positionen des Politikdiskurses verbreiteten

wortete der Fachmann: „Der Begriff klingt gut.

und hierbei deren euphemistisch-persuasive

Das muss aber mit Leben gefüllt werden. Die

Diktion übernahmen. Dabei dominierten ana-

Bemühungen sind zwar da, aber für meinen

log zu den Leitmedien die bundespolitischen

Geschmack ist das zu elitär. Das findet noch

Akteure den medialen Diskurs. Zwar berichte-

zu sehr hinter verschlossenen Türen statt“

ten viele Lokalausgaben auch über die mit dem

(TA, 09.01.2015). Diese allerdings durch keine

Schlagwort Willkommenskultur verbundenen

Nachfragen vertiefte Äußerung ist auch des-

realen Aktivitäten; ebenso wurden Kritiker und

halb eine Ausnahme, weil unter all denen, die

Skeptiker mit erwähnt, soweit sie öffentlich

in den Zeitungen zu Wort kamen, Experten und

das Wort ergriffen. Doch praktisch alle Berichte

Fachleute (je nach Definition) nur 2,5 bis 3 Pro-

vermittelten als Grundtenor, dass der Komplex

zent ausmachten. Statistisch ausgedrückt: Auf

Gesellschaftlicher

Willkommenskultur/Integration nicht zu hin-

17 Politikerstatements kommt nur eines von

Basiskonsens

terfragen, vielmehr von einem gesellschaftli-

einem Experten.

chen Basiskonsens getragen und zunehmend erfolgreich sei. Musterhaft ein Lokalbericht,

Das Gute fördern

dessen Aufmacher so lautete: „Flüchtlinge

Wie sich die Presseberichterstattung auf die

willkommen. Freundeskreis Asyl zieht positive

Einstellung der verschiedenen Bevölkerungs-

Bilanz. Sprecherin zollt Menschen großen Re­

gruppen ausgewirkt hat, wissen wir nicht.

spekt“ (Südkurier 03.02.2015).

Meinungsumfragen wie auch Äußerungen vor

Die einleitend referierten Erkenntnisse

allem in Leserzuschriften an die Zeitungen

über die tatsächlichen Gründe, die einer ent-

sprechen indessen dafür, dass sich der gut-

krampften, im Grunde selbstverständlichen

bürgerliche, tolerant eingestellte und liberal

Hilfsbereitschaft entgegenstehen – etwa mi-

denkende Teil der Bevölkerung von der Will-

lieuspezifische Enttäuschungen, Frustrationen

kommenskulturkampagne angesprochen fühl-

und Verlustängste –, kamen nur ausnahms-

te und sie mit Leben füllte. Die vorbehaltslose

Frage nach

weise zur Sprache. Zu diesen Ausnahme­

Hilfsbereitschaft, die zahllose Bürger zumal in

Medienwirkung

augenblicken zählten die ersten Tage nach dem

den grenznahen Städten Bayerns und in Mün-

Terroranschlag in Paris Anfang Januar 2015. Da

chen im August und September 2015 an den

führte etwa die Thüringer Allgemeine (TA) ein

Tag legten, war Ausdruck der Willkommenskul-

Interview mit dem Medien- und Islamwissen-

tur, wie sie von den Politikern gefordert, von

schaftler Kai Hafez (Universität Erfurt) „über

den lokalen Medien beschrieben und dann

101


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

gefeiert wurde. Ähnliches lässt sich auch für

Welt. Dem Kleinmut durch aktive Mit-

viele andere Großstädte konstatieren. Die

menschlichkeit ein Ende zu bereiten, ist

Willkommenskulturkampagne hat nicht nur

aller Ehren wert“ (Neue Zürcher Zeitung

Selbstgefälligkeit erzeugt, sondern auch viel

25.09.2015).

zur Mobilisierung des Gemeinsinns und zur Förderung des Sozialverhaltens beigetragen.

Dies ist die eine Seite des Frames, die wir nicht

Mit den Worten eines neutralen Beobachters:

übersehen wollen. Die andere aber betrifft die Effekte, die wir einleitend erwähnt haben: die

„Die Willkommenskultur blendet einiges

mentale Kanalisierung des meinungsoffenen,

aus, was sie als naiv erscheinen lässt.

am gesellschaftlichen Zusammenhalt orien-

Sie fragt nicht danach, wo die Grenzen

tierten öffentlichen Diskurses. Meinungsum-

der Belastbarkeit liegen, stellt sich nicht

fragen und die hohen Stimmanteile der AfD bei

den Problemen der Verteilungsgerech-

den Landtagswahlen machen deutlich, dass

tigkeit (es werden die Sozialhilfeemp-

Unbehagen und Skepsis, auch kritische Ein-

fänger sein, welche die Etats der staat-

stellungen zur Bedeutung der Willkommens-

lichen Wohlfahrt mit Einwanderern teilen

kulturkampagne schon vor den dramatischen

müssen); und sie überträgt das Ideal der

Ereignissen des Sommers 2015 weit verbreitet

Gastfreundschaft auf die dauerhafte Un-

waren und von der Mehrheit so auch empfun-

terbringung von Fremden (Migranten sind

den wurden.70

Moralität des

aber keine Gäste auf Besuch). Doch die

Wie weit diese Diskrepanzen auf die Me-

Willkommens

Moralität des Willkommens überzeugt. Es

dienberichterstattung

gibt zu viel Geiz, Besitzstandswahrung,

den können, werden wir in Teil 4 anhand des

Ignoranz, Wegsehen, Verhärtung in der

Schweige­spiralen-Konzepts ausleuchten.

zurückgeführt

wer-

70 „Die Deutschen fühlen sich in Sachen Flüchtlingspolitik und Zuwanderung übergangen. In einer Umfrage von TNS Forschung für den SPIEGEL sagten 65 Prozent, die Regierungsparteien der Großen Koalition gingen nicht ausreichend auf ihre Sorgen zu diesem Thema ein“ (Spiegel Online 13.12.2014). Aus einer Repräsentativerhebung im Auftrag der Wochenzeitung Die Zeit: „Auf die Frage ‚Sind Sie der Meinung, dass Deutschland aktuell zu viele oder zu wenige Flüchtlinge aufnimmt‘, antworteten insgesamt 59 Prozent der Befragten, Deutschland nehme ‚deutlich zu viele‘ (30 Prozent) oder ‚eher zu viele‘ (29 Prozent) auf. Besonders problematisch bewertet wird die Zahl der Flüchtlinge von den Menschen in den Altersklassen zwischen 25 und 54“ (Die Zeit 15.12.2014).

102


Die Dynamik der Grossereignisse

Teil 3: Die Dynamik der Großereignisse

1.

Wie die Leitmedien die Vorgänge vermittelt haben

tet; bis Ende 2016 wurde das Video mehr als 580.000 Mal abgerufen).71 Zahlreiche Reaktionen der Medien schlu-

Am 5. August 2015 sprach die Moderatorin

gen in dieselbe Kerbe; das Vice-Magazin brach-

der ARD-Sendung Panorama, Anja Reschke,

te ein Ranking der „dümmsten“ Sprüche von

in einem Kommentar der Tagesthemen deut-

Fremdenhassern. Der Filmemacher Til Schwei-

liche Worte: Die rassistischen Hasstiraden

ger verkündete in einer TV-Show, die Hass-

im Internet würden immer zahlreicher, immer

Blogger seien vom zu häufigen Reality-TV-Gu-

unverfrorener und kämen sogar oft mit Klar-

cken „verdumpft“. Drei Wochen vor Reschkes

namen. Offen­bar schämten sich diese Hetzer

Ansprache titelte die deutsche Huffington Post

nicht mehr, fand Reschke, weil sie glaubten,

mit dem Zitat: „Willkommen, liebe Flüchtlinge,

sie seien in der Mehrheit. „Scheißkanacken!“,

gut, dass ihr hier seid" (16.07.2015). Eine Wo-

„Wie viele wollen wir noch aufnehmen?“, „Soll

che nach dem Auftritt erschien die Wochenzei-

man anzünden“, „Sollen abhauen“. Diese Flut

tung Die Zeit mit dem Titelthema „Willkommen!

menschenverachtender Hasstiraden würde

Was widerfährt einer Familie aus dem Irak, die

zudem Gewaltbereite ermutigen und dazu

in Deutschland Zuflucht sucht? Geschichten

beitragen, dass immer mehr Flüchtlingsheime

aus einem Land, das Fremden die Hand reicht“.

und Asylunterkünfte in Brand gesteckt wer-

Die Überschrift der Titelstory – sie handelt von

den. „So kann es nicht weitergehen“, sagte

der hindernisreichen Flucht einer irakischen

„So kann es

Reschke, es sei an der Zeit, „den Mund auf-

Familie mit drei Kindern – lautete: „Im gelobten

nicht weitergehen“

zumachen“ und diesen Leuten klar und deut-

Land!“ (Die Zeit 32/2015).

lich zu sagen, dass sie eine kleine Minder-

Diese und zahlreiche weitere Aufmacher,

heit sind. Die Mehrheit, „das sind wir“, das

Bilderstrecken und Kommentare in den soge-

seien die Bürger, die fremdenfreundlich und

nannten Mainstreammedien auf der einen und

hilfsbereit sind. „Die Hassschreiber müssen

die von Hasstiraden überquellenden Blogs

kapieren, dass diese Gesellschaft das nicht

und Kommentarspalten auf der anderen Sei-

toleriert.“

te: Sie sind Ausdruck einer tiefen Spaltung,

Ausdruck

Reschke erhielt weit mehr als 20.000 zu-

die seit Beginn der großen Flüchtlingswelle

tiefer Spaltung

stimmende, aber erneut auch diffamierende

im Sommer 2015 das Meinungsklima prägt.

Hass-Mails. Rund 10 Millionen Zuschauer ha-

Öffentlich ausgetragene Kontroversen sind

ben sich während der folgenden 24 Stunden

nichts Neues. Das Neue an diesem Bruch

laut ARD die Publikumsansprache Reschkes

scheint indessen die Unerbittlichkeit und

angeschaut (sie ist seither auf YouTube gepos-

die kategorische Weigerung zu sein, mit den

71 Der Kommentar und ein am Folgetag mit Anja Reschke geführtes ARD-Interview sind auf YouTube zu sehen (https:// www.youtube.com/watch?v=i9kv-rmvGKg; https://www.youtube.com/watch?v=BY85V2ULoy8; abgerufen Januar 2017).

103


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Anders­denkenden im öffentlichen Gespräch

kann indessen nur Medienaussagen in den

zu bleiben.

Blick nehmen. Ihre Befunde sind darum (nur)

Die doppelten

Aus Sicht der Medienmacher – dafür steht

als eine Dimension in diesem mehrdimensi-

Feinde

die Episode mit Anja Reschke – war der Ab-

onalen Kommunikationsmodell zu lesen und

bruch des gesellschaftlichen Diskurses denen

sollten nicht als ursächlich verstanden werden.

anzulasten, die sich als die Missachteten und Übergangenen sehen und wütend sind. Unse-

Wir suchen nun nach Antworten auf die folgen-

re Befunde lassen aber genauso die These zu,

den Fragen:

dass der Abbruch von den meinungsführenden Medien befördert wurde – quasi stillschweigend, indem Menschen mit abweichenden Leitmedien

Meinungen und Ängsten auch deshalb aus-

unter der Lupe

gegrenzt wurden, weil man sie zur dunklen Welt der Fremdenfeindlichen zählte, die auch Gewalt gegen Asylsuchende billigend in Kauf nähmen. Die von der Tagespresse vermittelte Willkommenskultur-Euphorie erzeugte das passende Meinungsklima und kann als wirksame Bekräftigung dieser ausgrenzenden Schuldzuweisung gedeutet werden. Unser Ansatz geht davon aus, dass diese Entweder-oder-Positionierung dem realen Geschehen nicht gerecht wird. Die mit der He­

Haben die drei Leitmedien anlässlich der verschiedenen meinungsprägenden Groß­ ereignisse die Sorgen, Nöte und Ängste derjenigen thematisiert, die sich der Willkommenskultur-Euphorie nicht anschließen mochten? Haben sie die Probleme, Einwände und Vorbehalte aufgegriffen und hierzu die aktiv Beteiligten sowie Experten und Fachleute zu Wort kommen lassen? Kam es bei dem einen oder anderen der Großereignisse zu einer öffentlich ausgetragenen Debatte, an der sich die verschiedenen Lager und Gruppen beteiligt haben?

rausbildung von Fremdenfeindlichkeit verbun-

Angesichts der Ergebnisse, die im vorigen Teil

denen psycho­logischen und sozialen Disposi-

in Bezug auf das Narrativ „Willkommenskul-

tionen wie auch die politischen und mentalen

tur“ in der Regionalpresse vorgestellt wurden,

Einflussgrößen stehen kausalen Erklärungen

ist die Hypothese naheliegend, dass die Leit­

im Wege. Wie in der Einleitung dargelegt, stützt

medien diese Chancen eher nicht ergriffen ha-

sich unser Ansatz darauf, dass öffentliche Kom-

ben.

munikation zumal in Zeiten des Internets dynamisch und „transaktional“ geschieht,72 dass

Das Konzept der Analyse

also die dem Denken innewohnende Trennung

Wir greifen die einstellungsprägenden Ereig-

von Henne und Ei ins Nirgendwo führt. Die

nisthemen wieder auf, die wir im ersten Teil

nachfolgend wiedergegebene Inhaltsanalyse

erläutert haben (siehe Tab. 1 „Die für die Mei-

72 Dieser Ansatz folgt in theoretischer Hinsicht dem „dynamisch transaktionalen Modell“, das Wirkungsprozesse der Medien im Kontext ihrer individuellen Nutzung modelliert (vgl. Früh 1991).

104


Die Dynamik der Grossereignisse

nungsbildung als relevant identifizierten Groß­

Formen, nicht der Meinungsbeiträge (mit

ereignisse 2015“). Zu diesen Großereignissen

diesen wird sich der nächste Abschnitt be-

untersuchten wir die Berichterstattung der drei

fassen)

Leitmedien Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Welt.

(f) Aus welcher Sicht und mit welchen Argumenten beurteilen die Kommentatoren die Vorgänge, Maßnahmen und Pläne? g Per­

Für die folgende Textanalyse wählten wir aus-

spektive, Argumentationslogik und Begrün-

sagestarke Kategorien des Codebuchs (hinter

dungen in den Kommentaren

den Pfeilen genannt), die die folgenden Fragen beantworten: (a) Wie sind die Ereignisthemen aufbereitet? g  Darstellungsformen

Damit ist auch schon gesagt, dass wir dem im Informationsjournalismus unstrittigen Grundsatz folgen: Die nachrichtlichen Texte sollten weitestgehend „meinungsfrei“ die Ereignisse

Qualität der

(b) Wer kommt in den Texten vor? g Explizit ge-

beschreiben und in einen Sachzusammenhang

Informations-

nannte Akteure, Sprecher, Informanten und

bringen, damit die Leser sich möglichst vorur-

leistung

Betroffene, soweit sie für den Vorgang/das

teilsfrei und umfassend ins Bild setzen können

Thema relevant sind (Definition der Rele-

(zur Funktion der Meinungsbeiträge siehe den

vanz: Auftritt im vorderen Berichtsteil inkl.

nächsten Abschnitt).

Titelkomplex und/oder wiederholte Nen-

Zur Erinnerung (siehe Teil 1): Für die zehn

nung); im Folgenden „Akteure/Sprecher“

Großereignisse  –  zusammengenommen zwan-

genannt

zig Wo­chen – wurden insgesamt 1.687 redak-

(c) Für wen oder was sprechen diejenigen, die

tionelle Texte erfasst und analysiert. In diesen

in den Texten vorkommen? g Zuordnung

wurden 9.216 Quellen/Informanten/Akteure/

der als relevant identifizierten Akteure/

Sprecher ermittelt, von denen wiederum 3.651

Sprecher zu Funktionsbereichen nach

als „relevant“ (im zuvor definierten Sinne)

Maßgabe einer Liste mit 42 Kategorien

genauer untersucht wurden. Die nachfolgen-

(d) Ist das Berichtsthema konflikthaltig?

de Beschreibung bezieht sich auf die 1.391

g  Sprachliche Merkmale im Titelkomplex

berichtenden Texte, in denen 3.308 relevante

und dem Berichtstext

Akteure/Sprecher identifiziert wurden.73 Die

(e) Gehen die berichtenden Texte mit ihrem

Daten zu den folgenden Ergebnissen sind in

Thema/Gegenstand neutral oder wertend

den Tabellen 28-33 im Anhang dieser Studie

um? g Tonalität nur der tatsachenbetonten

zusammengestellt.

73 Weitere Informationen zum methodischen Vorgehen sowie das Codebuch können online eingesehen werden; siehe Anhang, „Zur Methodologie“, S. 147.

105


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

2. Was, wer, wann, wie? Die Einzel analyse der zehn Großereignisse

Überhang der CDU-Zugehörigen. Diejenigen, um deren Wohl es in jenem Brief eigentlich ging, scheinen bedeutungslos zu sein: Nur fünf

E1: Drei Länderchefs schreiben an

der in allen Zeitungstexten als relevant auftre-

tenden Akteure/Sprecher gehören zur Gruppe

Angela Merkel

Was? Die drei Ministerpräsidenten Winfried

der Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchen-

Kretschmann (Grüne), Malu Dreyer (SPD) und

den. Ebenso wenig Bedeutung erlangen jene,

Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier

die sich im Alltag konkret um die Flüchtlinge

(CDU) fordern in einem Brief an Angela Merkel

kümmern: die kirchlichen Einrichtungen, die

ein Bleiberecht für junge Asylbewerber in Aus-

sozialen Träger sowie Gemeinschaften, Initia­

bildung (04.02.2015).

tiven und freien Organisationen. Insgesamt

Wer? Kretschmann (Grüne), Dreyer (SPD), Bouf-

wird das Ereignisthema sachlich vermittelt, das

fier (CDU), die Bundesregierung (Angela Mer-

heißt, die meisten Berichte sind in neutralem

kel)

Ton gehalten; nur in einem Bericht haben wir

Wann? 06.02.2015 bis 14.02.2015

einen auktorialen Stil festgestellt.

Viel Lust am

Primärquellen in den Medien: Brief von Win-

Die journalistische Freude am Kommen-

Kommentieren

fried Kretschmann (Grüne), Malu Dreyer (SPD)

tieren erklärt sich wohl auch daraus, dass der

und Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier

Vorgang als kontrovers und konflikthaltig auf-

(CDU) an Angela Merkel. (Der SZ lag der Brief

bereitet wurde: 11 der 18 Texte nennen einen

offenbar zuerst vor, da diese in den anderen

Dissens bereits im Titelkomplex; nur drei Texte

Zeitungen zum Teil als Quelle genannt wird.)

beschreiben die Lage, ohne eine Kontroverse herauszukehren.

106

Das Großthema Flüchtlinge/Asylsuchende ist

Man könnte diesen Befund als themenge-

aus Sicht der drei Zeitungsredaktionen eher

recht bezeichnen, schließlich handelt es sich

bedeutungslos. Neben der nachrichtlichen Ver-

um Meinungsverschiedenheiten zwischen poli-

mittlung (23 Texte) finden sich 8 Kommentare

tischen Akteuren. Diese Bewertung folgt indes-

und Fremd- bzw. Gastbeiträge. Demzufolge

sen dem überkommenen Rollenverständnis,

handelt es sich um ein Ereignis, das die Jour-

dem zufolge die Journalisten die Politik in der

nalisten zum Räsonnement und zur politischen

politischen Arena belassen. Demgegenüber

Spekulation reizt, nicht aber zu einer Recherche

wäre vom Journalismus des Internetzeitalters

über die Ursachen, Umstände und Zwecke, die

zu erwarten, dass er die Ereignisthemen über-

zu dem Brief geführt haben. Insgesamt fanden

setzt und (auch) aus der Sicht der Alltagswelt

wir in den Zeitungstexten 112 relevante Akteu-

Fragen stellt und recherchiert. Man kann sich

re/Sprecher. Davon gehören vier von fünfen zur

daher fragen, weshalb die drei Qualitätsmedi-

Politik: gut 40 Prozent zur Landes- und knapp

en den Brief der Landeschefs nicht zum Anlass

30 Prozent zur Bundesebene mit deutlichem

nahmen, um an Ort und Stelle mittels Befra-


Die Dynamik der Grossereignisse

gung der Beteiligten die Situation der Betrof-

tembergischer Ministerpräsident, Grüne) u. a.

fenen auszuleuchten, die im Brief erhobenen

Wann? 10.02.2015 bis 20.02.2015

Thesen zu prüfen und die Probleme anschau-

Primärquellen in den Medien: Migrations­

lich zu machen.

bericht der Bundesregierung (2013), Bundes­

Diese Frage sollten wir sinngemäß auch

agentur für Arbeit, Kriminalitätsstatistik des

bei den folgenden Fallbeschreibungen quasi

Bundeskriminalamtes, Bundesamt für Mi­

im Hinterkopf behalten.

gration und Flüchtlinge (Bericht des BAMF, der Bundespolizei und der Länder zu dem Thema).

E2: Endlich Fakten:

Wo kommen sie her, wie viele sind es?

Diese Informationen erregen Aufmerksamkeit,

Was? Die Bundesregierung beantwortet eine

weil nun erstmals belastbare Daten zur Verfü-

Anfrage der Linksfraktion. Sie besagt: „Die

gung stehen – ein für Journalisten geeigneter

Zahl der in Deutschland lebenden Flücht-

Anlass („Aufhänger“), um ihre Leser über die

linge hat sich im vergangenen Jahr auf etwa

Situation der Migranten und Flüchtlinge, über

629.000 erhöht. Das ist ein Zuwachs um rund

aufenthaltsrechtliche Probleme wie auch über

130.000 Menschen“ (zit. nach Spiegel Online

die Arbeit der betreuenden Gruppen und Ein-

12.02.2015). Zudem erwarte das Bundesamt

richtungen ausgiebig zu informieren und die

für Migration an die 300.000 Asylanträge, zu-

Situation anschaulich zu machen.

gleich aber auch „mehr Abschiebungen“ (zit.

Die Analyse der Darstellungsformen der

Mangelnde

nach Tagesschau). In diesem Rahmen stellen

insgesamt nur 39 Texte zum Thema vermittelt

Aufklärung

die Bundesbehörden neue statistische Kenn-

ein ganz anderes Bild: Es finden sich fast nur

zahlen zum Komplex Migration/Asylsuchende

Meldungen und Kurzberichte sowie erneut

vor: Wie setzt sich der Wanderungssaldo (Ein-

zahlreiche Kommentare (jeder vierte Text) und

und Auswanderungen) zusammen? Wer kommt

nur in zwei Zeitungen je ein Erlebnisbericht

und vor allem aus welchen Ländern? Dunkel-

tage). Was die relevanten Akteure/ (Repor­

ziffern? Straffälligkeiten? Die Mediendebatte

Sprecher betrifft, so gehören drei von vier Nen-

fokussiert überwiegend den Zustrom von Asyl-

nungen zur etablierten Politik; knapp 53 Pro-

bewerbern – obgleich die Mehrheit der Migran-

zent sind abstrakte Quellen (Institu­tionen).

ten aus EU-Ländern kommt. Auch auftretende

Mit knapp 7 Prozent unerwartet hoch ist der

Konflikte werden thematisiert.

Anteil derer, die zur Judikative (Polizei, Straf-

Wer? Markus Ulbig (sächsischer Innenminister,

verfolgung, Rechtsprechung) gehören. Nur

CDU), Thomas de Maizière (Bundesinnenminis-

jede zwanzigste Nennung galt einem Migran-

ter, CDU), Volker Jung (hessen-nassauischer

ten oder Flüchtling.

Kirchenpräsident), Bundesregierung, Bundes-

Überraschend, dass auch bei diesem The-

polizei, Joachim Hermann (bayerischer Innen-

ma mehr als die Hälfte der Berichte auf der

minister), Winfried Kretschmann (baden-würt-

politischen Ebene einen Konflikt thematisie-

107


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Tendenziöse Berichte

ren. Obwohl es mehr als beim vorigen Thema

Beachtung als den vorausgegangenen Themen.

um Aufklärung anhand von Daten und Fakten

Die Hälfte der Texte ist nachrichtlich, etwa je-

geht, ist der Anteil der Berichte mit neutraler

der fünfte ein Kommentar. Diesmal finden sich

Tonalität geringer, derjenige mit tendenziöser

auch Dialog- und Erzählformen sowie Gast-

Tonalität deutlich höher (5 von 20).

beiträge – ein Indiz, dass dieses „handfeste“ Ereignis aus unterschiedlichen Per­spektiven

E3: Ein Ortsbürgermeister gibt

angegangen wurde. Ein Blick auf die in den

Texten genannten relevanten Akteure/Spre-

sich geschlagen

Was? Gegen den Bau bzw. die Unterbringung

cher bestätigt diese Mehrdimensionalität eher

von 50 Flüchtlingen in Tröglitz formiert sich Wi-

nicht: Vier von fünf gehören zur Welt der insti-

derstand in der Bevölkerung. Im Verlauf mehre-

tutionellen Politik, seien es Stadtrat, Kreisrat

rer Monate radikalisiert sich dieser Protest. Mit

und die Landesregierung mit ihren Behörden,

der Organisation von „Spaziergängen“ demons-

sei es die Ebene der Bundesregierung und des

trieren Personen der rechten Protestszene ge-

Bundestags. Jeder dritte Akteur gehört zu einer

gen die geplante Unterbringung. Der ehrenamt-

der Parteien, die im Bundestag vertreten sind;

liche Ortsbürgermeister wird verbal attackiert

jeder zweite genannte (52,9 Prozent) gehört

und bedroht. Daraufhin tritt er zurück und nennt

keiner Partei an. Nur jede zehnte dieser Nen-

Angst vor rechter Gewalt sowie mangelnde Un-

nungen ist eine Person oder Bürgergruppe, die

terstützung durch den Landrat als Gründe. Zahl-

direkt mit den Vorgängen (Rechtsextremismus,

reiche Politiker und Prominente fernab von Trög-

Polarisierung und Tröglitz) zu tun hat.

litz solidarisieren sich mit dem Bürgermeister.

Die drei Leitmedien thematisieren den Kon-

Wer? NPD-Sympathisanten, Steffen Thiel

flikt überwiegend schon im Titelkomplex. Be-

(NPD-Kreisrat), Markus Nierth (ehemaliger

merkenswert ist der hohe Anteil an wertenden

Ortsbürger­meister Tröglitz), Götz Ulrich (Land-

Formulierungen in den Berichten: Zwei von fünf

rat, CDU).

Berichten sind nicht neutral abgefasst, rund ein

Wann? 10.03.2015 bis ca. 07.04.2015

Viertel zeigt eine auktoriale Tonalität. Offenbar

Primärquellen in den Medien: Markus Nierth

wollen die Berichterstatter deutlich machen,

(ehemaliger Ortsbürgermeister Tröglitz), Götz

was sie politisch von den Vorgängen halten.

Ulrich (Landrat, CDU), Reiner Haseloff (Ministerpräsident, CDU), Holger Stahlknecht (Landes­

E4: Tod im Mittelmeer –

innenminister, CDU), Heiko Maas (Bundes­

justizminister), Armin Laschet (CDU-Bundes­

Was? Mehr als tausend Flüchtlinge ertrinken

vize)

im Mittelmeer. Zeitgleich findet ein Treffen der

EU diskutiert einen 10-Punkte-Plan

EU-Außenminister statt. Die Minister, auch der

108

Die drei Leitmedien schenken den Vorgängen

deutsche, fordern eine europäische „Lösung“.

in und um Tröglitz mit 52 Texten deutlich mehr

Die EU-Minister diskutieren einen 10-Punkte-


Die Dynamik der Grossereignisse

Plan; in den folgenden Tagen machen mehrere

Die Analyse der in den Texten als relevant

Regierungschefs unterschiedliche Vorschläge.

behandelten bzw. auftretenden Akteure, Spre-

Ein EU-Sondergipfel bewilligt mehr Geld, be-

cher und Quellen ergibt hingegen folgendes

schließt aber kein Konzept.

Bild: Zwei Drittel von ihnen gehören der Politik-

Wer? Thomas de Maizière (Bundesinnenminis-

Ebene an (45,4 Prozent sind gar keine individu-

ter, CDU), Matteo Renzi (italienischer Premier),

ellen Personen, sondern institutionelle Spre-

Papst Franziskus, Joseph Muscat (Ministerprä-

cher); jede zehnte Nennung bezieht sich auf ein

sident Malta), Frederica Mogherini (EU-Außen-

Amt oder eine Behörde (unpersönliche Quelle,

beauftragte), Donald Tusk (EU-Ratspräsident),

Verwaltung, Judikative). Zusammengerechnet

Angela Merkel (Bundeskanzlerin), Frank-Walter

sprechen drei von vier Akteuren/Sprechern im

Steinmeier (Außenminister, SPD), David Came-

Namen einer der institutionellen Ebenen. Mit

ron (britischer Premierminister) u. a.

jeder zehnten Nennung kommt ein „funktions-

Wann? 19.04.2015 bis 04.05.2015

freies“ Individuum zur Sprache: überwiegend

Primärquellen in den Medien: UNHCR, Bundes­

Bürger, auch aktiv Tätige. Doch die Betroffenen

Betroffene sind

außenministerium

– hier: Flüchtende und Asylsuchende – gehö-

nicht wichtig

ren praktisch nicht zu den für relevant BefunDie drei Leitmedien schenken diesem Themen-

denen (1,2 Prozent).

komplex mit 85 Beiträgen große Beachtung.

Der Konfliktgehalt bzw. die Kontroverse

Etwa jeder zweite Text ist ein Bericht (kaum

des Themas wird aufgezeigt, aber nicht wei-

Meldungen), zudem werden relativ viele Gast-

ter skandalisiert (nur jeder fünfte Bericht ver-

beiträge gebracht, Interviews geführt und ein

kündet schon im Titelkomplex einen Konflikt).

paar augenscheinliche Erlebnisberichte pu-

Allerdings neigen die Berichterstatter auch in

bliziert. Die Kommentierlust ist mit 14 Texten

nachrichtlichen Texten zu einer eingefärbten,

größer als bei den Themen zuvor, doch anteils-

auktorialen Tonalität – eine Attitüde, die dann

mäßig (16,5 Prozent) geringer. Diese Merkmale

hervortritt, wenn die beschriebenen Akteure

deuten auf eine vielschichtige, breit gefächerte

auf der internationalen Politikebene (Ausland,

Themenvermittlung hin, zumal es sich sowohl

EU) agieren.

um „hautnah“ darzustellende Ereignisse im Mittelmeerraum als auch um Debatten und

E5a: Plötzlich sind sie da:

Kontroversen auf der abstrakten Politikbühne

in Brüssel handelt. Diese Vielfalt an Themenzu-

Was? Über die österreichische Grenze kommen

gängen und -umsetzungen deuten wir als hohe

täglich viele Tausende Flüchtlinge. Ihre Einreise

Kommunikationsleistung. Ob dies (auch) damit

nach Deutschland bedeutet eine De-facto-Au-

zu tun hat, dass die menschenunwürdigen Er-

ßerkraftsetzung der Dublin-III-Verordnung, der

eignisse weit weg von Deutschland stattfan-

zufolge ein Flüchtling in dem EU-Mitgliedsstaat

den, bleibe dahingestellt.

