Die Piratenpartei – Havarie eines politischen Projekts?

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Otto Brenner Stiftung

OBS-Arbeitsheft 74

OBS-Arbeitsheft 74 Die Piratenpartei

Alexander Hensel, Stephan Klecha

Die Piratenpartei Havarie eines politischen Projekts?

www.piraten-studie.de www.otto-brenner-stiftung.de

Eine Studie der Otto Brenner Stiftung Frankfurt/Main 2013


Otto Brenner Stiftung

Die Otto Brenner Stiftung … ... ist die gemeinnützige Wissenschaftsstiftung der IG Metall. Sie hat ihren Sitz in Frankfurt am Main. Als Forum für gesellschaftliche Diskurse und Einrichtung der Forschungsförderung ist sie dem Ziel der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Ausgleich zwischen Ost und West.

OBS-Arbeitsheft 74 ISSN 1863-6934 (Print) Herausgeber: Otto Brenner Stiftung Jupp Legrand Wilhelm-Leuschner-Straße 79 D-60329 Frankfurt/Main Tel.: 069-6693-2810 Fax: 069-6693-2786 E-Mail: info@otto-brenner-stiftung.de www.otto-brenner-stiftung.de

Die OBS dankt der Hans-Böckler-Stiftung (siehe www.boeckler.de) für ihre Beteiligung an der Förderung des Projekts. Ohne diese Unterstützung der

Autoren:

HBS hätte die OBS die „Piraten-Studie“ nicht reali-

Alexander Hensel, Stephan Klecha

sieren können.

Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstr. 14

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Dieses Arbeitsheft darf nur für nichtkommerzielle

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Jupp Legrand, OBS

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Titel: Karikatur Gerhard Mester

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... initiiert den gesellschaftlichen Dialog durch Veranstaltungen, Workshops und Kooperationsveranstaltungen (z. B. im Herbst die OBS-Jahrestagungen), organisiert internationale Konferenzen (Mittel-Ost-Europa-Tagungen im Frühjahr), lobt jährlich den „Brenner-Preis für kritischen Journalismus“ aus, fördert wissenschaftliche Untersuchungen zu sozialen, arbeitsmarkt- und gesellschaftspolitischen Themen, vergibt Kurzstudien und legt aktuelle Analysen vor. … macht die Ergebnisse der geförderten Projekte öffentlich

OBS-Arbeitsheft 74

zugänglich und veröffentlicht z. B. die Ergebnisse ihrer Forschungsförderung in der Reihe „OBS-Arbeitshefte“. Die Arbeitshefte werden, wie auch alle anderen Publikationen der OBS, kostenlos abgegeben. Über die Homepage der Stiftung können sie auch elektronisch bestellt werden. Vergriffene Hefte halten wir als PDF zum Download bereit.

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Redaktionsschluss: 15. März 2013

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Alexander Hensel, Stephan Klecha

Die Piratenpartei Havarie eines politischen Projekts?

OBS-Arbeitsheft 73 Fritz Wolf

Im öffentlichen Auftrag Selbstverständnis der Rundfunkgremien, politische Praxis und Reformvorschläge

OBS-Arbeitsheft 72* … freut sich über jede ideelle Unterstützung ihrer Arbeit. Aber wir sind auch sehr dankbar, wenn die Arbeit der OBS materiell gefördert wird.

Bernd Gäbler

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Hans-Jürgen Arlt, Wolfgang Storz

Hohle Idole Was Bohlen, Klum und Katzenberger so erfolgreich macht

OBS-Arbeitsheft 71* „Bild“ und Wulff – Ziemlich beste Partner Fallstudie über eine einseitig aufgelöste Geschäftsbeziehung

OBS-Arbeitsheft 70* Andreas Kolbe, Herbert Hönigsberger, Sven Osterberg

Marktordnung für Lobbyisten Wie Politik den Lobbyeinfluss regulieren kann

OBS-Arbeitsheft 69 Sandra Siebenhüter

Integrationshemmnis Leiharbeit

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OBS-Arbeitsheft 68* Bernd Gäbler

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OBS-Arbeitsheft 67* Hans-Jürgen Arlt, Wolfgang Storz

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OBS-Arbeitsheft 66 Rainer Weinert

Berufliche Weiterbildung in Europa Was Deutschland von nordeuropäischen Ländern lernen kann

OBS-Arbeitsheft 65 Burkart Lutz unter Mitwirkung von Holle Grünert, Thomas Ketzmerick und Ingo Wiekert

Fachkräftemangel in Ostdeutschland Konsequenzen für Beschäftigung und Interessenvertretung

OBS-Arbeitsheft 64 Brigitte Hamm, Hannes Koch

Soziale und ökologische Verantwortung Zur Umsetzung des Global Compact in deutschen Mitgliedsunternehmen * leider vergriffen Diese und weitere Publikationen der OBS finden Sie unter www.otto-brenner-stiftung.de Otto Brenner Stiftung | Wilhelm-Leuschner-Straße 79 | D-60329 Frankfurt/Main


VORWORT

Vorwort

Erstmals seit dem Entstehen der Grünen zu Beginn der 1980er Jahre schien eine neue Partei das politische System der Bundesrepublik aufzumischen: Die Politneulinge von den Piraten versprachen Transparenz, Basisdemokratie, Bürgerbeteiligung, Schwarmintelligenz und einen anderen Stil. Besonders bei Jung- und Erstwählern, aber auch bei etlichen bisherigen Nicht- und Protestwählern kam das gut an. Auf einer regelrechten Erfolgswelle segelte die junge Partei 2011/2012 in gleich vier Landtage, erklomm in den Umfragen beachtliche Höhen und schien zu einer festen Größe im politischen System zu werden. Der Kurs war eindeutig, das „Entern“ auch des Deutschen Bundestages bei der Wahl 2013 die klare Perspektive. So triumphal die ersten Erfolge und so hoffnungsvoll die Erwartungen vieler Beobachter waren, so jäh war zuletzt der Niedergang der Piraten in den Umfragen. Das Scheitern bei der niedersächsischen Landtagswahl im Januar 2013 scheint aus Sicht mancher Beobachter in den Medien mehr als nur das vorläufige Ende des Piraten-Hypes darzustellen; vom Ende des Parteiprojekts insgesamt ist schon die Rede. Doch steckt hinter dem zeitweiligen Erfolg der Piraten nicht mehr als nur eine kurzzeitige Aufwallung der Wähler und die fluide Faszination des Neuen in den Medien? Der durch die Digitalisierung bedingte gesellschaftliche Wandel verändert die Arbeitsbeziehungen, beeinflusst die Mediennutzung, transformiert kulturelle Ausdrucksformen und verändert ökonomische wie soziale Austauschbeziehungen. In Gesellschaft, Medien, Politik und Wirtschaft vollziehen sich tief greifende Umbrüche – vor diesem Hintergrund haben die Piraten einen Teil ihres vormaligen Erfolgs erzielen können. Das alles aber ist nicht verschwunden, nur weil die ohnehin volatile politische Stimmung jetzt gegen die Piraten ausschlägt, sie in Meinungsumfragen eingebrochen sind, persönlicher Zwist und parteiinterner Streit die Schlagzeilen bestimmen. Offensichtlich gibt es jenseits der tagespolitischen Aufgeregtheiten ein Wurzelgeflecht von Entwicklungen, das es einer neuen Partei prinzipiell ermöglicht, sich im politischen System festzusetzen. Die Frage, ob es die Piratenpartei ist, die sich im Parteiensystem etablieren kann und zu einem stabilen Faktor der Politik wird, ist im Frühjahr 2013 allerdings nicht eindeutig zu beantworten, sondern weiterhin offen. So lautet zumindest die Einschätzung der Göttinger Politikwissenschaftler Alexander Hensel und Stephan Klecha, die – initiiert von der Otto Brenner Stiftung und mitfinanziert von der Hans Böckler Stiftung – ein Jahr lang die Piratenpartei untersucht haben. Die Studie liefert eine komprimierte, aber doch umfassende Darstellung des neuen politischen Akteurs. Unsere Autoren erörtern die Funktionsweise

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D IE P IRATENPARTEI

der Partei, die so anders agiert und kommuniziert als die etablierten Parteien. Sie geben Auskunft über ihre Mitgliederentwicklung, Wähler und Sympathisanten. Skizziert werden das Programm und die Ideologie der neuen Partei, aber auch wie die etablierten Mitbewerber auf die neue Herausforderung reagieren. Schließlich berichten die Autoren über die Arbeit der Piratenpartei in den Parlamenten. Die Otto Brenner Stiftung dankt dem Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, Herrn Prof. Dr. Franz Walter, dass er die Idee zu einer „Piraten-Studie“ aufgriff und half, an seinem Institut die Voraussetzungen für diese Untersuchung zu schaffen. Unser besonderer Dank gilt den verantwortlichen Autoren Alexander Hensel und Stephan Klecha. Ihnen ist mit der Piraten-Studie der OBS eine gute Mischung aus Analyse, anschaulichen Beispielen, erörternden Erwägungen und politikwissenschaftlichen Zusammenhängen gelungen. Wir hoffen, mit unserer aktuellen Studie die öffentlichen Diskussionen im Superwahljahr 2013 begleiten zu können. Die vorurteilsfreie Darstellung, die kritische Analyse und die abwägende Interpretation des neuen politischen Akteurs durch unsere Autoren soll helfen, Wandlungsprozesse im Parteiensystem angemessen verfolgen und besonders die gegenwärtige Entwicklung der Piratenpartei besser einordnen zu können.

Jupp Legrand Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung Frankfurt/Main, im März 2013

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I NHALT

Inhalt

1. Einleitung ............................................................................................................................... 5

2. Entwicklung und Geschichte .................................................................................................... 7 2.1 Internationale Piratenwelt .............................................................................................. 7 2.2 Deutschlands Piraten: Aufstieg der Außenseiter ............................................................ 9 2.3 Zwischen Idealen und Notwendigkeiten ....................................................................... 13

3. Organisation der Piraten ....................................................................................................... 16 3.1 Die formale Gliederung ................................................................................................ 16 3.2 Basisdemokratie und Delegation von Interessen .......................................................... 18 3.3 Zwischen piratigem Mandat und politischer Strategie .................................................. 22 3.4 Kommunikationswege .................................................................................................. 29 3.5 Flexibilität und Komplexität als Organisationsherausforderung ................................... 34 3.6 Flaute in der Kasse der Piratenpartei ........................................................................... 35

4. Programm und Ideologie ....................................................................................................... 38 4.1 Programmentwicklung .................................................................................................. 38 4.2 Programmatische Ausrichtung ...................................................................................... 40 4.3 Jenseits der Grundlagen ............................................................................................... 46 4.4 Von Grundsätzen zum Konkreten .................................................................................. 48

5. Mitglieder und Sympathisanten ............................................................................................ 51 5.1 Beitrittswellen und Themenkonjunkturen ..................................................................... 51 5.2 Glücksritter, Parteiwanderer und merkwürdige Gestalten ............................................ 54 5.3 Das gesellschaftliche Umfeld der Partei ....................................................................... 56 5.4 Jenseits von Geschlecht und Quote? Frauen bei den Piraten ......................................... 5 8

6. Wählerschaft der Partei ........................................................................................................ 62

7. Das politische System reagiert ............................................................................................ 66 7.1 Kommunikative und organisationskulturelle Reaktionen ............................................. 66 7.2 Inhaltliche Reaktionen ................................................................................................. 68 7.3 Strategische Orientierungen ........................................................................................ 69

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D IE P IRATENPARTEI

8. Piraten in Parlamenten .......................................................................................................... 72

9. Fazit ...................................................................................................................................... 80

Anhang Glossar ................................................................................................................................ 88 Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 97 Verzeichnis der Tabellen .................................................................................................... 106 Hinweise zu den Autoren ................................................................................................... 107 Danksagung ....................................................................................................................... 107

ir + + w w w .p + e .d ie d a t e n -s t u

ir a t e n + w w w .p + + e .d ie a t e n -s t u d

s t u d ie .d e

+++

rojekts rschungsp o F s über re e s se un usätzlich is z n e b e .d rg ie E d aten-stu htigsten ie die wic r www.pir d te , n g u n u S s B s O r Printfa iert die Neben de cht, inform a m h c li g zugän r die öffentlich t und/ode ll te s e b h . r auch lektronisc die Studie eftes 74 e en sich hie h d s n it fi e n e rb li A re des Materia n und n. Neben re Exempla e e it rd e e den Autore w w n it n e e en. m n d s n la ö w e k ie rg r Hie beschäftig Interv runte n e , h e te F a is e D ir P P w n in ls die a lls mit de taltungsh Piraten-Stu ie, Verans ich ebenfa d s tu ie S d , ie n d e n auf ter Seit berger Reaktione interessan g n lu ert Hönigs m rb m e a H s r k to in u L pier z.B. eine Piraten. A Arbeitspa ie zu den m d e s tu ie -S d rz u u itere K tionen z satzht eine we “. Informa in dem Zu te n s ts ll te n a fa e ir n P S e B b n e e Bei der O den Sie ge bei d n wird, fin soziale Fra e h ie te d s „ t g h n c Verfügu untersu online zur r u n s a d , +++ g. der OBS t u d ie .d e -s ner Stiftun n n e re t a B ir o tt er O + w w w .p angebot d ie .d e + + d u t -s n e t w w .p ir a e +++ w .d ie d u t -s ten w w w .p ir a

w w w .p ir

4


E INLEITUNG

1. Einleitung

Seit ihrem Einzug in das Berliner Abgeordne-

ten im Laufe des Jahres 2012 einige längerfris-

tenhaus ist die Piratenpartei ins Visier einer

tige Trends beschreiben und grobe Prognosen

breiteren Öffentlichkeit geraten. Während die

abgeben. Grundlage unserer Untersuchungen

Medien die Politneulinge anfangs noch inte-

bildet eine breit angelegte qualitative Metho-

ressiert bis wohlwollend begleitet hatten, nah-

dik. In deren Mittelpunkt stehen Beobachtun-

men im Verlauf des Jahres 2012 kritische Ein-

gen, Interviews sowie Analysen der umfangrei-

schätzungen und Interventionen deutlich zu.

chen, öffentlich zugänglichen Präsenz der Pira-

Politische oder organisatorische Unzulänglich-

tenpartei im Internet. Bei Parteitagen auf

keiten der Partei wurden zunehmend aufgegrif-

Kreis-, Landes- und Bundesebene, beim bun-

fen und zuweilen auch skandalisiert. Die Pira-

desweiten Vorständetreffen, bei der Konferenz

ten lieferten durch ihre im Internet offengeleg-

OpenMind 2012, bei lokalen Stammtischen und

te interne Kommunikation hierfür ausgiebig

anderen inhaltlichen Treffen auf den verschie-

Stoff. Auch musste die Partei bei den vorhande-

denen Ebenen haben wir die Interaktion zwi-

nen programmatischen Fragmenten wie beim

schen den Piraten, auch jenseits der verbalen

Urheberrecht auf einmal heftigen Gegenwind

Ebene, verfolgt. Mit über 100 Vertretern der Pi-

zur Kenntnis nehmen.

ratenpartei haben wir entweder kleinere, un-

Zwar steht die Piratenpartei nach dem Ein-

strukturierte Expertengespräche oder leitfa-

zug in mittlerweile vier Landtage und einem

dengestützte, halbstandardisierte Gespräche

erheblichen Mitgliederwachstum auf den ers-

von unterschiedlicher Dauer geführt.

ten Blick noch immer so gut da wie keine ande-

Nachdem wir einen Teil unserer Ergebnisse

re Parteineugründung seit dem Aufziehen der

bereits Mitte 2012 publiziert haben (Hensel/

Grünen. Dennoch birgt das Wahljahr 2013

Klecha/Walter 2012), sind die damals schon

erhebliche Unsicherheiten. Das deutliche

vorhandenen Zweifel hinsichtlich einer dauer-

Scheitern in Niedersachsen zeigt, dass von ei-

haften Verankerung im Parteienspektrum eher

ner Etablierung der neuen Partei keineswegs

noch gestiegen. Einige offenkundige Schwä-

die Rede sein kann. Niederlagen bei den noch

chen hat die Piratenpartei zwar über einen län-

ausstehenden Landtagswahlen in Bayern und

geren Zeitraum hinweg durch eine unkonven-

Hessen sowie bei der Bundestagswahl könnten

tionelle politische Kultur und Organisation

dazu führen, dass die Partei wieder in die Be-

kompensieren können. Vielfach kokettieren

deutungslosigkeit abgleitet.

die Piraten erfolgreich mit einem spielerischen

Für ein Forschungsvorhaben wie das unse-

Dilettantismus, der die eigene Unvollkommen-

re, bei dem wir nach der Herkunft, den Zielen

heit offen thematisiert. Allerdings ließen der

und den Etablierungschancen einer neuen Par-

Charme des Neuen, der Reiz des Anarchischen

tei fragten, besteht natürlich immer ein Restri-

und die mediale Nachsicht im Umgang mit Män-

siko im Falle eindeutiger Antworten. Dennoch

geln der neuen Partei im Laufe des Jahres 2012

lassen sich im Lichte der Entwicklung der Pira-

erkennbar nach.

