OBS-Arbeitspapier 53
Marc Engelhardt
Das Verblassen der Welt Auslandsberichterstattung in der Krise Kurzfassung des Arbeitspapiers
Allgemeiner Kontext der Untersuchung
Auf einen Blick
Die Auslandsberichterstattung in deutschen Me-
USA, Europa, Russland und China: Die
dien steht unter bisher ungekanntem Druck. Die
deutsche Auslandsberichterstattung kon-
wenigsten Medienhäuser verfügen noch über ein
zentriert sich auf diese Weltregionen
Netz eigener, fest angestellter Korrespondent:in-
Während über acht Staaten in den letzten
nen und zunehmend werden auch die Ressourcen
zehn Jahren in 23 deutschen Zeitungen
für freie Auslandsjournalist:innen eingeschränkt.
mehr als 100.000 Mal berichtet wurde, wur-
Damit geht ein schwindender Blick aus Deutsch-
den 34 Staaten weniger als 50 Mal erwähnt
land auf die Welt und eine stärkere Konzentration
Verantwortlich für diese Ungleichgewichte
auf wenige Regionen und/oder Ereignisse einher.
sind die Abnahme der Zahl der Korrespon-
Auslandsberichte werden an deutschen Schreib-
dent:innen, Auslandsseiten und Sende-
tischen geschrieben und inter essengeleitete
plätze sowie das Schrumpfen der Budgets
Akteure wie die Pressestellen von Regierungen
der Redaktionen
können mangels anderer Quellen zunehmend
Auch die Zunahme der Barrieren für journa-
bestimmen, was wir aus vielen Ländern wissen.
listische Arbeit und staatliche Propaganda
Im Krisenfall oder im Rahmen von Pressereisen
verstärken das „Verschwinden der Welt“
fliegen Redakteur:innen (bis zum Ausbruch der
Die Corona-Pandemie hat diese Trends
Corona-Pandemie) in andere, ihnen oftmals nahe-
eher verstärkt als abgemildert
zu unbekannte Länder und berichten von vor Ort.
Eine Debatte über eine öffentliche Förderung der Auslandsberichterstattung ist not-
Die Folge ist eine Situation der Auslandsbericht-
wendig
erstattung, die als krisenhaft beschrieben werden kann und ein zunehmend verzerrtes Bild der
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Das Verblassen der Welt
Welt für deutsche Leser:innen produziert. Dieser
regionalen und regionalen Zeitungen vorkamen1.
Trend ist besonders beunruhigend, weil Deutsch-
Grundlage für die Auswahl der Zeitungen waren
land in den letzten Jahren eine stärkere Rolle in
die Auflagenzahlen der Informationsgemein-
der Welt wahrnimmt, als dies noch im Kalten Krieg
schaft zur Verbreitung von Werbeträgern e. V.
der Fall war. Vor diesem Hintergrund verfolgt das
(IVW) sowie die Verfügbarkeit in der Genios-
Diskussionspapier drei Ziele: Die Darstellung der
Datenbank2. Zur Erörterung der Gründe für die
Auslandsberichterstattung in den deutschen Me-
Situation der Auslandsberichterstattung wurden
dien heute; die Diskussion der dafür verantwort-
eine Umfrage unter freiberuflichen Auslandskor-
lichen Gründe sowie die Skizzierung möglicher
respondent:innen mit 39 Teilnehmer:innen (No-
Auswege aus der gegenwärtigen Krise.
vember 2020) und vier vertiefende Interviews (Dezember 2020) durchgeführt.
Methode Für die Darstellung der aktuellen Situation der
Ergebnisse
deutschen Auslandsberichterstattung wurde
Die Auslandsberichterstattung
untersucht, wie oft die deutschen Namen von
in deutschen Medien heute
190 Staaten und Regionen (außer Deutschland)
Das Diskussionspapier zeigt, wie blass die Welt
im Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis 31. Dezember
ist, wenn alle 190 Staaten in Schattierungen
2019 in den Berichten von 23 führenden über
von Blau auf eine Weltkarte übertragen werden (Abbildung 1): Über ganze Regionen, unter ih-
Abbildung 1:
nen Mittel- und Südamerika, der gesamte afri-
Die Länder der Welt aus Sicht der deutschen Auslandsberichterstattung I
der ozeanisch-pazifische Raum und Australien
kanische Kontinent, Zentralasien, Südostasien, wurde in den vergangenen zehn Jahren zu wenig berichtet, um der Blässe auch nur ein bisschen Farbe einzuhauchen. Deutlich wird: Kein Land steht auch nur annähernd so sehr im Fokus wie die USA. Während acht Staaten – bis auf die USA alles europäische Länder – im Untersuchungszeitraum mehr als 100.000 Mal erwähnt werden, kommt schon der Zweitplatzierte (Großbritan nien) nicht einmal auf die Hälfte der Berichte aus Nordamerika. Für Syrien (Platz 14) – immerhin ein Staat, in dem 2011 ein bis heute tobender Krieg
Quelle: Eigene Darstellung nach infogram.com mit Daten der Pressedatenbank Genios. Je häufiger über ein Land berichtet wird, desto stärker ist der Farbton. Untersuchungszeitraum: 1.1.2010-31.12.2019.