Asyl zu beantragen hat, dessen Territorium er

Hunderttausende neue Flüchtlinge

109


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

als Erstes betreten hat. Die Haupttransitländer

Davon sind zwei Drittel nachrichtlich-berich-

der Flüchtlinge aus Nordafrika und Syrien sind

tend und knapp 16 Prozent Meinungsbeiträge

Türkei und Griechenland, die nun die Flüchtlin-

(das heißt, jede Zeitung brachte im Lauf ihrer

ge ins Innere des Schengenraumes weiterzie-

12 Ausgaben im Mittel 16 Kommentare zum

hen lassen. Via Balkanroute erreichen sie ihr

Thema). Eine breite Vielfalt findet sich indes-

Dramatische

Wunschziel Deutschland. Es gibt dramatische

sen nicht: Es wurden zwar einige schildernde

Bilder und Szenen

Bilder von den Flüchtlingstrecks in Ungarn und

Erlebnisberichte (Reportagen) und Interviews

Österreich. Das Bundeskanzleramt verkündet

gedruckt, doch zusammengenommen machen

die Prognose, dass bis Ende des Jahres bis zu

sie nur 11 Prozent aus. Mit anderen Worten: Nur

800.000 Flüchtlinge Deutschland erreichen

etwa jeder zehnte redaktionelle Beitrag bricht

werden. Es kommt zu heftigen Protestreak­

aus den üblichen Berichterstattungs- und Kom-

tionen in zahlreichen Gemeinden insbeson-

mentarroutinen aus.

dere Ostdeutschlands; über die sozialen Medi-

Die in den redaktionellen Beiträgen ge-

en breitet sich eine Hasskommentarwelle aus.

nannten relevanten Akteure/Sprecher reprä-

Wer? Angela Merkel (Bundeskanzlerin, CDU),

sentieren diesmal ein breites Akteursfeld. Zwar

Thomas de Maizière (Bundesinnenminister,

dominiert auch hier die institutionelle Politik

CDU), Europäische Union, Viktor Orbán (unga-

(Parteien, Parlamente, Regierungen) und un-

rischer Ministerpräsident), Werner Faymann

ter den Parteien CDU (8,9 Prozent) und SPD

(österreichischer Bundeskanzler), Jean-Claude

(7,7 Prozent), doch jetzt finden sich auch Quel-

Juncker (EU-Kommissionspräsident)

len und Sprecher, die zu den sozialen Einrich-

Wann? 10.08.2015 bis 23.08.2015

tungen, Gruppen und Verbänden gehören. Al-

Primärquellen in den Medien: Pressemittei-

lerdings betrifft nur jede zwanzigste Nennung

lungen des Bundesinnenministeriums, Statis-

eine Einzelperson oder den Sprecher einer In-

tisches Bundesamt (Destatis), und von Behör-

itiative, Bürgerbewegung, Gemeinschaft usw.

den der betroffenen Bundesländer Bayern und

Und auch diejenigen, um die es de facto geht,

Sachsen

treten häufiger in Erscheinung, doch aufs Ganze gesehen noch immer selten: Die Flüchtlinge

Die sich überstürzenden Ereignisse lassen eine

und Asylsuchenden machen 6,3 Prozent aller in

intensive Berichterstattung mit einem hohen

den Texten als relevant behandelten Akteure/

Anteil an nachrichtlichen Formen (Meldungen,

Sprecher aus. Genauso selten kommen übri-

Faktenberichte) und einer breiten Palette von

gens diejenigen zur Sprache, die das Problem

Darstellungsformen erwarten. Die Analyse

im Alltag zu lösen haben: die zuständigen kom-

Berichtsroutinen

bestätigt diese Erwartung: Im Laufe der zwei

munalen Einrichtungen und Träger. Die demge-

dominieren

Untersuchungswochen (12 Zeitungsausgaben)

genüber abgehobene Welt der Poli­tik kommt

bringt jede der Zeitungen rund hundert redak-

zehnmal häufiger vor. Kritiker der Flüchtlings-

tionelle Beiträge (im Mittel 8,3 pro Ausgabe).

aufnahmepolitik finden sich in den Berichten

110


Die Dynamik der Grossereignisse

praktisch nicht (eine Stimme auf 120). Wie zu

vention der Bundespolitiker einen besonde-

Die Helfer

Beginn dieses Teils diskutiert wurde, verschaf-

ren Stellenwert. Zum Kontext gehört die seit

haben

fen sie sich vermutlich über andere Kanäle wut-

Montagsbeginn intensivierte „Flüchtlingsbe-

keine Stimme

entbrannt Gehör.

richterstattung“ zumal aus den grenznahen Regionen Bayerns. Allein in dieser Untersu-

E5b: Heidenau

chungswoche publiziert jede Zeitung (6 Aus-

Was? Am 21. August 2015 sollen Flüchtlinge in

gaben) im Mittel 90 redaktionelle Beiträge

ein neu eröffnetes Notquartier im sächsischen

rund um das Thema Flüchtlinge/Asylsuchende

Heidenau einziehen. Es kommt zu krawallarti-

(im Mittel 15 Texte pro Ausgabe). Dabei bleibt

gen Ausschreitungen durch Flüchtlingsgegner.

der Anteil der nachrichtlich informierenden

Zwei Nächte in Folge randalieren Rechtsex­

Textsorten mit knapp 60 Prozent im selben

treme vor dem Heim und blockieren Zugänge.

Rahmen wie zuvor (E5a). Indessen regt das

Großes Medienecho. Angela Merkel nennt die

Agieren der Berliner Politiker die Kommenta-

Vorfälle „beschämend“ und „abstoßend“. In-

toren stärker an (Anteil der Meinungsbeiträge

nenminister de Maizière droht mit der „gan-

knapp 19 Prozent). Intensiver als bei den vori-

zen Härte des Rechtsstaates“. Vizekanzler Sig-

gen Ereignisthemen vermitteln die Leitmedien

mar Gabriel gibt der Konfrontation eine neue

die Heidenauer Stimmungslage mit anschau-

Schärfe, indem er bei einem Besuch in Heide-

lich schildernden Erlebnisberichten (33 Texte

nau gewaltbereite Krawallmacher als „Pack“

bzw. 12 Prozent). Rund jeder zehnte Text ist

bezeichnet. Als Gegenaktion feiern Fremden-

ein Gastbeitrag. Sehr rar sind die dialogischen

freundliche und Flüchtlinge kurz darauf ein

Formen: Unter den 277 Texten haben wir nur

Willkommensfest.

zwei Interviews ermittelt.

Wer? Angela Merkel (Bundeskanzlerin, CDU),

Unter den relevanten Akteuren/Sprechern

Thomas de Maizière (Bundesinnenminister,

finden sich mit 11,5 Prozent erwartungsge-

CDU), Sigmar Gabriel (Vizekanzler und Bun-

mäß relativ viele, die im Namen der Judikative

deswirtschaftsminister, SPD), Stanislaw Tillich

(Polizei, Strafverfolgung, Rechtsprechung) zu

Strafverfolger

(sächsischer Ministerpräsident, CDU), Markus

Wort kommen. Doch wiederum gehören knapp

haben

Ulbig (sächsischer Innenminister, CDU), Jürgen

60 Prozent zur institutionellen Politik, zwei

viele Stimmen

Opitz (Bürgermeister Heidenaus, CDU), sächsi-

Drittel davon sind Landes- oder Bundespoli-

sche Polizei, NPD

tiker. Es mag dem Auftritt des damaligen Wirt-

Wann? 24.08.2015 bis 30.08.2015

schaftsministers Sigmar Gabriel in Heidenau

Primärquellen in den Medien: Berichte der Lo-

geschuldet sein, dass SPD-Vertreter am häu-

kalmedien, Berichte des MDR (Tagesschau)

figsten genannt werden. Politiker der SPD und CDU werden siebenmal so oft genannt wie die

Aus Sicht der Leitmedien bekommt das Ge-

der Grünen und der Linken. Die AfD kam unter

schehen in Heidenau durch die heftige Inter-

den relevanten Quellen nicht vor.

111


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Der Anteil derer, die aus Sicht der direkt

Merkel selbst wiederholt diese Phrase in den

Beteiligten – Helfer, Bürger, Flüchtlinge, Frem-

kommenden Wochen. Der Satz polarisiert im

denfeindliche – sprechen, bewegt sich mit

öffentlichen Diskurs und wird für beide Seiten

11,1 Prozent auf demselben Niveau wie zuvor.

zum geflügelten Wort.

Die Mikroanalyse zeigt, dass (im Unterschied

Wer? Angela Merkel (Bundeskanzlerin, CDU)

zum vorigen Ereignisthema) Augenzeugen und

Wann? 31.08.2015 bis 05.09.2015

passiv Beteiligte – Passanten, Bürger, Anwoh-

Primärquelle der Medien: Bundespressekonfe-

ner – gelegentlich unter den Relevanten auf-

renz 31.08.2015

tauchen (3,9 Prozent). Die Akteure, Täter wie Opfer, werden nur beiläufig erwähnt: Von 50

In der von uns über sechs Tage fokussierten

Nennungen gehört nur eine zu dieser Gruppe.

Untersuchungsphase behandeln die drei Leit-

Was die Konfliktfreude der Zeitungen be-

medien diesen Komplex ähnlich intensiv wie

trifft, so halten sich die Blattmacher unerwartet

in der zuvor beschriebenen Phase (15 Texte

zurück: Jetzt ist es „nur“ jeder achte Bericht, der

zum Thema pro Ausgabe). Die Darstellung der

den Konflikt im Titelkomplex thematisiert (zu

Ereignisse ist überwiegend nachrichtlich; das

Beginn der sog. Flüchtlingswelle war es noch je-

Bedürfnis, die Geschehnisse zu kommentie-

der dritte) – eine Zurückhaltung, die man auch

ren, scheint weniger ausgeprägt zu sein als in

als Zeichen der Unsicherheit deuten kann.

den Wochen zuvor. Auch bringen die Zeitungen weniger Erlebnisberichte und porträtierende

E5c: „Wir schaffen das!“

Schilderungen als während der „Heidenau“-

Was? Am 31. August 2015 sagt Bundeskanz­

Phase, doch immer noch mehr als in den Mo-

lerin Merkel auf der Bundespressekonferenz

naten davor.

Wirtschafts­-

den (freilich in einen Kontext eingebetteten)

Was die in den Berichten agierenden rele-

sprecher reden viel

Satz: „Wir schaffen das.“ Es ist die härteste

vanten Akteure und Sprecher betrifft, so äußern

Phase in der Flüchtlingskrise. Täglich kommen

sich jetzt deutlich mehr Wirtschaftsvertreter als

Tausende geflüchteter Menschen ins Land.

in allen zuvor untersuchten Phasen. Das Gleiche

Gleichwohl lässt die Kanzlerin entgegen der

gilt für Interessenverbände – und für Stimmen

Forderung der CSU die Grenzen offen. Sie

aus anderen Medien. Wie in den vorausgegan-

bekräftigt: „Das Motiv, mit dem wir an diese

genen Wochen ist die Berichterstattung aus der

Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so

Welt der Judikative intensiv; es treten Polizis-

vieles geschafft, wir schaffen das. Wir schaffen

ten, Strafverfolger, Anwälte und Richter auf.

„Land der Hoffnung“

112

das, und wo uns etwas im Wege steht, muss

Naheliegend, dass in dieser Woche unter

es überwunden werden.“ Ein Folgebericht der

den Politikern die Sprecher der CDU mit Ab-

Süddeutschen wählt einen Satz der Kanzle-

stand am häufigsten genannt werden. Auffällig

rin als Zitat-Überschrift: „Deutschland ist ein

ist, dass niemand von den Linken und keiner

Land der Hoffnung“ (SZ 01.09.2015). Kanzlerin

von der AfD als hinreichend relevant erscheint.


Die Dynamik der Grossereignisse

Obwohl der Leitsatz der Bundeskanzlerin

Flüchtlinge aus Ungarn werden mit Applaus

vom Podest der Regierungspolitik kommt, tre-

empfangen. Es kommt zu Diskussionen über

ten jetzt Akteure aller Ebenen in Erscheinung.

die Verteilung der Flüchtlinge (Bundeslän-

Der relativ hohe Sprecheranteil an Politikern

der und EU-Staaten). „Nahles will Flüchtlinge

aus dem Ausland kündigt im Übrigen die sich

schnell integrieren“, meldet tagesschau.de.

zuspitzende Diskussion über die Grenzschlie-

Am 9. September unterbricht Dänemark kurz-

ßungen mit Nachbarstaaten bzw. Ungarn an.

zeitig den Zugverkehr mit Deutschland. Vier

Auch in dieser Woche kommen die direkt

Tage später führt Deutschland Grenzkontrol-

Beteiligten – die Bürger, Helfer, Gruppen, frei-

len ein. Kanzlerin: Man warte auf Vorgaben

en Träger usw. – in der „Relevanz“-Kategorie

bzw. einen Verteilschlüssel der EU. Unter den

kaum vor. Und auch die Flüchtlinge selbst blei-

EU-Regierungen wird hart über Flüchtlings-

ben mit 5,8 Prozent weiterhin marginal.

quoten gestritten. „Merkel berät mit [Bundes-]

Die Präsentation der Berichte wirkt auffäl-

Ländern über Unterbringung von Flüchtlingen“

lig neutral und zu rund 70 Prozent quasi kon-

(Tagesschau 15.09.2015). Am 17. September

fliktfrei. In keiner der anderen Ereignisphasen

wechselt der Chef im Bundesamt für Migration

ist der Anteil der „konfliktfrei“ präsentierten

und Flüchtlinge. „Flüchtlinge als Fachkräfte:

Berichte so groß wie in dieser Woche. Was die

‚Ein Spaziergang wird’s nicht!‘“, so die Tages-

stimmungsmachende Tonalität betrifft, ist der

schau am 18.09.2015.

Anteil der wertfrei-neutral berichtenden Texte

Wer? Deutschland: Angela Merkel (Bundes-

deutlich höher als in den Wochen davor und

kanzlerin, CDU), Horst Seehofer (Vorsitzender

auch danach. Dabei fällt bei einer der drei Zei-

CSU), Dieter Reiter (Oberbürgermeister Mün-

tungen die Neigung zum – latent arrogant wir-

chen, SPD), diverse Spitzen der Länder

kenden – auktorialen Schreiben in den Blick:

Europa: Jean-Claude Juncker (Kommissions-

Rund ein Viertel der Berichte zeigten diesen

präsident EU-Parlament), Viktor Orbán (unga-

Stil, die meisten davon zudem mit wertenden

rischer Ministerpräsident), François Hollande

Attributen.

(französischer Staatspräsident) Wann? 05.09.2015 bis 18.09.2015

E6: Die Grenzöffnung

Primärquelle der Medien: Bundespressekon-

ferenz, Pressemitteilungen Bundesinnenmi-

mit und ohne Grenzkontrollen

Was? Am 4. September 2015 kommt es zu dra-

nisterium, Bayerische Staatskanzlei

matischen Szenen in Ungarn, wo mehr als hunderttausend Flüchtlinge warten. Am folgenden

Während dieser zweiwöchigen Fortsetzungs-

Tag öffnen Österreich und Deutschland ihre

phase, die an Dramatik nichts eingebüßt hat,

Grenzen („Treck gen Westen: Österreich und

fahren die drei Leitmedien das Großthema

Deutschland erlauben Flüchtlingen die Ein-

Flüchtlinge deutlich zurück. Im Durchschnitt

reise“; Spiegel Online 04.09.2015). Tausende

erscheinen jetzt 8,4 Berichte pro Ausgabe.

„Treck gen Westen“

113


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Konflikte

Die nachrichtlichen Berichte machen rund die

57 Prozent sämtlicher Berichte, die „konflikt-

im Mittelpunkt

Hälfte aller Beiträge aus. Die Turbulenzen rund

frei“ informieren. Die Zahl der Berichte, die

um die Grenzöffnungen und -schließungen lie-

ohne wertende Attribute und insofern „neu­

fern Stoff für im Verhältnis mehr Kommentie-

tral“ abgefasst sind (Tonalität), nimmt weiter-

rungen. Dialogische Formen (Interview) gibt

hin ab – in dieser zweiwöchigen Phase sind es

es nur einmal, und auch schildernde Erlebnis­

59 Prozent. Ein Drittel aller Berichterstattungen

berichte vom Ort des Geschehens sind wieder

sind (auch) im auktorialen Stil geschrieben, die

selten.

Hälfte davon mit wertenden Attributen. Man

Unter den auftretenden relevanten Akteu-

kann dies als Indiz dafür nehmen, dass die

ren/Sprechern dominieren jetzt wieder unum-

Journalisten Mühe haben, mit ihrer Meinung,

stritten die Vertreter der institutionellen Politik

auch mit ihrem Politfrust hinter dem Berg zu

(67,8 Prozent), vor allem von der Bundes- und

halten.

abgeschwächt der Länderebene. Jetzt artikulie-

Opposition ist sprachlos

114

ren sich Sprecher der CSU ähnlich häufig wie

E7: Obergrenzen oder Transitzonen?

jene der CDU und SPD (was mit dem Konflikt­

Was? In der Öffentlichkeit wird über die ak-

thema Grenzschließung bzw. Obergrenze zu

tuellen Flüchtlingszahlen in Deutschland spe-

tun hat). Jeweils etwa ein Viertel aller relevan-

kuliert, die Tageschau (05.10.2015) nennt eine

ten Sprecher gehört zu einer dieser drei Par-

Million. Zeitgleich erhält die Pegida-Demo in

teien. Von den Linken kam nur einer, von der

Dresden vermehrt Zulauf. Angela Merkel ver-

AfD keiner vor.

teidigt ihren flüchtlingspolitischen Kurs und

Weiterhin genannt werden Vertreter der

erklärt die Flüchtlingspolitik zur „Chefsache“.

Wirtschaft sowie Sprecher der Judikative (im

Ab sofort soll diese im Kanzleramt koordiniert

Umfang vergleichbar mit den vorangegange-

werden (von Peter Altmaier, CDU). Im Folgen-

nen Wochen). Unter den Relevanten weiterhin

den kommt es wegen der geforderten Ober-

kaum erwähnt werden die freien Träger, Initia­

grenze zum Streit zwischen CDU und CSU.

tiven und Gruppen, die sich um das Los der

Seehofer droht mit einer Verfassungsklage.

Flüchtlinge aktiv kümmern. Sprecher der kirch-

„Söder (CSU) gegen Asyl: Nicht jeder ist zu

lichen Organisationen beispielsweise kommen

retten“ (Spiegel Online 04.10.2015). Merkel

bloß im Verhältnis 1:100 vor. Eine etwas grö-

nennt Transitzonen (z. B. die Balkanroute) als

ßere Beachtung erhalten dagegen Betroffene

Lösung, die SPD ist dagegen. Es kommt zu

(Flüchtlinge, Asylsuchende): Hier ist das Ver-

zahlreichen Angriffen auf Flüchtlingsheime

hältnis 6:100.

und zwei Brandstiftungen mit Verletzten. Nun

Der blattmacherischen Neigung, Berichte

ergreift die Gewalt auch die Flüchtlingsheime.

in Richtung Konflikt zu trimmen, bietet sich in

Am 15. Oktober 2015 beschließt der Bundestag

dieser Woche mit dem Thema Grenzkontrollen

ein „umstrittenes Asylpaket“. Ungarn will sei-

viele Gelegenheiten: Jetzt sind es nur knapp

ne Grenze nach Kroatien abriegeln. Polizisten


Die Dynamik der Grossereignisse

streiten über die Idee eines Grenzzauns. 215

sollen, entscheiden sich die drei Leitmedien

Bürgermeister appellieren an Merkel zwecks

fast ausschließlich für die institutionelle Po-

Begrenzung des Zuzugs. Laut BKA nehmen

litikebene: 83 Prozent der in den Berichten

Angriffe auf Flüchtlingsheime erneut stark zu.

genannten relevanten Akteure/Sprecher sind

Kanzlerin Merkel sorgt sich nun um den Schutz

ihr zuzuordnen (46 Prozent der Bundesebe-

der europäischen Außengrenzen.

ne, knapp 23 Prozent der Länderebene). Der

Wer? Angela Merkel (Bundeskanzlerin, CDU),

Zank zwischen CDU und CSU spiegelt sich

Peter Altmaier (Kanzleramtschef, CDU), Horst

im Personal: 40 Prozent der in den Berichten

Seehofer (bayerischer Ministerpräsident/Vor-

auftretenden Parteipolitiker gehören zu den

sitzender CSU), Thomas de Maizière (Innenmi-

Schwesterparteien, 13,6 Prozent zur SPD. Di-

nister, CDU), Länderpolizei und Innenministe-

rekt beteiligte bzw. betroffene Einzelpersonen

Vollzugsebene

rien

und Gruppen tauchen nur ausnahmsweise auf

scheint irrelevant

Wann? 05.10.2015 bis ca. 28.10.2015

(2,4 Prozent). Relevante Stimmen der Linken

Primärquellen in den Medien: Bundeskanzler-

kommen hier im Verhältnis 1:100 vor, solche

amt, Bayerische Staatskanzlei, Länderpolizei,

der AfD gar nicht.

Parteien

Wenn man berücksichtigt, dass die soziale Wirklichkeit dieser Ereignisse ebenso scho-

Während dieser drei Untersuchungswochen

ckierend, bedrohlich und überfordernd wirkte

behandeln die Leitmedien das Thema auf wei-

wie jene der vorausgegangenen Phase (E6),

terhin reduzierter Flamme. Statistisch ausge-

dann verwundert es, dass die Zeitungen jetzt

drückt erscheinen in jeder Ausgabe der drei

den parteipolitischen Konflikt zum Kernthema

Zeitungen im Mittel 5,3 Beiträge zum Thema.

machen: Ein Drittel nennt ihn im Titelkomplex,

Wiederum knapp 60 Prozent sind nachricht­

ein Drittel als Thema der Berichterstattung im

liche Texte. Die heftigeren Auseinandersetzun-

Text. Im Umkehrschluss: Die Kontroversen,

gen zwischen den Politikern der Regierungs-

Konflikte und Gegensätze, die jetzt auf der

parteien scheinen die Redakteure anzuregen,

Vollzugsebene aufbrechen, besitzen für die

vermehrt Kommentare, Leitartikel und Essays

Redakteure nicht dieselben Nachrichtenwerte

zu publizieren: Jeder fünfte Text zählt zum Gen-

wie Kontroversen auf der symbolischen Hand-

re der sogenannten meinungsbetonten Texte.

lungsebene der Politik auf Bundesebene.

Die Kontroversen auf der politischen Bühne

Der Einwand gegen diese Einschätzung

spiegeln sich auch im Zuwachs dialogischer

könnte lauten: Die Konfliktaustragung auf der

Formen (Interviews).

Exekutivebene ist für die zu ergreifenden Maß-

Vor der Frage, aus welcher Perspektive

nahmen im Wortsinne entscheidend, deshalb

die mit der Flüchtlingskrise verbundenen

komme der politischen Arena mehr Bedeutung

Anforderungen und Managementaufgaben,

zu. Mein Argument gegen diesen Einwand:

auch Überforderungen, thematisiert werden

Das kontrovers erlebte Flüchtlingsthema be-

115


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Alltagswelt wird ausgeblendet

traf (und betrifft) in erster Linie das soziale

über den Stimmungsumschwung debattiert.

Zusammenleben und so auch die damit ver-

Schlagworte: von der Willkommenskultur zur

bundenen Anstrengungen und Spannungsfel-

Ablehnungs- bzw. Furchtkultur.

der. Sofern der mediale Diskurs darauf aus ist,

Wer? Henriette Reker (Kölner Oberbürgermeis-

Orientierung zu geben und diskursiv zu wir-

terin, parteilos), Wolfgang Albers (Kölner Poli-

ken, sollten Konfliktfelder in erster Linie auf

zeipräsident, sehr zahlreiche Stellungnahmen

der Ebene bearbeitet werden, auf der sie zu-

aus der Politik: z. B. Hannelore Kraft (Minister-

tage treten: in der Alltagswelt der Menschen

präsidentin NRW, SPD), Thomas de Maizière

(Vollzugsebene).

(Bundesinnenminister, CDU), Angela Merkel (Bundeskanzlerin, CDU)

E8: Der Schock der Silvesternacht

Wann? 04.01.2016 bis 16.01.2016

Was? In der Silvesternacht 2015/16 kam es vor

Quellenlage: Erste Berichte über einzelne

allem am Kölner Hauptbahnhof, aber auch in

sexuelle Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof

anderen Großstädten (etwa Hamburg) zu se-

bringen bereits am 1. Januar 2016 die On-

xuellen Übergriffen und Belästigungen gegen-

lineausgaben der Kölnischen Rundschau, des

über Frauen. Tage später wurde bekannt, dass

Express, des Kölner Stadt-Anzeigers und der

es sich bei den Tätern vorwiegend um junge

Regionalteil von Focus Online. Am 2. Januar

Asylbewerber bzw. Menschen mit Migrations-

2016 folgt eine Meldung der Nachrichtenagen-

hintergrund aus dem „nordafrikanischen bzw.

tur dpa (mit der sehr niedrigen Prioritätsstufe

arabischen Raum“ gehandelt habe.

vier). Diese wird u. a. von den Onlineausgaben

Neben starker Kritik an der Pressearbeit

der Süddeutschen Zeitung und von RTL auf-

der Kölner Polizei (Falschinformationen direkt

gegriffen. Eine breite überregionale Bericht-

nach der Silvesternacht) und der Justiz wur-

erstattung setzt am Montag, den 4. Januar

de vor allem die Neubewertung der mit vie-

2016 ein. Die anfängliche Falschinformation

len jungen Flüchtlingen verbundenen Risiken

der Polizei („Alles lief friedlich“) wie auch die

zum Thema. Politiker verschiedener Parteien

ungewöhnliche Verzögerung wird von Kriti-

forderten die sofortige Abschiebung straffäl-

kern als beabsichtigt (gesteuert) unterstellt.

lig gewordener Asylbewerber. In den sozialen

Die ermittelnde Polizei verweist hier wie dort

Medien kursierten zahllose empörte Reaktio-

auf große Schwierigkeiten, die Täter zu ermit-

nen und Hasstexte; in den journalistischen Me-

teln und zu überführen. Justizminister Maas

dien wurden viele Debatten und Kontroversen

glaubt an „eine neue Dimension der organi-

Wechsel

über das Thema Fremdkultur und Integration

sierten Kriminalität“ (Die Welt 06.01.2016).

zur Furchtkultur

ausgetragen. Es kam zu zahlreichen Demos

Am 8. Januar 2016 wird der zuständige Kölner

gegen Asylsuchende. Pegida-Versammlungen

Polizeipräsident in den einstweiligen Ruhe-

erhielten erneut mehr Zulauf. Öffentlich wurde

stand versetzt.

116


Die Dynamik der Grossereignisse

Während dieser Untersuchungszeit produ-

tersuchten Zeitungsausgaben) viel häufiger in

zieren die drei Zeitungen je 12 Ausgaben; jede

Erscheinung treten als etwa in der Berichts-

davon bringt im statistischen Mittel 8 Beiträge

phase über die zahlreichen Gewalttätigkeiten

zum Thema. Nur etwa die Hälfte sind nach-

im Kontext Heidenau (siehe E5b und E5c). Man

richtliche Berichte, der Anteil an Meldungen

kann dies auf die schockartige Bestürzung,

ist sehr gering. Offenbar geht es den Redak-

vielleicht auch auf eine ans Hysterische gren-

tionen weniger um Ereignisaktualität als um

zende Aufgeregtheit zurückführen, wenn sol-

Aufarbeitung, Analyse und Beurteilung der

che hässlichen Vorfälle nicht im „fernen Sach-

bestürzenden Vorgänge. Dies zeigt sich an

sen“, sondern quasi vor der eigenen Haustür

den zahlreich publizierten Interviews und der

stattfinden.

Zunahme von Gastbeiträgen wie auch am Kom-

Relevante Einzelpersonen werden mit

Kaum authen­-

mentier-Eifer. Insgesamt haben wir während

9,5 Prozent weniger häufig als im Sommer

tische Quellen

der zwei Wochen 44 Kommentartexte zum The-

(E5a-c) zur Sprache gebracht. Von diesen ge-

ma identifiziert, im Mittel also knapp 1,5 pro

hört rund ein Drittel der Gruppe der Flüchtlin-

Zeitungsausgabe.

ge/Asylbewerber an, die durch den vielerorts

Die Vermutung ist naheliegend, dass

gehörten Generalverdacht jetzt die doppelt

sich das relevante Personal, das in den Zei-

Betroffenen (Flüchtlinge und Verdächtigte)

tungsberichten auftritt, jetzt deutlich anders

sind. Etwa jeder Zehnte dieser Einzelperso-

zusammensetzt als in den von der institutio-

nengruppe spricht als mutmaßliches Opfer

nellen Politik beherrschten Berichtsphasen.

oder als Opferbegleiter*in (in Zahlen: rund

Diese Annahme erfüllt sich nur zu Teilen. Tat-

50 Nennungen in den rund hundert erfassten

sächlich dominieren mit 50,4 Prozent auch

Texten). Augenzeugen, Organisatoren, Teil-

jetzt die Akteure und Sprecher des politischen

nehmer, Beobachter – also Quellen, die in

Systems, obgleich weniger ausgeprägt als zur

Vor-Ort-Recherchen und Reportagen zu Wort

Zeit der Debatten um die sogenannte Ober-

kommen (sollten) – finden sich nur sehr ver-

grenze. Erstaunlich allerdings ist, dass unter

einzelt und erscheinen wie Ausnahmen.

den Relevanten die Akteure der Landes- und

Zwei Drittel der relevanten Akteure/

der Kommunalebene seltener zu Wort kom-

Sprecher, die explizit einer Partei zugehören

men als in der vorausgegangenen Phase (mit

(34,5 Prozent aller Nennungen), sprechen im

SPD und

2,5 Prozent nur halb so häufig wie in der Zeit

Namen der SPD oder CDU. Nur jeder 12. Partei-

CDU dominieren

des Streitthemas Obergrenze). Merkwürdig

vertreter gehört zu den Grünen, jeder 15. zur

auch, dass die Sprecher der Judikative – Po-

Partei der Linken. Stimmen aus dem Spektrum

lizei, Strafverfolgung, Justizbehörden – mit

rechts von der CSU konnten wir unter den rele-

18,4 Prozent (= 609 Nennungen in den 36 un-

vanten Akteuren nicht ausfindig machen.