5


D IE P IRATENPARTEI

Spätestens ab dem Spätsommer 2012 blies

Allerdings rangieren die Piraten in Umfragen

den Piraten ein überaus scharfer Wind entge-

unverändert auf dem Niveau der zwar siechen,

gen. Mit einem Mal war von „Flaute“ (Becker/

zuletzt bei Wahlen aber erfolgreichen FDP.

Meiritz/Theile 2012) und einem „schlaffen Se-

Mithin sind die Chancen auf einen Einzug in

gel bei den Piraten“ (Thiede 2012) zu lesen. Die

den Deutschen Bundestag 2013 weiterhin ge-

zuvor zweistelligen Umfragewerte sanken be-

geben. Im Gegensatz zum Piraten-Hype des ers-

ständig. Mit dem Scheitern bei der niedersäch-

ten Halbjahrs 2012 ist es im Augenblick (d. h.

sischen Landtagswahl schien für manche Beob-

Anfang Februar 2013) jedoch wahrscheinlicher,

achter das Ende des Piratenerfolgs besiegelt

dass ein solcher Erfolg ausbleibt.

zu sein (Bewarder 2013; Reinbold 2013).

EINLADUNG Wir laden – wenige Tage vor dem nächsten Parteitag der Piraten – herzlich ein zur Präsentation und Diskussion der Ergebnisse der aktuellen OBS-Studie

Die Piratenpartei – Havarie eines politischen Projekts? und zu einem intensiven Austausch über die strategische Ausrichtung und die Chancen der Piratenpartei in den kommenden Wahlauseinandersetzungen. Mit den OBS-Autoren: Alexander Hensel, Stephan Klecha und Herbert Hönigsberger („Die soziale Frage bei den Piraten“) und den „Piraten“: Matthias Schrade, Ex-Vorstand, jetzt Koordinator Bundestagswahlkampf 2013, und Julia Reda, Junge Piraten, Piratenpartei, Hessen Moderation: Marie Katharina Wagner, FAS, politische Redakteurin und Buchautorin „Die Piraten“, Gütersloh 2012

Dienstag, den 7. Mai 2013, 19:00 Uhr main_forum (Vorstand der IG Metall) Wilhelm-Leuschner-Str. 79 60329 Frankfurt am Main Mehr Infos zu den OBS-Studien, zu Veranstaltungen usw. unter: www.piraten-studie.de Das Team der OBS

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E NTWICKLUNG UND G ESCHICHTE

2. Entwicklung und Geschichte

Bei der Piratenpartei handelt es sich um eine

gung, die zeigen, welche technischen Möglich-

genuine Parteineugründung, deren Wurzeln

keiten in den neuen Kommunikationstechno-

und Charakter eng mit dem relativ neuen Kon-

logien stecken, aber auch, wie anfällig diese

flikt um die Folgen der digitalen Revolution ver-

für Missbrauch sind.

knüpft sind. Dieser bildet den Ausgangspunkt

All diese Diskurse und Bewegungen sind

für die Entwicklung der grundlegenden Agen-

Teil des historischen Vorfelds der Piraten und

da, Kernklientel und politischen Kultur der Pi-

prägen den Kern der Partei. So finden sich in

raten (Zolleis/Prokopf/Strauch 2010: 7 f.).

der Piratenpartei mannigfaltige Referenzen auf

Hierbei griff die Piratenpartei zwei vom Partei-

die Hacker-, Internet- und Bürgerrechtskultu-

ensystem bislang nicht hinreichend beachtete

ren: ein technisch fundierter Optimismus hin-

Themen auf: Erstens die Auseinandersetzung

sichtlich einer politischen Selbstermächti-

um die Nutzung und Regulierung von Wissen,

gung, die aus der Internetkultur stammende

Informationen und Kultur im digitalen Zeital-

Mischung aus radikalem Individualismus und

Radikaler Individualis-

ter, welche sich vor allem am Urheberrecht ent-

vernetztem Kollektivismus oder eine ausge-

mus und vernetzter

zündet. Zweitens die fortschreitende Ein-

prägte Leidenschaftlichkeit für das Grundge-

Kollektivismus

schränkung von Bürgerrechten im Rahmen der

setz und seinen Grundrechtekatalog. Insofern

Anti-Terror-Gesetzgebung, die sich auf ver-

kann allgemein festgehalten werden, dass die

schiedene staatliche Überwachungs- und Regu-

deutschen Piraten weder aus dem Nichts ent-

lierungsmöglichkeiten digitaler Kommunika-

standen sind noch eine bloße Kopie der schwe-

tion bezieht und sich vor allem an der Vorrats-

dischen Piraten darstellen, die als eine Art

datenspeicherung festmacht.

Mutterpartei jedoch den historischen Aus-

Dabei sind die Piraten keineswegs der ers-

gangspunkt bilden.

te politische Akteur, der sich diesen Konfliktfeldern zugewandt hat. So existiert ein fortgeschrittener politischer und akademischer Dis-

2.1 Internationale Piratenwelt

kurs über Idee und Praxis der sogenannten Wis-

Schon vor der Gründung der schwedischen Pi-

sensallmende (Dobusch/Quack 2011). Eine vor

ratenpartei (Piratpartiet) hat es in Schweden

allem von Künstlern, Wissenschaftlern und Ju-

mit Knivsta.Now, Demoex oder Aktiv Demokrati

risten getragene Bewegung mobilisiert auf

Parteien gegeben, die das Internet als ihre zen-

transnationaler Ebene seit Jahren für eine An-

trale Mobilisierungsressource und als Ort ih-

passung des Urheberrechts an das digitale

rer Entscheidungsfindung einsetzten (Boyd

Zeitalter (Dobusch/Quack 2010: 5 ff.). Auch

2008). Im Unterschied zu diesen gründete sich

über digitale Bürgerrechte wird in Deutschland

die Piratpartiet Anfang 2006 vor allem infolge

seit den 1980er Jahren debattiert (Mayer-

des inhaltlichen Konflikts um eine stärkere

Schönberger 2011). Ebenfalls aus den 1980er

staatliche Regulierung der Internetkommunika-

Jahren stammen Impulse aus der Hackerbewe-

tion. Dieses Thema war bei der besonders web-

7


D IE P IRATENPARTEI

affinen schwedischen Bevölkerung virulent,

Gut zwei Jahre später aber wurde mit einem

weil der internetbasierte Austausch von urhe-

gerichtlichen Verfahren gegen The Pirate Bay

berrechtlich geschützten Daten zunahm (Bar-

das Thema Filesharing in Schweden erneut auf-

tels 2009: 28 ff.; Koß 2011: 353 ff.). Um das so-

gegriffen (Gürbüz 2011: 25; F. Neumann 2011:

genannte Raubkopieren besser zu bekämpfen,

27 f.). Parallel dazu debattierte das schwedi-

gründeten verschiedene Unternehmen der Un-

sche Parlament zwei Gesetzesvorhaben zu den

terhaltungsindustrie im Jahr 2001 die Organi-

Themen Telekommunikationsüberwachung und

sation Antipirateriebüro, woraufhin sich als

Urheberrecht (Koß 2011: 364 f.), was die Auf-

Gegenreaktion 2003 das sogenannte Piraten-

merksamkeit wieder stärker auf die Piratpar-

büro formierte, aus dem heraus Anfang 2006

tiet lenkte, die ihre inzwischen auf 5000 gesun-

schließlich die Piratpartiet entstand (F. Neu-

kene Mitgliederzahl infolgedessen auf 50.000

mann 2011: 25 f.).

steigerte und so zur drittgrößten schwedischen

Die neue Partei verknüpfte in ihrem Pro-

Partei avancierte (Koschmieder 2012: 9). Bei

gramm das Ziel eines freien und offenen Aus-

den Europawahlen Anfang Juni 2009 konnte die

Kulturkampf in

tauschs von Wissen und Kultur im Internet mit

Partei dann mit 7,1 Prozent sogar Mandate im

Schweden

bürgerrechtlichen Anliegen, vor allem auf dem

Straßburger Parlament erlangen.

Gebiet des Datenschutzes (Koß 2011: 356;

Doch gerade bei Europawahlen basieren in

F. Neumann 2011: 30 ff.). Immerhin 10.000 Mit-

Schweden die Wahlentscheidungen weniger

glieder traten prompt der Partei bei, wobei die

auf langfristigen Überzeugungen (Larsson

kostenfreie Mitgliedschaft diesen Wert natür-

2011: 4; Wagner 2012: 49), sodass der Wahler-

lich relativiert (Koschmieder 2012: 9). Der Par-

folg nicht als nachhaltig gesichert gelten konn-

teigründer Rickard Falkvinge stilisierte seiner-

te. Weil nach dem Ende des Pirate-Bay-Prozes-

zeit den Konflikt um die populäre Filesharing-

ses die Aufmerksamkeit für die Themenagenda

Plattform The Pirate Bay zu einem Kulturkampf

der Piraten wieder schwand und die anderen

zwischen altem und neuem Modell der gesell-

schwedischen Parteien sich programmatisch

schaftlichen Kommunikation. Auf diesem Wege

an die Forderungen der Piraten anpassten, ver-

entwickelte sich eine bis heute verbreitete

loren diese wieder an Attraktivität. Sie büßten

Gründungserzählung der Piraten (F. Neumann

über die Hälfte ihrer Mitglieder ein, konnten

2011: 29 f.). Freilich ließ sich dieser Zuspruch

bei der Reichstagswahl 2010 ihren Stimmenan-

bei der folgenden Reichstagswahl nicht in Wäh-

teil gegenüber 2006 kaum steigern und kämp-

lerstimmen übersetzen. Die Piratpartiet ver-

fen seitdem erfolglos gegen ihren weiteren po-

fehlte mit lediglich 0,6 Prozent der Wählerstim-

litischen Niedergang an (Koschmieder 2012:

men die Hürde zur parlamentarischen Reprä-

10; Koß 2011: 367; Wagner 2012: 53).

sentation (Koschmieder 2012: 4; Zolleis/Prokopf/Strauch 2010: 9).

Das Auftauchen und der Erfolg der schwedischen Piratpartiet gaben indes den Impuls für die Gründung weiterer Piratenparteien in mitt-

8


E NTWICKLUNG UND G ESCHICHTE

Tabelle 1:

Europäische Piratenparteien bei Wahlen auf nationaler Ebene Partei

Land

Letzte Wahl

Ergebnis

Piratenpartei

Deutschland

2009

2,0 %

Piratpartiet

Schweden

2010

0,7 %

Piratenpartij

Belgien

2010

0,3 %1

Piratenpartei

Schweiz

2011

0,5 %

Partido Pirata

Spanien

2011

Komma Piraton Elladas

Griechenland

2012

0,5 %

Parti Pirate

Frankreich

2012

0,8 %3

Piratenpartij

Niederlande

2012

0,3 %

0,3 bis 0,5 %2

1 Ergebnis im einzigen Wahlkreis, in dem die Partei antrat. 2 In Wahlkreisen, in denen die Partei antrat. 3 Durchschnittsergebnis der 101 von 577 Wahlkreisen, in denen die Partei antrat. Quelle: Eigene Darstellung mit Daten von Koschmieder (2012); Stark (2012).

lerweile 64 Ländern (Dobusch/Gollatz 2012:

Als primäre inhaltliche Ziele forderten die

28). Diese agieren vornehmlich als nichtetab-

Piraten die Freiheit des Wissens und der Kul-

lierte Kleinparteien; Erfolge bei Wahlen blie-

tur, die Wahrung der Privatsphäre, einen glä-

ben größtenteils aus.

sernen Staat und die Transparenz politischer und administrativer Prozesse. Dabei waren es

2.2 Deutschlands Piraten: Aufstieg der Außenseiter

vor allem die schwelenden Konflikte um digitale Bürgerrechte und das Urheberrecht, welche zur deutschen Parteigründung motiviert hatten.

In Anbetracht der Wahlergebnisse ist gegen-

Gründer der Partei beschreiben das gerne mit

wärtig Deutschland international gesehen das

der Metapher einer „Politik aus Notwehr“

„Politik aus

Zentrum der Piraten; dort hatte sich eine ent-

(Wagner 2012: 58). Auch wenn diese Selbstbe-

Notwehr“

sprechende Partei im Spätsommer 2006 ge-

schreibung stark auf Themen der Informations-

gründet. Anders als in Schweden wurde die

gesellschaft zugeschnitten war, so ist die Not-

Parteigründung dabei weniger durch einen vi-

wehrmetaphorik bis heute ein wesentlicher Teil

rulenten öffentlichen politischen Konflikt,

des politischen Selbstverständnisses der Mit-

sondern eher durch eine Mischung aus laten-

glieder: Vier von fünf Piraten geben jedenfalls

ter persönlicher Verärgerung und strategi-

als Grund für ihr Engagement bei den Piraten

scher Kalkulation ihrer frühen Mitglieder ge-

eine Unzufriedenheit mit der politischen Lage

trieben.

in Deutschland an (Kegelklub 2012: 11).