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begann und in dessen Artikelanzahl viele Berichte über Flüchtlinge aus Syrien (in Europa) enthalten sind – beträgt das Verhältnis zu den Artikeln
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der USA bereits 1:10. Am anderen Ende der Skala
Redaktionen in den letzten beiden Jahrzehnten
gibt es 34 Länder, die weniger als 50 Mal erwähnt
zurückging. Stattdessen wurden regionale Be-
werden: Etwa der militärisch und geostrategisch
richtsgebiete zusammengeführt, ausscheidende
für die Sahel-Region bedeutende Tschad oder die
Journalist:innen nicht mehr ersetzt und zuneh-
nach wie vor umkämpfte Westsahara. Wird doch
mend auf eine von Deutschland aus produzier-
einmal über die Länder des globalen Südens be-
te Auslandsberichterstattung zurückgegriffen.
richtet, zeigt die quantitative Auswertung, dass
Zusätzlich begünstigt die Ausdünnung der Aus-
die Standorte von Korrespondent:innen darüber
landsseiten und Sendeplätze in den privaten
entscheiden welche Länder Erwähnung finden –
Medien einen verzerrten und eingeschränkten
und welche nicht. Die Corona-Pandemie hat an
Blick auf das Weltgeschehen. Selbst im öffent-
diesen Grundmustern nichts verändert.
lich-rechtlichen Rundfunk – mit seinen weltweit 31 Auslandsstudios eine der verlässlichsten
Fünf Gründe für die Krise der Auslands
Stützen des deutschen Auslandsjournalismus –
berichterstattung
sind Sendeplätze zunehmend rarer gesät: Hin-
Eine Auswertung der bekannten Zahlen und der
tergründiges gibt es – neben dem auslandsjour-
Berichterstattung zur Anzahl und Verteilung der
nalistischen Flaggschiff „Weltspiegel“ – noch im
Auslandskorrespondent:innen deutscher Medi-
Deutschlandfunk, den Infowellen und in den von
en zeigt, dass die Entsendung fester und freier
den ARD-Anstalten verlegten Podcasts, die aber
Auslandskorrespondent:innen durch deutsche
oft ohne Extra-Etat produziert werden müssen.
Abbildung 2:
Änderungen bei Honorarsätzen freier Auslandskorrespondent:innen (2019/2020) Honorare sind gleich geblieben/ keine Angabe
24 %
Bedeutung hat zugenommen
28 %
Honorarsätze werden regelmäßig erhöht
8% 72 %
68 % Aufträge werden schlechter honoriert
Bedeutung ist gleich geblieben
Abbildung 3:
Die Bedeutung interessengeleiteter Quellen für die Auslandsberichterstattung
Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage einer Umfrage unter 39 Weltreporter:innen.
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Das Verblassen der Welt
Verstärkt werden diese problematischen Ten-
gagement des deutschen Staates bei Verstößen
denzen durch das Schrumpfen der Budgets und
gegen die Pressefreiheit und zum Schutz der be-
Redaktionen. Mehr als zwei Drittel der befragten
drohten Journalist:innen im Ausland ebenso not-
Auslandsreporter:innen geben an, dass ihre Auf-
wendig wie der politische Wille zur öffentlichen
träge heute schlechter honoriert werden als früher
Förderung der Auslandsberichterstattung.
(Abbildung 2), unter anderem, weil die Beteiligung an Reisekosten oder die Möglichkeiten für Zweitverwertungen entfallen – mit der Folge, dass einige Freie nach Deutschland zurückkehren, weil sich ihr bisheriges Geschäftsmodell nicht mehr trägt.
1 Zur Untersuchung der Veränderungen durch die Corona- Pandemie wurde weiterhin der Zeitraum vom 01. Januar 2020 bis 30. Juni 2021 erfasst. 2 Es wurden die fünf auflagenstärksten überregionalen Tageszeitungen ausgewählt sowie die jeweils auflagenstärkste Regionalzeitung pro Bundesland (in Bayern und NRW zusätzlich eine weitere Regionalzeitung).
Schließlich können vermehrte Anstrengungen ausländischer Regierungen, lokaler Machthaber:innen oder involvierter Konfliktparteien beobachtet werden, die Berichterstattung von Korrespondent:innen zu behindern und die öffentliche Meinung durch gezielte Propaganda zu beeinflussen. Schwierigkeiten bei der Akkreditierung als Journalist:in beklagen weit mehr als ein Drittel der befragten Auslandsreporter:innen (38,7 Prozent), während fast die Hälfte (45,2 Prozent) eine Kontrolle durch autoritäre Regierungen als Problem konstatiert. Mehr als ein Viertel der Befragten berichtet außerdem, dass die Bedeutung interessengeleiteter Quellen zugenommen hat (Abbildung 3).
Über den Autor Marc Engelhardt arbeitet seit 2004 als freier Auslandskorrespondent und ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Seit Oktober 2021 ist er Geschäftsführer des CrowdNewsroom, eines Projekts des Recherchezentrums CORRECTIV mit Sitz in der Schweiz. Foto: Caroline Wimmer
Impressum Herausgeber: Otto Brenner Stiftung, Jupp Legrand, Wilhelm- Leuschner-Straße 79, 60329 Frankfurt am Main, Tel.: 069-6693-2810, E-Mail: info@otto-brennerstiftung.de, www.otto-brenner-stiftung.de
Fazit Um dem zunehmenden Verblassen der Welt für Leser:innen – insbesondere in Zeiten eines verstärkten (auch militärischen) internationalen Engagements Deutschlands – entgegenzuwirken, schlägt das Diskussionspapier vier Handlungsmöglichkeiten vor: Neben einer Stärkung der Netzwerke freier Korrespondent:innen und dem Erhalt der Berichtsplätze ist ein deutlicheres En-
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Mehr Infos sowie die Langfassung der Untersuchung finden Sie auf unserer Website: www.otto-brenner-stiftung.de
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