117


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Wie gingen die Blattmacher mit dem au-

den genuin politischen Großereignissen (gäbe

genfälligen Konfliktstoff um? Unserer Analyse

es einen Bundeskanzler und keine -kanzlerin,

zufolge relativ zurückhaltend: 30 Prozent der

wäre diese Ausprägung notabene noch stär-

Berichterstattungen vermitteln den Berichts-

ker). Dann der hohe Anteil an institutionellen

gegenstand quasi konfliktfrei; rund 27 Prozent

Akteuren und Sprechern („die Politik will …“,

reißen den Konfliktgehalt schon im Titelkom-

„aus dem Ministerium ist zu hören …“, „die

plex an. Im Vergleich mit früheren Großereig-

Fraktion hatte …“ usw.), die keine Anschau-

nisphasen entspricht diese Aufmachung etwa

lichkeit zulassen und die auch nicht auf un-

jener Phase im August, als „plötzlich“ Hun-

kenntlich gemachte Whistle­blower verweisen.

derttausende via Ungarn über Österreich nach

Beide Ausprägungen verschieben sich im Fort-

Deutschland kamen und in den Medien die so-

gang des Jahres: Als zu Beginn der sogenann-

genannte Flüchtlingsflut zur Schlagzeile wurde.

ten Flüchtlingswelle (E5a) die Vorgänge und

Es mag mit der emotional stark aufgela-

Handlungen quasi handfest wurden, steigt

denen Stimmung, auch mit der Verärgerung

der Anteil der weiblichen Akteure und der

über die anfangs irreführenden Pressemittei-

Anteil der institutionellen Quellen geht leicht

lungen der Kölner Polizei zusammenhängen,

zurück. Eine Ausnahme machen die von Ge-

dass es diesmal den drei Leitmedien beson-

walt geprägten Ereignisse (E3, E5b) wie auch

ders schwer fällt, aus der Sicht des neutralen

die parteipolitischen Kontroversen (E6, E7):

Stark wertende

Beobachters zu berichten und den emotional

Beides sind vornehmlich männlich besetzte

Berichte

erregten Diskurs zu versachlichen. Nur jeder

Themenfelder.

dritte nachrichtliche Bericht genügt diesen An-

Dies trifft offenbar auch auf die Ereignisse

forderungen. Ebenfalls in jedem dritten Bericht

der Silvesternacht zu: Obwohl es dabei um se-

finden sich auktoriale und zugleich wertende

xuelle Übergriffe von Männern ging, hier also

Sprach- und Stilformen; jeder vierte berichtet

junge Frauen sich in der Opfer-, jedenfalls in

mit wertenden Attributen, verzichtet aber auf

der Betroffenenrolle wiederfanden, bringen

die insiderhaft wirkende auktoriale Attitüde.

die drei Leitmedien weibliche Quellen, Akteure und Sprecher nicht häufiger zur Sprache als

118

Ein von Männern dominiertes Themenfeld

bei anderen, in Sachen Gender unspezifischen

Sortiert man die in den Berichten ermittel-

Vorgängen. Naheliegend ist die Deutung, dass

ten relevanten Akteure und Sprecher nach

die Journalisten lieber bei männlichen Quellen

Gender-Kategorien (siehe Tab. 22), dann sind

über die Frauen recherchieren und schreiben,

folgende Tendenzen augenfällig: zunächst die

als mit ihnen zu sprechen. Ausnahmen gab es

erwartete, doch in ihrer Stärke überraschende

natürlich. Aber sie bestätigen die statistisch

Dominanz männlicher Akteure vor allem bei

ermittelte Regel.


Die Dynamik der Grossereignisse

Tabelle 22: Gender der Quellen/Akteure/Sprecher (n=3.308) in den berichtenden Texten

Männlich

Weiblich

Institutionen und Gruppen

Summe

E1: Brief der drei Länderchefs

48,8 %

9,8 %

41,5 %

100,0 %

E2: Neue Statistik

38,2 %

9,2 %

52,6 %

100,0 %

E3: Tröglitz

71,6 %

8,8 %

19,6 %

100,0 %

E4: Gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik

46,7 %

7,9 %

45,4 %

100,0 %

E5a: Hundertausende Flüchtlinge kommen nach Deutschland

42,7 %

16,0 %

41,2 %

100,0 %

E5b: Heidenau

51,1 %

15,6 %

33,3 %

100,0 %

E5c: Merkel: Wir schaffen das.

46,0 %

15,8 %

38,2 %

100,0 %

E6: Grenzöffnung kontra Grenz­ kontrollen

53,8 %

17,1 %

29,1 %

100,0 %

E7: Obergrenzen und Transitzonen

53,7 %

19,0 %

27,3 %

100,0 %

E8: Silvesterereignisse

49,9 %

16,2 %

33,9 %

100,0 %

Anteile am Insgesamt

49,2 %

15,7 %

35,0 %

100,0 %

Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ, Bild-Zeitung) zu zehn Großereignissen 2015/16. Quelle: Eigene Darstellung

119


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

3. Die Meinungen über Gründe, Hand­habung und Folgen der „Flüchtlingskrise“

Im Folgenden geht es um die Kommentarleistung selbst. Kommentare sollen den Lesern Anregungen geben, wie sie den Vorgang einschätzen und beurteilen können. Zudem

Die hier nachgewiesene, dem politischen Sys-

kommt mit der Meinungsbildungsfunktion

tem stets zugewandte und darin konsonante Be-

auch die Positionierung („Haltung“) des Kom-

richterstattung der einflussstarken Leitmedien

mentators oder der Redaktion zum Ausdruck.

Die Haltung der

ist die eine Seite. Die andere betrifft deren Bei-

Deshalb bringt vor allem die Kommentarfunk-

Kommentatoren

trag zur Meinungsbildung durch Kommentare,

tion die demokratietheoretisch geforderte

Leitartikel, Glossen und Essays – Darstellungs-

Meinungsvielfalt auch der aktuell berichten-

formen, die klassischerweise dem Genre der

den Informationsmedien zum Ausdruck. Es

„meinungsbetonten Texte“ zugeordnet werden.

interessiert uns daher, wie diese normativen

Diese kategorische Trennung zwischen „tatsa-

Erfordernisse von den drei Leitmedien einge-

chenbezogen“ und „meinungsbetont“ (vom

löst werden. Wir operationalisieren diese Frage

angloamerikanischen Journalismus nach 1945

in drei Unterpunkten, die sich uns aufgrund der

übernommen) folgt dem Grundsatz, dass die

vorigen Analyse der Berichterstattung („tatsa-

nachrichtlichen Texte der sachlichen Richtigkeit

chenbetonte Texte“) stellen.

verpflichtet und frei von Vorurteilen verfasst wer-

120

den sollen. Demgegenüber dürfen, ja sollen die

Erstens die Perspektive: Folgt auch die

Meinungsbeiträge eine sinngebende Beurtei-

Art der Kommentierung der Fixierung („In-

lung, auch einordnende Bewertung der Sachver-

dexing“) auf die politische Elite in Berlin?

halte bringen. Diese Trennungsregel zwischen

Zeigen sich zwischen den drei Zeitungen,

der Nachrichtenfunktion und der Meinungsbil-

eventuell zwischen den Kommentatoren

dungsfunktion – dies wurde in der Einführung

Unterschiede in der Bewertung?

als Qualitätskriterium aufgezeigt – gehört

Zweitens der Diskurs: Wenn es solche

zum Handwerk des Informationsjournalismus.

Unterschiede gibt, dann ist zu fragen, ob

Allerdings ist diese Trennung im praktischen

diese in der politischen Arena verharren

Journalismus nicht immer kategorisch durchzu-

oder ob sie (auch) breiter und insofern

halten (Schönbach 1977: 109 ff.). Vor allem bei

diskursiv argumentieren, indem beispiels-

der Nachrichtenauswahl und ihrer Aufbereitung

weise marktwirtschaftliche, sozialpsycho-

fließen Bewertungen ein, die von vielen Bürgern

logische, migrations- oder religionswis-

als „verfälschend“ wahrgenommen und miss-

senschaftliche Kenntnisse herangezogen

verstanden werden (Donsbach 1991: 206 ff.).

werden.

Unsere Inhaltsanalyse zeigte denn auch, dass

Drittens die Dynamik: Für die Untersuchung

ein beachtlicher Anteil der Berichterstattungs-

der Kommentare wählten wir die Hochpha-

texte solche wertenden Einfärbungen aufweist.

se des Flüchtlingszuzugs, also die Großer-


Die Dynamik der Grossereignisse

Tabelle 23: Übersicht über die markanten Vorgänge während der Hochphase des Flüchtlingsthemas 2015

27.07.-02.08.

03.08.-09.08.

10.08.-16.08.

Streit um Status der Balkan-Flüchtlinge Prämie soll Flüchtlinge zur Rückkehr bewegen Hunderte Flüchtlinge aus Libyen ertrinken Lage auf Kos verschärft sich rapide Balkanstaaten gelten jetzt als sichere Herkunftsländer Asylklagen belasten Verwaltungsgerichte Prognose: 800.000 Flüchtlinge; Sachleistungen statt Taschengeld?

17.08.-23.08.

24.08.-30.08.

31.08.-06.09.

Krawalle in Heidenau; Politiker reagieren; Hasskommentar-Welle auf Facebook; Italien: 4.400 Flüchtlinge aus Seenot gerettet Brandanschläge Nauen, Weissach, Salzhemmendorf; Regierung plant leichtere Abschiebung; Ärzte fordern bessere Versorgung der Flüchtlinge; Maas fordert Löschung fremdenfeindlicher Facebook-Posts Merkel: „Wir schaffen das!“; Wirtschaft verlangt effiziente Sprachkurse für qualifizierte Flüchtlinge; Merkel und Hollande fordern einheitliche Quoten Neue Flüchtlinge: Sonderzüge aus Ungarn; Tausende erreichen München

07.09.-13.09.

Große Koalition beschließt Maßnahmenpaket für Flüchtlinge; Dänemark stoppt vorübergehend Zugverbindung nach Deutschland München warnt vor Kollaps; Einführung Grenzkontrollen

14.09.-20.09.

13.000 Flüchtlinge in München; Brandanschlag in Wertheim; Begriffswechsel der Medien zu „Flüchtlingskrise“; EU verschiebt Beschluss über Aufteilung der Flüchtlinge

21.09.-27.09.

CSU empfängt Viktor Orbán; Diskussion: Darf der Staat private Immobilien beschlagnahmen?; Zuckerberg verspricht „Maßnahmen“ gegen Hass­ parolen auf Facebook

28.09.-04.10.

Bundeswehreinsatz-Erweiterung Mittelmeerraum; Gewalt in Asylunterkünften als Folge von Überbelegungen; Bundestag verschärft Asylrecht (Flüchtlinge – Migranten); de Maizière fordert jetzt „Ankommenskultur“ seitens der Flüchtlinge Quelle: Eigene Darstellung 121


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

eignisse E5a-c (Ende Juli bis Anfang Okto-

hinzugenommen, auch weil sie als Boulevard-

ber) aus, weil – wie schon beschrieben – im

zeitung ein anderes Publikum (Zielgruppe) er-

Verlauf dieser Phase die Überforderung der

reicht.

Berliner Politik (und der nachgeordneten

In den vier Zeitungen haben wir 136 mei-

Behörden) sowie der Meinungsumschwung

nungsbetonte Texte identifiziert (neben Kom-

in Teilen der Bevölkerung öffentlich erkenn-

mentaren und Leitartikeln auch Glossen und

bar wurden. Unsere dritte Untersuchungs-

Essays). Die intensivste Kommentiertätigkeit

frage lautet deshalb: Haben die drei Zeitun-

zeigt sich bei der Frankfurter Allgemeinen Zei-

gen diesen Prozess reflektiert, ihn vielleicht

tung, die geringste bei der Welt bzw. der Bild-

mit vollzogen?

Zeitung. Die folgende Analyse beschränkt sich auf die in den Zeitungen explizit als redaktio-

Um Antworten zu finden, haben wir zunächst

neller Kommentar, Leitartikel, Meinung usw.

alle Kommentare der drei meinungsführenden

deklarierten Texte (ohne Fremdbeiträge) –

Semantische

Zeitungen zwischen Ende Juli und Anfang Ok-

dies sind 99 Analyseeinheiten (Tabelle 24).

Textanalyse

tober 2015 qualitativ untersucht: Die Details

Um die Argumentationsweisen nachvollzie-

dieser Phase sind stichwortartig in Tabel-

hen und vergleichen zu können, erfolgt unsere

le 23 skizziert. Zu den bereits untersuchten

semantisch angelegte Inhaltsanalyse (nach

drei Qualitätszeitungen haben wir nun die

Löbner 2010: 850 ff.) über mehrere Analyse-

Bild-­Zeitung als reichweitenstärkste Zeitung

schritte (Meyring 2008: 84 f.):

Tabelle 24: Kommentare in vier meinungsführenden Zeitungen während der Hochphase des Flücht­ lingsthemas (27. Juli bis 4. Oktober 2015) Zeitung

Anzahl erfasster und analysierter Meinungstexte

Frankfurter Allgemeine Zeitung

44

Süddeutsche Zeitung

28

Die Welt

16

Bild-Zeitung

11

Summe

99

Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ, Bild-Zeitung ) zu zehn Großereignissen 2015/16. Auszug Meinungsbeiträge, n=136. Quelle: Eigene Darstellung

122


Die Dynamik der Grossereignisse

(a) der Bezug des Kommentarthemas auf das

(2) Die Wirtschaftsredakteure der drei Zeitun-

aktuelle Ereignis, über das in dieser Aus-

gen verfechten bis gegen Ende 2015 die op-

gabe berichtet wurde oder das die Medien

portunistische Doktrin, dass Deutschland

zeitgleich behandelten (Referenz),

aus wirtschaftlichen und demografischen

(b) Argumente und Argumentationsschritte des

Gründen möglichst viele Flüchtlinge will-

Kommentars (explizite Argumentation),

kommen heißen, integrieren und ausbilden

(c) Schlüsselzitate aus dem Kommentar (Bele-

solle bzw. müsse. Als im Oktober 2015 zahllose Kommunen und deren freiwillige Helfer

ge), (d) Filterung der mit den Argumenten mitgege-

sich mit der Betreuung der zugewiesenen

benen Begründungen (implizite Argumen-

Flüchtlinge überfordert sahen und das als

tation im Sinne von Normen, Werten und

chaotisch erlebte Behördenmanagement auf

Moralität).

breite Kritik stieß, wurde eine damit einher-

74

gehende Abwehrhaltung harsch kritisiert. Die Kommentatoren im Konsens

Die Kommentatoren belehrten die frustrier-

Belehrung der

mit der Bundesregierung

ten bzw. zweifelnden Bürger (Leser*innen),

Andersdenkenden

Unsere qualitative Textanalyse führte zu folgen-

dass Deutschland Hunderttausende junger

den Befunden (eine breitere Auswahl der ana-

Flüchtlinge unter anderem als Maßnahme

lysierten Kommentare findet sich im Anhang):

gegen die Überalterung der einheimischen Bevölkerung dringend brauche.

(1) Die Kommentatoren der vier Zeitungen vertreten unisono inhaltlich die von der Bun-

Exkurs: Sinnfällig der in unserem Zei-

deskanzlerin eingeschlagene flüchtlingspo-

tungstexte-Korpus nicht enthaltene Video­

litische Linie (Primat des Menschenrechts

blog-Kommentar des Wirtschaftschefs der

gegenüber Asylgesetzbestimmungen, keine

Süddeutschen Zeitung am 2. Oktober 2015

„Obergrenze“). Sie konfirmieren auch deren

(Auszüge): „Vor zwei Wochen hatte ich

politisches Handeln, beginnend mit der un-

noch den Eindruck, als würde in diesem

kontrollierten Öffnung der Grenzen bis zur Si-

Land emotional und rational eine Willkom-

cherung der EU-Außengrenzen und dem Deal

menskultur herrschen, als würde doch die

mit der Türkei. Eine als diskursiver Umgang

Mehrheit der Menschen erkennen, wie gut,

mit dem Thema zu deutende Differenzierung

aber auch wie wichtig für Deutschland es

findet sich in mehreren Kommentaren nur

ist, Flüchtlinge auch in großer Zahl aufzu-

der FAZ, indem skeptische und einwendende

nehmen. Und mittlerweile ist es so, dass

Bedenken aufgegriffen und erörtert werden.

die Stimmung sich täglich verschlechtert,

74 Implizite Begründungen beziehen sich, soweit erkennbar, sowohl auf die ethische Werteordnung (wie: deontologische oder utilitaristische Begründungen) als auch auf die zur Begründung herangezogenen Normen bzw. Werte (wie: Meinungsfreiheit, Persönlichkeitsrecht, Marktwirtschaft, Menschenrechtscharta).

123


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

die Bundeskanzlerin wird in den Umfrage-

lesend erfahren, was – aus Sicht der Jour-

werten abgestraft für ihre Offenheit, rechte

nalisten – die Regierungsmitglieder tun

Parteien legen zu und immer mehr norma-

sollten, um die Probleme mit Flüchtlingen

le, sympathische Menschen – wie vielleicht

im Einklang mit dem Grundgesetz und nach

auch Sie – sagen, wir müssen doch wieder

Maßgabe des (anzupassenden) Asylrechts

Zäune ziehen, wir müssen doch die Grenzen

zu lösen. Diskurstheoretisch gedacht, ist

zumachen. Ich habe dafür kein Verständ-

das Publikum der Zuschauer des medial in-

nis […]. Was Ausländer kosten? ZEW hat

szenierten Disputs zwischen Politikern und

ausgerechnet, was denn die Ausländer in

Journalisten in der politischen Arena. Dabei

Deutschland wirklich bringen und kosten

fällt allerdings auf, dass die Kommentato-

[…]. Im Jahr 2012 brachten die Ausländer

ren solche Vorschläge diskutieren, die be-

auf ihre Lebenszeit gerechnet 150 Milliar-

reits im Umfeld der Bundesregierung von

den mehr, als sie kosteten […]. Wir sind

Politikern, von einzelnen Ministerien oder

eine schrumpfende Gesellschaft nach jet-

politischen Chefbeamten geäußert wurden

zigem Stand. Wir werden immer weniger

(Beispiele: Definition sicherer Herkunfts-

Menschen haben, die arbeiten, und immer

länder; Asylrechtsverschärfung; Bedin-

mehr Menschen, die von denen, die sowie-

gungen der Grenzöffnung und Grenzschlie-

so schon da sind, versorgt werden müssen.

ßung; Reorganisation des Aufnahme- und

Die einzige Chance, aus diesem Kreislauf

trierungsverfahrens). Manche KomRegis­

rauszukommen, ist, mehr junge arbeitsfä-

mentatoren kritisierten Vorschläge, die zum

hige Menschen zu nehmen. Und das sind

Zeitpunkt der Kritik schon vom Tisch waren,

genau die, die jetzt kommen.“

oder verfochten Maßnahmen, die wenige

(3) Die politischen Kommentatoren der drei Qualitätszeitungen kritisieren auf der opeNur operative Kritik

Schuld hat „die EU“

binetts standen.

rativen Ebene des Vollzugs mit vorwiegend

(5) Von dieser Hauptlinie weichen 7 der 11 Mei-

taktischen Argumenten offenbare Schwä-

nungstexte der Bild-Zeitung insofern ab,

chen (Missmanagement, Uneinigkeit, Un-

als sie andere EU-Staaten oder „die EU“ in

Ä.) des Regierungsentschlossenheit u.

Brüssel (oder auch vage „den Westen“) als

handelns. So werden in rund zwei Dritteln

Hauptschuldige ausmachen und indirekt

sämtlicher Meinungstexte die mit dem

die Bundesregierung in Schutz nehmen. Es

Flüchtlingsstrom verbundenen Probleme

sind rhetorische Figuren ohne realen Ad-

als lösbar dargestellt und hierzu immer

ressaten, wie man sie aus Predigten kennt.

neue Handlungsempfehlungen postuliert

Unterhalb dieser Übereinstimmungen zei-

bzw. aktives Entscheiden angemahnt.

gen sich ein paar zeitungsspezifische Aus-

(4) Adressat der meisten Kommentare sind die Berliner Politiker: Das Publikum soll

124

Tage später in der Beschlussvorlage des Ka-

prägungen, die auf das verweisen, was man „Haltung“ nennen könnte:


Die Dynamik der Grossereignisse

(a) Die Welt-Kommentatoren argumentieren

Leitmedien deuten sie diese Tendenzen als

am häufigsten arbeitsmarktpolitisch und

Anzeichen dafür, dass die Zahl der Flüchtlin-

neoliberal im Interesse bzw. aus der Per­

ge an die Grenzen der Sozialverträglichkeit

spektive der Wirtschaft. Motto: Der enorme

gelangt sei. Die Kommentatoren argumen-

Aufwand lohnt sich, weil wir einen Großteil

tieren in der Art der Güterabwägung, dass

Leitbilder sind

der Flüchtlinge beruflich qualifizieren und

die Sicherung des sozialen Zusammenhalts

verschieden

als Arbeitskräfte zur Verfügung haben wer-

ein höheres Gut sei als die Aufnahme immer

den. In dieser Hinsicht argumentieren die

neuer Flüchtlinge.

FAZ-Kommentatoren bei aller Wirtschaftsfreundlichkeit zurückhaltender. (b) Die Kommentare des Politikressorts der Süddeutschen Zeitung argumentieren häufiger und deutlicher universalistisch, indem die Menschenrechte als nicht hintergeh­bare Maxime bei der Aufnahme von Flüchtlingen hochgehalten werden. Auch wird die Berliner Politik, wenn sie aus Sicht der Journalisten allzu opportunistisch agiert, an diese Maxime erinnert. Im Zweifelsfalle (etwa: gewalttätige Ausschreitungen) wird die westdeutsche Auslegung der Grundrechtsordnung als Leitbild beschworen, an dem sich die in Richtung ultrarechts driftenden Ostdeut

Innerhalb dieser Bandbreite zeugt die je individuelle Sicht des Kommentators für eine Vielfalt nicht nur an Themen und Argumenten, sondern auch an hier normativ, dort opportunistisch gerechtfertigten Begründungen. Durchgängig ist der Konsens mit der politischen Elite, insbesondere mit der Bundeserklärt, warum abweichende, aus Sicht vieler Leser vermutlich aufschlussreiche Aspekte in den 99 analysierten Kommentaren nicht thematisiert wurden: Zum Beispiel die Hilflosigkeit der Zuständigen in der Beurteilung des Fluchtmotivs von Asylsuchen-

(c) Verschiedene Autoren der FAZ vertreten

den aus kriegsverschonten Regionen;

ristische Linie. Sie gehen von dem Befund

politischer Elite

kanzlerin und ihrer Flüchtlingspolitik. Dies

schen orientieren sollten. eine (im philosophischen Sinne) utilita-

Konsens mit

mehr Verständnis für die Ängste vieler Einheimischer, zumal vieler Frauen;

aus, dass der soziale Zusammenhalt durch

der bohrende Zeigefinger wegen behörd­

die heftige Abwehr eines Teils der Gesell-

lichen Missmanagements auf der regiona-

schaft gefährdet und so auch das gelebte

len Vollzugsebene;

Grundrecht bedroht sei. Sie begründen

die Kritik an der Ahnungslosigkeit vieler

diese Einschätzung mit dem aufbrechenden

Organisatoren in Bezug auf das Familien-

Fremdenhass, dem Erfolg rechtsnationaler

und Eherecht (wie viele Ehefrauen darf ein

Populisten und der zunehmenden Straßen-

Muslim zu sich nachholen? Auch solche im

gewalt. Im Unterschied zu den drei anderen

Kindesalter?

125


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Tabelle 25: Meinungsbeiträge zum Thema vor (blau unterlegt) und nach (grau unterlegt) der Hochphase des Flüchtlingsthemas Häufigkeit

Anteil

E1: Drei Länderchefs fordern besseres Bleiberecht (06.02.2015-14.02.2015)

5

3,7 %

E2: Bundesstatistik: 630.000 Flüchtlinge leben in Deutschland/alle Statistiken und Flüchtlingszahlen (10.02.2015-20.02.2015)

8

5,9 %

E3: Rücktritt des Bürgermeisters von Tröglitz und Brand im dortigen Flüchtlingsheim (10.03.2015-15.04.2015)

9

6,6 %

E4: Deutschland fordert gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik – 10-Punkte-Plan (19.04.201504.05.2015)

14

10,3 %

(Hochphase E5a-c: 10.08.2015-18.09.2015)

(141)

E7: Innenpolitische Auseinandersetzung um „Obergrenzen“/„Transitzonen“ für Flüchtlinge in Deutschland und Europa (05.10.2015-28.10.2015)

56

41,2 %

E8: Silvesterereignisse (Köln und andere Großstädte) sowie die Folgen (05.01.2016-16.01.2016)

44

32,4 %

Gesamt (ohne Hochphase)

136

100,0%

Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ, Bild-Zeitung) zu zehn Großereignissen 2015/16. Auszug Meinungsbeiträge, n=136. Quelle: Eigene Darstellung

126


Die Dynamik der Grossereignisse

die Konflikte mit den rituellen Bräuchen

Bestätigung und Verstärkung gut zusammen:

zwischen den schiitischen und sunniti-

Der mediale Diskurs blieb auf die verbale In-

schen Muslimen – und anderes mehr.

teraktion mit den (Regierungs-)Politikern bzw.

Abgehobener

Politikakteuren und deren Sicht fokussiert.

Politiker-Diskurs

Als Antwort auf die Fragen nach der Breite des Diskurses (1 und 2) ist zu konstatieren,

Vorher/Nachher: die maßgeblichen Akteure

dass die Kommentatoren der vier Leitmedien

in den Kommentaren

in ihren Meinungsbeiträgen größtenteils auf

Um die dritte Frage, diejenige nach der Dyna-

die politische Elite fixiert blieben. Das Wissen

mik, zu beantworten, vergleichen wir einige

ausgewiesener Fachleute und Experten, die

Merkmale der Kommentare (a) aus der Zeit vor

zu Regierungslinie und Behördenmaßnah-

der sogenannten Flüchtlingswelle (E1-E4), also

men eine deviante Einschätzung vertraten,

Februar bis Mai 2015 mit (b) der Zeit nach dieser

wurde nicht aufgegriffen. Und auch die Sicht

Hochphase, also Kommentare vom Oktober und

des Teils der Bevölkerung, der zur Flüchtlings-

Januar 2016 (E7, E8) (siehe Tab. 25). Da uns der

politik eine abweichende Auffassung vertrat,

Trend in der Meinungsbildung interessiert und

wurde in den Meinungsdiskurs praktisch nicht

deshalb alle Kommentare der beiden Phasen

einbezogen, stattdessen mitunter mit Häme

analysiert werden sollten, haben wir uns für die

bedacht oder mit spitzem Zeigefinger belehrt.

quantitative Inhaltsanalyse entschieden.

So gesehen passen die Berichterstattung und

Im Laufe dieser zwei Zeitabschnitte hat die

die Kommentierung im Sinne wechselseitiger

Frankfurter Allgemeine Zeitung 60 Kommenta-

Tabelle 26: Kommentare – Anzahl Akteure/Sprecher vor und nach der Hochphase des Flüchtlingsthemas

Anzahl Akteure (n=)

Anteile der Akteure

Anzahl Ak­ teure pro Beitrag*

Beiträge ohne Akteure (n=)

Anteil Beiträge ohne Akteure

(a) vor der Hochphase

100

19,6 %

4,00

11

30,6 %

(b) nach der Hochphase

412

80,4 %

4,53

9

9,0 %

Gesamt/Anteile

512

100 %

4,41

20

14,7 %

* nur Beiträge, die Akteure nennen. Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ, Bild-Zeitung) zu zehn Großereignissen 2015/16. Auszug Meinungsbeiträge, Akteure/Sprecher ges., n=512. Quelle: Eigene Darstellung

127


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

re, Glossen, Analysen usw. zum Thema Flücht-

schaft aufgestellt werden. So gesehen stehen

linge/Asyl publiziert, die Süddeutsche Zeitung

die in den Meinungsbeiträgen auftretenden

und Die Welt je 38. Der Untersuchungskorpus

Protagonisten (die Gewährsleute, die Gegner

umfasst damit 136 Objekte.

mit ihren Argumenten, die Wortführer usw.) im

Die Verteilung zeigt die sehr unterschiedliche Wahrnehmung des Problemgehalts der

Fokus und verkörpern die vom Kommentator inszenierte Diskussion.

Ereignisse: Die Untersuchungsphasen E1 bis

Zunächst zeigt die Übersichtsauszählung,

E4 umfassen 20 Wochen, in denen die drei

dass in der Zeit vor der Hochphase erheblich

Zeitungen die Thematik 36 Mal kommentiert

abstrakter, quasi abgehobener kommentiert

haben. Während der fünfwöchigen Hochphase

wurde, ablesbar an dem deutlich höheren

wurden 141 und während der ebenfalls fünfwö-

Anteil solcher Kommentare, in denen gar kei-

chigen Nachphase (E7 und E8) wurden 100 mei-

ne Akteure/Sprecher genannt wurden (siehe

nungsbetonte Texte publiziert. Nach Maßgabe

Tab. 26). Wenn sich der Kommentator aber in

der referierten Großereignisse ist die Deutung

die Arena der konkreten Problemthemen be-

naheliegend, dass die Kommentarlust abhängt

gab, dann setzte er sich mit 4 bis 4,5 Beteilig-

vom Konfliktstoff auf der Bühne der Berliner

ten auseinander.

Regierungspolitik: je mehr Probleme, desto mehr Kommentare.