9


D IE P IRATENPARTEI

Überschaubares Vorfeld

10

Die Gründer waren männlich, vornehmlich

diese Mühe, sich zwischen einer als kulturell

jung, aber nicht mehr unbedingt jugendlich und

fremdartig und unmodern empfundenen Lin-

wiesen beruflich oder privat eine starke Affini-

ken, einem anachronistischen Konservatismus

tät zu den Kernthemen ihrer Partei auf. Die

und einem oberflächlichen Wirtschaftslibera-

Wichtigkeit von Datenschutz oder Konzepte wie

lismus politisch einzuordnen. Kurzum, die Ori-

Open Access waren oftmals genuiner Teil ihres

entierungsmuster aus der Moderne passten

Berufsalltags. Einige der frühen Piraten haben

nicht mehr zur eigenen postmodernen berufli-

sich bereits zuvor im Zusammenhang mit den

chen, kulturellen und sozialen Identität.

entsprechenden Organisationen für netzpoliti-

Nach vorheriger Kontaktaufnahme ihrer

sche Themen engagiert. Bis dato hatten sie

Gründer im Internet konstituierte sich die Pira-

aber eher selten in größeren, festen Organisa-

tenpartei formell im September 2006. Die kul-

tionsformen politisch gearbeitet. Flexibel hatte

turelle Homogenität und subkulturelle Absei-

man sich Initiativen angeschlossen, mit Part-

tigkeit der frühen Piraten zeigt sich auch am

nern kooperiert und Projekte angefangen oder

Ort der Parteigründung. Diese fand im Berliner

beendet.

Club C-Base statt, einem beliebten Treffpunkt

Das überschaubare politische und kulturelle Vor- und Umfeld der frühen Piratenpartei

für Hacker, Netzaktivisten und andere digitalkulturell orientierte Gruppen der Hauptstadt.

bestand aus verschiedenen Nichtregierungsor-

In ihrer ersten Entwicklungsphase gelang

ganisationen und Initiativen in den Bereichen

der Piratenpartei zwar die Gründung von Ver-

Datenschutz, Bürgerrechte und Netzpolitik.

bänden in allen Bundesländern, das schlep-

Hierbei handelt es sich um organisatorische

pende Mitgliederwachstum sowie die ersten

Kernfragmente eines lange gewachsenen Inter-

Wahlergebnisse verhießen ihr jedoch kaum

netmilieus (Hensel 2012a), dessen politisch

eine Entwicklungsperspektive. Mit ihren Aktio-

aktive Mitglieder bis dato jedoch kaum Einfluss

nen erzielten die Piraten ebenfalls wenig öf-

auf das politische Geschehen erlangt hatten

fentliche Resonanz; teilweise nahm man sie als

und die sich daher teilweise der politischen Or-

Kleinpartei mit kruden Themen und Ansichten

ganisationsform Partei öffneten. Darüber hin-

wahr (Bartels 2009: 57; Niedermayer 2010: 85).

aus aktivierte die Piratenpartei einige zuvor

Zudem hatten die Piraten mit den formaljuristi-

politisch zwar interessierte, aber parteipoli-

schen Hürden des politischen Wettbewerbs,

tisch heimatlose Menschen: Einige der oft tech-

wie der Sammlung der zur Wahlteilnahme not-

nisch und naturwissenschaftlich versierten

wendigen Unterstützerunterschriften, stark zu

Mitglieder der Piraten artikulieren das diffuse

kämpfen. Die Erarbeitung eines Wahlpro-

Bedürfnis, eine in ihrer Jugend verpasste poli-

gramms für die Bundestags- und Europawahl

tische Revolte nachzuholen. Ausgehend von

sowie die Vertiefung des Grundsatzprogramms

den Erfahrungen in ihrer politischen Prägungs-

verliefen auf dem Bundesparteitag in Bielefeld

zeit in den 1980er und 1990er Jahren, hatten

2008 zugleich ausgesprochen chaotisch (Wag-


E NTWICKLUNG UND G ESCHICHTE

ner 2012: 64), sodass die Piratenpartei wenig

Drittens war nun ausgerechnet der Be-

aktionsfähig wirkte.

reich Kinderpornografie dasjenige Feld

Diese Situation änderte sich 2009, als die

im Internet, bei dem selbst in den derbs-

Piratenpartei einen für eine nichtetablierte

ten Foren eine gewisse Selbstregulation

Kleinpartei furiosen Wachstumsschub erlebte,

funktionierte.

der ihre zweite Entwicklungsphase prägte. Die Zahl der Mitglieder wuchs auf mehr als 11.000

Die Netzsperren wurden vor diesem Hinter-

an. Das ermöglichte den Ausbau der Struktu-

grund als plumper Angriff auf die im Internet

ren, führte zu einer gesteigerten medialen Auf-

gewachsene Lebenskultur angesehen.

merksamkeit und brachte der Partei schließ-

Die Mischung aus technischen, kulturellen

lich ein Ergebnis von 2,0 Prozent bei der Bun-

und bürgerrechtlichen Einwänden führte zur

destagswahl 2009 ein (Niedermayer 2010).

bislang folgenreichsten netzpolitischen Debat-

Auslöser für diesen Entwicklungssprung war

te in Deutschland (Bieber 2010: 54 f.). Die Akti-

eine zeitlich günstige Abfolge von Ereignissen.

visten protestierten in diversen digitalen Kanä-

Nachdem die damalige Bundesfamilienministe-

len und sammelten Unterstützung für eine

rin Ursula von der Leyen eine Debatte über ein

Online-Petition beim Bundestag. Im Juni 2009

Zugangserschwerungsgesetz angestoßen hat-

kulminierte der Protest, als gerade einmal zwei

te, mittels dessen Internetseiten mit kinderpor-

Tage nach Ende der Zeichnungsfrist die Große

Netzsperren als

nografischen Inhalten gesperrt werden sollten

Koalition das Vorhaben verabschiedete. Die bis

politisches

(Zolleis/Prokopf/Strauch 2010: 10), formierte

dato vorwiegend virtuelle Kampagne hatte of-

Erweckungserlebnis

sich dagegen in einer zunächst überschauba-

fenkundig keinen Erfolg gehabt. Selbst der da-

ren Fachöffentlichkeit scharfe Kritik, der sich

mit bereits in Zusammenhang gebrachte Ach-

auch die Piratenpartei frühzeitig anschloss.

tungserfolg der Piratenpartei bei der Europa-

Unstreitig war das Ziel, gegen kinderpornogra-

wahl mit 0,9 Prozent der Stimmen entfaltete

fische Internetseiten vorzugehen. Kritik mach-

keine Wirkung bei der Bundestagsmehrheit.

te sich aber an drei Aspekten fest (Reißmann/

Daraufhin kam es in verschiedenen deutschen

Stöcker/Lischka 2012: 18; Wagner 2012: 71;

Städten zu Demonstrationen, zugleich erklärte

Zolleis/Prokopf/Strauch 2010: 8):

der langjährige SPD-Abgeordnete und Netzexperte Jörg Tauss seinen Übertritt zur Piraten-

Erstens wurde aus technologischer Sicht

partei (Bieber 2012a: 28). Verstärkt wurde die

das Instrument von Netzsperren als untaug-

ohnehin schon beachtliche Aufmerksamkeit

lich angesehen, um überhaupt wirksam ge-

durch das gute Abschneiden der schwedischen

gen Kinderpornografie vorzugehen.

Piratpartiet bei den Europawahlen.

Zweitens wurden Netzsperren als Einfalls-

In diese günstige politische Situation fiel

tor einer umfassenderen Zensur im Internet

der Bundestagswahlkampf, der einen guten

verstanden.

Teil der Protestenergien auf die Piratenpartei

11


D IE P IRATENPARTEI

lenkte. Die Wahlkampfsituation erleichterte

stellungsmerkmal an die etablierten Parteien

den weiteren Strukturaufbau und half, die Mas-

zu verlieren, weil diese sich thematisch öffne-

sen neuer Mitglieder zu integrieren (Bieber

ten und Positionen der Piraten übernahmen.

2012a: 28). So hektisch, improvisiert und zum

Bei Wahlen steckten die Piraten fortan deutlich

Teil auch dilettantisch die Piraten sich in dieser

unterhalb der Sperrklausel fest, hatten aber

Zeit anstellten – im Rückblick kanalisierte die

bereits hinsichtlich ihrer Mitgliederzahl und

angespannte Wahlkampfsituation das Wachs-

ihrer Wahlergebnisse alle anderen Kleinpar-

tum der Partei überaus effektiv. Die Partei pro-

teien außerhalb des Bundestags überflügelt

fitierte dabei stark von ihren organisatorischen

(Niedermayer 2010: 842). Die eigentlich recht

Besonderheiten: In den Mitmach-Wahlkampf

beachtlichen zwei Prozent der Wählerschaft,

konnten sich die neuen Mitglieder und Sympa-

die sie beständig bei allen folgenden Landtags-

thisanten durch die schwach ausgeprägten

wahlen erreichten, bedeuteten aus Sicht

Routinen und Strukturen leicht einbringen, ja

der ungeduldigen Newcomer nach dem sprung-

sie mussten das sogar, denn den Piraten fehlte

haften Wachstum aber eine lähmende Stagna-

seinerzeit fast jede Art konventioneller Res-

tion.

sourcen (Bieber 2010: 38 f.). So wurden dezen-

Das rasante Wachstum im Jahr 2009 hatte

tral organisierte Wahlkampfaktionen geplant,

derweilen eine kulturelle und ideologische

Pluralisierung der

mit Hilfe von Online-Tools kollektiv an Plaka-

Pluralisierung der Mitglieder mit sich ge-

Mitgliedschaft

ten, Flugblättern oder Texten gearbeitet, und es

bracht, die eine Weiterentwicklung der kollek-

wurden zuweilen überaus kreative Ideen ent-

tiven Identität herausforderte. Dazu gehörten

wickelt. Gerade die Online-Aktivitäten der Pi-

erste Ansätze einer Flügelbildung und das für

raten erreichten in dieser Phase mit rein ehren-

Kleinparteien übliche Problem, dass radikale

amtlichem Einsatz eine erstaunlich hohe Prä-

Minderheiten, notorische Querulanten und po-

senz und Wirkung, die zu den etablierten Par-

litische Freaks angezogen wurden (Niedermay-

teien durchaus konkurrenzfähig war (Unger

er 2013b: 93). Durch das Ausbleiben von Wahl-

2012: 140). Trotzdem unterschritten die Piraten

erfolgen und medialer Resonanz wurde es

bei der Bundestagswahl die Hürde der parla-

schwerer, die Motivation zur Mitarbeit auf-

mentarischen Repräsentation mit zwei Prozent

rechtzuerhalten. Der inhaltliche Entwicklungs-

der Stimmen deutlich. So nahm die mediale

prozess erwies sich als überaus zäh. Unter Mü-

Aufmerksamkeit wieder ab, und zugleich ende-

hen gelang es, einige sozial- oder bildungspo-

te das Wachstum ihrer Mitgliederzahlen.

litische Forderungen aufzunehmen. Die Anzei-

12

Hiermit wurde die dritte, von Stagnation

chen einer dauerhaften Selbstblockade der

und Konsolidierung geprägte Entwicklungs-

jungen Partei, die sich auf Parteitagen

phase eingeleitet (Bieber 2012a: 29). Wie in

zusehends in exzessiven Satzungs- und Struk-

Schweden auch lief die Piratenpartei unter-

turdebatten verlor, mehrten sich (o. V. 2010;

dessen Gefahr, ihr programmatisches Allein-

Theile 2010).


E NTWICKLUNG UND G ESCHICHTE

Eine positive Wendung der Parteientwick-

gliederzahlen der Piraten bundesweit von ca.

lung brachte der Wahlkampf zum Berliner Ab-

12.000 im September 2011 auf über 34.000

geordnetenhaus im Spätsommer 2011. Die Pi-

Ende 2012 an. Man rangierte während der ers-

raten wirkten hier längst nicht so exotisch wie

ten Jahreshälfte 2012 in den Umfragen deutlich

in anderen Teilen der Republik, sondern waren

vor FDP und Linken und sah sich bereits auf Au-

quasi Teil eines spezifischen Submilieus, das

genhöhe mit den Grünen. Im Frühjahr 2012 zo-

in der „Hauptstadt der deutschen Netzpolitik“

gen die Piraten dann entsprechend souverän

(Bieber 2012a: 32) gedieh. Ausgehend von die-

und selbstbewusst in drei weitere Landtage ein.

ser vergleichsweise günstigen Lage, eröffne-

Für die Wahlen des Jahres 2013 rechnete man

ten die besondere Situation der Berliner Poli-

sich ebenfalls beste Chancen aus.

tik sowie die strategischen Fehler und politischen Schwächen ihrer Konkurrenten den Piraten ein ungeahntes Gelegenheitsfenster. Mit linksliberal und progressiv anmutenden Forde-

2.3 Zwischen Idealen und Notwendigkeiten

rungen sowie mittels eines überaus geschick-

Allerdings gelang es den Piraten nicht, ihr Hoch

ten wie ansprechenden Wahlkampfs stießen die

zu halten. Spätestens im Herbst 2012 näherten

Piraten vor allem in eine durch die strategischen

sich die Piraten sukzessive der 5-Prozent-Hür-

Volten der Grünen geöffnete politische Reprä-

de an. Verantwortlich dafür erscheinen ein

sentationslücke (Haas/Hilmer 2012: 186 ff.;

Bündel von neuen Herausforderungen sowie

Hensel 2011). Den Piraten gelang es, zu einem

einige ins Negative verkehrte Eigenschaften

politisch und kulturell attraktiven Außenseiter

der Partei selbst. Seit dem Rückzug der politi-

zu avancieren. 8,9 Prozent der Wählerstimmen

schen Geschäftsführerin Marina Weisband

bedeuteten 15 Abgeordnete der Piraten im Ber-

fehlt der Partei das mediale Aushängeschild.

liner Landesparlament. Schlagartig stieg vor

Der flexible Aufbau ist bei anstehenden Wah-

diesem Hintergrund bundesweit die Aufmerk-

len im Idealfall zwar sehr handlungsfähig, aber

samkeit. Die Partei war damit aus der Ecke der

die amorphe Masse, die gleichzeitig koope-

zu vernachlässigenden nichtetablierten Klein-

riert, intrigiert und koexistiert, lässt sich

parteien entkommen. Sie erschien nun vielen

ansonsten nicht immer zielgerichtet zusam-

Menschen als wählbar, zumindest weckte sie

menführen.

Neugier.

Mit der Parlamentswürdigkeit stellen sich

Damit wurde die vorerst letzte Entwick-

nun die gleichen Erwartungen an die Piraten

lungsphase der Piratenpartei eingeleitet, die

wie an eine Bundestagspartei. Organisatorisch

Christoph Bieber als „ungesundes Wachstum“

sollen sie professionell auftreten und program-

kennzeichnete (Bieber 2012a: 29). Im Zuge der

matisch zu allen möglichen Themen Stellung

gestiegenen medialen Berichterstattung vor

beziehen. Fehler, Missverständnisse oder

allem über die Berliner Piraten stiegen die Mit-

Mängel werden von der medialen Berichter-

13


D IE P IRATENPARTEI

Steigende Anforderungen

14

stattung aufgegriffen und kommentiert. Sorg-

deten den Auftakt für eine intensive Debatte

sam wird beobachtet, was in der Partei tatsäch-

über einige Defizite der Partei. Auch ihre

lich vor sich geht: Die eigenwilligen Rituale, die

schwache Finanzkraft wurde nun mehr und

die Piraten auf Parteitagen pflegen, die giftige

mehr thematisiert. Ebenso negativ fielen die

und destruktive Art, mit der oftmals via Mai-

zahlreichen Rückzüge aus der Parteispitze

linglisten kommuniziert wird, oder die verbrei-

oder aus den Landesvorständen auf. Gleichzei-

tete Angewohnheit, das Führungspersonal hef-

tig begann die Parteispitze, sich ein Scharmüt-

tig zu attackieren: All das existiert unvermin-

zel um und mit ihrem politischen Geschäftsfüh-

dert weiter in der Partei, findet aber nunmehr

rer, Johannes Ponader, zu liefern. Dessen Be-

wirklich öffentliche Aufmerksamkeit.

zug von Arbeitslosengeld, sein anschließender

Gleichzeitig müssen sich die Piraten in der

Verzicht darauf und eine innerparteilich umstrit-

parlamentarischen Arbeit beweisen. Die in den

tene Spendenaktion für seinen Lebensunterhalt

medialen Fokus gerückten Mandatsträger ha-

lösten eine muntere Debatte auch außerhalb der

ben ihrerseits Mühe, die gewachsene Basis

Partei aus. Die politischen Konkurrenten gingen

entsprechend dem eigenen Anspruch einzube-

zugleich mit den Piraten nicht mehr so verständ-

ziehen. Erfordernisse an Effizienz sowie der

nisvoll um wie in den ersten Monaten ihrer par-

empfundene Druck der Verantwortlichkeit den

lamentarischen Existenz. Bis zum Sommer 2012

eigenen Wählern gegenüber passen nicht zu

perlte die Kritik an den Piraten noch ab, ja sporn-

den ausschweifenden Formen der politischen

te sie weiter an. Doch dann begann sie sich zu

Debatte in der Partei. Umfassende Öffentlich-

verfestigen. Mangelnde Fraktionsdisziplin und

keit und vertrauliche Zusammenarbeit mit poli-

fehlende inhaltliche Kohärenz führten in Kombi-

tischen Verbündeten stehen ebenso in einem

nation immer öfter zu der Frage, wofür die Pira-

Widerspruch. Die thematische Vielfalt, zu der

ten eigentlich stünden.

sich die Mandatsträger auf einmal zu verhalten

Regelrecht erschüttert wurde die lange

haben, überfordert nicht nur sie selbst, son-

geradezu intuitiv entwickelte Glaubwürdigkeit

dern verändert auch die Selbstwahrnehmung

der Piraten mit der Veröffentlichung des Erst-

der Piraten an der Basis.

lingswerks der Vorstandsbeisitzerin Julia

Einen wirklichen Tiefschlag erfuhren die

Schramm. Sie hatte einen horrenden Vorschuss

Piraten jedoch erst, als die Aufstellung der

für ihr Buch erhalten, welches nach Erscheinen

Kandidaten zur niedersächsischen Landtags-

als Raubkopie im Internet auftauchte, wogegen

wahl erfolgreich angefochten wurde und auch

Schramms Verlag umgehend vorging. Dabei

die Wiederholung nicht pannenfrei über die

entstand vielfach der Eindruck, eine herausge-

Bühne ging. Die hämischen Kommentare, nach-

hobene Piratenpolitikerin agiere zusammen

dem die Piraten in zwei Tagen nur einen einzi-

mit der Verwertungsindustrie gegen Piraterie,

gen Wahlgang ordnungsgemäß durchgeführt

untergrabe so eine Kernidee und damit die In-

hatten (Reinbold 2012b; Wallbaum 2012b), bil-

tegrität der Piraten. Schramm wie Ponader wur-


E NTWICKLUNG UND G ESCHICHTE

den in der Zwischenzeit als personifizierte Ur-

nige Zeit von den etablierten Parteien abgeho-

sache für den schleichenden Niedergang der

ben hatte, ein wenig verflogen. In früheren

Partei angesehen (Reinbold 2012a). Schramm

Wahlkämpfen hatten die Piraten noch überaus

trat schließlich zurück. Aus Protest gegen Po-

lustvoll mit konventionellen wie kreativen Ak-

nader legte ein weiterer Beisitzer des Bundes-

tionsformen experimentiert und einen durch-

vorstandes, Matthias Schrade, zeitgleich sein

aus innovativen Mitmachwahlkampf geboten.

Amt nieder. Der Konflikt zwischen Ponader auf

Davon ist manches erhalten geblieben, doch

der einen und der Mehrheit des Bundesvor-

viele Piraten wirken inzwischen sehr viel ver-

stands auf der anderen Seite schwelt seitdem

krampfter. Im Laufe des Jahres 2012 stand es

weiter.

für die meisten von ihnen außer Frage, noch in

Gleichzeitig eskalierte ein Streit in der

diverse Landtage und schließlich in den Bun-

Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen. Der

destag einzuziehen. Einige der Kandidaten ga-

Boulevard skandalisierte anzügliche Mittei-

ben ihre berufliche Stellung auf, zapften ihre

lungen, die einzelne Abgeordnete auf Twitter

Ersparnisse an und richteten ihre weitere Kar-

zum Besten gegeben hatten. Politisch erlangte

riereplanung ganz auf das erhoffte Mandat aus.

das Ganze an Schärfe, weil die parlamentari-

Andere liebäugelten mit einer Beschäftigung

sche Geschäftsführerin gleichzeitig öffentlich

als Abgeordnetenmitarbeiter. Politik wurde

von einer möglichen Auflösung der Fraktion

dadurch mit einem Male eine ernste Frage von

sprach. Die anschließenden Versuche, diese

biografischer, materieller und familiärer Pla-

Debatte einzudämmen, wurden von Teilen der

nung. Doch diese Planung ist inzwischen pre-

Partei missbilligt. Dort sah man die öffentli-

kär geworden. Der nun mit dem Scheitern in

chen Ratschläge des Fraktionsvorsitzenden

Niedersachsen erfolgte schlechte Start in das

Joachim Paul in Bezug auf das Kommunika-

Bundestagswahljahr 2013 hinterlässt Spuren.

tionsverhalten der Abgeordneten als Beitrag

Der Einzug in den Bundestag ist nicht mehr si-

zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit.

cher. Dabei wären für die Konsolidierung der

Kurzum: Die Lage für die Partei war ungüns-

Bundespartei Bundestagsmandate essenziell,

tiger geworden, was die Nervosität vieler Pira-

wie führende Köpfe der Partei einräumen. Die

ten merklich ansteigen ließ. Im Zuge dessen ist

Partei droht nämlich andernfalls in eine

der spielerische Impuls, der die Piraten für ei-

Abwärtsspirale zu geraten.

15


D IE P IRATENPARTEI

3. Organisation der Piraten

Die Organisation und die Organisationskultur

ben, die Mecklenburgische Seenplatte, der

der Piraten sind ebenso schillernd wie profan.

Nordwesten Niedersachsens, der Norden Thü-

Aufgrund der Integration von digitalen Werk-

ringens sowie der ostwestfälisch-lippische Be-

zeugen in den Parteialltag sowie der Orientie-

reich. Dort beschränkt sich das Engagement

rung an organisationskulturellen Impulsen aus

der Piraten im besten Fall auf die größeren Re-

der Internetkultur gilt die Piratenpartei als in-

gionalzentren.

novativ. Doch täuscht das leicht darüber hin-

Die eigentliche Grundorganisation der Pi-

Konventionelle

weg, dass der formale Aufbau und der Partei-

raten bildet – unabhängig von der Existenz ei-

Strukturen

alltag der Piraten in vielerlei Hinsicht konven-

nes Kreisverbands – der Stammtisch oder die

tionell verfasst sind. So verfügt die Piratenpar-

Crew. Stammtische sind informelle Treffen, die

tei über die üblichen Organe und territorialen

einerseits das soziale Miteinander in der Par-

Gliederungsebenen. Die Satzung ist sogar al-

tei unterstützen, die aber andererseits dazu

les andere als originär piratig, sondern deut-

dienen, durch physische Präsenz zur gesell-

lich von derjenigen der Freidemokraten beein-

schaftlichen Verankerung der Partei beizutra-

flusst. Zumindest sind 13 der 16 Paragrafen der

gen. Weil sie als wichtigstes Werbeinstrument

Gründungssatzung wörtlich oder nahezu wört-

der Partei gelten, tagen sie zumeist bewusst an

lich der Bundessatzung der FDP entnommen.

Orten mit Publikumsverkehr (Bartels 2009: 176; Gürbüz 2011: 96). Doch auch hier ist der Situie-

3.1 Die formale Gliederung

16

rungsprozess unübersehbar: Wie die etablierten Parteien tagen die Piraten inzwischen

Der Organisationsaufbau der Piraten folgt

oftmals in holzgetäfelten Kneipenhinterzim-

grundsätzlich dem territorialen politischen

mern oder nutzen für Sitzungen ihre Kreisge-

Aufbau der Bundesrepublik. Die Orts-, Kreis-

schäftsstellen.

oder Bezirksverbände entsprechen den gege-

Obwohl sie kein Satzungsorgan sind (Wilde

benen politischen Grenzen. Auf lokaler Ebene

2011: 16), erfüllen Stammtische oftmals die

sind zumeist die Kreisverbände die kleinste

Funktion, die in anderen Parteien Mitglieder-

politische Gliederung. Der jüngste Mitglieder-

versammlungen von Ortsverbänden einneh-

schub hat die Partei in die Lage versetzt, zahl-

men. Einige Stammtischgruppen unterschei-

reiche Untergliederungen neu zu gründen und

den genau zwischen inhaltlichen Arbeitsgrup-

vor Ort einigermaßen flächendeckend Stamm-

pen und geselligen Runden. Mancherorts wird

tische anzubieten. Dennoch gibt es einige Re-

großzügig Bier und Wein konsumiert und

gionen, in denen die Partei weiterhin eher

hinterher mit kollektiver Umlage bezahlt, an-

schwach vertreten ist. Dazu gehören größere

dernorts bleibt man bei individuell bezahltem

Teile Nordhessens, der Süden Sachsen-An-

Wasser und Schorle. In manchen Bereichen ist

halts, Nordsachsen, Südbaden, die Schwäbi-

es üblich, Protokoll zu schreiben, in anderen

sche Alb, Niederbayern, Unterfranken, Schwa-

wäre das müßig. Der eine Stammtisch legt Wert


O RGANISATION DER P IRATEN

auf strukturierte Sitzungen mit fester Tagesord-

aber nicht; diese können von Parteitagen auf

nung, der andere fällt dadurch auf, dass die

den jeweils konstituierten Ebenen getroffen

Teilnehmer sich größtenteils anschweigen.

werden. Parteitage werden durchgängig als

Wieder anderswo diskutiert man Themen mun-

Mitgliederversammlungen abgehalten. Mit ei-

ter durcheinander oder bringt die eigenen Be-

nem Mitgliederbestand von insgesamt über

findlichkeiten ein. Auch Tratsch und Klatsch

34.000 stellt insbesondere die Organisation

über Parteiinterna finden ihren Platz bei den

einer bundesweiten Mitgliederversammlung

Stammtischen.

bereits jetzt eine immense logistische Heraus-

Eine ähnliche Funktion haben auch die so-

forderung dar, die nur mit einem halben Jahr

genannten Crews, die in Sachsen, in Bayern, in

Vorlauf zu bewältigen ist. Kurzfristige Parteita-

Baden-Württemberg und im Saarland nur sehr

ge sind dadurch faktisch unmöglich. Die Partei

vereinzelt existieren, dafür in Berlin und Nord-

verlangt ihren teilnehmenden Mitgliedern

rhein-Westfalen aber ganz oder teilweise an

dabei zudem eine erhebliche Bereitschaft zum

die Stelle von Stammtischen, Orts- oder sogar

Einsatz eigener Ressourcen ab, weil Fahrt- und

Kreisverbänden treten. Hierbei schließen sich

Unterbringungskosten individuell zu tragen

fünf bis neun Piraten zusammen, um in einem

sind.

überschaubaren örtlichen wie auch themati-

Eine Entscheidung, ein Beschluss oder eine

schen Rahmen miteinander zu arbeiten. Bei

Wahl hängen in diesem System letztlich stark

wachsender Gruppengröße ist die Crew eigent-

vom Austragungsort des jeweiligen Parteitags

lich zu teilen, doch das unterbleibt mittlerweile

ab. Sowohl die Wahl des Norddeutschen Bernd

oftmals. In ihrer Informalität und Selbstorgani-

Schlömer gegen den Tübinger Sebastian Nerz

sation ist die Crew eine hochgradig flexible

2012 als auch die Wahl von Nerz gegen Christo-

Organisationsform, die losgelöst von den for-

pher Lauer aus Berlin 2011 ist in jedem Falle

malen, an feste Wahlzyklen gebundenen Vor-

koinzident mit der Anwesenheit der jeweiligen

standszeiten existieren kann. Zugleich zeigt

Landesverbände, die wiederum ihrerseits of-

sich, dass diese Organisationsform vor allem

fensichtlich vom gewählten Veranstaltungsort

auf die stark besiedelten Regionen zugeschnit-

abhängt. In der Piratenpartei gibt es, auch in

ten ist; in der Peripherie lassen sich die Vortei-

Anbetracht solcher Entwicklungen, Bestrebun-

le der Flexibilität aufgrund der geringeren Zahl

gen, dezentrale Parteitage auszurichten. Erste

an Aktiven kaum ausschöpfen.

Kreisverbände haben damit experimentiert

In den Crews und Stammtischen wird über

(Neumann/Fritz 2012: 333), was in der Partei

anstehende und oftmals lokal orientierte Akti-

sehr unterschiedlich beurteilt wird. Ein zentra-

vitäten beraten, sich über die Arbeit der Partei

les Problem dieser Idee stellt das Fehlen einer

im Allgemeinen ausgetauscht oder über die

informellen Kommunikationsebene vor Ort dar.

politischen Rahmenbedingungen gesprochen.