Um die Frage zu beantworten, ob sich das Problemverständnis der Kommentare nach der

Wie bei den berichtenden Texten haben wir

Flüchtlingshochphase verändert hat, wähl-

auch bei den Kommentaren untersucht, wer

ten wir wieder das Kriterium der Relevanz der

als relevanter Akteur oder Sprecher genannt

Akteure/Sprecher im Text (Erstnennung, wie-

wird. Dabei sollte mit bedacht werden, dass die

derholte Nennung im Text). Diesem zufolge

Personen, die in einem Kommentar auftreten,

erwähnten die Kommentare vor der Hochpha-

eine andere Rolle (aus Sicht des Kommenta-

se 57 und nach der Hochphase 237 Akteure/

tors: eine andere Funktion) einnehmen als in

Sprecher (siehe Tab. 27). Dabei sollte bedacht

nachrichtlichen Texten. In Letzteren handelt

werden, dass dieses Kriterium aufgrund der

es sich dabei meist um Informanten, Urheber

größeren Stilfreiheit beim Kommentieren we-

und Beteiligte eines Geschehens; es sind die-

niger valide ist als bei nachrichtlichen Texten,

jenigen, die quasi die News erzeugen oder in

deren Aufbau (das Wichtigste und auch die

dieser Funktion vom Berichterstatter insze-

wichtigsten Akteure zuerst usw.) deutlich stär-

niert werden. In einem Kommentar hingegen

ker formalisiert ist.

handelt es sich meist um die Position eines

Auch unter Berücksichtigung dieser Ein-

Gegenübers oder eines Gewährsmanns (bzw.

schränkung sind die Befunde anders als erwar-

Die „Flüchtlings-

einer Gewährsfrau). Hier ähnelt die Anordnung

tet: Die ab Mitte September 2015 von den Me-

krise“ ist da

viel mehr der einer Arena, in der – sinnbild-

dien so genannte Flüchtlingskrise – damit sind

lich – die eigene und die gegnerische Mann-

die sozialen Konflikte und politischen Kontro-

128


Die Dynamik der Grossereignisse

Tabelle 27: Die Akteurs- bzw. Sprecherbereiche vor (blau, n=57) und nach (schwarz, n=257) der Hochphase des Flüchtlingsthemas

Rollen-/Funktionsbereiche Politik-Ebene allgemein, institutionell, personenbezogen

Frankfurter Allgemeine Zeitung 63,0 %

80,2 %

Süddeutsche Zeitung

72,7 %

80,9 %

Die Welt

94,7 %

70,6 %

Verwaltung auf Bundes- und Landes­ ebene

1,0 %

Wirtschaft

3,7 %

3,0 %

5,0 %

1,5 %

1,5 %

Einrichtungen aus dem Bereich Kultur und Bildung

Soziale Einrichtungen, Medizin, Gesund­ heit, Rettungsdienste

Medien

2,0 %

4,4 %

5,3 %

4,4 %

3,7 %

5,0 %

4,4 %

13,2 %

11,1 %

2,0 %

9,1 %

1,5 %

Internat. Nichtregierungsorganisationen (NGOs)

Fachleute, Experten, Gutachter

2,0 %

2,9 %

Privatpersonen

11,1 %

2,0 %

2,0 %

1,5 %

4,4 %

Unpersönliche Quellen

7,4 %

3,0 %

9,1 %

4,4 %

4,4 %

5,0 %

3,0 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

Kirche , Religion

Judikative Militär Interessenverbände

Sonstiges Summe

Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ, Bild-Zeitung ) zu zehn Großereignissen 2015/16. Auszug Meinungsbeiträge, Akteure/Sprecher ges., n=512. Quelle: Eigene Darstellung 129


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

versen wie auch Schwierigkeiten und Nöte auf

schen Zeitung und der Frankfurter Allgemei-

der Vollzugsebene gemeint – kommt in den

nen Zeitung die Präsenz der politischen Elite

Kommentaren nur auf der abstrakt-abgehobe-

(Bundesregierung, Minister, Parlamentarier,

Abkehr von

nen Politikebene zur Sprache. Bürgerinitiati-

führende Parteipolitiker) nicht abnahm, viel-

der Alltagswelt

ven, Beauftragte und freie Träger, von denen

mehr auf rund 80 Prozent anstieg. Es zeigt sich

sich viele in aufopfernder Weise um die Lösung

hier auf der strukturellen Ebene die Para­doxie,

der Probleme kümmerten, werden in den Kom-

dass die Kommentatoren umso intensiver mit

mentaren kaum gewürdigt (sie bleiben, wenn

den bundespolitischen Wortführern inter-

sie genannt werden, entweder nachgeordnet

agierten, je handgreiflicher die Konflikte auf

oder werden als abstraktes, nur rhetorisches

den Straßen deutscher Städte und Gemeinden

Moment erwähnt).

tobten. Eine abweichende Tendenz fanden wir in

Kein Interesse an den beteiligten Bürgern

den Kommentaren der Zeitung Die Welt: Hier

Noch erstaunlicher: Die nach der Hochphase

ging im Herbst 2015, zwei Monate nach der dra-

sich steigernden Auseinandersetzungen zwi-

matischen Hochphase, der anfangs sehr hohe

schen den willkommenheißenden und helfend

Anteil der Akteure der institutionellen Politik

engagierten Akteuren der Bürgergesellschaft

deutlich zurück. Der Anteil jener, die „weiche“

und den unterschiedlich schattierten Skepti-

Funktionen und Rollen innehaben und sich

kern und Kritikern werden einer kommentie-

nicht in eine Kategorie zwingen lassen (inso-

renden Analyse kaum für wert befunden. Ohne

fern also für Vielfalt stehen), stieg indessen

Bedeutung bleiben auch Wortführer der Un-

an: Auch darin unterscheidet sich der in den

ternehmen und der Wirtschaft (von nur einer

Kommentaren zum Ausdruck gebrachte The-

prominenten Erwähnung in der Süddeutschen

men- und Problemfokus der Welt-Autoren von

Zeitung abgesehen). Selbst im Januar 2016 im

jenen in den beiden anderen Zeitungen.

Anschluss an das Silvesternachtdrama finden

130

(unter den als relevant definierten Akteuren/

Keine erkennbare Diskursfunktion

Sprechern) diejenigen keine Würdigung, die

Die Antwort auf die dritte Frage lautet demnach,

sich um die Betroffenen kümmerten oder küm-

dass sich die meinungsführenden Leitmedien –

mern sollten: Vertreter kirchlicher Organisati-

nach Maßgabe der in den Kommentaren auftre-

onen, Akteure der sozialen Einrichtungen wie

tenden Akteure, Sprecher und Institutionen – im

auch Experten und Fachleute. Umso häufiger

Fortgang der Ereignisse um die Flüchtlinge von

aber treten die Wort- und Meinungsführer der

der Erfahrungsebene der Bürgergesellschaft

politischen Elite als Kombattanten der Auto-

und so auch von derjenigen ihrer Leser immer

ren in Erscheinung. In diesem Zusammenhang

weiter entfernten. Insbesondere die Ansichten

überrascht auch, dass im Herbst und Winter

desjenigen Teils der Bevölkerung, der aus vie-

2015/16 in den Kommentaren der Süddeut-

lerlei Gründen die Vollzugspolitik skeptisch bis


Die Dynamik der Grossereignisse

kritisch verfolgte, wurden nicht ernsthaft in die

erfahrenen Zeitungslesern auch als das wahr-

Debatte einbezogen.

genommen und nicht mit der redaktionellen

Die zuletzt referierten Befunde sind Aussagen über das Insgesamt der untersuchten

Linie oder „Haltung“ des Blattes verwechselt werden.

Kommentare. Sie zeigen anhand ausgewähl-

Mit anderen Worten: Längsschnittuntersu-

ter Kriterien die argumentative Meinungsma-

chungen über redaktionelle Inhalte gehen von

che allein jener Autoren, die während unserer

der begründeten Annahme aus, dass sich das

Untersuchungsphasen publizistisch tätig wa-

zerklüftete Meinungsklima nicht über singulä-

ren. Die zahlreichen Gastbeiträge redaktions-

re Beiträge und externe Meinungen, so klug sie

fremder Autoren wurden nicht berücksichtigt.

auch sein mögen, sondern im Fortgang lang

Möglicherweise wurden dort Problemfragen

anhaltender Thematisierungen ausprägt bzw.

beleuchtet, die wir in unserer Analyse als De-

verändert75 – und dies umso deutlicher, je ein-

fizit erwähnt haben. Doch Gastbeiträge sind

helliger die Bewertungen und Urteile der Medi-

Äußerungen eines Gastes, die von halbwegs

en und ihrer Journalisten ausfallen.

75 Vgl. McQuail 1997; 2000 (ungeachtet der in Teil 4 diskutierten Frage, wie der Wirkungszusammenhang zwischen Änderungen in der redaktionellen Einstellung und im Meinungsklima zu modellieren ist – vgl. Scherer 1990: 265 f.).

131


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Teil 4: Fazit – Diskussion – Deutungen

Die unserer Studie zugrunde liegende Ausgangsfrage lautete: Wie haben die Informa­

1. Zusammenfassung der Studienergebnisse

tionsmedien das konflikthaltige, viele Gemüter erregende Groß- und Dauerthema „Flüchtlings-

Im Folgenden fasse ich die wichtigsten Befunde

flut“ im Lauf des Jahres 2015 vermittelt? Das in

der drei Studienteile in zwanzig Punkten zu-

dieser Frage steckende Aufklärungsinteresse

sammen (die genannten Zahlen finden sich in

gilt, wie in der Einführung dargelegt, dem öf-

Tab. 5-20 und 28-33 sowie Abb. 4-9):

fentlichen Diskurs, dem, was gesellschaftliche

132

Verständigung ermöglicht. Haben sich die Jour-

1. Bereits im ersten Halbjahr 2015 über-

nalisten also erkennbar bemüht, die kritischen

schwemmten die reichweitestarken, als

Fragen und die verschiedenen, auch kontrover-

glaubwürdig geltenden Newsmedien tages-

sen Positionen in der Bevölkerung aufzugrei-

schau.de, spiegel.de, welt.de und focus.de

fen, zu informieren, zu durchleuchten und zu

ihre User/Leser mit unüberschaubar vielen

vermitteln? Haben sie den medialen Diskurs so

Meldungen und Berichten rund um das Dau-

gestaltet, dass er – zu Ende gedacht – integra-

erthema Flüchtlinge/Asylanten. Im Sommer

tiv und insofern gemeinwohlorientiert wirken

schwoll die Nachrichtenwelle nochmals

konnte?

dramatisch an. Während dieser Hochpha-

Um Antworten zu finden, haben wir – alles

se publizierten diese Newssites im Laufe

in allem – rund 35.000 Texten erfasst und drei

von 24 Stunden bis zu 17 Nachrichten allein

verschiedene Inhaltsanalysen durchgeführt. In

zum Ereignisthema Flüchtlinge/Asylanten.

der ersten untersuchten wir die Art und Weise,

Sie berichteten und meldeten von unüber-

wie die digitalen Newsmedien die zahllosen

schaubar vielen Handlungsorten über Betei-

Ereignisse der zwölf Monate vom Frühjahr 2015

ligte auf unterschiedlichsten Ebenen. Dies

bis Frühjahr 2016 nachrichtlich aufbereitet ha-

deutet auf eine (mutmaßlich dem Konkur-

ben. Dies geschah mit Hilfe einer Datenbank-

renzdruck geschuldete) sehr schwache Se-

recherche. In der zweiten untersuchten wir die

lektionsleistung der Newsredaktionen hin.

Berichterstattung und Kommentierung dieses

Nach Maßgabe des Theorems der „Themen-

Megathemas in drei Leitmedien mit Hilfe einer

verdrossenheit“ lässt sich annehmen, dass

codebuchgestützten „händischen“ Analyse

sich Teile des Publikums überfordert fühlten

der Zeitungsinhalte. Die dritte Untersuchung

und reagierten, indem sie den eigenen Vor-

galt der Lokal- und Regionalpresse. Sie ana-

urteilen folgten (stark selektive Wahrneh-

lysierte mit Instrumenten des auf Big Data zu-

mung). Im analytischen Rückblick lautete

geschnittenen Textminings die Art und Weise,

die Kernbotschaft der Newsberichte in jenen

wie 85 deutsche Regionalzeitungen das Nar-

Monaten: Einerseits ertrinken viele Tausend

rativ „Willkommenskultur“ thematisierten und

verzweifelter Flüchtlinge im Mittelmeer oder

popularisierten.

erreichen mit letzter Kraft die Grenzen Euro-


Fazit – Diskussion – Deutungen

pas. Andererseits sind die EU-Staaten und

4. Die Untersuchung zur Frage, wer alles in

ist die Regierungspolitik hilflos zerstritten,

den berichtenden Texten zur Sprache

während in den östlichen Bundesländern

kommt, ergab, dass in der Kategorie der

eine gewalttätige Szene agiert. Diese wird

relevanten Akteure und Sprecher zwei

pauschal als Dunkeldeutschland etikettiert

von drei Nennungen zur institutionellen

und damit ausgegrenzt.

Politik zählen. Mit knapp 9 Prozent weit

2. Unsere Rekonstruktion der komplexen Er-

abgeschlagen, gleichwohl zweitgrößte

eignisabläufe in den zwölf Monaten Unter-

Gruppe, sind Vertreter der Judikative (Po-

suchungszeit führte zur Identifikation von

lizei, Strafverfolger, Gerichte, Anwälte),

zehn Großereignissen. Wir gehen davon

also jene, die sich von Berufs wegen mit

aus, dass jedes dieser Ereignisse wegen

Rechtsverstößen befassen. Die eigentli-

seines Neuigkeitswertes und seiner disrup-

chen Hauptakteure – die Helfergruppen,

tiven Bedeutung das Potenzial besaß, mei-

Einrichtungen, freien Träger und Initianten,

nungsbildende Prozesse in Gang zu setzen

die sich, viele freiwillig, in erster Linie um

oder in Gang zu halten. Für die Medienana-

Flüchtlinge kümmerten – stellen nur rund

lyse orientierten wir uns am Theorem der

3,5 Prozent aller relevanten Personen, die

„gestuften Medienwirkung“, dem zufolge

in den redaktionellen Beiträgen genannt

die Leitmedien in der Rolle der Meinungs-

werden. Fachleute und Experten, die über

führer die Agenda setzen.

akute Problemfelder (wie den Umgang mit

3. Die Inhaltsanalyse der drei als Leitmedi-

Fremdenhass, ethnische Besonderheiten,

en geltenden Tageszeitungen Frankfurter

Ehe- und Familienrecht in islamischen

Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung

Gesellschaften, Verhältnis zwischen Sun-

und Die Welt zeigte erstens, dass der Inhalt

niten und Schiiten u. a. m.) Auskunft ge-

überwiegend aus nachrichtlichen Berichten

ben könnten, kommen praktisch nicht vor

und meinungsbetonten Beiträgen besteht.

(1:100). Die Hauptbetroffenen (Flüchtlinge,

Nur rund 4 Prozent der Texte gehören zu den

Asylsuchende, Migranten) bewegen sich

Formen, die dialogisch funktionieren (wie

bei 4 Prozent (das heißt eine Nennung auf

Interviews), nur rund 6 Prozent sind authen-

25 andere). Aufs Ganze des Jahres 2015 ge-

tisch recherchierte Berichte und/oder erzäh-

sehen, haben die Leitmedien dieses sozial-

lende Formen (wie Reportagen). Fast jeder

und gesellschaftspolitische Problemthema

fünfte Text gehört zu den kommentierenden

in ein abstraktes Aushandlungsobjekt der

Formen – ein ungewöhnlich hoher Anteil, der

institutionellen Politik überführt und nach

für die ausgeprägte Meinungsfreude der drei

den für den Politikjournalismus üblichen

Redaktionen steht.

Routinen76 abgearbeitet.

76 Vgl. „Agenda und Akteure des Politikjournalismus“, in: Fengler/Vestring (2009): 76 ff.

133


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

134

5. Die Zweidrittelmehrheit der Akteure in den

Berichten keine Relevanz zu. Thematisiert

Berichten, die der institutionellen Politik

wurden Probleme auf der Vollzugsebe-

zuzurechnen ist, setzt sich so zusammen:

ne fast nur dann, wenn es um Gewaltakte

Knapp 43 Prozent sprechen für die Bundes-

rechtsradikaler Gruppen ging.

ebene (Regierung, Ministerien, Parteien,

7. Diese Zusammensetzung des in den nach-

Parlament); jeder Fünfte vertritt eine auslän-

richtlichen Berichten auftretenden Perso-

dische politische Institution (inkl. EU-Gre-

nals unterstreicht die ausgeprägte Domi-

mien in Brüssel) und jeder Vierte zählt zur

nanz der politischen Elite. Vermittels der

Bundesländerebene. Von den Akteuren, die

Medien verhandelt sie die Themeninhalte

einer Partei zugeordnet werden konnten (ein

und setzt die Agenda – und beherrscht

Drittel aller relevanten Personen), vertreten

auch die Konflikte. Umgekehrt gesagt: Die

mehr als vier Fünftel eine der drei Regie-

Berichterstattung in den drei Leitmedien ist

rungsparteien. Sprecher der im Bundestag

zu großen Teilen auf die (partei)politische

vertretenen Oppositionsparteien kommen

Arena der Koalitionspartner fixiert. Diejeni-

nur jedes zehnte Mal zu Wort (die Grünen

gen, die sich in den Behörden und Einrich-

mehr als doppelt so häufig wie die Linke).

tungen um die Bewältigung der ungeheuren

Die in zahlreichen Bundesländer- und Kreis-

Aufgaben und Probleme des Vollzugsalltags

parlamenten vertretene AfD kommt in dieser

kümmerten, erscheinen aus der medial

Kategorie praktisch nicht vor (0,1 Prozent)

vermittelten Sicht der politischen Elite als

im Unterschied zur NPD (0,9 Prozent).

nicht relevant.

6. Erwartungsgemäß berichteten die meisten

8. Der journalistische Qualitätsgrundsatz, aus

Nachrichten (auch) über Konflikte und Kon-

neutraler Sicht sachlich zu berichten, wird

troversen (rund 5 Prozent aller Berichte).

in rund der Hälfte der Berichterstattungen

Identifiziert man hier die relevanten Akteu-

nicht durchgehalten. Insbesondere die Art

re/Sprecher, wiederholt sich die Zusam-

und Weise, wie über die Positionierung

mensetzung: Der überwiegende Teil (rund

eines Politikers berichtet wird, ist oftmals

70 Prozent) der Konfliktpartner gehört zur

wertend und beurteilend, bei Vertretern

institutionellen Politik, davon sprechen vier

der Opposition mitunter auch „von oben

Fünftel (81,3 Prozent) im Namen einer der

he­rab“. Zudem schreiben die Korrespon-

Regierungsparteien. Nur jeder 14. Akteur/

denten nicht selten in einer Diktion, die

Sprecher ist kein Funktionsträger, sondern

persönliche Nähe, auch Vertrautheit zur po-

ein in das Thema eingebundenes Individu-

litischen Elite suggeriert (auktorialer Duk-

um. Derselbe Befund umgekehrt: Den Kon-

tus). Diese Attitüde kann beim Leser den

flikten auf der konkreten Vollzugsebene der

Eindruck erzeugen, die berichtenden Jour-

Bundesländer maßen die Leitmedien wäh-

nalisten seien weniger am Thema selbst

rend des Untersuchungszeitraums in ihren

als an den über das Thema transportierten


Fazit – Diskussion – Deutungen

Querelen interessiert. Politik wird in den

werber“ sehr intensiv. Die Analyse dieser

Medien überwiegend nicht als Prozess der

meinungsbetonten Beiträge (Leitartikel,

Entscheidungsfindung, sondern als Schlag-

Kommentare u.  Ä.) bestätigt den zuvor

abtausch unter Mandatsträgern inszeniert.

referierten Befund: Sieben von zehn rele-

9. Dass die Leitmedien – hier vor allem die

vanten Akteuren/Sprechern gehören auch

überregionalen Tageszeitungen – in ihrer

hier zur politischen Elite. Im Sinne der In-

Berichterstattung auf die politische Elite

dexing-These ist der virtuelle Adressat der

fixiert zu sein scheinen, ist nicht neu, son-

Kommentare nicht der Leser, sondern die

dern wurde wiederholt untersucht und be-

Politik. Die Argumente erörtern meist die

stätigt. Die US-amerikanische Medienfor-

von Politikern aufgeworfenen Vorschläge

schung hat hierfür den Begriff „Indexing“

in operativer Hinsicht. Bis zum Spätherbst

eingeführt. Unsere Befunde sind gleich-

2015 greift kaum ein Kommentar die Sor-

wohl überraschend, erstens, weil das hier

gen, Ängste und auch Widerstände eines

untersuchte Megathema, aus dem die so-

wachsenden Teils der Bevölkerung auf.

genannte Flüchtlingskrise hervorging, die

Wenn doch, dann in belehrendem oder

Einstellung der Bürger zu den Grundwerten

(gegenüber ostdeutschen Regionen) auch

betrifft und moralisch stark überformt ist.

verächtlichem Ton. Kaum ein Kommentar

Zweitens, weil in vielen Regionen auch „bür-

während der sogenannten Hochphase (Au-

gerliche“ Teile der Bevölkerung von einer

gust und September) versuchte eine Diffe-

tief sitzenden Fremdenangst besetzt sind,

renzierung zwischen Rechtsradikalen, po-

die publizistisch in den Blick zu nehmen

litisch Verunsicherten und besorgten, sich

wäre. Drittens, weil die mit der Flüchtlings-

ausgegrenzt fühlenden Bürgern. So dien-

krise einhergehende Problemwahrneh-

ten die Kommentare grosso modo nicht

mung auf der kommunalen und regionalen

dem Ziel, verschiedene Grundhaltungen zu

Ebene spielt. Viertens schließlich, weil die

erörtern, sondern dem, der eigenen Über-

mit der Idee der Integration verbundenen

zeugung bzw. der regierungspolitischen

Tätigkeiten nicht von Parteien und Ministe-

Sicht Nachdruck zu verleihen.

77

rien in Berlin, sondern von den direkt betei-

11. Unser Zwischenfazit lautete, dass die nach-

ligten Personen und Organisationen vor Ort

richtliche

Informationsüberfülle

(siehe

zu erbringen sind.

Punkt 1 zu den Online-Newssites) von den

10. Alle drei Zeitungsredaktionen kommentier-

tonangebenden Print-Leitmedien markant

ten das Megathema „Flüchtlinge/Asylbe-

verdichtet wurde. Dabei haben sie die Er-

77 Die Indexing-Hypothese geht auf Lance Bennett und seine Beobachtung zurück, dass Journalisten der Leitmedien der politischen Elite folgen, wenn unter den politischen Meinungsführern in Bezug auf die Bewertung des Hauptthemas Konsens besteht. „Mass media news professionals, from the boardroom to the beat, tend to ‚index‘ the range of voices and viewpoints in both news and editorials according to the range of views expressed in mainstream government debate about a given topic“ (Bennett 1990: 106).

135


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schenk-

der institutionellen Politik bearbeitet (sie-

te den in Bezug auf die Flüchtlingspolitik

he Punkt 4, Akteure) und ihres Ereigniszu-

skeptischen oder kritischen Positionen eine

sammenhangs entkleidet. Die Alltagswelt

relativ größere Beachtung. Auch brachte sie

mit ihren Akteuren kam praktisch nicht zur

relativ mehr Berichte über grundwertige

Sprache, ausgenommen im Zusammenhang

Kontroversen. Dabei hatten ihre Berichte im

mit rechtsradikalen Gewaltakten. Doch

Vergleich zu den beiden anderen Blättern

auch dann wurde die Sicht der etablierten

eine sachlich-neutrale Aufmachung. Viele

Politik und ihrer Mandanten eingenommen

ihrer zahlreichen Kommentare folgten mit

und durchgehalten. Der demokratietheore-

ihren Begründungen einer güterabwägen-

tisch geforderte verständigungsorientierte

den (utilitaristischen) Argumentation (in

Diskurs war im redaktionellen Teil der drei

der Art: Die Achtung unserer Grundwerte

Leitmedien im Verlauf des Jahres 2015 für

setzt voraus, dass die sozialen Spannungen

uns nicht auffindbar. So blieben die Redak-

nicht zu groß werden. Deshalb sollte man

tionen bei ihrer Themenvermittlung bis zu

nicht unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen).

den mit „Silvesternacht 2015/16“ etiket-

Die Süddeutsche Zeitung brachte im Zusam-

tierten Vorgängen auf die politische Elite

menhang mit Gewaltaktionen ultrarechter

und deren symbolisches Handeln in Form

Gruppen relativ am häufigsten authenti-

rhetorischer Sprechakte (Motto: „Wir brau-

sche Vor-Ort-Berichte und Reportagen. Ihre

chen …“) fixiert.

Berichte über die politische Elite sind mit

12. Unterhalb dieser Generallinie entdeckten

29 Prozent relativ häufig im Duktus der

wir bei den drei meinungsführenden Zeitun-

„eingefühlten Nähe“ verfasst (auktoriales

gen mehrere spezifische Eigenheiten:

Schreiben). Wohl aus Standortgründen gibt

Die Welt berichtete am umfassendsten und

sie dem Dissens zwischen CSU und CDU den

bot die relativ breiteste Palette an Akteurs-

relativ größten Raum. Ihre in den Berichten

und Sprecherrollen; sie beachtete das Er-

und Kommentaren zum Ausdruck kommen-

fordernis des Perspektivenwechsels etwas

de Haltung differenziert am deutlichsten

häufiger als die anderen beiden Zeitungen.

zwischen der Flüchtlingspolitik der Kanzle-

Sie hielt sich (relativ zur FAZ) mit redaktio-

rin (durchwegs positiv) und den Positionen

nellen Meinungsäußerungen stark zurück.

von Akteuren in den Regierungsparteien

In ihren Kommentaren verfocht sie indes-

(überwiegend kritisch). Die Begründun-

sen am deutlichsten eine opportunistische,

gen in den Kommentaren folgen häufiger

mitunter auch neoliberale Position und

einer universalistischen Ethik (in der Art:

klammerte die Menschenrechtsdebatte aus

Die Menschenrechte gelten universell und

(in der Art: Flüchtlinge sind für unsere Wirt-

stehen über den nationalen Opportunitäten

schaft nützlich und darum nehmen wir sie).

oder lokalen Interessen und Bedürfnissen;

136

eignisthemen auf der abstrakten Ebene


Fazit – Diskussion – Deutungen

deshalb muss bedingungslos geholfen wer-

überlastet, manche auch überfordert. In je-

den).

ner Zeit wurde die anfangs opportunistisch

13. Die im Sommer 2015 vor allem in westdeut-

verstandene Formel zur moralisch aufgela-

schen Gemeinden und Städten von vielen

denen Maxime einer „neuen Willkommens-

Tausenden von Bürgern gezeigte Aufnah-

gesellschaft“ ausgedehnt. Wer Skepsis an-

mebereitschaft wurde von der Politik wie

meldete, rückte in den Verdacht der Frem-

von den Medien überwiegend mit dem

denfeindlichkeit. Hier ist zu fragen, wie es

„deutschen Wunder Willkommenskultur“

dazu kam, dass das Narrativ im Kontext des

(Die Zeit, 12.09.2015) erklärt. Dieser sich

Flüchtlingsthemas eine solche auf Konfor-

selbst begründende Euphemismus wurde

mität gerichtete Meinungsmacht entfalten

in den Tageszeitungsberichten zu einer

konnte.

Art Zauberwort verklärt, mit dem freiwillig

15. Um eine Antwort zu finden, haben wir den

von den Bürgern zu erbringende Samari-

öffentlichen Gebrauch des Wortes Willkom-

terdienste moralisch eingefordert werden

menskultur anhand der Lokal- und Regio-

konnten.

nalpresse Deutschlands rekonstruiert und

14. Die Analyse des öffentlichen Gebrauchs des

hierfür sämtliche redaktionellen Beiträge

Narrativs „Willkommenskultur“ zeigt des-

von 85 Regionalzeitungen seit 2005 erfasst,

sen Themenkarriere. In der Zeit nach 2005

in denen das Narrativ vorkam. Dies waren

hatten die Industrie- und Arbeitgeberver-

rund 26.000 Texte. Von diesen wurden rund

bände von der Politik eine solche Haltung

17.000 einer morphologischen Analyse mit

gefordert, um für als Arbeitskräfte dringend

dem Verfahren des Textminings unterzo-

benötigte qualifizierte Migranten Aufnah-

gen. Die auf diesem Wege ermittelte Gene-

meerleichterungen zu bekommen und ein

se zeigt, dass die Lokal- und Regionalpres-

weniger fremdenfeindliches Klima zu schaf-

se erstens einer Sinn- und Zwecksetzung

fen. Die im Bundestag vertretenen Partei-

folgte, die zuerst von der Wirtschaft, dann

en übernahmen diese Forderung – in je

von der Politik propagiert worden war. Sie

unterschiedlichen Konnotationen – in ihre

ergab zweitens, dass die lokale Tagespres-

Parteiprogramme. Nach 2010 wurde dieses

se die Nähe der Leitmedien zur politischen

Narrativ auf der regionalen und lokalen Ebe-

Elite mitmachte und bis zum Sommer 2015

ne umgedeutet zu einer „Haltung“, mit der

das Narrativ überwiegend als persuasive

Wohlmeinende auf die von der Wirtschaft

Losung transportierte.

benötigten Migranten zugehen sollten. Im

16. Sortiert man die in den Berichten der Re­

Laufe der Jahre 2013/14, als bereits zahlrei-

gionalpresse zum Thema Willkommenskul-

che Flüchtlinge aus Nahost nach Deutsch-

tur auftretenden Akteure/Sprecher nach

land kamen, sahen sich die für die Betreu-

ihrer Parteizugehörigkeit, dann fällt der

ung und Versorgung zuständigen Behörden

hohe Anteil an monologischen Darstellun-

137


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

gen (nur eine Partei kommt zu Wort) auf.

tungen. Nur in seltenen Ausnahmefällen

Im Laufe des Jahres 2015 erschienen rund

wurden abweichende Positionen wie auch

doppelt so viele monologisch berichtende

behördliche Fehlleistungen untersucht oder

Texte wie dialogische oder diskursive (mit

Fachwissen eingeholt und ausgewertet

zwei oder mehreren Parteien). Auch dies

oder dialogisch aufbereitet. Bis Ende des

ist ein Indiz für die monodirektionale Trans­

Jahres 2015 wurden die Leistungen, die wir

ferleistung („Einbahnstraße“) des Lokal-

einleitend mit „diskursivem Journalismus“

und Regionaljournalismus. Von diskursiver

umrissen haben, nicht erbracht.

Themenbearbeitung kann für das Jahr 2015 nicht die Rede sein.

138

19. Die in der Einführung gestellte Frage, ob es bei der Vermittlung des Flüchtlingsthemas

17. In der Tagespresse wurde unseren Befunden

zwischen Bundespolitikern, den Leitme-

zufolge das Narrativ Willkommenskultur als

dien und den Folgemedien (lokale Presse)

moralisch intonierte Verpflichtungsnorm

in Bezug auf die politische Linie der Bun-

„top-down“ vermittelt. Wenn in der Presse

deskanzlerin eine Konsonanz gab, haben

Kritisches zu Wort kam, dann im Sinne einer

unsere Analysen bejaht. Um dies zu erklä-

weiter zu stärkenden und zu verbessernden,

ren, bietet sich zur schon besprochenen

kurz: „neuen“ Willkommenskultur. Annä-

Indexing-Hypothese das Konzept des „poli-

hernd 83 Prozent aller Zeitungsberichte ver-

tischen Framings“ (Reese 2007: 150 f.; Weh-

mittelten das Leitbild Willkommenskultur in

ling 2016: 45 ff.) an. Es geht davon aus, dass

einem positiven oder mehr positiven Sinne.

vermittels der Medien ein thematischer

Über Bedenkenträger oder Skeptiker wurde

Kontext erzeugt wird, der eine bestimm-

eher selten berichtet. Wenn vereinzelt kri-

te politische Zielstellung oder Einstellung

tische Gegenstimmen wiedergegeben wur-

verbindlich macht und zum Common Sense

den, dann waren es Statements wiederum

erhebt. Die Textanalysen belegen – was die

aus der Politik, diesmal von Rechtskonser-

Sinnfüllung des Narrativs „Willkommens-

vativen oder Ultrarechten.

kultur“ betrifft – einen hohen Gleichklang

18. Die Besonderheit der Regionalpresse, dass

zwischen den Politiker- und den Medien-

sie in ihren Lokalteilen die Nah- und All-

aussagen. Von daher ist die Deutung gut

tagswelt der Menschen durchleuchten und

gestützt, dass mit dem „Framing“ des Kom-

Vorgänge wie auch Probleme quasi hautnah

plexes Flüchtlingspolitik/Willkommenskul-

recherchieren kann, wurde im Jahr 2015 für

tur eine spezifische Diktion verbreitet wur-

die Flüchtlingsthematik nicht genutzt. Die

de, die im Frühsommer 2015 die öffentliche

vergleichsweise wenigen Texte, die Proble-

Meinung so stark prägte, dass abweichen-

me oder Konflikte thematisierten, sind fast

de Positionen nicht mehr gehört wurden.

ausnahmslos Veranstaltungsberichte und

Wie dies im Hinblick auf die Einstellungen in

insofern keine journalistischen Eigenleis-

der Bevölkerung zu deuten ist, kann diese


Fazit – Diskussion – Deutungen

Untersuchung nicht beantworten. Hierfür

die moralisch bessere oder schlechtere sei.

sind Theoreme erforderlich, auf die ich im

Wir haben uns auch nicht für die politische

folgenden zweiten Abschnitt eingehe.