Diese Ebene wird auch von den Piraten als

Programmatische Entscheidungen fallen dort

Raum für Vorabsprachen und Aushandlungs-

Ortswahl beeinflusst Parteitagsergebnisse

17


D IE P IRATENPARTEI

Tabelle 2:

Bundesparteitage der Piraten Jahr

Ort

Teilnehmerzahl

2006

Berlin (Gründungsversammlung)

52

2007

Stockheim

55

2008

Langenhagen

2008

Bielefeld

43

2009

Hamburg

232

2010

Bingen

2010

Chemnitz

560

2011

Heidenheim

783

2011

Offenbach

1255

2012

Neumünster

1491

2012

Bochum

2023

102

1001

Quelle: Eigene Darstellung mit Daten von Piratenwiki (2007) sowie Stiefel (2012).

prozesse genutzt; sie hat für die Organisation

burg-Vorpommern virtuelle Abstimmungen für

von Wahlkampfaktivitäten, für den Aufbau und

geeignet, um dem erkennbaren Problem der

die Pflege personeller Netzwerke sowie für die

zunehmenden Ineffizienz der Parteitage zu be-

Fokussierung von inhaltlichen Debatten eine

gegnen. Zusehends verbreitet sich die Überzeu-

große Bedeutung. Solche Prozesse finden vor,

gung, dass das gegenwärtige System der Ba-

nach und parallel zur offiziellen Veranstaltung

sisversammlungen eine Elitendemokratie er-

statt. Diese Ebene informeller Kontakte entfie-

zeuge und die Entstehung einer „Geldoligar-

le oder würde sowohl bei dezentralen Parteita-

chie“ vorantreibe (Sorge 2012), da es vielen

gen als auch bei der Einrichtung einer ständi-

Mitgliedern schlicht an Zeit, Geld oder anderen

gen Mitgliederversammlung im Internet stark

Ressourcen fehle, um an den Parteitagen teil-

vermindert. Sie wäre indes auch bei der Etab-

zunehmen.

lierung eines Delegiertensystems eingeschränkt. Zukunft der

Gegenwärtig (Anfang 2013) gibt es um die-

3.2 Basisdemokratie und Delegation von Interessen

Basisdemokratie

se organisatorische Frage einen lautstarken

bei den Piraten

Streit in der Partei. Während in peripheren Re-

Während das ideale Delegationsmodell darauf

gionen wie auch im Bundesvorstand die Sym-

aufbaut, dass Vorstände und Delegierte den an

pathie für Delegiertensysteme wächst, halten

der Basis formulierten und beschlossenen Wil-

die Landesverbände von Berlin und Mecklen-

len weiterleiten, müssen Piraten nicht nur in

18


O RGANISATION DER P IRATEN

ihrer örtlichen Gliederung für Positionen wer-

dringend empfundenen Themen zur Beratung,

ben, sondern darüber hinaus auf den jeweils

jedoch manches ebenfalls wichtige, aber eben

relevanten Konferenzen präsent und aktiv sein,

spezifische Anliegen wird in der Partei schlicht

da hier wichtige (Vor-)Entscheidungen fallen

nicht beraten. Dabei kommt erfolgreichen An-

können. Doch es kann genauso sein, dass alle

trägen nicht mehr nur programmatische Rele-

Beschlüsse von vorherigen basisnahen Diskus-

vanz zu. Unter der Hand gilt gerade für bisheri-

sions- und Veranstaltungsrunden auf dem

ge Nichtfunktionsträger ein erfolgreich be-

nächsthöheren Parteitag im Zweifelsfall bloß

schlossener Antrag als die zentrale Währung

noch Makulatur sind. So zufällig Parteitage

zur Akkumulation innerparteilicher Reputation

nach regionaler Situierung zusammengesetzt

und legitimiert damit zusätzlich eine Kandida-

sind, so zufällig können deren Entscheidungen

tur zum Landtag oder Bundestag.

ausfallen.

Trotz der strukturellen Probleme, die eine

Hinzu kommt ein weiteres Problem des Or-

solche basisdemokratische Ausrichtung mit

ganisationsmodells: Seit die Piraten reale Aus-

sich bringt, stellt sie sich jedoch gegenwärtig

sichten auf Mandate haben, laufen sie vor al-

noch als Vorteil dar. Gerade weil Antrags- und

lem in größeren Landesverbänden Gefahr, am

Abstimmungsrechte nicht durch Delegation aus

Ende die Wahlteilnahme zu verpassen. So ver-

den Stammtischen und Crews heraus abgelei-

suchten etwa in Nordrhein-Westfalen 56 Kandi-

tet werden, ergeben sich keine Legitimations-

daten die Spitzenkandidatur bei der Landtags-

probleme hinsichtlich einer flexiblen und im

wahl zu erlangen. Über 100 weitere drängten

steten Wandel befindlichen Struktur vor Ort.

sich auf die dahinterliegenden Listenplätze.

Selbst die Abwicklung von Wahlkämpfen wird

Die obligatorische Vorstellung mit ihren ge-

durch die Abwesenheit eines einheitlichen und

setzlich vorgegebenen zeitlichen und organi-

flächendeckenden Unterbaus im Augenblick

satorischen Fristen sowie die piratenspezifi-

nicht tangiert.

sche Befragung von Kandidaten drohen jedes

Dass sämtliche Parteitage und Wahlver-

vorgegebene Zeitvolumen zu überschreiten.

sammlungen als Mitgliederversammlungen ab-

Offene Mitmach-

Die Parteistruktur kollidiert hier klar mit

gehalten werden, entspringt einer basisdemo-

strukturen

grundlegenden Effizienzerfordernissen.

kratischen Grundordnung, auf die die Partei

Ähnliches lässt sich für die Bundesparteita-

großen Wert legt. Das bedeutet: Ein Mitglied

ge feststellen. Fast 1500 Seiten Antragsbuch

ohne existierenden Kreisverband kann seine

lagen zum zweiten Bundesparteitag 2012 in

Positionen gleich auf der nächsthöheren Ebene

Bochum vor. Die schwer zu durchschauende

vertreten und bei Erlangung einer Mehrheit

Beschlussfassung über die Tagesordnung führ-

dort durchsetzen. Für die Parteiführung ergibt

te dazu, dass über 95 Prozent aller Anträge

sich zudem der Vorteil, dass die Partei im Falle

gleich zu Beginn faktisch erledigt waren. Zwar

vorgezogener Wahlen recht schnell aktionsfä-

gelangen so im Idealfall die von der Partei als

hig ist, weil die aufwendigen und gerade bei

19


D IE P IRATENPARTEI

Kleinparteien latent fehleranfälligen Verfah-

theorie geistert deswegen bis heute durch den

ren für die Wahl von Vertreterversammlungen

Berliner Landesverband. Eine derartige offene

entfallen und die Landeslisten wie die Wahl-

Einflussnahme ist seitdem eher nicht mehr zu

kreiskandidaten in Vollversammlungen be-

beobachten, wohl aber gibt es verdeckte For-

stimmt werden können. Für die Parteigründung

men. Die Versammlungs- und Wahlleitung der

und -konsolidierung war und ist diese Struktur

Bundesparteitage etwa besteht aus einem

daher förderlich.

recht festen Kreis von Personen, die zum gro-

Absehbar sind aber logistische und legiti-

ßen Teil dem Berliner Landesverband entstam-

matorische Probleme. Große und damit auch

men. Sie sind qua dieser Position in der Lage,

teure Hallen sind zunehmend erforderlich, der

die Versammlung zu beeinflussen, indem sie

organisatorische Aufwand steigt erheblich und

Verfahrensprozesse anstoßen und bei gehei-

politische Prozesse können so leichter eine Ei-

men Abstimmungen Hinweise geben, die leicht

gendynamik entfalten, die im schlimmsten Fall

bestimmte Ergebnisse begünstigen. Gerade die

selbstzerstörerische Züge annimmt. Die Form

zentralen Abstimmungen über die konkurrie-

der Vollversammlung verschafft zwar schein-

renden Tagesordnungsvorschläge eignen sich,

bar ein unverfälschtes Bild über Mehrheiten

um mittels einer formal begründeten Argumen-

und personelle Präferenzen in der Partei. Doch

tation eine thematische Agenda durchzuset-

dadurch werden andere Probleme virulent: So

zen.

ist einer plebiszitären Demokratie inhärent,

In der wirtschaftspolitischen Debatte auf

dass mit Minderheiten intolerant umgegangen

dem Bochumer Parteitag wurde ein weiterer

Informelle

wird und dass die scheinbare Herrschaft der

Mechanismus der informellen Machtstruktur

Machtstrukturen

Basis leicht von einer elitären Führungsschicht

deutlich. Nachdem ein erster Antrag bereits

manipulativ genutzt werden kann (Fraenkel

abgelehnt worden war und in Anbetracht zahl-

1991: 158; Weber 1976: 156). Tatsächlich finden

reicher kritischer Wortbeiträge auch einen

sich auch in der Piratenpartei entsprechende

zweiten Grundlagenantrag das gleiche Schick-

Anzeichen.

sal zu ereilen drohte, appellierten mehrere

20

Hierfür gilt innerparteilich die Aufstellung

Mitglieder und Mitarbeiter der Berliner Frak-

der Kandidaten zur Berliner Abgeordneten-

tion eindringlich an die Versammlung, trotz

hauswahl als Musterbeispiel. Einige Kandida-

Vorbehalten in der Sache den Antrag keines-

ten vereinbarten einen Reihungsvorschlag für

falls abzulehnen. Der ebenfalls dem Zirkel des

die Versammlung, den sie per Blogpost kom-

Berliner

munizierten. Diese Form der Absprache im Hin-

Wahlleiter appellierte im laufenden Abstim-

terzimmer wurde in der Partei nicht positiv auf-

mungsprozess an die Versammlung, man könne

genommen. Die Aufstellungsversammlung ig-

problemlos vielen einzelnen Abschnitten zu-

norierte den Vorschlag dann geflissentlich

stimmen, selbst wenn man für einen anderen

(Wagner 2012: 166 f.). Manche Verschwörungs-

Antrag sei, denn dieser werde ja noch folgen.

Abgeordnetenhauses

zugehörige


O RGANISATION DER P IRATEN

Dabei verschwieg er geflissentlich, dass be-

fensichtlich begrenzen wollen, haben sich nun

reits durch die Abstimmung der Tagesordnung

als Strömung unter dem Namen „Frankfurter

diese Anträge voraussichtlich nicht mehr auf-

Kollegium“ zusammengeschlossen (Becker

gerufen würden.

2012b). Es bleibt freilich abzuwarten, ob sie

Derartige Interventionen gerade der Berliner Piraten sind immer wieder zu beobachten.

künftig ihrerseits eine erfolgreiche Personalund Patronagepolitik betreiben können.

Sie unterstützen mit Verve bestimmte inhaltli-

Derartige Entwicklungen erinnern in eini-

che Forderungen oder drängen mit Nachdruck

ger Hinsicht an das Phänomen der „Tyrannei

auf organisatorische Veränderungen der Par-

der Strukturlosigkeit“ (Meves 2012: 5), das

tei. Ihr Hauptaugenmerk liegt in diesem Zusam-

bereits für feministische Bewegungen be-

menhang erkennbar auf der öffentlichen Wahr-

schrieben wurde (Freeman 2004): Nach einer

nehmung der Partei. Die Abgeordneten unter

anfänglich produktiven Phase der weitgehend

ihnen nutzen ihr Wissen über Verfahrensfra-

offenen, unstrukturierten und führungslosen

gen, um inhaltliche Entscheidungen entspre-

Organisation entwickeln sich aus gruppenin-

chend zu beeinflussen. In einer Vollversamm-

ternen Interaktionen oftmals unbemerkt infor-

lung aller Mitglieder sind allerdings nur weni-

melle Strukturen. Diese entstehen zumeist aus

ge anwesend, die das für die Masse übersetzen

Freundeskreisen, aus deren Kommunikations-

können. Im repräsentativen System sind es die

netzen sich im Laufe der Zeit exklusive Elitezir-

Delegationsleitungen oder Vorsitzenden der

kel entwickeln, die verdeckte Formen der

Teilgliederungen, die solche Tricksereien be-

Machtausübung und Willkür praktizieren. Der-

merken und rasch in ihre Delegationen kommu-

artiges widerspricht zwar eigentlich den auf

nizieren. In einer Versammlung mit 2000 Indi-

Offenheit und Egalität bedachten Prinzipien

viduen haben gerade neuere und unerfahrene

der Gruppe, wird aber aufgrund eines verbrei-

Teilnehmer kaum eine Chance, darauf zu rea-

teten Dogmatismus der Strukturlosigkeit und

gieren.

der formellen Unsichtbarkeit und Unverant-

Ergreifen überdies Abgeordnete mit ihrer herausgehobenen Stellung das Wort, fällt es

wortlichkeit entsprechender Gruppen übersehen oder ignoriert.

der Partei umso schwerer, sich hiervon zu

Insgesamt wird deutlich, dass die Piraten

emanzipieren, wenn diese in erster Linie auf

ihre Erfolge bislang unter den Bedingungen ei-

den Verfahrensfragen insistieren. Sie können

nes Wachstums organisieren konnten. Lange

aus dieser Kombination heraus Versammlun-

Zeit nutzte ihnen dementsprechend eine auf

Vorteile von

gen entscheidend, vor allem aber unmerklich

Dynamik und Unberechenbarkeit aufbauende

Flexibilität und

beeinflussen. Gegen die daraus resultierende

Organisationsstruktur. Schließlich gab es

Unberechenbarkeit

programmatische Entwicklung regt sich in der

bislang für jedes Mitglied nur etwas zu gewin-

Zwischenzeit Widerstand. Einige Piraten, die

nen, selten aber etwas zu verlieren. Jedes or-

den Einfluss des Berliner Flügels der Partei of-

ganisatorische Wagnis wurde eher als Chance

21


D IE P IRATENPARTEI

denn als Risiko verstanden. Spätestens aber

mangelt es aus Sicht der Piraten jedoch an der

wenn bereits etablierte Abgeordnete ihr Man-

erforderlichen Transparenz. Auch verfestigt sich

dat verteidigen und andere Mitglieder es ihnen

im Angesicht erfolgreicher Landtagswahlkämp-

streitig machen wollen, wird es problematisch.

fe die Wahrnehmung, dass ihr Organisations-

Dabei ist nicht nur die interpersonelle Ausein-

prinzip erfolgreich war, ja sogar die Grundlage

andersetzung im Einzelfall relevant, sondern

des eigenen Erfolgs ist. Für viele Piraten ist die

ebenso die möglichen Kontroversen zwischen

Tatsache, anders zu sein als die etablierten Par-

Flügeln, Strömungen und Regionen, die sich

teien, ein zentraler Anreiz der Mitwirkung. Wür-

nicht ausreichend repräsentiert sehen. In der

de die Partei ihr Vollversammlungsprinzip also

momentanen Entwicklungsphase der Piraten

zugunsten eines Delegiertensystems aufgeben,

können gerade regionale Auseinandersetzun-

würde ihr diese Basis entzogen.

gen im Rahmen von Aufstellungsversammlungen erhebliche Bedeutung erlangen. Konfliktpotenzial wird aller Voraussicht nach zwischen den über Mandatsträger direkt vertretenen und

„Matthäus-Effekt“

22

3.3 Zwischen piratigem Mandat und politischer Strategie

den parlamentarisch nicht direkt vertretenen

Während also im innerparteilichen Organisa-

Regionen entstehen. Während Erstere, gestärkt

tionsaufbau einige strukturelle Schwierigkei-

durch die Ressourcen ihrer Mandatsträger,

ten unübersehbar sind, scheint auf den ersten

ihre erlangten Besitzstände zu verteidigen su-

Blick die Aktionsfähigkeit der Piratenpartei

chen, fordern Letztere eine stärkere innerpar-

davon nicht tangiert zu sein. Bei näherem Hin-

teiliche Repräsentation. Ohne einen Filter über

sehen wirkt das erstaunlich, denn abgesehen

Delegierte mit Anpassungsmechanismen, etwa

von den beschriebenen subkulturellen Wurzeln

durch Grundmandate, Ausgleichsfaktoren oder

agiert die Piratenpartei geradezu entrückt,

feste Regionalproporze, lassen sich diese Un-

scheut Kontakte zu Institutionen, Verbänden

terschiede schwerlich ausgleichen, sondern

und Vereinigungen. Korporatistische Struktu-

werden fortgeschrieben. Es ergibt sich also ein

ren sowie die Macht von Lobbyorganisationen

„Matthäus-Effekt“ (Merton 1985): Wer hat, dem

sind den Piraten verdächtig. Punktuell koope-

wird gegeben.

riert man mit Bürgerinitiativen und Organisa-

Um dies zu verhindern, müsste die Partei in

tionen, aber eben nicht strategisch. Statt einer

ihrer weiteren Organisationsentwicklung Vor-

festen Zusammenarbeit setzt die Piratenpartei

kehrungen treffen. Doch genau das werden die

auf das „piratige Mandat“. Damit wird die

Piraten nicht tun: Ein System des Ausgleichs

Selbstermächtigung bezeichnet, die es jedem

würde in der Praxis die Existenz einer Verhand-

einzelnen Parteimitglied möglich macht, jeder-

lungsebene voraussetzen, auf der informell

zeit für die Partei aktiv zu werden. Als Individu-

Kompromisse ausgelotet werden. Den dafür not-

um handelt man dabei letztlich im Interesse,

wendigen Diskretions- und Vertrauensräumen

aber nicht im Namen der Gesamtpartei.


O RGANISATION DER P IRATEN

Zentraler Anreiz für eine Mitwirkung in der

Sprache der Partei, für Anspielungen auf Sci-

Partei und für die Partei ist in erster Linie das

ence-Fiction-Romane oder die Vorliebe für gro-

Gemeinschaftsgefühl, welches die Partei vermit-

teske YouTube-Videos. Wer sich den Piraten

telt (Wilde 2011: 41 ff.; Zolleis/Prokopf/Strauch

neu anschließt, kommt nicht umhin, diese Co-

2010: 19). So wird immer wieder angeführt, dass

dierung zumindest partiell zu übernehmen.

es für die aktiven Mitglieder ein besonderes Er-

Eine habituell begründete Gemeinschaft mag

lebnis darstelle, die Personen von Angesicht zu

motivierend

Angesicht zu treffen, denen man zuvor im virtu-

beileibe noch keine kooperativ agierende

ellen Raum begegnet ist. Für immerhin 78 Pro-

Gruppierung.

sein,

gewährleistet

jedoch

zent der Piraten stellt das „piratige Mitein-

Tatsächlich fallen die Piraten durch eine be-

ander“, also die soziale Interaktion mehrerer

achtliche organisatorische Diversität auf:

Piraten untereinander, einen der zentralen Mo-

Kreis-, Landes- oder Bundesparteitage sowie

tivationsaspekte für die Mitarbeit bei den

die umfangreiche netzgestützte Kommunikati-

Piraten dar (Kegelklub 2012: 14).

on ermöglichen es jedem Mitglied, sich zu in-

Gemeinsame kulturelle Codes verstärken

formieren und jederzeit dort auch zu partizipie-

diese Erfahrung, weil sie das intuitive Wiederer-

ren. Abseits der territorialen Strukturen kann

kennen von Gleichgesinnten erleichtern und

man sich außerdem in einer der zahlreichen

eine gewisse Exklusivität schaffen, die das Zu-

thematischen Arbeitsgemeinschaften einbrin-

Inklusive Mitwirkung –

sammengehörigkeitsgefühl stärkt (Siri 2012:

gen oder ohne große Mühen selbst eine grün-

exklusive Netzkultur

148). Bei den Piraten werden dazu vorwiegend

den. Die Partei funktioniert in erster Linie, weil

Chiffren und Symbole aus der Internetkultur ver-

es unzählige Mitwirkungsmöglichkeiten gibt,

wendet (Hensel 2012a: 46): Nicht wenige Piraten

die alle irgendwie Teil der Piratenpartei sind.

konsumieren das koffeinhaltige Getränk Club

Formal führt der jährlich zu wählende Vor-

Mate, tragen schwarze Kleidung, T-Shirts mit

stand diese Aktivitäten auf der jeweiligen Ebe-

kryptischen Aufschriften oder verwegenen Moti-

ne zusammen. Vorstände bestehen in der Regel

ven oder kopieren typische Codes der Hacker-

aus einem Vorsitzenden, einem stellvertreten-

kultur. Derartige äußere Erkennungszeichen

den Vorsitzenden und einem Schatzmeister.

fördern die Binnenintegration, bleiben aber in

Dazu kommen Generalsekretäre, politische

der externen Kommunikation oftmals unverstan-

Geschäftsführer und Beisitzer. Bei den Termini

den oder führen zu Fehlinterpretationen. Gera-

weichen die Piraten von den üblichen Bezeich-

de die ironischen Referenzen auf Internetphäno-

nungen anderer Parteien etwas ab: Der Gene-

mene sind für Außenstehende schwer zu durch-

ralsekretär ist eher ein Geschäftsführer, der

dringen und fördern den Eindruck, bei den Pira-

vorrangig organisatorische Aufgaben erledigt,

ten handele es sich um eine Truppe verschrobe-

wohingegen der politische Geschäftsführer

ner Sonderlinge. Selbiges gilt für die mit Aus-

eher wie ein Generalsekretär den jeweiligen

drücken aus der Computerkultur unterlegte

Vorstand nach innen und außen vertritt.

23


D IE P IRATENPARTEI

Tabelle 3:

Bundesvorstände der Piratenpartei Wahl

Vorsitzende

2006

Christof Leng

Stellvertretende Vorsitzende Jens Seipenbusch

2007 2008 20091

Jens Seipenbusch Dirk Hillbrecht Jens Seipenbusch

Sven Riedel Jens Seipenbusch Andreas Popp

2010

Jens Seipenbusch

Andreas Popp

2011

Sebastian Nerz

Bernd Schlömer

2012

Bernd Schlömer

Sebastian Nerz Markus Bahrenhoff

Schatzmeister Peter Böhm

Politische Geschäftsführer Jan Huwald

Generalsekretäre

Beisitzer

Stefan Lamprecht

Christoph Strasen Matthias Mehldau Peter Böhm Jan Huwald Bastian Grundmann – Sebastian Schäfer Bernhard Schillo Hauke Kruppa – Bernd Schlömer – – Jan Simons Thorsten Wirth Nicole Hornung Aaron Koenig Bernd Schlömer – – Christopher Lauer Benjamin Stöcker Daniel Flachshaar Wolfgang Dudda Rene Brosig Marina Weisband Wilm Schumacher Gefion Thürmer Matthias Schrade Swanhild Götze Johannes Ponader Sven Schomaker Matthias Schrade Klaus Peukert Julia Schramm

1 2009 und 2010 hatte die Partei zwischenzeitlich die Ämter von Generalsekretär und politischem Geschäftsführer abgeschafft, dafür wieder Beisitzer gewählt. Quelle: Eigene Darstellung und Erhebung mit Daten von Niedermayer (2013b: 95).

Das Organisationsideal der Piraten be-

unterstreichen sie diese Einstellung. Zwar stre-

schränkt die Aufgaben des Vorstands in erster

ben einzelne Landesvorsitzende und Mitglie-

Verwaltende

Linie auf administrative und organisatorische

der des Bundesvorstandes eine stärkere pro-

Vorstände

Handlungsfelder. Die Vorstände sollen die Par-

grammatische Orientierung und politische Füh-

tei zwar in der Öffentlichkeit repräsentieren,

rung an, sie kommen jedoch gegen die von der

klassische Aufgaben der politischen Führung

Parteibasis gehegten Prinzipien bislang nicht

und inhaltlichen Ausrichtung werden ihnen je-

an. Inhaltliche Äußerungen oder programmati-

doch faktisch untersagt. Die meisten Amtsinha-

sche Impulse von Vorstandsmitgliedern werden

ber orientieren sich auch daran und konzen-

umgehend von einem erheblichen Teil der Par-

trieren sich auf organisatorische und adminis-

teibasis lautstark attackiert (Wenzlaff 2012:

trative Tätigkeiten. In ihren Rechenschaftsbe-

52). Eine Erweiterung von Vorstandsaufgaben

richten, in denen sie schon mal Erläuterungen

wird effektiv dadurch verhindert, dass den Vor-

über die Zahl der etikettierten Briefe abgeben,

ständen sowohl das Recht dazu bestritten wird

24


O RGANISATION DER P IRATEN

als auch die jeweiligen konkreten Aussagen

eine Funktionärspartei; trotzdem reagiert sie

kritisiert werden. Die hohen Anforderungen

instinktiv kritisch und latent misstrauisch ge-

und das ständige Misstrauen der Parteibasis

genüber ihren Vorständen, Mandatsträgern

gegenüber ihren Vorständen und die geringe

und Verantwortlichen. Das findet seinen Nie-

Bereitschaft, politische Erfolge zu honorieren,

derschlag schon in der oftmals sehr scharfen

Häufige

begünstigen häufige Personalwechsel. Spätes-

Form der Befragung von Kandidaten für den

Personalwechsel

tens ab der Landesebene müssen die Vorsit-

Vorstand und für anstehende Wahlen. Die Aspi-

zenden damit rechnen, nach ein oder zwei Jah-

ranten müssen sich hierbei einem Befragungs-

ren im Amt abgewählt zu werden. Auch auf

ritual stellen, das als „Kandidatengrillen“ be-

Bundesebene fällt die geringe personelle

zeichnet wird und verhindern soll, dass Perso-

Konstanz in den Führungspositionen ins Auge.

nen gewählt werden, die zu autonom gegen-

Lediglich Jens Seipenbusch und Bernd Schlö-

über der Basis agieren. Den Fragenden geht es

mer konnten sich länger als zwei Jahre im Vor-

dabei in aller Regel nicht allein um eine reine

stand halten.

Information, sondern sie versuchen, einzelne

Die Koordination der Landesverbände untereinander erfolgt in der Piratenpartei in in-

Bewerber suggestiv zu diskreditieren (Henzler 2012a; Wallbaum 2012a).

formeller Form. Die wichtigste formelle Runde

Die Fragesteller sind oftmals selbst Funk-

dazu ist das monatliche Vorständetreffen na-

tionsträger der unteren oder mittleren Partei-

mens Marina, das über die Software Mumble

ebenen und nutzen ihren Informationsvor-

im Internet und seit 2010 einmal jährlich in Kas-

sprung, ihre Erfahrung und natürlich ihre per-

sel abgehalten wird. Es dient der internen Ver-

sönliche Autorität, um implizite Empfehlungen

netzung und politischen Kooperation und soll

an das Plenum zu geben. Während im Delegier-

zugleich das soziale Miteinander fördern. Eine

tensystem die örtlichen Vorsitzenden direkte

ähnliche Stellung wie das Vorständetreffen

Ansagen gegenüber ihrer jeweiligen Delega-

nimmt die Konferenz OpenMind ein, auf der die

tion auf der Grundlage eigener Absprachen mit

Piraten vornehmlich über inhaltliche Fragen

anderen Funktionsträgern machen, würde ein

debattieren.

solches System der Vorbesprechungen dem von

Neben den Vorstandsfunktionen existieren

den Piraten propagierten offenen Ansatz zuwi-

zahlreiche weitere Funktionen, Beauftragun-

derlaufen. Trotzdem etabliert sich unter dem

gen und Sprecherpositionen, deren Zahl in den

Deckmantel der Kandidatenbefragung ein Sys-

vergangenen Jahren angewachsen ist. Vielfach

tem der Einflussnahme, welches letztlich sehr

gilt daher, dass für jeden aktiven Piraten auch

ähnlichen Mechanismen unterliegt wie die Ein-

ein Posten gefunden wird. Zugleich ist ein am-

flussnahme bei den etablierten Parteien.

bivalentes Verhältnis gegenüber Funktionsträ-

Das Verfahren des Kandidatengrillens of-

gern festzustellen. Im Kern ist die Partei

fenbart eine weitere interessante Eigenschaft

mittlerweile durch die zahlreichen Funktionen

der Piratenpartei: Der etablierte Stand der

25


D IE P IRATENPARTEI

Parteimeinung wird von den Fragestellern

neuerliche Mehrheitsentscheidung abgeän-

oftmals mit einer derartigen Überzeugung vor-

dert werden. Es fehlt jedoch die für demokrati-

gebracht, dass die zur Wahl stehenden Kandi-

sche Prozesse essenzielle Verfahrensklarheit,

daten quasi zur Reproduktion eines aktuellen

die Minderheiten davor schützt, plötzlich über-

innerparteilichen Glaubensbekenntnisses ge-

rumpelt zu werden, und die mit feststehenden

nötigt werden. Im Zweifelsfalle bekennen sich

Quoren und Verfahrensschritten für bestimmte

die Kandidaten „hundertprozentig“ zum Pro-

Beschlüsse eine besonders anspruchsvolle Le-

gramm der Partei und sind bereit, auf ihre eige-

gitimationsgrundlage vorschreibt. Verbindli-

ne inhaltliche Meinung zugunsten der Meinung

che Regelungen sind dabei unabhängig von der

der Parteibeschlüsse zu verzichten, aber

Zusammensetzung einer Versammlung und

gleichwohl ihre Freizeit für die Partei zu op-

verhindern, dass Minderheiten mit einer vor

fern. Durch die immer wiederkehrenden Ver-

Ort beschlossenen einfachen Mehrheitsregel

weise auf den bisherigen Stand der politischen

überstimmt werden können.

Kultur und der politischen Inhalte wird deut-

Tatsächlich fußt die Organisation der Partei

Dominanz des

lich, dass die Partei in Bezug auf neue Meinun-

stark auf dem Ansatz, das Mehrheitsprinzip

Mehrheitsprinzips

gen und Positionen mitnichten vollkommen of-

zum alleinigen Kriterium des demokratischen

fen ist. Zwar koexistieren in der Partei ver-

Entscheidungsprozesses zu erklären. Minder-

schiedene Meinungen und Positionen, was

heiten haben daher in der Partei strukturell

durch den hybriden, also gemischten Organisa-

schlechte Chancen auf Repräsentation. Das vor-

tionsaufbau gefördert wird. Wenn jedoch ein

wiegend verwendete Wahlverfahren, bei dem

relativer Konsens in bestimmten Fragen er-

man unabhängig von der Zahl der zu besetzen-

reicht ist, werden neue oder abweichende

den Positionen beliebig viele Kandidaten an-

Meinungen und Positionen vor allem im pro-

kreuzen kann, ist seinerseits darauf angelegt,

grammatischen Prozess oftmals marginali-

die Kandidaten des „kleinsten gemeinsamen

siert.