Haltung von Journalisten oder Redaktionen in-

20. Auf die mit dem Stichwort Silvesternacht

teressiert. Auch wurden keine Überprüfungs-

2015/16 etikettierten Ereignisse folgte ein

recherchen vorgenommen, um den Wahrheits-

veränderter – man könnte sagen: differen-

gehalt von Berichten zu untersuchen. Leider

zierterer – Umgang mit dem Megathema

konnten wir auch keine semantische Analyse

„Flüchtlinge in Deutschland“. Im ersten

ausgewählter Texte durchführen, wiewohl dies

Quartal 2016 wird die Tonalität der Zei-

aufschlussreich gewesen wäre und vermutlich

tungsberichte zurückhaltender, in Bezug

manchen differenziert abgefassten, stilistisch

auf die Praxis der Flüchtlingspolitik auch

ausgezeichneten Beitrag ans Licht gefördert

skeptischer. Die Sorgen und Ängste vieler

hätte.

Menschen zumal in den Großstädten wer-

Die Studie ging vielmehr, wie in der Ein-

den vorübergehend thematisiert. Im Januar

führung dargelegt, von demokratietheore-

2016 finden sich auch viele Zeitungsberich-

tisch begründeten, mithin normativen Anfor-

te, die, entgegen journalistischen Sorgfalts-

derungen an den Informationsjournalismus

pflichten, in ihren Berichten über Normver-

aus. Dieser Ansatz ist als Bezugsrahmen mit-

stöße junge Migranten und Asylsuchende

zudenken, wenn es um die Bewertung der Be-

unter Täterverdacht stellen. Es entsteht der

funde geht. Läge der Analyse ein Verständnis

Eindruck, als wollten viele Journalisten jetzt

zugrunde, dem zufolge der Informationsjour-

überfleißig nachholen, was sie zuvor ver-

nalismus vor allem dazu da sei, Intentionen

säumt hatten.

und Strategien der politischen Akteure dem Publikum zu vermitteln, könnte man unse-

Diskussion der Befunde

re Ergebnisse als Beleg dafür nehmen, dass

Diese Zusammenfassung könnte manchen Le-

er diese Aufgabe aufs Beste erfüllt hat. Aus

ser zu der Fehldeutung verleiten, es ginge uns

Sicht unseres Ansatzes jedoch ist dies eine

um eine Kritik am Journalismus, die der Vor-

Leistung, die von der Politik-PR zu erbrin-

urteilsbestätigung diente, Motto: Wir haben’s

gen wäre (und erbracht wird). Sie kollidiert

78

doch immer schon gesagt, hier ist der Beweis!

nicht nur mit dem normativen Anspruch des

Demgegenüber ist Folgendes festzuhalten: Un-

diskursiven Journalismus, sondern auch mit

sere Studie beschäftigte sich nicht mit der Fra-

unstrittigen Professionsregeln des Qualitäts-

ge, welche Einstellung zur Flüchtlings­thematik

journalismus. Wie dargelegt, verlangt dieser

78 An der Jahreskonferenz des Netzwerks Recherche im Juli 2016 stellte der Verfasser erste Befunde der Studie vor, die wenig später zum „Beweis“ für Journalistenbashing umgedeutet und von Medienkritikern vor allem der politisch rechten Szene kolportiert wurden (z. B. https://www.frauke-petry.com/index.php/aktuelles/pressemitteilung/196afd-sachsen-studie-zur-fluechtlingsberichterstattung-ist-armutszeugnis-fuer-qualitaetsmedien; abgerufen Januar 2017).

139


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Anspruch, dass das politische Handeln aus

Denn die Gesamtheit aller in den Zeitungstex-

unabhängiger Sicht kritisch beobachtet und

ten Genannten ist unserer Auswertung zufolge

bei gesellschaftlich folgenreichen Großthe-

rund dreimal so groß. Es könne darum sehr

men die verschiedenen am Thema beteiligten

wohl sein, so der Einwand, dass eigentlich

Gruppen in die Berichterstattung einbezogen

wichtige, unter der Relevanz-Definition nicht

werden.

anzutreffende Personengruppen an anderen

Doch auch innerhalb dieses Rahmens las-

Stellen im Bericht doch Erwähnung finden.

sen sich Einwände gegen die Aussagekraft

Dieser Einwand ist in der Sache zutreffend.

unserer Befunde vorbringen. Sie beziehen

Allerdings war es uns nicht möglich, alle an-

sich auf die methodologische Ebene. Ein Vor-

nähernd 10.000 in den Zeitungstexten er-

behalt könnte lauten, dass unsere Kategorie

wähnten Akteure und Sprecher detailliert zu

der relevanten Akteure und Sprecher (Erst-

analysieren. Mit der Relevanz-Kategorie wurde

genannte und/oder wiederholt Genannte)

die Gesamtheit der in den Texten erwähnten

nicht valide sei, weil es dem Berichterstatter

Akteure/Sprecher auf jene verdichtet, die vom

freigestellt ist, wann und wie oft er im Laufe

Berichterstatter oder Kommentator bzw. der

eines Berichts seine Protagonisten zur Spra-

Redaktion als wichtig/bedeutsam/aussage-

che bringt. Unsere Vorabstudien zum Aufbau

stark eingeschätzt wurden. Diese Gewichtung

nachrichtlicher Texte ergaben indessen, dass

zeigt sich ja auch durch die Aufbereitung und

mehr als vier von fünf Texten dem klassischen

Präsentation der Texte (siehe oben). Daher ist

Nachrichtenaufbau insofern folgen, als die

die Annahme begründet, dass auch die Zei-

im Thema agierenden Hauptpersonen tat-

tungsleser dieser Gewichtung folgen und die

sächlich zuerst und/oder wiederholt genannt

erst- und/oder wiederholt genannten Akteure

werden. Abweichungen konnten wir nur bei

als Protagonisten des Themas wahrnehmen.

wenigen erzählenden Texten beobachten

Diese Kategorie erfasst damit zwei für unsere

(dieses Genre machte insgesamt nur 6 Pro-

Forschungsfrage bedeutsame Merkmale: ers-

zent aus), und auch nur dort, wo sie darauf

tens das Relevanzverständnis des Journalisten

verzichteten, ihre Hauptakteure im Titelkom-

(nicht grundlos hat er diesen und nicht jenen

plex (Überschrift, Vorspann usw.) zu nennen.

Akteuren oder Sprechern so viel Bedeutung

Unserer Durchsicht nach betrifft dies weniger

gegeben); zweitens die Relevanz-Adaption

als 3 Prozent der Texte. Dass diese Kategorie

durch die Rezipienten (sie nehmen zur Kennt-

(„relevante Akteure und Sprecher“) bei den

nis, dass offenbar diese und nicht jene Akteure

offeneren Kommentarformen eine größere

oder Sprecher bedeutsam sind). Wir meinen

Unschärfe zeigt, habe ich in Teil 3 der Studie

deshalb, dass diese Kategorie deutlich zeigt,

bereits erörtert.

ob und wie (Fokus) der Informationsjourna-

Ein weiterer Einwand könnte lauten, dass diese Kategorie überhaupt ein Artefakt sei.

140

lismus auf der Akteursebene Komplexität reduziert.


Fazit – Diskussion – Deutungen

2. Thesen zur Wirkung der Flüchtlingsberichterstattung

in den Blick nehmen. Und um beides – Medienaussagen und Einstellungswandel – in einen erklärenden Zusammenhang zu bringen, benö-

Unser normativer Forschungsansatz galt der

tigen wir gleichsam als Brückenschlag ein plau-

strukturellen Ebene des Mediensystems. Auf

sibles Wirkungsmodell. Im Folgenden möchte

dieser Ebene verweisen die Ergebnisse auf

ich deshalb zunächst einige demoskopische

gravierende Dysfunktionen des Informations-

Befunde referieren und dann den Zusammen-

journalismus als Teil der sogenannten Main-

hang anhand erprobter Wirkungshypothesen

streammedien.79 Diese Störungen haben sich

herstellen und begründen.

so tief eingefressen, dass sie von Journalisten oder einzelnen Redaktionen vermutlich für

Wie sich die Meinungen ändern

normal gehalten, das heißt nicht als solche

Ein fremdenfreundliches Deutschland? Zu

wahrgenommen oder gar problematisiert wer-

Beginn des zweiten Teils haben wir den er-

den. Dies könnte erklären, warum die meisten

staunlich radikalen Einstellungswandel in

tagesaktuellen Medien bis zur Silvesternacht

der Erwachsenenbevölkerung Deutschlands

2015/16 nicht erkannt hatten, dass sich durch

geschildert. Noch vor sechs, sieben Jahren

die Gesellschaft ein mentaler Graben zieht,

hatte das Meinungsklima ja noch deutlich

der den weltoffen-liberal denkenden Teil der

anders ausgesehen. Laut den zitierten Erhe-

Bevölkerung – Leser der Leitmedien – vom

bungsdaten der Migrationsforschung zeigte

konservativ-liberal bis nationalistisch einge-

damals mehr als die Hälfte der Bevölkerung

stellten Teil trennt. Unsere These lautet, dass

deutliche „Überfremdungsängste“, und mehr

die in den zwanzig Punkten zusammengefass-

als ein Drittel hielt die „kulturellen Unter-

ten Dysfunktionen diesen polarisierenden und

schiede“ vor allem der muslimischen Mi­

insofern desintegrativen Prozess massiv geför-

granten gar für gefährlich (Zick/Küpper 2012:

dert haben.

171 f.). Dieser Stimmungslage stellten wir die

Mit dieser These betreten wir das spe-

von TSN Emnid drei Jahre später, Anfang 2015,

kulative Feld der Medienwirkung. Einerseits

durchgeführte Erhebung gegenüber, der zu-

verfügen wir über valide Befunde aus den In-

folge die weit überwiegende Mehrheit der

haltsanalysen. Doch sie allein erlauben keine

Deutschen zuwandernde Fremde willkommen

Aussagen über das, was in den Köpfen des

heiße und vom friedlichen Zusammenleben

Publi­kums vorging. Um hier Deutungssicher-

mit den Flüchtlingen überzeugt sei (vgl. S. 54).

heit zu gewinnen, müssen wir andererseits den

Ein knappes Jahr später, im Winter 2015/16,

demoskopisch ermittelten Einstellungswandel

zeichneten neue Erhebungen eine in Bezug

79 Zum Begriff vgl. Krüger (2016: 39 ff.). Auf dieselben Dysfunktionen verweist die Beispielsammlung aus der Berichterstattung über internationale Politik der Mainstreammedien bei Teusch (2016).

141


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

auf Migranten/Flüchtlinge wiederum mar-

Befragten, dass „Macht und Einfluss der Medi-

kant veränderte Einstellung. Jetzt fühlten sich

en in Deutschland“ groß oder sehr groß seien

zwei Drittel der Befragten eher bedroht (ZDF-

(Köcher 2015).

Politbarometer Januar 2016), und 52 Prozent fanden die „Zahl der Asylbewerber und Flücht-

Tiefe Zweifel an der Unabhängigkeit

linge“ eher beängstigend (Forsa-­Umfrage Fe­

der Medien

bruar 2016 ). Eine andere Erhebung ergab

Auch wenn oft abstrakt und insofern diffus ge-

(TNS im Auftrag des Spiegels), dass „82 Pro-

fragt wird und die hier zitierten Erhebungen

zent Merkels Flüchtlingspolitik ablehnen“

wegen unterschiedlicher Fragestellungen und

(„Große Mehrheit fordert Korrektur der Flücht-

Befragungsmethoden entsprechend Unter-

lingspolitik“, Spiegel Online 09.09.2016).

schiedliches abbilden,81 so wird doch deutlich,

80

Solche Daten sind volatil und ähneln Mo-

dass im Herbst/Winter 2015/16 sehr viele Men-

mentaufnahmen, in denen sich aktuelle Erleb-

schen auf das von den Medien gezeichnete Bild

nisse und Nachrichten spiegeln. Sie referie-

„Flüchtlinge/Willkommenskultur“ wie desillu-

ren darum auf die Medienberichterstattung.

sioniert reagierten und generell über die In-

Denn knapp drei Viertel der Erwachsenenbe-

formationsmedien deutlich enttäuscht, auch

völkerung informierten sich über Vorgänge

misstrauisch urteilten.

zum Komplex Flüchtlinge/Willkommenskultur

Ein beachtlicher Teil der Bevölkerung

vermittels der klassischen Medien (Kröcher

glaubt seither, der Journalismus werde of-

2015). Und hier öffnet sich derselbe Graben,

fenbar gezwungen, systemkonform und in-

von dem oben in Bezug auf das Flüchtlingsthe-

sofern manipulierend zu berichten: Ende

ma die Rede war. Im Oktober 2015 untersuch-

2016 äußerten sich viele überzeugt, die Re-

te das Demoskopische Institut Allensbach die

gierung würde festlegen, worüber die soge-

Einstellung der Bevölkerung zu den Informa­

nannten Mainstream­ medien berichten und

tionsmedien. Auf die Frage, ob „die Medien ein

worüber nicht. In einer repräsentativen Be-

zutreffendes Bild der Flüchtlinge“ zeichneten,

völkerungsbefragung zum Thema: „Vertrau-

antworteten 53 Prozent mit Nein, 22 Prozent

en Sie den Medien?“ der Universität Mainz

blieben unentschieden. Demnach war nur eine

hielten 55 Prozent der Befragten es für mög-

Minderheit von 25 Prozent überzeugt, dass die

lich, dass „die Bevölkerung in Deutschland

Medien zutreffend berichtet hätten. Fast jeder

von den Medien systematisch belogen“ werde

Zweite nannte die Berichterstattung einseitig.

(19 Prozent „eher/voll oder ganz“, 36 Prozent

Zugleich fanden mit 95 Prozent praktisch alle

„teils, teils“). Dass in den Medien „neutrale

80 Unter: http://www.stern.de/politik/deutschland/fluechtlinge--das-denken-die-deutschen-wirklich-6737204.htm (abgerufen Januar 2017). 81 Dass Meinungsbefragungen kommerzieller Institute oftmals keine validen Ergebnisse produzieren, erläutert: https://sciencefiles.org/2015/10/31/der-meinungsforschungskrieg-um-die-luegenpresse/ (abgerufen Januar 2017).

142


Fazit – Diskussion – Deutungen

Berichterstattung und wertende Kommenta-

Wer eine gegenüber der tonangebenden

re oft vermischt werden“, trifft für 38 Prozent

Meinung abweichende Auffassung hat, der

„eher/voll oder ganz“ zu, weitere 33 Prozent

schweige lieber, aus Angst gemieden und iso-

finden dies „teils, teils“. Und auch dies ist

liert zu werden. Dies geschieht natürlich kaum

aufschlussreich: 37 Prozent stimmen „eher/

bei abstrakten oder belanglosen Themen, viel-

voll oder ganz“ (und 38 Prozent „teils, teils“)

mehr dann, wenn – wie hier bei der Fremden-

der Ansicht zu, dass die Medien „grundsätz-

und Flüchtlingsfrage – der Meinungskampf

lich nicht über berechtigte Meinungen berich-

‚moralisch aufgeladen‘ ist und der Einzelne

ten, wenn sie diese für unerwünscht halten“.

fürchtet, als moralisch schlecht zu erscheinen.

Und schließlich stimmen 26 Prozent „eher/

Befunde stützen die These, dass dieses Ver-

voll oder ganz“ und weitere 31 Prozent „teils,

halten bei unsicheren und sozial schwäche-

teils“ der Ansicht zu, „Medien und die Politik

ren Menschen verbreiteter ist als etwa unter

arbeiten Hand in Hand, um die Bevölkerungs-

selbstbewussten Entscheidern.83

meinung zu manipulieren“.82

Die Dynamik („Spirale“) kommt in Gang, wenn die vermeintlich vorherrschenden Auf-

Schweigespirale und Reaktanz

fassungen nach und nach als feste Mehrheits-

Um die mit dieser tiefgreifenden Enttäu-

meinung dargestellt und zugleich davon abwei-

schung verbundenen Effekte zu verstehen,

chende oder konträre Positionen im Mediendis-

bietet sich das Modell der Schweigespirale

kurs immer schwächer werden. Dabei bleibt in

an. Es wurde von der Meinungsforscherin Eli-

der Öffentlichkeit verborgen, welche Position

sabeth Noelle-Neumann Ende der 1970er Jahre

die tatsächliche Mehrheitsmeinung abbildet

ausgearbeitet – ein Makro-Konzept, das eine

(Noelle-Neumann bezog ihre Thesen auf das

spezifische Dynamik in der öffentlichen Mei-

bei Befragungen geäußerte Wählerverhalten im

nungsbildung erklärt. Ihm zugrunde liegt die

Vergleich zur Entscheidung in der Wahlkabine –

sozialanthropologisch gestützte Auffassung,

Diskrepanzen, die wohl auch im Zusammen-

dass jedes Indivi­duum Anerkennung in seiner

hang mit der US-Präsidentenwahl 2016 offenbar

sozialen Umgebung, also auch Anschluss und

wurden). Jedenfalls sind diejenigen, die sich ins

Respekt finden möchte: „Die Furcht vor Isola-

Schweigen zurückziehen, die Frustrierten.

tion erscheint als die treibende Kraft, die den

Gegen das Modell der Schweigespirale

Prozess der Schweige­spirale in Gang setzt“

wurden gewichtige Einwände erhoben und

(Noelle-Neumann 1980: 20).

differenzierende Studien durchgeführt.84 Für

82 Jackob u. a. 2017. 83 Vgl. die Forschungen des Teams von George Gerbner zur sogenannten Kultivierungsanalyse (Gerbner u. a. 1982) sowie die Studien zum sogenannten Third-Person-Effect (Davison 1983; Perloff 1993), dem zufolge Menschen „die anderen“ für stärker beeinflusst halten als sich selbst und sich darauf einstellen. 84 Ein durch Studien erhärteter Einwand lautet: Schweigespiralen-Effekte sind eher an Milieus gebunden und hängen, wenn überhaupt, weniger von einem Medium als von Eigenheiten des jeweiligen soziokulturellen Milieus ab. Eine Übersicht über die Diskussion dieser Theorie findet sich bei Bonfadelli (1999: 149 ff.) und Schenk (2007: 526-577).

143


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

unsere Thematik sind jene Befunde brauch-

Kampagne gesteigert wurde und Einwände als

bar, die einen Schweigespiralen-Effekt dort

moralisch „unanständig“ erscheinen ließ.87

aufgespürt haben, wo es (a) um moralisch

Indem die mit dem „Frame“ Flüchtlinge/Will-

besetzte Einstellungen sowie (b) um räumli-

kommenskultur transportierte Bedeutung als

che und/oder soziale Nähe geht. Dies trifft

quasi herrschende Meinung (man ist geneigt

auf den Nachbar-, Vereins- und Kollegenkreis

zu sagen: alternativlos) auftrat, sahen sich

zu, mithin auf die lokale Lebenswelt, in der

diejenigen, die anderer Auffassung waren, mo-

in erster Linie die Lokal- und Regionalzeitun-

ralisch ins Unrecht gesetzt.88 Viele zogen sich

gen Orientierung bieten und das Meinungs-

frustriert zurück. Aber schwiegen sie?

85

Unter diesem Blickwinkel ist

Nun stammt das Schweigespiralen-Modell

unser Befund bedeutsam, dass in der Flücht-

aus der Zeit der analogen Medien, als das Pub-

lingsthematik – festgemacht am Narrativ Will-

likum als passiver Empfänger der Nachrichten

kommenskultur – die Lokal-/Regionalpresse

gesehen wurde. Dies hat sich mit den sozialen

dem auf die Parteien und die Wirtschaftspoli-

Medien des Internets dramatisch verändert.

tik zentrierten „Frame“ der Leitmedien folgte

Viele der Betroffenen wollen nicht verstum-

und so als deren Verstärker funktionierte.

men, sondern suchen nach anderen Kanälen

klima prägen.

86

und Foren, um ihrer Frustration umso heftiger Von der Frustration zur Wut und zu

Luft zu machen. In den Medienwissenschaften

„alternativen Ventilen“?

verwendet man hierfür den aus der Verhalten-

Eine mögliche Erklärung des Zusammenhangs

spsychologie entlehnten Begriff der Reaktanz

zwischen Medienaussagen, Medienenttäu-

(Brehm 1966; Brehm/Brehm 1981). Dieses

schung und Einstellungswandel ist, dass die

Theorem geht davon aus, dass in der heuti-

Politiker in den Jahren nach 2012 – dies zeigten

gen Gesellschaft die Individuen „eigentlich“

die Textanalysen im zweiten Teil – dem Nar-

frei denken und handeln möchten (ungeach-

rativ Willkommenskultur zu einer persuasiven

tet der Definition von Freiheit). Wenn sie sich

Macht verhalfen, die im medialen Diskurs zur

mora­lisch unter Druck gesetzt fühlen, wirkt

85 Zur Renaissance des Modells für die Erklärung entsprechender Schweige-Effekte in den Social Media siehe die Studie des Pew Research Center, online unter: http://www.pewinternet.org/2014/08/26/social-media-and-the-spiralof-silence/ (abgerufen Januar 2017). 86 Vgl. Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 7040 und 11024. 87 Eine (polemisch zugespitzte) Kritik an der von ihm als Marketing erlebten Kampagne der Parteien formulierte der Kabarettist Wilhelm Hindemith am 3. September 2015 in der Badischen Zeitung (Erster Satz: „Schon wie Politiker das Wort ‚Willkommenskultur‘, meist mit aggressivem Unterton, verbreiten, macht deutlich, dass es sich um ein unechtes Gefühlswort handelt, um nichts als Kitsch“). 88 Im Sommer 2015 haben wir aus Radio- und TV-Diskussionen folgende Common-Sense-Ansichten gesammelt: (a) Notleidenden und so auch Geflüchteten hat man zu helfen, nicht weil man ein „Willkommenheißender“ sein möchte, vielmehr weil Notleidenden zu helfen per se ein humanitäres Gebot bedeutet. (b) Das Willkommenheißen wirkt selbstgefällig bzw. selbstgerecht. (c) Diese Kampagne wird von Flüchtlingen als unbeschränkte Einladung missverstanden. (d) Eine gesellschaftsweit proklamierte „Kultur“ ergibt keinen Sinn. (e) Es handelt sich um eine kampagnenartige Stimmungsmache bzw. ein Ablenkungsmanöver der Regierung.

144


Fazit – Diskussion – Deutungen

dies wie eine Art Freiheitsentzug, gegen den

zent (2008) auf 40 Prozent (Ende 2016). An-

sie sich zur Wehr setzen. In der interaktiven

dererseits stieg auch der Anteil jener, die der

On­linewelt eignen sich hierfür vor allem Blogs

Aussage zustimmten: „Man kann den Medien

und Postings auf den Web-Plattformen der

eher nicht/überhaupt nicht vertrauen“ von

Social Media (Facebook), die den Wütenden

9 Prozent (2008) auf 24 Prozent.90 Das Aus-

das Gefühl vermitteln, unter Gleichgesinnten

einanderdriften und die Ausweitung der zwei

zu sein (sogenannter Echokammer-Effekt) –

gegensätzlichen Auffassungen lassen sich

was dazu führt, „dass beleidigende und straf-

als Indikator für die fortschreitende Segmen-

rechtlich relevante Äußerungen hemmungslo-

tierung der Gesellschaft, in unserem Zusam-

ser getätigt werden“ (Neumann/Arendt 2016:

menhang: für den Bruch im gesellschaftlichen

252). Vielerorts eskalierte die zunehmend

Diskurs, lesen. Sie sind ein Indikator für den

aggressiv ausgelebte Wut im Herbst 2015 zu

Trend, der die (in der Einführung genannten)

Hasskommentaren, von denen manche zu

isolierten Kommunikationsinseln gebiert, weil

Straftaten aufriefen. Die Bild-Zeitung reagier-

er das vielleicht Wichtigste verhindert: diskur-

te Ende Oktober 2015 mit der Rubrik „Pranger

siv funktionierende Verständigungsprozesse,

der Schande“, indem sie Profilnamen und -bil-

wie sie der Informationsjournalismus erbrin-

der der Verfasser solcher Äußerungen publi-

gen soll.91

zierte.89 Auch dies bewirkte kein Verstummen, sondern führte dazu, „dass sich Personen des

„Ein guter Journalist redet mit jedem“

harten Kerns ein anderes, alternatives ‚Ventil‘

Im weiteren Verlauf des Jahres 2016 – dies

gesucht haben“ (ebd.: 262).

soll nicht unterschlagen werden – haben sich

Dieser polarisierende Graben spiegelt, wie

verschiedene – darunter auch kleine – Zei-

oben als These vertreten, die konträren Mei-

tungsredaktionen mit Eigenleistungen nach-

nungen über die Glaubwürdigkeit der Medi-

zuholen bemüht, was sie während der langen

en. Die erwähnte Repräsentativbefragung der

Willkommenskultur-Euphorie-Ära unterlassen

Universität Mainz hatte einige Fragen bereits

hatten: den Reden der Politiker mit Skepsis

2008 und 2015 gestellt. Deshalb konnten zwei

begegnen, bei den Wortführern kritisch nach-

gegenläufige Trends nachgewiesen werden: Ei-

fragen, den Darstellungen der Behörden ge-

nerseits stieg der Anteil der Bevölkerung, der

nauer auf den Grund gehen, abweichende

der Aussage „Man kann den Medien eher/voll

Positionen thematisieren, Betroffenen-Erzäh-

und ganz vertrauen“ zustimmte, von 29 Pro-

lungen hinter­fragen, die Rechthaberei been-

89 „Längst ist die Grenze überschritten von freier Meinungsäußerung oder Satire zum Aufruf zu schwersten Straftaten bis zum Mord. BILD reicht es jetzt: Wir stellen die Hetzer an den Pranger!“ (Bild-Zeitung 20.10.2015). 90 Jackob u. a. 2017 (http://de.ejo-online.eu/qualitaet-ethik/17587#!prettyPhoto). Allerdings war die Stichprobegröße von 2015 (n=525) für eine differenzierte Auswertung m. E. problematisch. 91 Unsere Kritik an der Funktionalität bezieht sich in dieser Studie auf den tagesaktuellen Informationsjournalismus und nicht auf „entschleunigte“ Medien (wie Wochenzeitungen und -magazine).

145


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

den, eigene Fehldeutungen eingestehen.92 Ob

der anderen. Das muss man ernst nehmen. Ein

infolgedessen nun im misstrauisch geworde-

guter Journalist redet mit jedem, auch mit halb-

nen Teil der Bevölkerung ein Einstellungsum-

seidenen Figuren, zur Not auch mit Verbrechern

schwung in Gang kommt, wird sich wohl erst

und Diktatoren, aber hält bei allen, selbst bei

in den nächsten Jahren zeigen.

Idealisten und Weltverbesserern, den nötigen

Als Zeichen, dass einige der in dieser Studie

Abstand. Und dieser Abstand ist in einigen Fäl-

aufgezeigten Fehlentwicklungen inzwischen

len immer geringer geworden. Manche Journa-

auch von publizistischen Meinungsführern er-

listen verstehen sich inzwischen als Politikbe-

kannt worden sind, zitiere ich zum Abschluss

rater und betreiben einen Journalismus, der

aus einem Interview, das der Präsident des

sich an ein paar Eingeweihte richtet, denen sie

Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger

Codewörter zurufen. Der eigentliche Empfän-

(BDZV), Mathias Döpfner, im Februar 2017 der

ger ist nicht mehr der normale, intelligente,

Deutschen Presseagentur gab. „Wir sehen ei-

aufgeschlossene, aber nur bedingt informierte

nen wachsenden Graben zwischen politischen

Leser, sondern die Kollegen, Politiker, Künstler

Eliten und den Medien auf der einen Seite und

oder Wirtschaftsführer.“

93

der sogenannten normalen Bevölkerung auf

92 Unserer Beobachtung zufolge haben sowohl Der Spiegel wie auch Die Zeit bereits im Herbst 2015 manche Defizite erkannt und in der Folge – dies gilt für Die Zeit – eigene Fehlhaltungen reflektiert und publizistisch artikuliert. 93 Online: www.welt.de/wirtschaft/article161717645/Was-Wahrheit-ist-definiert-keine-Regierung.html (abgerufen März 2017).

146


Anhang

Anhang

Daten der Analyse der redaktionellen Texte über die zehn Großereignisse...... 148 Analyse von 30 ausgewählten Kommentaren aus den untersuchten Leitmedien...................................................................155 Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen..................................................... 166 Literatur....................................................................................................... 168 Hinweise zum Autor.......................................................................................176

Zur Methodologie Die Definition der Untersuchungsgegenstände, die Beschreibung der benutzten Verfahren und Methoden sowie der Instrumente der Inhaltsanalysen inklusive des Codebuchs, weiter der Codiererbericht und die Verfahren zur Generierung des Datenbank-Korpus für die Textanalysen (Textmining): Die Dokumentation all dessen ist für diese Printpublikation deutlich zu umfangreich. Für Interessierte steht der komplette Methodenteil zum Herunterladen bereit unter: www.otto-brenner-stiftung.de.

147


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Tabelle 28: Die Darstellungsformen in den redaktionellen Texten über die Großereignisse des Flüchtlingsthemas (n=1.687 Texte)

Kom­ Bericht mentar/ Glosse E1: Brief dreier Länderchefs betr. besseres Bleiberecht E2: Statistik Flüchtlinge in Deutschland E3: Tröglitz E4: Gemeinsame EU-Flüchtlings­ politik E5a: Beginn der „Flüchtlings­ welle“ E5b: Heidenau

E5c: Merkel: Wir schaffen das E6: Grenzöff­ nung/Grenz­ kontrollen E7: Obergrenzen und Transit­ zonen E8: Silvester­ ereignisse

Gesamt 148

Meldung

Repor­ tage, Porträt

Inter­ view

Bild­ nach­ richt

Schlag­ zeile, Anrei­ ßer

Serie

Sons­ Fremd­ tiges beitrag

Summe

12

5

1

1

1

0

0

0

0

3

23

52,2 %

21,7 %

4,3 %

4,3 %

4,3 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

13,0 %

100,0 %

20

8

7

2

0

0

1

0

0

1

39

51,3 %

20,5 %

17,9 %

5,1 %

0,0 %

0,0 %

2,6 %

0,0 %

0,0 %

2,6 %

100,0 %

22

9

5

5

1

0

1

3

0

6

52

42,3 %

17,3 %

9,6 %

9,6 %

1,9 %

0,0 %

1,9 %

5,8 %

0,0 %

11,5 %

100,0 %

41

14

3

4

6

0

0

0

3

14

85

48,2 %

16,5 %

3,5 %

4,7 %

7,1 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

3,5 %

16,5 %

100,0 %

154

48

23

23

12

2

7

7

8

21

305

50,5 %

15,7 %

7,5 %

7,5 %

3,9 %

0,7 %

2,3 %

2,3 %

2,6 %

6,9 %

100,0 %

109

52

29

33

6

2

5

2

10

29

277

39,4 %

18,8 %

10,5 %

11,9 %

2,2 %

0,7 %

1,8 %

0,7 %

3,6 %

10,5 %

100,0 %

127

41

28

17

12

1

4

1

9

31

271

46,9 %

15,1 %

10,3 %

6,3 %

4,4 %

0,4 %

1,5 %

0,4 %

3,3 %

11,4 %

100,0 %

54

19

1

6

1

0

5

1

2

13

102

52,9 %

18,6 %

1,0 %

5,9 %

1,0 %

0,0 %

4,9 %

1,0 %

2,0 %

12,7 %

100,0 %

154

56

14

10

19

0

3

8

8

13

285

54,0 %

19,6 %

4,9 %

3,5 %

6,7 %

0,0 %

1,1 %

2,8 %

2,8 %

4,6 %

100,0 %

127

44

6

7

16

2

6

4

8

28

248

51,2 %

17,7 %

2,4 %

2,8 %

6,5 %

0,8 %

2,4 %

1,6 %

3,2 %

11,3 %

100,0 %

820

296

117

108

74

7

32

26

48

159

1.687

48,6 %

17,5 %

6,9 %

6,4 %

4,4 %

0,4 %

1,9 %

1,5 %

2,8 %

9,4 %

100,0 %

Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16 Quelle: Eigene Darstellung


Tabelle 29:

57,3 %

58,4 %

52,2 %

67,8 %

83,0 %

50,4 % 62,5 %

Kommunale und stadtnahe Einrichtungen

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,5 %

0,8 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,6 %

0,3 %

Verwaltung auf Bundes- und Landesebene

2,4 %

1,3 %

3,9 %

3,3 %

5,4 %

2,1 %

2,7 %

1,5 %

0,2 %

1,3 %

2,4 %

Wirtschaft

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,7 %

1,2 %

1,0 %

4,1 %

4,5 %

0,7 %

0,6 %

1,5 %

Kirche, Religion

2,4 %

0,0 %

1,0 %

2,0 %

1,1 %

1,4 %

1,6 %

1,0 %

1,9 %

0,8 %

1,3 %

Einrichtungen Kultur & Bildung

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

1,9 %

1,4 %

1,2 %

0,0 %

0,3 %

0,8 %

0,9%

Soziale Einrich­ tungen, Medizin, Gesundheit usw.

2,4 %

0,0 %

0,0 %

0,7 %

2,9 %

2,3 %

1,2 %

0,5 %

0,7 %

0,4 %

1,4 %

Rettungshilfs­ dienste

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,7 %

0,5 %

0,2 %

0,2 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,2 %

Medien

0,0 %

0,0 %

2,9 %

0,7 %

3,2 %

3,7 %

4,7 %

6,0 %

2,0 %

8,5 %

4,0 %

Sport

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,0%

0,0 %

0,0 %

0,4 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,1 %

Judikative

0,0 %

6,7 %

3,9 %

2,6 %

5,9 %

11,5 %

11,1 %

9,0 %

3,0 %

18,4 %

8,8 %

Militär

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,9 %

0,8 %

0,2 %

0,5 %

0,2 %

0,0 %

0,4 %

Interessenver­ bände

2,4 %

4,0 %

3,9 %

2,0 %

3,4 %

2,5 %

4,7 %

1,0 %

1,5 %

4,0 %

3,0 %

Internationale NGOs

0,0 %

1,3 %

0,0 %

2,0 %

1,1 %

0,8 %

0,2 %

0,0 %

0,2 %

0,0 %

0,5 %

Fachmann, Ex­ perte, Gutachter

0,0 %

0,0 %

0,0 %

3,9 %

0,3 %

0,6 %

0,0 %

0,0 %

1,0 %

0,6 %

0,6 %

Personen

4,9 %

10,7 %

6,9 %

10,5 %

11,7 %

11,1 %

11,3 %

7,5 %

2,4 %

9,5 %

9,0 %

Unpersönliche Quellen

4,9 %

4,0 %

2,0 %

5,3 %

2,8 %

1,4 %

4,3 %

0,5 %

3,0 %

3,8 %

3,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

Gesamt

Gesamt

65,8 %

E8: Silvesterereignisse

E5a: Beginn der „Flüchtlingswelle“

75,5 %

E7: Obergrenzen und Transitzonen

E4: Gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik

72,0 %

E6: Grenzöffnung/Grenzkontrollen

E3: Tröglitz

80,5 %

E5c: Merkel: Wir schaffen das

E2: Statistik Flüchtlinge in Deutschland

Politik-Ebene (institutionell)

E5b: Heidenau

E1: Drei Länderchefs: besseres Bleiberecht

Die Zuständigkeitsbereiche der Akteure/Sprecher in den berichtenden Texten im Überblick (n=3.308 Akteure)

100,0 % 100,0 %

149 Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16 Quelle: Eigene Darstellung


Tabelle 30: Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

E5c: Merkel: Wir schaffen das

E6: Grenzöffnung/Grenzkontrollen

E7: Obergrenzen und Transitzonen

E8: Silvesterereignisse

Anteil*

1,0 %

16,4 %

3,7 %

2,3 %

3,5 %

2,0 %

3,7 %

0,2 %

3,4 %

Internationale Staatenbünde und Organisationen – UNO etc.

2,4 %

2,7 %

3,3 %

1,1 %

0,8 %

1,6 %

0,5 %

0,3 %

0,2 %

0,9 %

Ausland – nichtdeutsche Regie­ rung, Parlament, Ministerien etc.

4,9 %

8,0 %

28,3 %

13,0 %

10,9 %

16,8 %

12,6 %

5,1 %

3,6 %

10,6 %

Bundesebene – Regierung, Par­ lament, Ministerien, Bundesrat

29,3 %

34,7 %

21,6 %

16,4 %

18,2 %

25,2 %

16,0 %

30,7 %

46,0 %

28,2 %

26,6 %

Landesebene – Regierung, Parlament Ausschüsse, Kom­ missionen

41,5 %

20,0 %

16,7 %

0,7 %

16,0 %

14,3 %

10,3 %

11,6 %

22,7 %

15,7 %

15,5 %

Regionale und kommunale Ebe­ ne – Land-/Kreistag, Landrat, Stadtrat

2,7 %

36,3 %

0,7 %

5,2 %

4,9 %

4,1 %

10,6 %

5,2 %

2,5 %

5,6 %

Kommunale und stadtnahe Einrichtungen

0,5 %

0,8 %

0,6 %

0,3 %

E5a: Beginn der „Flüchtlingswelle“

4,0 %

E3: Tröglitz

2,4 %

E2: Statistik

EU-Ebene

E1: Drei Länderchefs

E5b: Heidenau

E4: Gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik

Die in den berichtenden Texten genannten Quellen/Akteure/Sprecher (n=3.308 Akteure/Sprecher)

Politik (Ebene allgemein/institutionell/personenbezogen)

Verwaltung auf Bundes- und Landesebene EU-Ebene

0,7 %

0,2 %

0,1 %

2,4 %

1,3 %

0,7 %

2,5 %

2,1 %

2,7 %

1,0 %

0,2 %

0,8 %

1,5 %

Landesebene, z. B. Statisti­ sches Landesamt

3,9 %

2,3 %

0,2 %

0,6 %

Regionale und kommunale Ebe­ ne, z. B. Regierungs­präsidium, Landratsamt, Rathaus, Ordnungsamt

0,5 %

0,5 %

0,2 %

0,2 %

Ausland

2,0 %

0,1 %

Sonstige

0,0 %

Wirtschaft

0,7 %

1,2 %

1,0 %

4,1 %

4,5 %

0,7 %

0,6 %

1,5 %

2,4 %

1,0 %

2,0 %

1,1 %

1,4 %

1,6 %

1,0 %

1,9 %

0,8 %

1,3 %

Einrichtungen aus dem Bereich Kultur und Bildung

1,9 %

1,4 %

1,2 %

0,3 %

0,8 %

0,9 %

Soziale Einrichtungen, Medizin, Gesundheit, Rettungsdienste

2,4 %

0,7 %

2,9 %

2,3 %

1,2 %

0,5 %

0,7 %

0,4 %

1,4 %

Rettungshilfsdienste (nicht rein medizinisch) 150

0,7 %

0,5 %

0,2 %

0,2 %

0,2 %

Bundesebene, z. B. Bundes­ kartellamt, Finanzamt, Bundes­ kriminalamt

Kirche, Religion


Medien Rundfunk – Fernsehen und Radio

0,5 %

0,5 %

0,6 %

0,3 %

Zeitung, Zeitschrift (online wie offline), Agentur, Bildagentur

0,8 %

1,2 %

1,6 %

2,0 %

0,5 %

3,6 %

1,3 %

Internet: Newsfeed, Blogs, Social Media u. Ä.

0,8 %

1,0 %

0,4 %

1,0 %

0,5 %

1,3 %

0,7 %

Journalist allg., Autor allg., sonstige Medienakteure

2,0 %

1,1 %

1,2 %

1,6 %

3,0 %

0,5 %

3,0 %

1,4 %

Sonstige

1,0 %

0,7 %

0,2 %

0,4 %

1,2 %

0,3 %

Sport

0,4 %

0,1 %

Judikative/Polizei

6,7 %

3,9 %

2,6 %

5,9 %

11,5 %

11,1 %

9,0 %

3,0 %

18,4 %

8,8 %

Militär

0,9 %

0,8 %

0,2 %

0,5 %

0,2 %

0,4 %

Bürgerinitiative, Bürger­ bewegung, Bürgerallianz

2,7 %

2,9 %

0,6 %

1,0 %

0,4 %

0,2 %

1,5 %

0,7 %

Gewerkschaft, Betriebsrat

0,5 %

0,4 %

1,4 %

0,5 %

0,5 %

1,5 %

0,7 %

Stiftung

0,7 %

0,2 %

0,6 %

0,2 %

0,2 %

0,2 %

Wirtschafts- und Bauernver­ bände

0,3 %

0,2 %

0,8 %

0,2 %

0,2 %

2,4 %

1,3 %

1,0 %

1,3 %

1,9 %

0,4 %

1,9 %

0,5 %

0,5 %

1,1 %

1,1 %

Internationale NichtregierungsOrganisationen – NGOs

1,3 %

2,0 %

1,1 %

0,8 %

0,8 %

0,2 %

0,5 %

Fachmann, Experte, Gutachter

3,9 %

0,3 %

0,6 %

1,0 %

0,6 %

0,6 %

Privatperson, Bürger, Anwoh­ ner allgemein

4,0 %

3,9 %

3,9 %

2,5 %

3,9 %

2,1 %

1,0 %

0,5 %

1,3 %

2,1 %

Verursacher, Täter, Kämpfer

2,9 %

2,6 %

0,3 %

1,8 %

1,8 %

0,3 %

2,1 %

1,2 %

Augenzeuge – nicht judikativ

0,7 %

0,3 %

0,2 %

0,6 %

0,2 %

Betroffener, Opfer

0,5 %

1,7 %

0,3 %

Ehrenamtlich Tätige, z. B. Orga­ nisator, Kandidat für Wahlen – parteilos

0,7 %

0,5 %

0,2 %

0,6 %

0,5 %

0,2 %

0,3 %

Teilnehmer – Veranstaltung, Kursus, Versammlung, Wett­ bewerb, Verkehrsteilnehmer

0,6 %

0,2 %

0,2 %

0,4 %

0,2 %

Prominente – Sportler, Schau­ spieler etc. nur, wenn sie als Privatperson auftreten

0,6 %

1,0 %

0,4 %

0,2 %

0,6 %

0,5 %

Spender, Sponsor (nur Einzel­ person – wenn Unternehmen, dann dort codieren)

4,9 %

5,3 %

1,3 %

6,3 %

4,1 %

5,8 %

6,0 %

0,8 %

1,5 %

3,7 %

1,3  %

1,3 %

0,2 %

0,2 %

0,0 %

0,3 %

1,3 %

0,4 %

Unpersönliche Quellen

4,9 %

4,0 %

2,0 %

5,3 %

2,8 %

1,4 %

4,3 %

0,5 %

3,0 %

3,8 %

3,0 %

Summe

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

Interessenverbände

Sonstiger Interessenverband; Interessengemeinschaft

Privatpersonen

Flüchtling, Asylbewerber Sonstige

* Anteil jeder Kategorie am Insgesamt (n) Quelle: Eigene Darstellung 151


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Tabelle 31:

E1: Drei Länderchefs

E2: Statistik Flüchtlinge in Deutschland

E3: Tröglitz

E4: Gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik

E5a: Beginn der „Flüchtlingswelle“

E5b: Heidenau

E5c: Merkel: Wir schaffen das

E6: Grenzöffnung/Grenzkontrollen

E7: Obergrenzen und Transitzonen

E8: Silvesterereignisse

Anteil*

Parteizugehörigkeit der Quellen/Akteure/Sprecher in den berichtenden Texten (n=3.308)

SPD

7,3 %

9,1 %

10,8 %

2,6 %

7,7 %

11,1 %

5,5 %

8,0 %

13,6 %

14,3 %

9,8 %

CDU

22,0 %

10,4 %

17,6 %

6,6 %

8,9 %

9,2 %

9,2 %

7,0 %

21,5 %

12,0 %

11,9 %

CSU

4,9 %

5,2 %

1,0 %

0,0 %

2,9 %

2,3 %

1,8 %

8,5 %

18,5 %

2,3 %

5,6 %

Die Grünen

7,3 %

3,9 %

2,9 %

0,0 %

4,9 %

1,6 %

2,1 %

2,0 %

3,4 %

2,3 %

2,9 %

FDP

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,5 %

0,4 %

0,2 %

0,0 %

0,7 %

0,8 %

0,4 %

Die Linke

0,0 %

0,0 %

2,9 %

0,0 %

1,4 %

1,2 %

0,0 %

0,5 %

1,2 %

1,7 %

1,0 %

AfD

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,2 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

NPD

0,0 %

0,0 %

2,9 %

0,0 %

0,5 %

0,2 %

0,6 %

0,0 %

0,0 %

0,0 %

0,3 %

Andere Partei

0,0 %

0,0 %

8,8 %

0,7 %

0,5 %

0,2 %

0,2 %

1,0 %

1,0 %

1,1 %

0,8 %

Keine Partei

58,5 %

71,4 %

52,9 %

90,1 %

72,6 %

73,9 %

80,5 %

72,9 %

40,1 %

65,5 %

67,2%

Summe

100,0 % 100,0 % 100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 % 100,0 %

100,0 %

100,0 %

100,0 %

* Anteil jeder Kategorie am Insgesamt (n) Quelle: Eigene Darstellung

152


Tabelle 32: Thematisierung von Konflikten und Meinungsverschiedenheiten in den berichtenden Texten (n=1.386 Texte)

E1: Drei Länderchefs

E2: Statistik Flüchtlinge in Deutschland

E3: Tröglitz

E4: Gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik E5a: Beginn der „Flüchtlingswelle“

E5b: Heidenau

E5c: Merkel: Wir schaffen das

E6: Grenzöffnung/ Grenzkontrollen E7: Obergrenzen und Transit­zonen

E8: Silvesterereignisse

Anteile am Insgesamt

Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual

… wird bereits im Titelkomplex thematisiert

… wird im Fließ­ text beschrieben

… wird nicht thematisiert

Summe

11

4

3

18

61,1 %

22,2 %

16,7 %

100,0 %

10

7

13

30

33,3 %

23,3 %

43,3 %

100,0 %

20

11

12

43

46,5 %

25,6 %

27,9 %

100,0 %

15

25

30

70

21,4 %

35,7 %

42,9 %

100,0 %

81

81

94

256

31,6 %

31,6 %

36,7 %

100,0 %

28

58

139

225

12,4 %

25,8 %

61,8 %

100,0 %

23

45

161

229

10,0 %

19,7 %

70,3 %

100,0 %

10

26

47

83

12,0 %

31,3 %

56,6 %

100,0 %

80

61

88

229

34,9 %

26,6 %

38,4 %

100,0 %

55

87

61

203

27,1 %

42,9 %

30,0 %

100,0 %

333

405

648

1.386

24,0 %

29,2 %

46,8 %

100,0 %

Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16 Quelle: Eigene Darstellung

153


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Tabelle 33: Die Tonalität der Berichterstattung über die Großereignisse (nur berichtende redaktionelle Texte; n=820)

E1: Drei Länder­ chefs

E2: Statistik

E3: Tröglitz E4: Gemeinsame EU-Flüchtlings­ politik E5a: Beginn der „Flüchtlingswelle“

E5b: Heidenau

E5c: Merkel: Wir schaffen das E6: Grenzöffnung/ Grenzkontrollen E7: Obergrenzen und Transitzonen E8: Silvester­ ereignisse Anteile am Insge­ samt 154

Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual Anzahl prozentual

Beobachtend – neutral

Beobachtend – nicht neutral

Auktorial – neutral

Auktorial – nicht neutral

Summe

9

2

1

0

12

75,0 %

16,7 %

8,3 %

0,0 %

100,0 %

13

2

3

2

20

65,0 %

10,0 %

15,0 %

10,0 %

100,0 %

8

9

1

4

22

36,4 %

40,9 %

4,5 %

18,2 %

100,0 %

22

7

2

10

41

53,7 %

17,1 %

4,9 %

24,4 %

100,0 %

71

44

14

25

154

46,1 %

28,6 %

9,1 %

16,2 %

100,0 %

58

17

9

25

109

53,2 %

15,6 %

8,3 %

22,9 %

100,0 %

80

14

4

29

127

63,0 %

11,0 %

3,1 %

22,8 %

100,0 %

32

3

10

9

54

59,3 %

5,6 %

18,5 %

16,7 %

100,0 %

68

17

20

49

154

44,2 %

11,0 %

13,0 %

31,8 %

100,0 %

42

32

11

42

127

33,1 %

25,2 %

8,7 %

33,1 %

100,0 %

403

147

75

195

820

49,1 %

17,9 %

9,1 %

23,8 %

100,0 %

Datenbasis: Datenbank (FAZ, Welt, SZ) zu zehn Großereignissen 2015/16 Quelle: Eigene Darstellung


Autor

Jib.

Michael Stürmer

Datum, Zeitung, Seite, Überschrift

10.08.2015 FAZ Seite 8 Schein­ debatte

17.08.2015 Die Welt Seite 1 Zeitalter der Migration

S. 1: „Eine Zumutung für den Steuerzahler“ S. 4: „Echte Flüchtlinge wollen nur in Sicherheit leben“ S. 4: Wenn die Turnhalle zum Asylheim wird S. 5: Belgrad ist das Wartezimmer nach Europa S. 26: Und jetzt alle mitan­ packen 15.08.15, S. 30: Suche nach Standorten bringt Stadt an die Belastungsgrenze

S. 1: Im Juli 7.000 Asylanträge von Albanern Einstufung sicherer Herkunftsländer

Ereignis (Bericht), auf den sich dieser Meinungsbeitrag bezieht

Die aktuelle Völkerwanderung hat historisches Ausmaß (weitere Beispiele aus der Geschichte werden angeführt). Es ist nicht zu sagen und zu rechtfertigen, wann es zu viel und genug ist. Es existiert allerdings eine Grenze, ein Kipp-Punkt, der nicht überschritten werden sollte (sonst ist es zu spät). Es muss nach Ausgangsländern der Flüchtlinge unterschieden werden: Kriegsgebiete im Nahen Osten, (West)balkan, Mittelafrika.

Weiterhin steigende Asylanträge aus Balkanländern. Wichtiger wäre schnellere Bearbeitung der Anträge vor Verteilung der Antragsteller auf die Kommunen. Trotz Einstufung von Albanien, Montenegro und Kosovo als sichere Herkunftsländer kommen von dort viele Menschen. Nötig wäre intensivere Aufklärung in den Herkunftsstaaten über die (i. d. R. fehlende) Bleibeperspektive in D.

Explizite Argumentation

Wer die Energie wahrnimmt, welche die Menschen treibt, gewinnt eine Vorstellung der historischen Wucht, die da entfesselt ist. Was wir erleben, ist humanitärer und politischer Ernstfall. Wann ist genug genug? […] Ein finaler Status quo ist Wunschdenken. […] Was ist zu tun? Zuerst und vor allem gilt es zu begreifen, dass die neuen Völkerwanderungen weitergehen, unumkehrbar. Dann ist zu trennen nach Ausgangsländern […]. Der Westbalkan ist arm, aber nicht die Hölle. Anders steht es am Ostrand des Mittelmeers und in Teilen Mittelafrikas. Beseitigung der Ursachen ist ein frommer Wunsch.

[…] Scheindebatte. Denn viel wäre von so einer Entscheidung nicht zu erwarten. Auch aus den jetzt schon sicheren Herkunftsstaaten Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina steigt die Zahl der Asylanträge weiter. […] Und immer noch stellen Menschen aus der Region [Albanien, Montenegro, Kosovo] rund vierzig Prozent aller Anträge.

Schlüsselzitate aus dem Meinungsbeitrag

Universalistisch (Humanität, Menschenrechte); Widerspruch zur Pragmatik im Sinne innerdeutscher Zumutbarkeiten Modus: Räsonnement

Operative Kritik (gilt der Vollzugsebene) Utilitaristische Argumentation zugunsten der Asylberechtigten und zulasten der Zuwanderer Modus: appellativ

Implizite Begründungen (Ethik)

* Auswahlkriterien: Haltung der Zeitungen und Bandbreite der individuellen Auffassungen, Argumentationsweisen und Begründungen. Quelle: Eigene Darstellung

Analyse von 30 ausgewählten* Kommentaren aus den untersuchten Leitmedien

Tabelle 34:

Anhang

155


Klaus-Dieter Frankenberger

Heribert Prantl

Ulrich Clauss

17.08.2015 FAZ Seite 1 Zielland

17.08.2015 Süddeut­ sche Seite 4 Flüchtlinge: Das Jahr­ hundertProblem

18.08.2015 Die Welt Seite 1 Migration in Verantwor­ tung

156

S. 1: UN: Deutschland nimmt zu viele Flüchtlinge auf S. 4: „Wir haben es mit einem Notstand zu tun“ S. 4: Taschengeld für Flüchtlinge sorgt weiter für Streit S. 5: Panik treibt die Menschen ins Wasser S. 5: „Hygienepakete“ für Gestrandete in Griechenland

S.5: Von Fähren und Schleusern (Vortag: Über Asylunterkünfte, Registrierung, Herkunftsländer)

S.1. Merkel: Flüchtlinge werden uns mehr beschäftigen als Griechenland (Vortag: Diskussion in den Zielländern über falsche Anreize für WestbalkanFlüchtlinge)

Auch SPD-Politiker sehen allmählich die Realitäten und schrecken vor härteren Maßnahmen nicht mehr zurück. Befürwortung der Idee, Zahl der „sicheren Herkunftsländer“ auszuweiten. Die freiwilligen Helfer würden sich freuen, wenn weniger Menschen in die Unterkünfte kämen. Die, die da sind, müssen in den Kommunen alle gleich behandelt werden. Die Kritik an falschen Fluchtanreizen von Deutschland ist berechtigt. Deutschland muss seine Asylpolitik neu justieren.

Vorschläge der Politik greifen nur auf bereits getestete, nicht zielführende Mittel wie z. B. Taschengeldkürzungen. Hohe Flüchtlingszahlen auch Folge des „Raubtierkapitalismus“ und der geostrategischen Gewaltbereitschaft bei Interessenkonflikten. Deklarierung „sicherer“ Herkunftsländer ändert nicht die Fluchtursachen. Sinti und Roma haben auch auf dem Balkan keine Heimat, werden in ganz Europa nicht gern gesehen – auch für diese Gruppe gelten die Menschrechte.

Baldige Bekanntgabe neuer Prognosen; bisherige Zahl von 450.000 Anträgen dürfte weit übertroffen werden. Deutschland beliebtes Zielland für viele aus versch. Regionen. Verringerung des Zustroms durch versch. Maßnahmen denkbar: Einstufung sicherer Herkunftsländer, Bekämpfung von Fluchtursachen – wird nur langfristig Erfolg bringen. Wird viel Zeit und viel Geld kosten.

Es ist eine Migration in praktische Verantwortung für praktikable Lösungen. So schließen sich ganz im Sinne tätiger Hilfe für tatsächlich von Krieg und Verfolgung bedrohte Menschen jetzt sogar Spitzenpolitiker der SPD der Forderung an, die Definition des „sicheren Herkunftsstaats“ auf alle EU-Beitrittskandidaten anzuwenden. Diskussion darf übrigens nicht beim Balkan enden. Ist Afghanistan beispielsweise wirklich ein „unsicheres“ Herkunftsland, nachdem eine vom Westen militärisch gestützte Regierung dort installiert wurde? […] Auch die wachsende Kritik an „Fluchtanreizen“ für Wirtschaftsflüchtlinge gehört zur Transformation von gesinnungs- zu verantwortungsethischem Denken. Vor allem die immer zahlreicheren freiwilligen Helfer werden für diese Besinnung auf Notwendiges und Angemessenes dankbar sein.

Es geht hier nicht um das Schicksal von Banken, nicht um das Überleben des Euro; es geht um das Überleben von Millionen Menschen. Man wird das 21. Jahrhundert einmal daran messen, wie es mit den Flüchtlingen umgegangen ist […] Das ist eine gigantische Aufgabe, die von Politik und Wirtschaft ein radikales Umdenken verlangt. […] Flucht hat Ursachen – aber die Bekämpfung der Fluchtursachen ist zu einer Floskel geworden.

Eine Umwandlung von Taschengeld in Sachleistungen mag nur wenig abschreckend wirken, aber schon die Diskussion darüber verrät, wie groß das Problem ist und wie groß es aus Sicht der Behörden noch werden wird.

Güterabwägung nach Zumutbarkeitskriterien Utilitaristische Argumente sind jetzt besser als Menschenrechts-Prinzipien Legalismus als Durchsetzungsstrategie Modus: Kritik und Belehrung ohne Adressat

Normativuniversalistisch (Menschenrechte) Systemkritik am Kapitalismus Modus: Moralisch-appellatives Statement

Kassandra (= Warnung vor Trends) Opportunistische Argumente für Reduktion asylsuchender Flüchtlinge Modus: an Politik adressierte Kritik

Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien


Kum.

Andrea Seibel

Dirk Aschoff

19.08.2015 FAZ Seite 8 Wo ist die Grenze?

19.08.2015 Die Welt Seite 3 Sanierungs­ bedarf

22.08.2015 Bild-Zeitung Seite 7 800.000 können wir schaffen!

157

Bezugnahme: Ankündigung des Innenministeriums, dass in diesem Jahr mit 800.000 Asylanträgen in Deutschland gerechnet wird

S. 5: Mehr rechte Gewalt im Osten Deutschlands

S. 1: 2015 „bis zu 700.000“ Asylsuchende in Deutschland (Vortag: Rasche Zunahme Asylanträge; Einstufung von sicheren Herkunftsstaaten [Albanien, Montenegro, Kosovo])

800.000 Menschen sind 1 % der deutschen Bevölkerung, d. h. 1 Flüchtling in jedem 100-Einwohner-Dorf. Es gibt viele private Initiativen für Flüchtlingsaufnahme. Eine möglichst gleichmäßige Verteilung ist wichtig. Es gibt auch tolle Beispiele, doch diese Orte möchten aus Angst nicht genannt werden.

Die Ursache für rechte Gesinnung liegt in den „einfältigen und düsteren Zeiten der DDR“ und ihrer Lebensfremde. Ostdeutschland ist nach der Wende nur baulich, aber nicht mental saniert worden. Die Rückständigkeit der Ossis darf nicht zum Problem der Flüchtlinge werden.

Flüchtlingsstrom außergewöhnlich, wird sich nicht von selbst lösen. Diese Tatsache zu ignorieren ist ebenso fahrlässig wie Flüchtlingshass. Deutsche Bevölkerung wird nicht ewig so hilfsbereit bleiben. Regierung muss handeln und u. a. der Aufnahmebereitschaft Grenzen setzen.

„Bitte schreiben Sie den Namen unseres Dorfes nicht.“ Er hat Angst vor fremdenfeindlichen Übergriffen. Es macht mich traurig, dass man in Deutschland so denken muss! Denn sein Dorf beweist: Es geht!

Die Hälfte aller rassistisch motivierenden Gewalttaten wurden im vergangenen Jahr in Ostdeutschland registriert, obwohl die dortige Bevölkerung nur 17 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands ausmacht […]. Das entspricht einem Anstieg von 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr. […] Dass sich Teile der im wahren Sinne des Wortes zurückgebliebenen Ostdeutschen in ländlichen Regionen so schwer mit dem modernen Leben tun, hat etwas mit den einfältigen und düsteren Zeiten der DDR zu tun, deren Lebensfremde schließlich zu ihrem Untergang führte. […] Dass in manchen Gegenden […] zwar viele Häuser, aber weniger die Köpfe saniert wurden, sollte nicht das Problem der Flüchtlinge sein.

Wer […] noch immer der Meinung ist, alles werde sich schon irgendwie einpendeln und die deutsche Bevölkerung solle sich mal nicht so anstellen, handelt fahrlässig. Er „zündelt“ mindestens ebenso wie diejenigen, die vor lauter Notstand ihren Anstand verloren haben und Flüchtlingshass kultivieren. […] kommen die Regierungen […] nicht umhin, Grenzen der Aufnahmebereitschaft zu setzen – oder ganz neue Wege zu gehen. Einzelne Länder zu „sicheren Herkunftsstaaten“ zu erklären, ist da nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Rationalistische Begründung für ein humanitäres Gebot Modus: Optimistische Sicht (wir können das)

Kulturelle Hegemonie: Überlegenheit der West-Gesellschaft Abwertung der anderen als moralisch Rückständige Rhetorisches Statement Modus: Deklamation

Grundsatzkritik Wertekonflikt: Asylrecht versus Sozialverträglichkeit versus Wirtschaftsstandort Modus: aufklärend, kassandrisch, an Politik adressiert


Heribert Prantl

Ulf Poschardt

UZ

25.08.2015 Süddeut­ sche Seite 4 Ein Sicher­ heits- und Schutzab­ stand

25.08.2015 Die Welt Seite 1 Wider den Hass

27.08.,2015 Süddeut­ sche Seite 4 Dunkel­ deutschland

158

S. 1: „Deutschland hilft, wo Hilfe geboten ist“ S. 3: Örtlich betäubt

Gabriels Besuch in Heidenau S. 1: Sigmar Gabriel: Rechtsextremes „Pack“ hart bestrafen S.5: Unterwegs in der Kampfzone

S. 3: Im Quartier (Vortag: Fremdenfeindlichkeit und Übergriffe)

„Dunkeldeutschland“ wird seit den 1990er Jahren von Westdeutschen abwertend verwendet. Angesichts Gaucks eigener Historie ist das Wort wohl nicht zufällig gewählt: Gauck war lange Pastor im Rostocker Stadtteil Evershagen, als 1992 im Nachbarstattteil Lichtenhagen ein Wohnheim für ehemalige Vertragsarbeiter aus Vietnam angezündet wurde. Gauck versteht den Begriff als Fehlen von Empathie in der Flüchtlingskrise.