Nenners“ (Szpiro 2011: 196) zu wählen. Polari-

26

Dass die Piraten in Bezug auf innerparteili-

sierende Personen mit überbordenden idealis-

chen Minderheitenschutz nicht allzu sorgsam

tischen oder dezidierten programmatischen

sind, zeigt sich im Fehlen einer satzungsrecht-

Vorstellungen haben darin kaum Chancen. Die

lich verbindlichen Wahlordnung. Einige weni-

Dynamik der Auswahl ist ferner darauf ange-

ge Landesstatute, wie diejenigen von Bremen

legt, möglichst Amtsträger hervorzubringen,

oder des Saarlands, haben für ihren Geltungs-

die ihre eigene persönliche Meinung hinter der

bereich die Wahlverfahren ganz oder in Teilen

basisdemokratisch entwickelten zurückstehen

festgeschrieben; doch ganz überwiegend be-

lassen. Wer sich derart zurückhaltend gibt,

schließen die jeweiligen Parteitage diese als

überdies bereits in möglichst vielen innerpar-

Teil ihrer Geschäftsordnung. So kann im Ver-

teilichen Zirkeln mitarbeitet, umfangreich di-

lauf einer Versammlung das Verfahren durch

gital kommuniziert und obendrein bereitwillig


O RGANISATION DER P IRATEN

viele lästige Verwaltungsaufgaben übernimmt,

mag nicht sonderlich effizient, oftmals gar un-

hat beste Chancen, gewählt zu werden.

professionell sein, dafür ist sie allerdings in

Die den Vorständen zugewiesene Rolle spiegelt den zentralen Stellenwert des Prinzips

jedem Falle originell und vielfach auch effektiv (Henzler 2012b; Winkler 2012: 513).

der Selbstorganisation bei den Piraten. Dieses

Allerdings ist die Form der Schwarmorgani-

resultiert vor allem aus den privaten und beruf-

sation nicht vor gravierenden Fehlentscheidun-

lichen Erfahrungswerten vieler Mitglieder im

gen gefeit. In der als Referenz für die Arbeit der

Bereich der Softwareentwicklung und der In-

Piratenpartei gut geeigneten Online-Enzyklo-

ternetkultur. Dort ist es möglich, auch ohne

pädie Wikipedia sind selbst Beiträge, die eine

eine formale Hierarchie Prozesse und Gruppen

große Nutzerzahl erreichen, fehleranfällig

zu organisieren und zu koordinieren. Dieses

oder vor Manipulationsversuchen nicht sicher

Ideal, das in seiner organisationstheoretischen

(Stegbauer 2009: 174). Im Schwarm selbst ent-

Anwendbarkeit keineswegs unumstritten ist

steht zudem oftmals eine Hierarchie, die sich

(Lanier 2010; Stegbauer 2009: 173 ff.), steht

nicht unbedingt von Autorität, Anerkennung

Pate für die Arbeitsweise der Piraten.

und Qualifikation ableitet, sondern von der blo-

Zentral ist dafür die Annahme, dass durch

ßen Masse der selbst geleisteten Beiträge.

Schwarmintelligenz ein höheres Maß an Wis-

Hinzu kommt, dass der Schwarm in der Regel

sen und Kreativität aktiviert werden kann als

nichts genuin Neues produziert, sondern nur

durch einen umgrenzten Kreis von Experten.

bereits vorhandenes Wissen neu kompiliert

Delegation setzt bei den Piraten überall dort

(Lanier 2010: 162). Dementsprechend sind die

ein, wo Aufgaben von Vorständen personell

Piraten zwar in der Lage zu reagieren, selten

nicht mehr erfüllt werden können oder wo die

aber zu agieren.

Vorstände die Gefahr sehen, dass sie ihre Kom-

Die Organisationsstruktur der Piratenpar-

petenz zur politischen Arbeit überschreiten. In

tei funktioniert somit dann besonders gut,

diesem Fall werden einzelne Piraten oder Grup-

wenn es ein klares Ziel gibt. Praktisch braucht

pen mit der Erledigung von Aufgaben beauf-

es oftmals Anstöße von außen, um das System

tragt oder nehmen sich dieser eigenmächtig an,

in produktive Wallung zu bringen. Ein anste-

wobei sich die zuständigen Piraten ihrerseits

hender Wahltermin ist ein solcher Impuls.

durch kooperative, vorwiegend netzgestützte

Ansonsten ist die bei den Piraten verbreitete

Arbeitsprozesse selbst koordinieren. Die ein-

Schwarmorganisation zu einer politisch not-

deutige Stärke dieser Struktur zeigt sich in

wendigen, strategisch geplanten Agendaset-

hochverdichteten Wahlkampfphasen (Bieber

zung kaum in der Lage. Dafür bedürfte es wohl

2012a: 30; F. Neumann 2011: 50), wenn die Par-

eines strategischen Zentrums; doch den eigent-

teimitglieder an verschiedenen Stellen unko-

lich dafür prädestinierten Vorständen wird kei-

ordiniert und parallel an Themen und Aktionen

ne inhaltliche und strategische Führung zuge-

arbeiten. Eine solche Form der Organisation

billigt. Obendrein fehlt der Partei ein profes-

Schwarmintelligenz

27


D IE P IRATENPARTEI

sionelles Umfeld mit Stiftungen und kommu-

wortung Fragestellungen, Themen und Anlie-

nalpolitischen Vereinigungen ebenso wie ein

gen vor und hoffen darauf, dass sich dazu die

schlagkräftiger hauptamtlicher Apparat, der

passenden Meinungen, Erfahrungswerte und

den Vorständen die lästigen und zeitintensiven

Wissenshintergründe in der Partei finden. Sie

Verwaltungsaufgaben abnehmen könnte und so

sind also diejenigen, die Agendasetting im All-

die Steuerungsfähigkeit der Vorstände stärken

tagsgeschäft betreiben. Die Prozesse erfolgen

würde.

insofern „top-down“. Initiativen von der Basis

Seitdem die Piraten Mandate wahrnehmen

hingegen versanden oftmals, da entsprechen-

und damit plötzlich in sämtlichen Politikfeldern

de Kommunikationsflüsse bislang nicht ausrei-

agieren, muss die Partei zudem zu Themen Po-

chend organisiert werden oder das tatsächli-

sition beziehen, die bislang ausgeblendet wa-

che Interesse der Mitglieder hinsichtlich einer

ren. Die Vorstände der Piratenpartei, die es

Partizipation an der parlamentarischen Arbeit

gewohnt sind, sich in Sachfragen zu enthalten,

überschaubar bleibt. Werden Basisinitiativen

stehen auf einmal unter einem Handlungs-

nicht von den Mandatsträgern mit besonderem

druck, den sie nicht erfüllen können. Das von

Engagement gefördert, können diese sich nur

den derart domestizierten Vorständen hinter-

an den Parteitag richten, entfalten aber nicht

lassene politische Vakuum füllen zunehmend

unbedingt eine Wirkung im Alltag der Mandats-

die Piratenfraktionen. Die Mandatsträger ent-

träger. Hierzu fehlt es schlicht an einem Adres-

wickeln durch die Parlamentsarbeit fachliche

saten, der seinerseits mit dem passenden poli-

Expertise. Sie verfügen durch die Fraktions-

tischen Gewicht Forderungen den Mandatsträ-

büros über mehr oder minder umfangreiche

gern gegenüber vorbringen könnte. Anders-

hauptamtliche Ressourcen. Außerdem haben

herum verhindert ein dichter Terminplan allzu

sie privilegierten Zugang zu den wissenschaft-

oft, dass die Mandatsträger regelmäßig an

lichen Beratungsdiensten der Parlamente oder

Stammtischen und anderen Parteitreffen teil-

erhalten Auskünfte der Verwaltungen. Sie wer-

nehmen.

den mit Beschlussvorschlägen konfrontiert und

Zugleich ist auf lokaler Ebene zu beobach-

können sich auf der Grundlage der Debatten in

ten, dass die Aktivitäten der dortigen Mandats-

den Gremien eine differenzierte und vor allem

träger den Charakter der Partei vor Ort verän-

informationsgesättigte Meinung bilden. Ins-

dern und den politischen Fokus in eine pragma-

Lokalpolitik stößt

gesamt zeichnet sich folglich eine Spaltung der

tische, lokalpolitische Richtung verschieben

Veränderungen an

Partei in besser ausgestattete Mandatsträger

können. Dieser Prozess scheint durchaus ambi-

und einfache Mitglieder ab, womit die Fraktio-

valente Folgen zu zeitigen (Hensel 2012a: 48).

nen eine besondere Machtstellung innerhalb

So erschließt sich die Piratenpartei lokalpoli-

der Partei erlangen. Die Abgeordneten und

tisch relevante Themen, erhält Zugang zu Ini-

kommunalen Mandatsträger geben auch sonst

tiativen vor Ort und kann als parlamentarischer

mit dem Nachdruck ihrer politischen Verant-

Hebel für umkämpfte Anliegen agieren. Hier-

28


O RGANISATION DER P IRATEN

durch öffnen und diversifizieren sich die Pira-

Studierendenparlamenten Mandate inneha-

ten inhaltlich und avancieren zum Sammelbe-

ben, sind die Aktivitäten und der Einfluss die-

cken für politisch Engagierte verschiedenster

ser Umfeldorganisation sehr begrenzt.

Couleur. Die Kehrseite davon ist, dass die Partei inhaltlich zunehmend beliebig zu werden droht. Der Zustrom von zum Teil sehr partikular

3.4 Kommunikationswege

Interessierten einerseits und einer politisch

Wie bereits angedeutet, unterscheidet sich die

bereits recht festgefahrenen Klientel anderer-

Piratenpartei von etablierten Parteien beson-

seits hat natürlich für die inhaltliche Weiter-

ders fundamental in ihrem internen Kommuni-

entwicklung und kollektive Identität der Ge-

kationsverhalten. Konsequent greift sie auf

Netzgestützte

samtpartei Folgen, die gegenwärtig schwer

Web-2.0-gestützte Kommunikationswege zu-

Parteikommunikation

absehbar sind.

rück. Etliche der Aktiven bloggen oder sind bei

Die Neumitgliedschaft diffundiert nämlich

Facebook, Google+ oder Twitter aktiv. Die Par-

in sehr unterschiedliche Strukturen und Ar-

tei nutzt daneben eigene digitale Kommunika-

beitszusammenhänge. Neben den territorialen

tionsinstrumente, welche die klassische Partei-

Gliederungseinheiten sind die thematischen

struktur aus Gebietsverbänden und themati-

Arbeitsgemeinschaften von besonderer Bedeu-

schen Gruppen ergänzen.

tung. Die Partei verfügte allein auf Bundesebe-

Als „Schwarzes Brett“ (Wilde 2011: 17) fun-

ne im Januar 2013 über 71 politische Arbeitsge-

giert das Wiki der Partei. Dort finden sich Ta-

meinschaften, über 14 Arbeitsgemeinschaften

gesordnungen, (Wort-)Protokolle oder allge-

für Öffentlichkeitsarbeit, 9 Technik-Arbeitsge-

meine Informationen zu Parteitagen und Vor-

meinschaften und 8 sonstige. Die Zahl der Ar-

standssitzungen. Dokumentiert sind die Sat-

beitsgemeinschaften hat sich – entsprechend

zungen und Geschäftsordnungen der Gliede-

dem Mitgliederwachstum – binnen Jahresfrist

rungen und Gremien. Die Piraten erhalten hier

nahezu verdoppelt. Zu deren Abstimmung auf

für ihre Arbeit vor Ort Hilfestellungen, allge-

Bundesebene dient die Koordinatorenkonfe-

meine Informationen, Grafiken für ihre eigenen

renz, die aus dem Kreis der AG-Koordinatoren

Internetpräsenzen oder Wahlkampfauftritte,

heraus gewählt wird.

Anträge, Werbematerialien oder Verfahrens-

Als Vorfeldorganisation existiert für unter

fragen. Alle wesentlichen inhaltlichen oder or-

28-Jährige die Jugendorganisation Junge Pira-

ganisatorischen Ressourcen werden darüber

ten (JuPis). Die JuPis verfügen über einen Bun-

ausgetauscht. Neben dem Wiki existieren wei-

desvorstand und sechs Landesverbände sowie

tere digitale Informationsplattformen wie das

über Stammtische und Crews in sechs weiteren

Online-Magazin „Flaschenpost“ oder Pod-

Bundesländern. Die Gliederung folgt somit dem

castangebote wie das nordrhein-westfälische

Vorbild der Mutterpartei. Wie auch bei den

„Krähennest“ oder in Süddeutschland der

Hochschulgruppen der Piraten, die in einigen

„Freibeuterhafen“.

29


D IE P IRATENPARTEI

Vielschichtige digitale Meinungsbildung

Als Arbeitsinstrument für Sitzungen und

ten das System LiquidFeedback. Dort kommen

Besprechungen stehen zwei Tools zur Verfü-

Abstimmungs-, Diskussions- und Editionsme-

gung. Zum einen nutzt die Partei die Software

chanismen gleichermaßen zur Anwendung.

Mumble, mittels deren sie Sitzungen von Vor-

Das System wird eingesetzt, um Ideen für An-

ständen, Arbeitsgruppen oder Arbeitsgemein-

träge zu entwickeln, diese zur Diskussion zu

schaften online abhalten kann. Das ganze Sys-

stellen und um schließlich Stimmungsbilder zu

tem ähnelt einer Telefonkonferenz, die aufge-

erheben. Die Besonderheit ist, dass man nicht

zeichnet wird und hinterher im Internet abgeru-

fortwährend selbst aktiv sein muss, sondern

fen werden kann. Zur Unterstützung zahlrei-

sein Stimmrecht an andere Piraten ganz oder

cher Prozesse dienen Etherpads, eine Art virtu-

teilweise delegieren kann, wobei diese Dele-

eller Notizbücher, die eine zeitgleiche koope-

gation jederzeit wieder zurückgenommen wer-

rative Arbeit am selben Text zulassen. Tages-

den kann (Paetau 2010). Außerdem hat man die

ordnungen, Anträge oder Pressemitteilungen

Möglichkeit, Delegationen, die man selbst er-

werden bei den Piraten darüber editiert. Für

halten hat, an andere weiterzureichen.

innerparteiliche Diskussionen und Informatio-

Dieses System ist damit zwar relativ flexi-

nen stehen zahlreiche Mailinglisten zur Verfü-

bel und ermöglicht einen Wechsel zwischen

gung. Obwohl jede Gliederungsebene mindes-

plebiszitären und advokativen1 Elementen, wo-

tens eine eigene unterhält, sind diese für die

mit versucht wird, differenziert auf die verän-

Partei nur bedingt repräsentativ. Insbesondere

derten Ansprüche an politische Partizipation

die sogenannte Aktivenliste auf Bundesebene

einzugehen. Allerdings hat dies zur Folge, dass

dient in erster Linie als Kritikforum, dem

einige Mitglieder über ein beachtliches Stim-

bestenfalls eine kathartische, meist jedoch

mengewicht verfügen und allein ihr Votum

bloß eine destruktive Funktion zukommt.

bereits ausschlaggebend sein kann (Neumann/

Demgegenüber kommunizieren die Piraten auf

Fritz 2012: 334). Demokratietheoretisch ist die

regionalen Listen oftmals wesentlich konstruk-

Einordnung des Systems LiquidFeedback kei-

tiver oder tauschen dort Termine und organisa-

neswegs eindeutig. So folgen die Piraten

torische Informationen aus.

hiermit weder einem rein repräsentativen Ver-

Schließlich existieren noch einige Mei-

fahren noch einem rein direktdemokratischen

nungsbildungstools wie LimeSurvey, um Umfra-

Ansatz, noch entspricht die Vorgehensweise

gen unter den Mitgliedern abzuhalten (Bieber

imperativen Mandaten, bei denen Abgeordne-

2012a: 31). Als zentrale Plattform für die virtu-

te an inhaltliche Forderungen der Vertretenen

elle Meinungsbildung präferieren etliche Pira-

gebunden sind (Buck 2012: 629). Ebenso beach-

1 Normalerweise unterscheidet man zwischen plebiszitär und repräsentativ. Faktisch ist aber das System so ausgestaltet, dass für die Repräsentation durch einen anderen diesem ein individuelles und jederzeit widerrufbares Mandat erteilt wird. Es ist also mitnichten ein imperatives Mandat, sondern eher eine Ermächtigung wie bei einem Advokaten, dem man das rechtsanwaltliche Mandat auch jederzeit entziehen kann.