Gabriels Auftritt in Heidenau war nötig, aber in seiner Art eines Vizekanzlers nicht würdig. Der norwegische Sozialdemokrat Stoltenberg hat es nach den Ereignissen auf Utøya vorgemacht – ein ergreifendes Lied auf den Stolz einer freien, demokratischen Gesellschaft zu singen. Bevölkerung muss in Zusammenarbeit mit der Politik Konflikte in Sachsen lösen. Deutschland ist ein gastfreundliches Land – die Täter von Heidenau müssen bestraft werden.

Auch fremdenfeindliche Demonstranten haben ein Recht darauf, ihre Meinung kundzutun, solange gewaltfrei. Selbstbewusste Demokraten können auch Dumpfbacken aushalten. Traumatisierten Flüchtlingen sollte man Hass-Demos nicht zumuten. Anti-Flüchtlings-Demos vor Flüchtlingsheimen sollten nicht bewilligt werden.

Von „Dunkeldeutschland“ sprach der Bundespräsident, ein Wort, das er sich nicht ausgedacht hat. Bürger der alten Bundesrepublik führten den Begriff im Munde, und zwar immer dann, wenn sie das Bedürfnis verspürten, Kritik an den neuen Ländern zu üben […] Gauck meint damit das Fehlen von Empathie.

Merkel überlässt ihrem Vizekanzler das Feld, der dementsprechend verbal aufrüstet und dann nicht sonderlich souverän vor allem von „Mob“ und „Pack“ spricht. […] In der verbalen Entwürdigung der abstoßenden Nazi-Spießer rutscht die Exekutive den braunen Ängstlichen zivilisatorisch entgegen […]. Fatal ist im Nachgang zu den beschämenden Ausschreitungen das Fehlen einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Facebook-Aktivismus hilft wenig, wenn Flüchtlingskinder aus Angst vor entfesselnden Kleinbürgern schreien. […] Dass Millionen Menschen Deutschland als Idealziel ihrer Flucht verstehen, ist ein Kompliment. Die Mehrheit der Deutschen ist gastfreundlich und hilfsbereit.

Demonstrationsfreiheit ist grundsätzlich auch die Freiheit der Dumpfbacken; auch die dürfen ihre Parolen hochhalten. […] Pöbeleien gegen und Angriffe auf Flüchtlinge sind nicht nur unglaublich ungezogen, sondern bösartig und kriminell. […] Demokratie kann aggressive Demos zur Not aushalten: Flüchtlinge, gerade aus Not und Hölle entkommen, können es nicht. Daher: keine Anti-Flüchtlings-Demos vor Flüchtlingsheimen. Die Behörden dürfen sie nicht genehmigen.

Verständnis bzw. Verteidigung eines Schlagwortes aus Sicht des „hellen“ Deutschlands Modus: Parteiergreifende Argumentation im Sinn der westlichen Werte

Zivilcourage & bürgerschaftliche (Eigen-) Verantwortung: nicht alles an Politik delegieren Die politische Elite hat (hätte) Vorbildfunktion Glaube an die gute und richtige Sache Modus: moralischer Appell ohne Adressat

Grundrechtliche Argumentation der praktischen Vernunft Primat der Mitmenschlichkeit Modus: analytisch, an Behörden adressiert

Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien


Béla Ander

Reinhard Müller

Stephan Aust

27.08.2015 Bild-Zeitung Seite 2 Klare Worte, Jetzt Taten!

27.08.2015 FAZ Seite 1 Früher Ge­ sicht zeigen

27.08.2015 Die Welt Seite 1 Hell und dunkel

Ereignisse von Heidenau S.1: Merkel und Gauck setzen ein Zeichen S. 4: „Wir werden denen sagen: Ihr repräsentiert uns nicht“ S. 4: Merkels Politikstil stößt an Grenzen S. 5: Breite Front gegen Flüchtlinge S. 12: Aufstand der Anständigen

S. 1: Gauck: Es gibt ein helles Deutschland und Dunkeldeutschland S. 3: Pack ehrt sich, Pack verklärt sich (Vortag: Heidenau und Gewalt gegen Flüchtlinge)

S. 2 „Merkel trotzt den HassParolen“ Anlass: Heidenau und Fremdenfeindlichkeit

Asylparagraf des GG funktioniert für die Zuwanderung in Deutschland nicht Derzeit sind die zuständigen Institutionen überfordert. Der Asylparagraf ist „heilig“, jedoch nur für Kriegsflüchtlinge, nicht für Armutsflüchtlinge. Die Politik müsste die Probleme regeln und angestrebte Lösungen (wie mit 800.000 Flüchtlingen umgehen?) erklären, statt zu jammern.

Gewalt und Fremdenhass sind kategorisch abzulehnen und auch ohne öffentliches Drängen durch den Rechtsstaat zu sanktionieren. Politiker sollten mehr Mut zeigen; sie sollten ihren Bürgern vorher erklären, was auf sie zukommt. Große Hilfsbereitschaft der Bürger sollte nicht verspielt werden. Medien inszenieren das Thema als Show – ist kontraproduktiv.

Kanzlerin hat in Heidenau Gesicht gegen Fremdenfeindlichkeit gezeigt – symbolische Bedeutung. Striktes Vorgehen des Rechtsstaates gegen „Brandstifter“ muss folgen. Flüchtlinge suchen zu Recht Schutz in unserem Land. Den müssen wir geben.

In Wirklichkeit rollt eine Völkerwanderung an, die mit dem Asylparagrafen nicht geregelt werden kann. Denn kurz nach der schönen Theorie kommt die bittere Praxis. Und die besteht aus überforderten Asylverfahren, Legionen von Anwälten […], Platzmangel in Städten und Gemeinden. […] Der […] Asylparagraf ist als Regelung für Einwanderung offenkundig ungeeignet. […] Es gehört zu den wichtigsten humanitären Grundsätzen, politisch Verfolgten Schutz und Asyl zu gewähren. Auch Kriegsflüchtlingen etwa aus Syrien muss schnell und umfassend geholfen werden. Aber eine globale Völkerwanderung aus den ärmeren in die reicheren Regionen der Welt kann damit nicht geregelt werden. […] Man kann ein Grundrecht auch dadurch zerstören, dass man es überdehnt.

Kam die Kanzlerin zu spät? Gewiss, symbolische Auftritte sind wichtig. […] Die Politiker jedoch, die nun im Tagestakt Heidenau besuchen, sind dem Wohl des deutschen Volkes verpflichtet. Dieses Volk zeigt sich hunderttausendfach hilfsbereit, während im Lichtkegel der Talkshows nur ein Volksschauspieler steht. Das Volk darf erwarten, dass ihm seine Vertreter nach bestem Wissen und Gewissen erklären, was es zu erwarten hat und warum. […] Statt Nachsorge zu betreiben, sollten die Politiker beim nächsten Mal besser noch vor den Asylbewerbern da sein – oder wenigstens vorn in den Flüchtlingsbussen sitzen.

Und sie hat klare, erstaunliche Worte gefunden. Die Kanzlerinnen-Aufforderung zum Handeln, „wo rechtlich und menschlich Hilfe geboten ist“, ist ein starker Appell an alle Deutsche, sich für Flüchtlinge zu engagieren. […] Jetzt müssen den eindeutigen Bekenntnissen der Bundeskanzlerin Taten folgen. Zum Wohle der Menschen in unserem Land. Und derer, die hier zu Recht Schutz und Zuflucht suchen.

Pragmatische Vorschläge zur Problemlösung Kritik an universalistischen und naturrechtlichen Begründungen Modus: Kritik und Belehrung

Prinzip der politischen Verantwortung (auch am Aufkommen von Fremdenhass) Medienkritik: Dysfunktion des Fernsehens Modus: an Politik adressiert, appellativ

Moralischer Legalismus: Die Regierung macht es richtig Modus: Support der Regierungslinie und Mahnung (Taten)

Anhang

159


Florian Hassel

Alexander von Schönburg

Klaus-Dieter Frankenberger

28.08.2015 Bild-Zeitung Seite 2 Der Tod der Flüchtlinge mahnt uns alle

29.08.2015 FAZ Seite 1 Tragödien

160

28.08.2015 Süddeut­ sche Seite 4 Ein zu lukratives Geschäft

S. 1 27.08.15: „Entsetzliche Nachricht“ vom Tod vieler Flüchtlinge überschattet Wiener Gipfel S. 1: Mutmaßliche Schlepper in Ungarn festgenommen S. 3: Das schnelle Geld auf der Balkanroute S. 19: Die gefährlichste Reiseroute der Welt

S. 2: „Europa kann nicht länger wegsehen“ Bezugnahme: Sitzungen der EU-Länder bzgl. der Asylpolitik und Fund der toten Flüchtlinge in Lkw

S. 1: Flüchtlinge sterben im Lastwagen S. 2: Auf der Autobahn des Todes S. 2: Kurze Hosen und lange Gesichter

Schleuser sind skrupellos, ihnen muss „das Handwerk gelegt werden“. Es gibt keine Zauberformel, um die Krise zu lösen. Es muss ein Kompromiss zwischen mehreren Problemen gefunden werden: Schleuser bekämpfen, Flüchtlinge menschlich behandeln und gleichzeitig gegen Armutsmigration vorgehen. Bürger und Politiker sollten besonnen bleiben.

Unfassbar: tote Flüchtlinge in Schleuser-Lkw. Tragödie wegen örtlicher Nähe nicht zu ignorieren. Jetzt müssen Politiker handeln. Bisher zu zaghaft und: Sie debattieren zu viel.

Politiker wissen sich nicht zu helfen, um den Schlepperbanden das Handwerk zu legen. Helfen würde nur eine im Namen der Humanität angezeigte Grenzöffnung Europas – aber leider ein unrealistische Idee.

Es ist entsetzlich: 71 Menschen, mutmaßlich Syrer, sind in einem Kühlwagen erstickt; sie hatten sich Schleusern anvertraut, die sie nach Österreich oder nach Deutschland bringen sollten. Vor der libyschen Küste sind wieder Schiffe gekentert; sie waren vollbesetzt mit Menschen, die (zunächst) nach Italien wollten. Von 200 Ertrunkenen ist die Rede. […] Wir sind entsetzt, und wir sind empört über die Skrupellosigkeit von Leuten, die die Not von Menschen ausnutzen. […] Bürger und Politiker müssen Anstand bewahren, sie dürfen sich nicht überwältigen lassen. Doch machen wir uns nichts vor: Die Vorstellung, der halbe Nahe Osten und Teile Afrikas siedeln um nach Westeuropa, lässt schon ein Gefühl der Bedrückung zurück.

Will uns das Schicksal damit etwas sagen? Vielleicht: Hört auf, in Kommissionen zu debattieren und zu taktieren. Einigt Euch! Jetzt! Handelt! […] Täglich sterben Flüchtlinge im Mittelmeer. Und jetzt auch bei uns.

Schockierte Politiker kündigten nach der Entdeckung der Toten ein schärferes Vorgehen gegen Schlepper an – ein nicht nur in Österreich übliches und ebenso verständliches wie unrealistisches Versprechen. […] Wer Schleppern wirklich das Handwerk legen wollte, müsste ihnen die Geschäftsgrundlage entziehen, also die Grenzen Europas für Flüchtlinge öffnen. Dazu sind europäische Politiker aus naheliegenden Gründen nicht bereit.

Opportunitätsargumente Ohnmacht als Thema Modus: Emo­ tionalisierend & appellativ ohne Adressat

Voluntaristische Argumente gegen handlungsschwache Regierungen Kritik an EU Modus: Appellativ, rhetorischer Adressat: EURegierungen

Ideologiekritik gegenüber Politik (die Politiker tun nicht, was sie sagen) Modus: Spekulativ argumentierendes Statement

Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien


Stefan Braun

Jasper von Altenbockum

Cathrin Kalweit

Julian Reichelt

01.09.2015 Süddeut­ sche Seite 4 Merkels Chefsache

01.09.2015 FAZ Seite 1 Wir schaffen das

01.09.2015 Süddeut­ sche Seite 4 Auf Kosten der Nach­ barn

04.09.2015 Bild-Zeitung Seite 2 Die syrische Katastrophe

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S. 2: „Weltweite Trauer um toten Aylan“ (Vortag: Debatte über Rolle des Westens im Syrien-­ Konflikt)

S. 7: Europa der kleinen Schritte S.6: Budapest, Wien und endlich München

S. 1: Merkel: Verantwortung für Flüchtlinge teilen („Wir schaffen das“) S. 6: Große Herausforderung – kleine Lösungen

S. 1: „Deutschland ist ein Land der Hoffnung“ S. 3: In einem anderen Land S. 6: Budapest, Wien und endlich München (Kontext: Begegnung von Merkel mit palästinensischen Flüchtlingsmädchen)

Veröffentlichung des Fotos vom ertrunkenen Flüchtlingsjungen Aylan erschüttert den Westen. Bombardement, Folter und Vergasen von Kindern durch Diktator Assad seit vier Jahren. Westliche Kampfjets im Kampf gegen ISIS, gegen Assad wird aber nichts unternommen.

Jeder Staat handelt derzeit nur nach seinen eigenen Regeln. Überlastung der Polizei in Budapest und Einführung von Grenzkontrollen durch die Regierung in Wien.

Merkel spricht Helfern Mut zu und gleichzeitig gegen Fremdenfeindlichkeit. Koalition muss beim Thema Asylpolitik zusammenfinden, Probleme lösen und Antworten Richtung Europa geben. Bund und Länder müssen insb. das Aufnahmeverfahren in den Griff bekommen und die Kommunen entlasten. Andere EU-Länder müssen andere Wege gehen als Merkel, aus innenpoli­ tischen Gründen. Deutschland löst die Erwartungen nicht ein, die Nachbarstaaten an D. hatten – D. erfüllt Vorbildrolle nicht.

Flüchtlingskrise ist jetzt Chefsache der Kanzlerin. Man muss Zeichen setzen gegen Hass, Gewalttätigkeit, Ausländerfeindlichkeit. Bekenntnis der Kanzlerin gegen Fremden­feindlichkeit.

Das eigentliche Totalversagen des Westens liegt aber darin, dass wir das unermessliche Leid syrischer Kinder erst wahrnehmen […], seit ihre Körper im wahrsten und bittersten Sinne des Wortes an unsere Stände gespült werden. […] Seine Eltern sind mit ihm nur in dieses Boot gestiegen, weil wir nie den Mut gefunden haben, ihn und unsere Werte zu verteidigen.

Die EU ist derzeit ein politischer Verschiebebahnhof, auf dem jeder Staat seine eigenen Regeln macht. […] Die Lage ist so absurd, wie die europäische Asylpolitik absurd ist.

Den vielen Beamten, Sozialarbeitern und Ehrenamtlichen, die seit Monaten […] Einwanderer versorgen, wird es eine Genugtuung gewesen sein, dass ihnen die Kanzlerin am Montag Mut zusprach und beteuerte: „Wir schaffen das.“ […] Wir schaffen das, werden sich […] die Städte sagen. Aber ob es auch die Koalition schafft? […] Sie sollten sich lieber den sattsam bekannten Schwachstellen der Asylpolitik widmen. Auch von Merkel gab es dazu allerdings nichts Neues. Die größte dieser Schwachstellen ist nach wie vor die Erstaufnahme. […] Der Zaun, den Ungarn zu Serbien errichtet hat, ist […] zum Symbol geworden […] für die Frage an Deutschland: Wenn nicht einmal die Deutschen zurechtkommen, warum sollten dann wir? Solange die Deutschen darauf keine Antwort haben, wird es aus der EU heißen: Ihr schafft das, wir nicht.

Bitter nötig, weil am Ende eben doch entscheidend ist, welche Botschaft eine Kanzlerin angesichts von Hass, Gewalt, Ausländerfeindlichkeit aussendet.

Fundamentalkritik an westl. Politik Appell für Schutz westl. Werte Modus: Predigt

Keine normativen Bezüge Modus: Klagelied

Kritisch-ratio­ nal Bewertung des MerkelSatzes als im Prinzip richtig Einordnung des Satzes i. S. einer Regierungskritik Modus: Ideologiekritik

Politik als symbolisches Handeln wird i. S. Merkels bekräftigt Modus: Affirmatives Statement


Mü.

Ulf Poschardt

04.09.2015 Die Welt Seite 1 Mut und Selbstver­ trauen

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04.09.2015 FAZ Seite 8 Flexibel in der Krise

S. 1: Kriegsflüchtlinge willkommen

S. 1: Merkel und Hollande fordern verbindliche Flüchtlingsquoten S. 1: Höchste Einwanderung in Deutschland seit 1992 S. 2: Arbeitskräfte rufen, Flüchtlinge willkommen heißen

Deutschland ist durch die letzten Jahre und die richtigen politischen Reformen selbstbewusst geworden und gerüstet für die Zukunft. Voraussetzung für Integration ist eine starke Wirtschaft. Die Große Koalition muss ihre wirtschaftsfeindlichen Reformen zurücknehmen. Bürokratie muss abgebaut und europäi­sche Solidarität eingefordert werden.

Deutschlands Verfassung ist stark. Wenn es sein muss (bzw. von höchster Stelle so gewollt ist), kann Politik flexibel sein – siehe Atomausstieg. Flüchtlingslage als Anlass zur Reduzierung von Bürokratie vernünftig.

Die Flüchtlinge, die diese Woche europaweit „Deutschland, Deutschland“ rufen, verwechseln uns mit ihrer Zukunft – und das ist ein Kompliment, ein Geschenk und eine Verpflichtung. […] Dazu gehören aktuell ein leistungsfähiges Einwanderungsgesetz, weniger Bürokratie und zügige Abschiebung gleichermaßen. Zudem muss mehr europäische Solidarität bei den Migrationslasten durchgesetzt werden. Integrations- und willkommensfähig bleibt das Land nur, wenn die Konjunktur brummt, die Bildungs- und Sozialisationsinstanzen gestärkt und die wirtschaftsfeindlichen Anti-Reformen der GroKo zurückgedreht werden.

Die Flüchtlingskrise soll jetzt Anlass für Reformen sein, um das Land flexibler zu machen. Tatsächlich kann es nie schaden, Auswüchse von Bürokratismus einzudämmen – die übrigens nicht selten via Brüssel das deutsche Recht beglücken. Doch zeigt etwa der Atomausstieg, per Merkel-Befehl nahezu über Nacht vollzogen, dass Deutschland bei Bedarf sehr beweglich sein kann. […] Doch bestimmte Standards sind nicht verhandelbar: Hier darf niemand menschenunwürdig behandelt werden. Das geht aber nur, wenn das Land nicht wegen Überlastung zusammenbricht.

Neoliberale Position, d. h. Primat der mögl. ungebremsten Wirtschaft Modus: Weltanschauliche Belehrung

Normativ: Grundrechte und Menschenrechte sind verbindlich Politik soll die Grundwerte sichern Konsequen­ zua­lismus: Im Zweifel Zustrom begrenzen

Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien


Reinhard Müller

Stephan Kornelius

14.09.2015 FAZ Seite 1 Heimatnah helfen

14.09.2015 Süddeut­ sche Seite 4 Wir schaffen es doch nicht

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S. 1: Deutschland führt Grenzkontrollen ein S. 3: Sorgendämmerung

S. 1: Berlin führt Grenzkontrollen ein

Uneingeschränkte Humanität ist im Alleingang nicht möglich. Die in den EU-Ländern erkannte Doppelmoral – Menschenrechte einfordern, aber selbstsüchtig Flüchtlinge aussperren – trifft jetzt auch auf Deutschland zu. Die propagierte Willkommenskultur erweist sich als Trugbild. Bundesregierung ist an ihrer Selbstüberschätzung gescheitert.

Flüchtlingsursachen sollten in Zukunft in der Heimat der F. bekämpft werden, notfalls auch durch milit. Intervention in Syrien, weil IS-Terroristen mit Gewalt gegen Menschen vorgehen. Inland: Bundeswehreinsätze sind zwar nur ausnahmsweise bei schweren Unglücksfällen und Naturkatastrophen vorgesehen. Die Flüchtlingslage erfordert Überprüfung dieses Prinzips. Finanzpolitiker dürfen die Flüchtlingskrise nicht dafür nutzen, die Schuldenbremse einstweilen zu vergessen.

Deutschland hat verstanden, es wird nicht im Alleingang die Flüchtlingspolitik der EU revolutionieren können. […] Der Zumutungs-Darwinismus hat inzwischen auch Deutschland erfasst. Die für Europa längst diagnostizierte Doppelmoral hatte das Land ergriffen, das mit seiner Willkommenskultur ein Trugbild in den vielen Flüchtlingslagern […] schuf. […] So spektakulär musste Merkel ihre Politik noch nie korrigieren. Die deutsche Politik ist gescheitert an dem eklatanten Widerspruch zwischen der moralischen (und rechtlichen) Verpflichtung, die jedem Kriegsflüchtling Asyl zusteht, und der schieren Größe des Problems. Sie ist gescheitert an der eigenen Selbstüberschätzung und der europäischen Unbeweglichkeit. […] Das ist die harte Lektion der Flüchtlingstragödie: Herz und Verstand lassen sich nicht mehr in Einklang bringen.

Geht es um die Bekämpfung der Fluchtursachen, heißt es aber sofort, die Lage sei zu komplex. Was ja auch stimmt. […] Nur das Argument, eine Intervention mache alles nur noch schlimmer, zieht irgendwann nicht mehr. […] Heimatnah muss Schutz gewährt und Hilfe geleistet werden – und notfalls robust durchgesetzt werden. Wer Menschen mit Gewalt vertreibt und verschleppt, gegen den darf auch Gewalt eingesetzt werden – nicht aber gegen seine schutzsuchenden Opfer. […] [M]uss die Bundeswehr bald zum Schutz von Unterkünften eingesetzt werden? […] Eigentlich dürfen Streitkräfte im Inneren zur Amtshilfe nur unter strengen Voraussetzungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung oder zur Hilfe in einem schweren Unglücksfall oder bei einer Naturkatastrophe eingesetzt werden. Oder ist jetzt alles egal? Not kennt schließlich kein Gebot. […] Aber das Flüchtlingsdrama ist keine Naturkatastrophe. Kritik der Politik nach Maßgabe menschenrechtlicher Prinzipien Idealist. Idee der Einheit von „Herz und Verstand“ Modus: Klagelied

Utilitaristische Argumentation zur Begründung eines militärischen Einsatzes in Syrien zur Überprüfung des Einsatzverbots der Streitkräfte im Inland (hier: Schutz von Unterkünften) Modus: Räsonnement ohne Adressat


Thomas Schmidt

K.F.

16.09.2015 FAZ Seite 8 Ein Fall für die Armee?

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15.09.2015 Die Welt Seite 1 Alles wird anders

S. 2: Bundeswehr will mehr tun (indirekt Bezug auf FAZKommentar vom 14.09. von Reinhard Müller)

S. 3: Die Grenzen sind zurück (Leitartikel) S. 4: „Wie soll die Polizei das alles schaffen?“ Impressionen von der Grenze zu Österreich S. 4: Atempause für die Politik S. 5: Protokoll aus dem Chaos S. 5: CDU bereit für ein neues Einwanderungsgesetz S. 7: Tausende wollen noch schnell in die EU S. 7: Auf in das Land von Franz Beckenbauer

Die Bundeswehr könnte bei der Organisation der Asylanträge behilflich sein, denn sie verfügt über entsprechende Kenntnisse. Flüchtlinge sollten schon bei ihrer Registrierung einen Asylantrag stellen können, nicht erst später in den Kommunen. Nur wer ein dauerhaftes Bleiberecht bekommt, sollte zu den Kommunen gelangen. Vorwurf an Länder, die BundeswehrHilfe ablehnen, aber Zuständigkeiten an Bund und Kommunen delegieren.

Deutschland wollte Gutes tun und ist derzeit überfordert. Insgeheime Schadenfreude der Regierungen einiger EU-Länder. Deutschland bereitet sich auf Aufnahme von 800.000 bis 1 Mio. Menschen vor. Demgegenüber versucht EU-Kommis­ sionschef Juncker, 120.000 Flüchtlinge in der gesamten EU unterzubringen. Flüchtlingsdruck auf Europa großes Kompliment – und großes Problem. Könnte Europa tiefgreifend verändern: Kultur, Zusammensetzung und das, was EU außen- und entwicklungspolitisch leisten muss. Diese Aufgabe sollte offen und ohne Angst vor den Nationalromantikern diskutiert und gestaltet werden.

Die Erstaufnahme der Flüchtlinge ist nicht in den Griff zu bekommen. Durch eine Vereinfachung wäre viel gewonnen. So käme nur in die Kommunen, wer tatsächlich ein dauerhaftes Bleiberecht hätte. Aber wie? Es wäre viel erreicht, wenn Asylbewerber schon bei ihrer Registrierung ihren Asylantrag stellen könnten. […] Grund dafür sind „Kleinigkeiten“ wie die Verteilung der Flüchtlinge in Deutschland oder eine angemessene Gesundheitsuntersuchung. In beiden Fällen könnte die Bundeswehr eine große Hilfe sein. Sie hat die Kapazität für eine Logistik, die humanitäre Einsätze im Ausland verlangen […].

Yes we can, sagte die Bundeskanzlerin: Hunderttausende von Flüchtlingen – kein Problem für dieses wohl bestellte Land. Nein, ganz so einfach ist es nicht, ergänzte der eben noch recht schweigsame Innenminister de Maizière und führte Grenzkontrollen wieder ein. […] Was die Bundeskanzlerin in ungewohnter Unbekümmertheit gesagt hat, wurde von Hunderttausenden Flüchtlingen als kollektive Einladung verstanden. Nun schiebt die deutsche Politik eine kleine Korrektur nach – nicht alle sind eingeladen, und nicht alle nach Deutschland.

Operative Kritik verbunden mit Belehrungen, wie man es besser machen soll Modus: Belehrungen im Konjunktiv. An Politik adressiert

Vernunftsglaube: Problem­­einsicht und -lösungskraft sind in D. stark genug Die EU kann von Deutschland lernen Modus: Optimistisches Statement

Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien


Martin Greive

Stefan Locke

Die Welt 17.09.2015 Seite 1 Optimis­ mus-Ökono­ mie

17.09.2015 FAZ Seite 1 Bösewichte im Septem­ bermärchen

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Keine tagesaktuelle Nachricht (Vortag: Umgang mit Rechtsextremismus und Unterschiede zwischen West und Ost)

S. 4: Flüchtlingsstrom schiebt deutsche Wirtschaft an

Es ist billig, über Unterschiede bzgl. Rechtsextremismus zwischen West- und Ostdeutschland zu diskutieren. Der Osten mag ein größeres Problem damit haben, was jedoch nicht bedeutet, dass der Westen keins hat. Viele der Rechtsextremen im Osten sind in der Zeit der BRD geboren. Fremdenangst v. a. im Osten, weil dort viele Menschen Angst haben, noch tiefer zu sinken – wer in den letzten 25 Jahren konnte, hat den Osten verlassen. Die westdeutschen Ministerpräsidenten lenken von eigenen Problemen ab, wenn sie die ostdeutschen Bundesländer kritisieren.

Ökonomen haben in der Bundesregierung kein hohes Ansehen. In der Flüchtlingskrise ist dies anders: Statt verheerende Zustände zu kritisieren, sehen Ökonomen die Chancen für Deutschland: Bekämpfung des Fachkräftemangels, Wirtschaftswachstum. Der unaufgeregte ökonomische Blick kann Debatte versachlichen: Flüchtlinge nehmen keine Arbeitsplätze weg, sondern finanzieren deutsche Renten. Politik muss nun v. a. über notwendige Qualifikationen der Flüchtlinge reden. Politik und Gesellschaft sollten auf die Ökonomen hören.

Abgesehen, davon, dass Gastarbeiter recht lange warten mussten, bis sie zu diesem westdeutschen „Wir“ gehören durften, müssen sich auch die Ostdeutschen durch solche Äußerungen wie Fremde im eigenen Land behandelt fühlen. Ihnen wird eine quasi genetische Anfälligkeit für Rechtsextremismus unterstellt. […] Die Desoxyribonukleinsäure der Täter, die Anschläge auf Asylbewerber im Westen verüben, scheint dagegen kein deutsches Wässerchen zu trüben. […] Die Schläger von Heidenau waren zum Großteil junge Männer, die nicht in der DDR, sondern in der Bundesrepublik Deutschland geboren und aufgewachsen sind. […] Asylbewerber sind in dieser Welt die Eindringlinge, denen mehr Anerkennung und Aufmerksamkeit geschenkt wird als den Ostdeutschen, die Angst vor weiterem Abstieg und Wut auf Politiker wecken. Das greift die NPD gerne auf. […] Erfolg haben die Rechtsextremen auch, nicht obwohl, sondern gerade weil es im Osten kaum Ausländer gibt. Nur so lassen sich Ängste schüren.

Für die Wirtschaftswissenschaft ist klar: Steuert die Politik die Einwanderung klug, sind die Flüchtlinge ein Segen für die alternde deutsche Gesellschaft. Nun muss diese Botschaft in die Gesellschaft durchsickern. Die Flüchtlingsdebatte ist emotional aufgeladen wie kein anderes Thema.

Ideologiekritik an der westdeutschen Haltung Psychosoziale Deutung des Fremdenhasses Modus: Verstehende Analyse, diskursiv

Ökonomie als Helfer und Dienstleister der Politik Opportunistisch: Politik soll Flüchtlinge unter arbeitsmarktpolitischer Perspektive als Gewinn erkennen Instrumentelle Argumente ersetzen menschenrechtliche Modus: Thetisch und reklamierend


Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen

Summen bei Prozentangaben, die von 100 % abweichen, sind, falls nicht anders angegeben, auf Rundungsfehler zurückzuführen. Abbildung 1:

Gesamtjahresübersicht 2015 aller Beiträge auf Tagesschau.de und Spiegel Online.......18

Abbildung 2:

Berichterstattung über Vorgänge zum Thema Flüchtlinge/Asylsuchende: Tonalität der Berichte.............................................................................................. 46

Abbildung 3:

„Willkommenskultur“ in Deutschland........................................................................54

Abbildung 4:

Häufigkeiten der Berichte zum Thema Willkommenskultur in 85 Lokal- und Regionalzeitungen.......................................................................... 84

Abbildung 5: (a)-(h): „Willkommenskultur“ und „Integration“ im Berichterstattungskontext (Textmining-Analysen)............................................................................................. 88

166

Abbildung 6:

Die Parteien in den Berichten zur Willkommenskultur................................................. 91

Abbildung 7:

Monologe – nur eine Partei kommt zu Wort................................................................93

Abbildung 8:

Dialoge – zwei Parteien kommen zu Wort................................................................. 94

Abbildung 9:

Diskurs – drei Parteien kommen zu Wort...................................................................95

Tabelle 1:

Die für die Meinungsbildung als relevant identifizierten Großereignisse 2015 und ihre Codierung................................................................... 21

Tabelle 2:

Anzahl der Beiträge je Zeitung zu den Ereignisthemen betreffend Flüchtlinge 2015/16................................................................................ 26

Tabelle 3:

Umfang der Beiträge je Zeitung (Anzahl Zeichen) zu den Ereignisthemen.....................27

Tabelle 4:

Anzahl der Beiträge je Ereignisphase in den drei Zeitungen zu den Ereignisthemen..... 28

Tabelle 5:

Die Darstellungsformen aller redaktionellen Beiträge zu den Ereignisthemen..............29

Tabelle 6:

Akteure/Sprecher (A/S) in den Texten nach Darstellungsformen zu den Ereignisthemen: Häufigkeiten und Anteile......................................................30

Tabelle 7:

Anzahl der Akteure/Sprecher (n=9.216) in den Berichten zu den Ereignisthemen je Zeitung............................................................................. 31

Tabelle 8:

Gender der Akteure/Sprecher (n=3.308) in den Berichten zu den Ereignisthemen je Zeitung.............................................................................32

Tabelle 9:

Zuständigkeit der Akteure/Sprecher (n=3.308) in den Berichten über die Ereignisthemen je Zeitung...........................................................................33

Tabelle 10:

Akteure/Sprecher des Bereichs „Medien” (n=132) in den Berichten über die Ereignisthemen je Zeitung...........................................................................34

Tabelle 11:

„Einzelpersonen“ (n=298) in den Berichten über die Ereignisthemen je Zeitung...........36

Tabelle 12:

Akteure/Sprecher des Zuständigkeitsbereichs „Politik” (n=2.068) in den Berichten über die Ereignisthemen je Zeitung...........................................................................38

Tabelle 13:

Akteure/Sprecher von Interessenverbänden (n=100) in den Berichten über die Ereignisthemen je Zeitung...........................................................................39


Anhang

Tabelle 14:

Parteizugehörigkeit der Akteure/Sprecher (n=3.308) in den Berichten über die Ereignisthemen je Zeitung.......................................................................... 40

Tabelle 15:

Anzahl Beiträge, die über Konflikte oder Meinungsverschiedenheiten (MV) zu den Ereignisthemen berichten (n=1.386).............................................................. 42

Tabelle 16:

Akteure/Sprecher in Berichten über Konflikte oder Meinungsverschiedenheiten zu den Ereignisthemen (n=1.932 Akteure).................................................................43

Tabelle 17:

Akteure/Sprecher des Bereichs „Politik” in Berichten über Konflikte oder Meinungsverschiedenheiten (MV) (n=1.340 Akteure)......................................... 44

Tabelle 18:

Akteure/Sprecher des Bereichs „Politik” in Berichten über Konflikte oder Meinungsverschiedenheiten nach Parteizugehörigkeit (n=795 Akteure)...............45

Tabelle 19:

Attribuierung bzw. Tonalität der Berichte je Zeitung (n=820).......................................47

Tabelle 20:

Attribuierung bzw. Tonalität in Berichten nach politischen Parteien (Akteure/Sprecher, n=880). Jede Kategorie 100 %..................................................... 48

Tabelle 21:

Attribuierung bzw. Tonalität in Berichten nach politischen Parteien (Akteure/Sprecher, n=880). Jede Partei 100 %...........................................................49

Tabelle 22:

Gender der Quellen/Akteure/Sprecher (n=3.308) in den berichtenden Texten............ 119

Tabelle 23:

Übersicht über die markanten Vorgänge während der Hochphase des Flüchtlingsthemas 2015 ................................................................................... 121

Tabelle 24:

Kommentare in vier meinungsführenden Zeitungen während der Hochphase des Flüchtlingsthemas (27. Juli bis 4. Oktober 2015)................................................. 122

Tabelle 25:

Meinungsbeiträge zum Thema vor (blau unterlegt) und nach (grau unterlegt) der Hochphase des Flüchtlingsthemas.................................................................... 126

Tabelle 26:

Kommentare – Anzahl Akteure/Sprecher vor und nach der Hochphase des Flüchtlingsthemas........................................................................................... 127

Tabelle 27:

Die Akteurs- bzw. Sprecherbereiche vor (blau, n=57) und nach (schwarz, n=257) der Hochphase des Flüchtlingsthemas................................... 129

Tabelle 28:

Die Darstellungsformen in den redaktionellen Texten über die Großereignisse des Flüchtlingsthemas (n=1.687 Texte)............................................ 148

Tabelle 29:

Die Zuständigkeitsbereiche der Akteure/Sprecher in den berichtenden Texten im Überblick (n=3.308 Akteure).................................................................... 149

Tabelle 30:

Die in den berichtenden Texten genannten Quellen/Akteure/Sprecher (n=3.308 Akteure/Sprecher)................................................................................... 150

Tabelle 31:

Parteizugehörigkeit der Quellen/Akteure/Sprecher in den berichtenden Texten (n=3.308)..................................................................... 152

Tabelle 32:

Thematisierung von Konflikten und Meinungsverschiedenheiten in den berichtenden Texten (n=1.386 Texte)............................................................. 153

Tabelle 33:

Die Tonalität der Berichterstattung über die Großereignisse (nur berichtende redaktionelle Texte; n=820).......................................................... 154

Tabelle 34:

Analyse von 30 ausgewählten Kommentaren aus den untersuchten Leitmedien......... 155

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Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Literatur

Ackermann, Ulrike (Hg.) (2016): Freiheitsindex Deutschland 2016. Schwerpunkt Westlicher Lebensstil. John Stuart Mill Institut. Frankfurt/Main. Ahlheim, Klaus/Bardo Heger (2000): Der unbequeme Fremde. Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – empirische Befunde. Schwalbach/Taunus. Arlt, Dorothee/Jens Wolling (2016): The Refugees: Threatening or Beneficial? Exploring the Effects of Positive and Negative Attitudes and Communication on Hostile Media Perceptions. Global Media Journal, 6(1): 1-21. Bade, Klaus J. (2016): Von Unworten zu Untaten. Kulturängste, Populismus und politische Feindbilder in der deutschen Migrations- und Asyldiskussion zwischen „Gastarbeiterfrage“ und „Flüchtlingskrise“. IMISBeiträge 48: 35-70. Bähr, Julia (2015): Wer stellt die Mehrheit?, FAZ.net (abgerufen 12.07.2015). Bauman, Zygmunt (2016): Die Angst vor dem andern. Ein Essay über Migration und Panikmache. Berlin. Bennett, W. Lance (1990): Toward a Theory of Press-State Relations in the United States. Journal of Communi­ cation 2: 103-125. Berger, Peter L./Thomas Luckmann (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/ Main. Berger, Ulrich/Christoph Stein (2005): Der unaufhaltsame Niedergang des Westens. Von den Folgen oder Ursachen des asiatischen Wirtschaftswunders (publ. 12. August 2005). Online unter: https://www.heise.de/ tp/features/Der-unaufhaltsame-Niedergang-des-Westens-3402046.html (abgerufen Januar 2017). Berkel, Barbara (2006): Konflikt als Motor europäischer Öffentlichkeit: Eine Inhaltsanalyse von Tageszeitungen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Österreich. Wiesbaden. Bertelsmann Stiftung (Hg.) (2015): TNS Emnid – Willkommenskultur in Deutschland: Entwicklungen und Herausforderungen. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage in Deutschland im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Gütersloh. Bessette, Joseph M. (1980): Deliberative Democracy: The Majority Principle in Republican Government, in: R. Goldwin/W. Shambra (Hg.): How Democratic is the Constitution? Washington, D.C.: 102-116. Bonfadelli, Heinz (1999): Medienwirkungsforschung I. Grundlagen und theoretische Perspektiven. Konstanz. Bonfadelli, Heinz (2000): Medienwirkungsforschung II. Anwendungen in Politik, Wirtschaft und Kultur. Konstanz. Bonfadelli, Heinz/Mirko Marr (2008): Kognitive Medienwirkungen, in: Bernad Batinic/Markus Appel (Hg.): Medienpsychologie. Heidelberg: 127-147. Brehm, Jack Williams (1966): Theory of Psychological Reactance. New York. Brehm, Sharon S./Jack Williams Brehm (1981): Psychological Reactance. A Theory of Freedom and Control. New York. Brosda, Carsten (2008): Diskursiver Journalismus. Journalistisches Handeln zwischen kommunikativer Vernunft und mediensystemischem Zwang. Wiesbaden.

168


Anhang

Brosius, Hans-Bernd/Frank Esser (1995): Eskalation durch Berichterstattung? Massenmedien und fremdenfeindliche Gewalt. Opladen. Bruns, Tissy (2007): Republik der Wichtigtuer. Ein Bericht aus Berlin. Freiburg, Basel, Wien. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (2011): Online unter http://www.bamf.de/SharedDocs/­ Meldungen/DE/2011/20110519-nuernberger-tage-integration-willkommenskultur.html (abgerufen Januar 2017). Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) (2016): Jahrbuch 2015. Berlin. Buscher, Herbert/S. R. Ohliger/Andreas Siegert (2013): Transaktionskosten und Fachkräftewerbung: Ein Erklärungsansatz auf Grundlage der Institutionenökonomik. Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, Halle. Davis, Earl E. (1964): Zum gegenwärtigen Stand der Vorurteilsforschung, in: W. Baeyer-Katte u. a. (Hg.): Politische Psychologie, Bd. 3: Vorurteile. Ihre Erforschung und ihre Bekämpfung. Frankfurt/Main: 51-72. Davison, W. Phillips (1983): The Third-Person Effect in Communication. Public Opinion Quarterly 47: 1-15. Delhy, Jan/Monika Verbalyte (2016): Soziales Vertrauen. Wissenswertes zu einer zentralen zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Ressource, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.): Der Kitt der Gesellschaft. Gütersloh: 71-104. Donges, Patrick (2016): Mediendemokratie, in: Oliver Lembcke/Claudia Ritzi/Gary S. Schaal (Hg.): Zeitgenössische Demokratietheorie. Bd. 2: Empirische Demokratietheorien. Wiesbaden: 103-124. Donsbach, Wolfgang (1991): Medienwirkung trotz Selektion. Einflussfaktoren auf die Zuwendung zu Zeitungs­inhalten. Köln. Eder, Klaus (1996): Politische Öffentlichkeit oder öffentliche Meinung? Eine Theorie des öffentlichen Diskurses, in: Wolfgang Wunden (Hg.): Wahrheit als Medienqualität. Frankfurt/Main: 143-154. Eilders, Christiane/Friedhelm Neidhardt/Barbara Pfetsch (2004): Die Stimme der Medien: Pressekommentare und politische Öffentlichkeit in der Bundesrepublik. Wiesbaden. Entman, Robert M. (1993): Framing: Toward Clarification of a Fractured Paradigm. Journal of Communication 43(4): 51-58. Entman, Robert M. (2002): Framing: Towards Clarification of a Fractured Paradigm, in: Denis McQuail (Hg.): McQuail’s Reader in Mass Communication Theory. Thousand Oaks, London, Neu-Delhi: 390-397. Fengler, Susanne/Bettina Vestring (2009): Politikjournalismus. Wiesbaden. Festinger, Leon (1957): A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford/CA. Frindte, Wolfgang/ Daniel Geschke/Nicole Haußecker/ Franziska Schmidtke (Hg.) (2016): Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“ – Interdisziplinäre Debatten, Befunde und Bilanzen. Wiesbaden. Früh, Werner (1991): Medienwirkungen: Das dynamisch-transaktionale Modell. Theorie und empirische Forschung. Opladen. Fuchs, Dieter/Jürgen Gerhard/Friedhelm Neidhardt (1992): Öffentliche Kommunikationsbereitschaft – Ein Test zentraler Bestandteile der Theorie der Schweigespirale. Discussion Paper FS III 91-105. Wissenschaftszentrum, Berlin.

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Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

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Anhang

Imbusch, Peter/Wilhelm Heitmeyer (2012): Dynamiken gesellschaftlicher Integration und Desintegration, in: dies. (Hg.): Desintegrationsdynamiken. Integrationsmechanismen auf dem Prüfstand. Wiesbaden: 9-17. Institut zur Förderung des publizistischen Nachwuchses/Deutscher Presserat (2005) (Hg.): Ethik im Redaktions­alltag. Konstanz. Jackob, Nikolaus/Oliver Quiring/Christian Schemer/Tanjev Schultz/Marc Ziegele (2017): Vertrauenskrise in den Medien untersucht. European Journalism Observatory. Online unter: http://de.ejo-online.eu/qualitaetethik/17587 (abgerufen Januar 2017). Jarren, Otfried/Patrick Donges (2002): Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft. Eine Einführung. Bd. 1: Verständnis, Rahmen und Strukturen. Wiesbaden. Jarren, Otfried/Patrick Donges (³2011): Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft. Eine Ein­ führung. Wiesbaden. Jesse, Eckhard (2015): Wie gefährlich ist Extremismus? Gefahren durch Extremisten, Gefahren durch Demokraten für den demokratischen Verfassungsstaat, in: ders. (Hg.): Wie gefährlich ist Extremismus? Gefahren durch Extremismus, Gefahren im Umgang mit Extremismus (= Zeitschrift für Politikwissenschaft. Sonderheft 2015/I). Baden-Baden: 7-34. Katzenberger, Paul (2016): Kampfbegriff gegen die Demokratie. Süddeutsche Zeitung 13.01.2015. Klein, Kevin/Timo Becirovic (2014): Analyse Text Mining mit R. Hochschule für Oekonomie & Management, Düsseldorf. Online unter: http://winfwiki.wi-fom.de/index.php/Analyse_Text_Mining_mit_R (abgerufen Januar 2017). Köcher, Renate (2015): Mehrheit fühlt sich über Flüchtlinge einseitig informiert. Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.12.2015. Krotz, Friedrich (2007): Mediatisierung: Fallstudien zum Wandel von Kommunikation. Wiesbaden. Krüger, Uwe (2007): Alpha-Journalisten embedded? Message, Internationale Zeitschrift für Journalismus 3: 54-60. Krüger, Uwe (2013): Meinungsmacht. Der Einfluss der Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse. Köln. Krüger, Uwe (2016): Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen. München. Kuhlmann, Christoph/Christina Schumann/Jens Wolling (2014): „Ich will davon nichts mehr sehen und hören!“ Exploration des Phänomens Themenverdrossenheit. Medien & Kommunikationswissenschaft 62: 5-24. Leif, Thomas (2016). Zwischen Debatten-Allergie und Argumentations-Phobie. Forschungsjournal Soziale Bewegungen 28(4): 27-37. Online unter https://doi.org/10.1515/fjsb-2015-0405 (abgerufen Januar 2017). Lemke, Matthias/Gregor Wiedemann (2016) (Hg.): Text Mining in den Sozialwissenschaften. Grundlagen und Anwendungen zwischen qualitativer und quantitativer Diskursanalyse. Wiesbaden. Lilienthal, Volker/Stephan Weichert/Dennis Reineck/Annika Sehl/Silvia Worm (2014): Digitaler Journalismus. Dynamik – Teilhabe – Technik. Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen. Leipzig.

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Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

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Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

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Anhang

Wiegand, Erich (1992): Einstellungen zu Ausländern, in: Statistisches Bundesamt (Hg.): Datenreport 1992. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland. Bonn. Wilke, Jürgen (2009): Historische und internationale Entwicklung von Leitmedien. Journalistische Leitmedien in Konkurrenz zu anderen, in: Daniel Müller/Annemone Ligensa/Peter Gendolla (Hg.): Leitmedien. Konzepte – Relevanz – Geschichte. Bielefeld: 29-52. Wimmer, Jeffrey (2007): (Gegen-)Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft: Analyse eines medialen Spannungs­ verhältnisses. Wiesbaden. Zambonini, Gualtiero (2007): Der Westdeutsche Rundfunk – Integration als business case. Online unter: https://heimatkunde.boell.de/2007/08/01/der-westdeutsche-rundfunk-integration-als-business-case (abgerufen Januar 2017). Zick, Andreas/Beate Küpper (2012): Zusammenhalt durch Ausgrenzung? Wie die Klage über den Zerfall der Gesellschaft und die Vorstellung von kultureller Homogenität mit Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zusammenhängen, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände, Folge 10. Berlin: 152-176. Ziller, Conrad (2016): „Schwächt Zuwanderung den sozialen Zusammenhalt?“ (Deutscher Studienpreis). Hamburg: Körber-Stiftung.

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Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Hinweise zum Autor

Michael Haller, Prof. Dr. phil., leitete bis Ende 2016 die Journalismusforschung an der Hamburg Media School (HMS). Seither ist er wissenschaftlicher Direktor des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung (EIJK). Bis zu seiner Emeritierung im Herbst 2010 hatte er den Journalistik-Lehrstuhl an der Universität Leipzig inne, wo er den 1992 reformierten Diplomstudiengang Journalistik aufgebaut hat. Seine Forschungsgebiete: Redaktions- und Qualitätsforschung (Print und Online) sowie Berufs- und Medienethik. Vor seinem Ruf an die Universität Leipzig war Haller 25 Jahre lang als Reporter und Redakteur in verschiedenen Pressemedien des deutschen Sprachraums tätig, darunter 13 Jahre beim „Spiegel“, dann als Ressortleiter bei der „Zeit“. Als Beirat verschiedener Einrichtungen des deutschen Sprachraums ist er in der Journalistenweiterbildung tätig. Michael Haller veröffentlichte zahlreiche Fachpublikationen, insbesondere zum Funktionswandel und zu Problemen des Journalismus in Zeiten des Medienwandels sowie der Digitalisierung der Kommunikation. Hallers Grundlagenbücher zur journalistischen Profession (Recherche, Reportage, Interview, Zeitungsjournalismus) haben in der Branche Standards gesetzt.

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Ausschreibung

Otto Brenner Preis

Anhang

„Nicht Ruhe und Unterwürfigkeit gegenüber der Obrigkeit ist die erste Bürgerpflicht, sondern Kritik und ständige demokratische Wachsamkeit.“ (Otto Brenner 1968) Es werden Beiträge prämiert, die für einen kritischen Journalismus vorbildlich und beispielhaft sind und die für demokratische und gesellschaftspolitische Verantwortung im Sinne von Otto Brenner stehen. Vorausgesetzt werden gründliche Recherche und eingehende Analyse.

Der Otto Brenner Preis ist mit einem Preisgeld von 47.000 Euro dotiert, das sich wie folgt aufteilt: 1. Preis 10.000 Euro 2. Preis 5.000 Euro 3. Preis 3.000 Euro Zusätzlich vergibt die Otto Brenner Stiftung: für die beste Analyse (Leitartikel, Kommentar, Essay) den Otto Brenner Preis „Spezial“ 10.000 Euro für Nachwuchsjournalistinnen und -journalisten den „Newcomerpreis“ 2.000 Euro für Medienprojekte den „Medienprojektpreis“ 2.000 Euro und drei Recherche-Stipendien von je 5.000 Euro

Otto Brenner Stiftung Wilhelm-Leuschner-Str. 79 60329 Frankfurt am Main E-Mail: info@otto-brenner-preis.de Tel.: 069 / 6693 - 2576 Fax: 069 / 6693 - 2786 177


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Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Arbeitspapiere der Otto Brenner Stiftung Die Ergebnisse von Kurzstudien veröffentlichen wir online in der OBS-Reihe „Arbeitspapiere“. Infos und Download: www.otto-brenner-stiftung.de

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Nr. 25

Unterhaltung aus Bayern, Klatsch aus Hessen? Eine Programmanalyse von BR und hr (Eva Spittka, Matthias Wagner, Anne Beier)

Nr. 24

#Mythos Twitter – Chancen und Grenzen eines sozialen Mediums (Mathias König, Wolfgang König)

Nr. 23

Informationsfreiheit – Mehr Transparenz für mehr Demokratie (Arne Semsrott)

Nr. 22

Journalist oder Animateur – ein Beruf im Umbruch. Thesen, Analysen und Materialien zur Journalismusdebatte (Hans-Jürgen Arlt, Wolfgang Storz)

Nr. 21

Ausverkauf des Journalismus? – Medienverlage und Lobbyorganisationen als Kooperationspartner (Marvin Oppong)

Nr. 20

Die AfD vor den Landtagswahlen 2016 – Programme, Profile und Potenziale (Alexander Hensel, Lars Geiges, Robert Pausch und Julika Förster)

Nr. 19

Bürgerbeteiligung im Fernsehen – Town Hall Meetings als neues TV-Format? (Nils Heisterhagen)

Nr. 18

„Querfront“ – Karriere eines politisch-publizistischen Netzwerks (Wolfgang Storz)

Nr. 17

Information oder Unterhaltung? – Eine Programmanalyse von WDR und MDR (Joachim Trebbe, Anne Beier und Matthias Wagner)

Nr. 16

Politische Beteiligung: Lage und Trends (Rudolf Speth)

Nr. 15

Der junge Osten: Aktiv und Selbstständig – Engagement Jugendlicher in Ostdeutschland (Jochen Roose)

Nr. 14

Wettbewerbspopulismus – Die Alternative für Deutschland und die Rolle der Ökonomen (David Bebnowski und Lisa Julika Förster)

Nr. 13

Aufstocker im Bundestag – Nebeneinkünfte und Nebentätigkeiten der Abgeordneten zu Beginn der 18. Wahlperiode (Herbert Hönigsberger)

Nr. 12

Zwischen Boulevard und Ratgeber-TV. Eine vergleichende Programmanalyse von SWR und NDR (Joachim Trebbe)

Nr. 11

Die sechste Fraktion. Nebenverdiener im Deutschen Bundestag (Herbert Hönigsberger)

Nr. 10

Chancen der Photovoltaik-Industrie in Deutschland (Armin Räuber, Werner Warmuth, Johannes Farian)

Nr. 9

Logistik- und Entwicklungsdienstleister in der deutschen Automobilindustrie – Neue Herausforderungen für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen (Heinz-Rudolf Meißner)

Nr. 8

Wirtschaftsförderung und Gute Arbeit – Neue Herausforderungen und Handlungsansätze (Martin Grundmann und Susanne Voss unter Mitarbeit von Frank Gerlach)

Nr. 7

Wahlkampf im medialen Tunnel – Trends vor der Bundestagswahl 2013 (Thomas Leif und Gerd Mielke)

Nr. 6

Wer sind die 99 %? Eine empirische Analyse der Occupy-Proteste (Ulrich Brinkmann u. a.)

Nr. 5

Wie sozial sind die Piraten? (Herbert Hönigsberger und Sven Osterberg)

Nr. 4

Solarindustrie: Photovoltaik. Boom – Krise – Potentiale – Fallbeispiele (Ulrich Bochum/Heinz-Rudolf Meißner)

Nr. 3

Gewerkschaftliche Netzwerke stärken und ausbauen (Anton Wundrak)

Nr. 2

Werkverträge in der Arbeitswelt (Andreas Koch)

Nr. 1

Soziale Ungleichheit und politische Partizipation in Deutschland (Sebastian Bödeker)


OBS-Arbeitsheft 93

Die Otto Brenner Stiftung …

ISSN-Print: 1863-6934 ISSN-Online: 2365-2314

... ist die gemeinnützige Wissenschaftsstiftung der IG Metall. Sie hat ihren Sitz in Frankfurt am Main. Als Forum für gesellschaftliche Diskurse und Einrichtung der Forschungsförderung ist sie dem Ziel der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Ausgleich zwischen Ost und West.

Herausgeber: Otto Brenner Stiftung Jupp Legrand Wilhelm-Leuschner-Straße 79 D-60329 Frankfurt am Main

... initiiert den gesellschaftlichen Dialog durch Veranstaltungen, Workshops und Koopera­ tionsveranstaltungen (z.  B. im Herbst die OBS-Jahrestagungen), organisiert internationale Konferenzen (Mittel-Ost-Europa-Tagungen im Frühjahr), lobt jährlich den „Brenner-Preis für kritischen Journalismus“ aus, fördert wissenschaftliche Untersuchungen zu sozialen, arbeitsmarkt- und gesellschaftspolitischen Themen, vergibt Kurzstudien und legt aktuelle Analysen vor.

Tel.: 069-6693-2810 Fax: 069-6693-2786 E-Mail: info@otto-brenner-stiftung.de www.otto-brenner-stiftung.de Autor: Prof. Dr. phil. Michael Haller Wissenschaftlicher Direktor des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung (EIJK) haller@uni-leipzig.de

... macht die Ergebnisse der Projekte öffentlich zugänglich.

Projektmanagement:

... veröffentlicht die Ergebnisse ihrer Forschungsförderung in der Reihe „OBS-Arbeitshefte“ oder als Arbeitspapiere (nur online). Die Arbeitshefte werden, wie auch alle anderen Publikationen der OBS, kostenlos abgegeben. Über die Homepage der Stiftung können sie auch elektronisch bestellt werden. Vergriffene Hefte halten wir als PDF zum Download bereit.

Elke Habicht, M.A.

Bitte nutzen Sie folgende Spendenkonten: Für Spenden mit zweckgebundenem Verwendungszweck zur Förderung von Wissenschaft und Forschung zum Schwerpunkt:

www.textfeile.de Hofheim am Taunus Satz und Gestaltung:

Hinweis zu den Nutzungsbedingungen:

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Dieses Arbeitsheft darf nur für nichtkommerzielle Zwecke im Bereich der wissenschaftlichen Forschung und Beratung und

Titelbild:

ausschließlich in der von der Otto Brenner Stiftung veröffent-

Collage von complot-mainz.de

lichten Fassung – vollständig und unverändert – von Dritten

mww.druck und so ... GmbH, Mainz-Kastel Redaktionsschluss: 9. Juni 2017

Analyse und Handreichungen

OBS-Arbeitsheft 91

Alexander Hensel, Florian Finkbeiner u. a.

Vom Protest zur parlamentarischen Opposition

OBS-Arbeitsheft 90

Hans-Jürgen Arlt, Martin Kempe, Sven Osterberg

Die Zukunft der Arbeit als öffentliches Thema

Presseberichterstattung zwischen Mainstream und blinden Flecken

OBS-Arbeitsheft 89

Christina Köhler, Pablo Jost

Tarifkonflikte in den Medien

Was prägt die Berichterstattung über Arbeitskämpfe?

OBS-Arbeitsheft 88* Bernd Gäbler

Quatsch oder Aufklärung?

Witz und Politik in heute show und Co.

OBS-Arbeitsheft 87*

Kim Otto, Andreas Köhler, Kristin Baars

„Die Griechen provozieren!“

Lektorat:

Druck:

Bernd Gäbler

Die AfD vor der Bundestagswahl 2017

Spenden erfolgen nicht in den Vermögensstock der Stiftung, sie werden ausschließlich und zeitnah für die Durchführung der Projekte entsprechend dem Verwendungszweck genutzt.

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... ist zuletzt durch Bescheid des Finanzamtes Frankfurt am Main V (-Höchst) vom 9. April 2015 als ausschließlich und unmittelbar gemeinnützig anerkannt worden. Aufgrund der Gemeinnützigkeit der Otto Brenner Stiftung sind Spenden steuerlich absetzbar bzw. begünstigt.

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OBS-Arbeitsheft 92

AfD und Medien

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... freut sich über jede ideelle Unterstützung ihrer Arbeit. Aber wir sind auch sehr dankbar, wenn die Arbeit der OBS materiell gefördert wird.

Jupp Legrand

unter Verwendung der Fotos von:

Aktuelle Ergebnisse der Forschungsförderung in der Reihe „OBS-Arbeitshefte“

weitergegeben sowie öffentlich zugänglich gemacht werden. In den Arbeitsheften werden die Ergebnisse der Forschungsförderung der Otto Brenner Stiftung dokumentiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Für die Inhalte sind die Autorinnen und Autoren verantwortlich. Bestellungen: Über die Internetseite der Otto Brenner Stiftung können weitere Exemplare dieses OBS-Arbeitsheftes kostenlos bezogen werden – solange der Vorrat reicht. Dort besteht auch die Möglichkeit, das vorliegende und weitere OBS-Arbeitshefte als pdf-Dateien kostenlos herunterzuladen.

• Förderung der internationalen Gesinnung und des Völkerverständigungsgedankens Bank: IBAN: BIC:

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• Angleichung der Arbeits- und Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland (einschließlich des Umweltschutzes) • Entwicklung demokratischer Arbeitsbeziehungen in Mittel- und Osteuropa • Verfolgung des Zieles der sozialen Gerechtigkeit HELABA Frankfurt/Main DE86 5005 0000 0090 5460 11 HELA DE FF

Geben Sie bitte Ihre vollständige Adresse auf dem Überweisungsträger an, damit wir Ihnen nach Eingang der Spende eine Spendenbescheinigung zusenden können. Oder bitten Sie in einem kurzen Schreiben an die Stiftung unter Angabe der Zahlungsmodalitäten um eine Spendenbescheinigung. Verwaltungsrat und Geschäftsführung der Otto Brenner Stiftung danken für die finanzielle Unterstützung und versichern, dass die Spenden ausschließlich für den gewünschten Verwendungszweck genutzt werden.

Lutz Frühbrodt

Wie „Unternehmensjournalisten“ die öffentliche Meinung beeinflussen

OBS-Arbeitsheft 85*

Sabine Ferenschild, Julia Schniewind

Folgen des Freihandels

Das Ende des Welttextilabkommens und die Auswirkungen auf die Beschäftigten

OBS-Arbeitsheft 84* Fritz Wolf

„Wir sind das Publikum!“

Autoritätsverlust der Medien und Zwang zum Dialog

OBS-Arbeitsheft 83

Thomas Goes, Stefan Schmalz, Marcel Thiel, Klaus Dörre

Gewerkschaften im Aufwind?

Bank: IBAN: BIC:

OBS-Arbeitsheft 86*

Content Marketing

Für Spenden mit zweckgebundenem Verwendungszweck zur Förderung von Wissenschaft und Forschung zu den Schwerpunkten:

Die öffentlich-rechtliche Berichterstattung über die griechische Staatsschuldenkrise

Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht in Ostdeutschland

OBS-Arbeitsheft 82

Silke Röbenack, Ingrid Artus

Betriebsräte im Aufbruch?

Vitalisierung betrieblicher Mitbestimmung in Ostdeutschland

* Printfassung leider vergriffen; Download weiterhin möglich.

Diese und weitere Publikationen der OBS finden Sie unter www.otto-brenner-stiftung.de Otto Brenner Stiftung | Wilhelm-Leuschner-Straße 79 | D-60329 Frankfurt/Main


OBS-Arbeitsheft 93

OBS-Arbeitsheft 93

OBS-Arbeitsheft 93

Haller – „Die Flüchtlingskrise“ in den Medien

Otto Brenner Stiftung

Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien

Michael Haller

Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information www.otto-brenner-stiftung.de ­

Eine Studie der Otto Brenner Stiftung Frankfurt am Main 2017


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