30


O RGANISATION DER P IRATEN

tenswert ist die herausgehobene Stellung der

glieder registriert. Gemessen an den zahlen-

Funktion der Delegation und Repräsentation,

den Mitgliedern wäre rund die Hälfte aller Pira-

die LiquidFeedback von dezidiert direktdemo-

ten in LiquidFeedback vertreten, wovon aber

kratischen Systemen abhebt (Dobusch 2012).

wiederum lediglich die Hälfte überhaupt aktiv

Vielmehr lässt sich das System dadurch als In-

teilnimmt, sodass eben nur ein Bruchteil der

strument einer auf herrschaftsfreien und betei-

Mitglieder tatsächlich einbezogen wird. Li-

Probleme von

ligungsorientierten Verhandlungsdemokratie

quidFeedback trägt zudem keineswegs dazu

LiquidFeedback

auffassen. Teile der Partei versprechen sich

bei, das Problem der Unübersichtlichkeit in der

vom Ausbau von LiquidFeedback eine dauer-

Parteikommunikation zu vermindern. Debatten

hafte verbindliche parteiinterne Kommunika-

werden aus dem System oftmals in Pads, Mai-

tionsstruktur.

linglisten oder ins Wiki verlagert. Über Twitter

Doch das System ist bei anderen Mitglie-

und Mailinglisten wird für eigene Initiativen im

dern höchst umstritten. Wie wenig Wirkung sei-

System geworben oder werden diese wieder in

ne Ergebnisse entfalten, zeigt sich regelmäßig

Erinnerung gebracht, wenn die finale Abstim-

bei Parteitagen. Nicht selten klaffen die Mei-

mung naht (Wagner 2012: 112).

nungsbilder im System und die realen Mehr-

Wie wenig LiquidFeedback gegenwärtig in

heiten stark auseinander (Neumann/Fritz 2012:

der Lage ist, einen umfassenden Einbezug der

334). Einige Befürworter des Systems machen

Parteibasis in die relevanten Debatten zu ge-

darauf aufmerksam, dass man LiquidFeedback

währleisten, wird unter anderem daran deutlich,

richtig verstehen müsse: Nur Anträge und Posi-

dass in der Regel inklusive der delegierten Stim-

tionspapiere, die von einer überwältigend gro-

men nur 400 bis 700 Stimmen bei einer Abstim-

ßen Mehrheit angenommen wurden, haben

mung festgestellt werden. Die zentrale Kritik

Aussicht, in einer realen Abstimmung auf ei-

richtet sich dabei weniger auf die geringe Teil-

nem Parteitag zu bestehen. Das wiederum

nehmerzahl bei der Abstimmung, auch weil zu

stellt natürlich die Funktionsweise des Sys-

erwarten ist, dass das System erst in dem Mo-

tems selbst in Frage. Gerade Schlüsselent-

ment umfangreichere Attraktivität und damit

scheidungen fallen in einer Demokratie

Teilnehmer gewinnen kann, in dem diese auch

oftmals erst nach erbitterten Kontroversen mit

tatsächlich relevante Beschlüsse produzieren

knappen, zugleich polarisierten Mehrheiten.

können. Vielmehr wird im LiquidFeedback-Sys-

Wenn das System dazu ungeeignet ist, so stellt

tem ein weit verbreiteter Kerngedanke der De-

sich natürlich die Frage, ob es eine Legitima-

mokratie verletzt: der nämlich, dass Demokratie

tion für die Arbeit der Partei entfalten kann.

nicht auf die Partizipation abzielt, sondern auf

Ein Grund für die unzureichende Verbind-

die Inklusion aller Individuen (Buck 2012: 632).

lichkeit ist die verhältnismäßig geringe Betei-

Repräsentative Systeme sind darin überlegen,

ligung an diesem Medium. So sind zwar

weil deren Mandatsträger stets die Interessen

immerhin rund 11.000 der offiziell 34.000 Mit-

aller Bürger zu berücksichtigen haben, also

31


D IE P IRATENPARTEI

32

auch derjenigen, die sie nicht gewählt haben

widerstreitenden Interessen erzielen, ist das

(ebd.). Wie viele andere direktdemokratische

bei LiquidFeedback keineswegs erforderlich.

oder basispartizipatorische Systeme gewähr-

Man kann seine Stimme einem vehementen

leistet LiquidFeedback diesen Anspruch nicht.

Vertreter von Steuersenkungen übertragen und

In der Praxis des Systems werden politische

gleichzeitig den Befürworter skandinavischer

Entscheidungsprozesse überdies fragmentiert

Sozialstaatsmodelle beauftragen. Dass beide

und in disparate Fachsphären überführt. So ist

Ansätze nicht zusammenpassen, leuchtet un-

das System in mehrere Fachforen unterglie-

mittelbar ein. Doch das muss in der jeweiligen

dert, wobei sich jedes Mitglied zu beliebig vie-

Einzelfrage demjenigen, der seine Stimme de-

len anmelden kann. Diskussionen und Abstim-

legiert, nicht unbedingt klar sein, da er ebenso

mungen erfolgen jedoch stets nur innerhalb ei-

in unterschiedlichen Facharenen agiert wie

nes Fachforums. Die Aufsplitterung in verschie-

diejenigen, die seine Delegation empfangen.

dene Arenen hat weitreichende Konsequenzen.

Eine Stärke der repräsentativen Demokratie ist

Ein Thema gelangt nämlich nur dann zur Ab-

demgegenüber die Verantwortlichkeit desjeni-

stimmung, wenn zehn Prozent derjenigen Teil-

gen, der das Vertrauen bei der Wahl erlangt

nehmer, die sich für ein Politikfeld interessie-

hat. Er muss sich für sein gesamtes Handeln

ren, auch eine Initiative unterstützen. Bereits

rechtfertigen und wird zu einer Globalperspek-

die Wahl einer Facharena kann also erhebli-

tive genötigt. Er muss seine Zustimmung zu ei-

chen Einfluss auf den Erfolg einer Initiative ha-

nem komplizierten Kompromiss, der verschie-

ben. Durch die unterschiedlich hohe Zahl von

denste Ansprüche berücksichtigt, erklären und

registrierten Teilnehmern ist schon das Errei-

verantworten können. In LiquidFeedback kann

chen des benötigten Quorums unterschiedlich

man hingegen die Aushandlungsebene umge-

schwer. Je differenzierter die Themenfelder

hen und sich auf die fragmentierten Teilarenen

sind, desto größer die Chance, Initiativen in

konzentrieren.

einer genehmen Politikarena platzieren zu

Als Kernproblem von LiquidFeedback gilt

können. Somit wird die Parteimitgliedschaft

aus innerparteilicher Perspektive ein Konflikt,

eben letztlich nicht in ihrer Gesamtheit er-

der an den Grundfesten der Partei ansetzt. So

reicht, sondern eben nur in einer fachlich diffe-

sind Transparenz und Datenschutz schwer

renzierten Teilgruppe angesprochen.

miteinander zu vereinbaren. Gegenwärtig müs-

Dadurch erzeugen die Piraten eine Form

sen die Teilnehmer in LiquidFeedback nicht mit

der politischen Fragmentierung, die die Gefahr

ihrem Klarnamen agieren. Dadurch ist aber

mangelnder Konsistenz und des Kontrollver-

schwer nachzuvollziehen, ob Abstimmungen

lusts in sich birgt (Guggenberger 2012: 11).

tatsächlich manipulationsfrei verlaufen sind.

Während der gewöhnliche Organisationsauf-

Die Benutzung von Klarnamen wird jedoch mit

bau einer Partei darauf basiert, dass die jewei-

dem Argument abgelehnt, dass hierdurch eine

ligen Delegierten einen Ausgleich zwischen

vollständige Datei mit allen Abstimmungsver-


O RGANISATION DER P IRATEN

halten entstünde, was wiederum im Wider-

rungen miteinander. Auch wird in der Praxis die

spruch zum für viele Piraten zentralen Prinzip

Kompetenz eines Akteurs nicht allein aus sei-

des Datenschutzes steht. Dieser und damit

nen Argumenten abgeleitet, sondern entschei-

letztlich das Wahlgeheimnis – bei knappen

dend ist eben auch, ob es glaubwürdig, seriös

Mehrheiten auf Parteitagen stimmen die Pira-

und überzeugend wirkt, wie er sie vorträgt, wie

ten in aller Regel auch geheim ab – wären

er sich im Diskurs schlägt, wenn er keine Zeit

jedenfalls nicht gewahrt, und dadurch liefen

hat, um auf Nachschlagewerke zuzugreifen,

Vertreter von Minderheitenpositionen stets Ge-

sondern schnell reagieren muss. Natürlich

fahr, an den innerparteilichen Pranger gestellt

steht die Überbetonung solcher Elemente des

zu werden. Diese Widersprüche veranlassten

politischen Diskurses jenseits des rationalen

im September 2012 sogar die Softwareentwick-

Arguments auch in der Kritik (Oberreuter 2012:

ler von LiquidFeedback, sich von der Art und

30). Dennoch verengt die reine Konzentration

Weise zu distanzieren, wie die Piratenpartei

auf die textuelle Ebene wichtige Aspekte der

dieses Instrument einsetzt (Behrens u. a. 2012).

demokratischen Willensbildung.

In der wissenschaftlichen Debatte über Li-

Die Vielzahl an Kommunikations- und Mit-

quidFeedback finden sich gegenwärtig Stim-

wirkungsmöglichkeiten bringt es mit sich, dass

men, die neben der mangelnden Inklusions-

verschiedene, eher parteiintern genutzte Kom-

leistung einen Aspekt kritisieren, der auf viele

munikationswege (Mailinglisten, LiquidFeed-

digitale Kommunikations- und Entscheidungs-

back, LimeSurvey) mit in die Öffentlichkeit ge-

verfahren zutrifft. Internetkommunikation ba-

richteten Kommunikationsformen (Blogs, Twit-

siert oftmals auf textueller Interaktion, die eine

ter, Facebook und Ähnliches) um die Aufmerk-

besonders abstrakte Rationalitätsebene an-

samkeit der Parteimitglieder konkurrieren. In-

spricht. In der Alltags- und in der politischen

härent ist eine latente Tendenz zur Informa-

Kommunikation dominiert dagegen die Identi-

tionsüberflutung (Guggenberger 2012: 13).

Informations-

fikation mit Personen und mit Symbolen, wes-

Selbst wer nur einzelnen Kommunikationska-

überflutung

wegen diese Ebene für die Legitimation demo-

nälen folgt, gerät in Schwierigkeiten, sich in

kratischer Institutionen nach wie vor immens

der Menge der Informationen im Rahmen sei-

wichtig ist (Buck 2012: 633). Auf der Ebene der

nes zumeist begrenzten Zeitbudgets zurechtzu-

digital vermittelten textuellen Kommunikation

finden. Da grundsätzlich alle Nachrichten und

wird dagegen etliches ausgeblendet, was „zum

Informationen mit gleicher Priorität und glei-

Wesen der Demokratie“ (Kleinert 2012: 21) ge-

cher Wertigkeit distribuiert werden, muss der

hört: Die rhetorische Gabe eines Redners, sein

Empfänger beispielsweise erst den umfängli-

Charisma oder seine Ausstrahlung beeinflus-

chen Mailverkehr wirksam filtern.

sen die Willensbildung ebenso sehr wie Emo-

Wie sehr die bloße Masse von Nachrichten

tionen, habituelle Gemeinsamkeiten, Vertrau-

dazu führen kann, dass wichtige Informationen

en oder Misstrauen oder gemeinsame Erfah-

untergehen, demonstrierte Nordrhein-Westfa-

33


D IE P IRATENPARTEI

lens Piratenchef Sven Sladek an dem Tag, an

oder die Stimmungslage bei Twitter anhand des

dem der dortige Landesvorstand seinen politi-

jeweiligen Hashtags nachvollziehen. Gleich-

schen Geschäftsführer entließ. Sladek teilte im

zeitig konkurrieren solche Voten und Eindrü-

Verlauf des Tages unter anderem mit, dass er

cke mit der Meinungsbildung bei den Stammti-

„nur noch Schokobananen essen“ werde, er

schen beziehungsweise Crews und müssen sich

Mitfahrgelegenheiten anbieten könne und

gegen den Expertenstatus von Arbeitsgemein-

dass es „kein schöner Abend“ gewesen sei. Nur

schaften behaupten. Wer dabei die Übersicht

in einem Tweet deutete er dann die Vorkomm-

behalten will, stößt leicht an die Grenzen jegli-

nisse im Landesvorstand an.

cher realistischer Aufnahmekapazitäten. Tatsächlich scheinen die Piraten mit ihrer

3.5 Flexibilität und Komplexität als Organisationsherausforderung

polyzentrischen und mehrdimensionalen Organisationsstruktur keineswegs eine Partei für die „Zeitarmen“ zu sein, sondern wie die ande-

Partei der

Die Vielfalt an digitalen Kommunikationsstruk-

ren Parteien eher für die „Zeitreichen“ konzi-

„Zeitreichen“

turen und der hybride bis anarchische Organi-

piert zu sein (vgl. Glotz 1997). Zwar ist es prinzi-

sationsaufbau der Partei eröffnen den Mitglie-

piell und derzeit auch praktisch möglich, auf

dern, aber auch Außenstehenden oder Sympa-

allen Ebenen und in allen Strukturen und Gre-

thisanten in erheblichem Maße Mitwirkungs-

mien relativ einfach teilzunehmen und Einfluss

möglichkeiten, die eher direktpartizipatorisch

zu gewinnen. Doch ein solches Partizipations-

als direktdemokratisch sind. Diese Unterschei-

angebot ist nicht ohne Nebenwirkungen. Studi-

dung ist mitnichten nur semantischer Art:

en zur politischen Partizipation zeigen, dass

„Durch ihre flexiblen Organisationsformen und

diese oft sozial ausschließend wirkt. Von einer

ihr wenig dauerhaftes, punktuelles Engage-

Ausweitung der Partizipationsformen profitie-

ment verliert nicht nur die individuelle Beteili-

ren unverändert in erster Linie diejenigen,

gung an Verbindlichkeit, sondern auch die poli-

„die ohnehin schon über bessere Einflussmög-

tischen Aussagen selbst, da nicht klar ist, wer

lichkeiten und -ressourcen verfügen“ (Pickel

sie in wessen Namen trifft“ (Zolleis/Prokopf/

2012: 55).

34

Strauch 2010: 22). Sofern die Vorstände der

Die Piraten hoffen, dass sie durch den gerin-

unterschiedlichen Ebenen oder einzelne Pira-

geren Aufwand für die Interessenartikulation

ten den Anspruch erheben, verbindlich für die

dennoch eher ein inkludierendes Angebot un-

Partei zu sprechen, können sie auf verschiede-

terbereiten. Am heimischen PC, mit dem Tablet

ne Voten zurückgreifen. Sie können Programm-

auf dem Sofa oder mit dem Smartphone in der

beschlüsse und Positionspapiere der Parteita-

U-Bahn könne man schließlich bequem an De-

ge anführen oder auf Voten aus dem Liquid-

batten teilhaben und sich selbst einbringen.

Feedback verweisen. Parallel dazu können sie

Daraus folgt, dass technologische Möglichkei-

Diskussionen auf den Mailinglisten auswerten

ten sehr weitreichende demokratiefördernde


O RGANISATION DER P IRATEN

Chancen bieten, die ein grundsätzlich wün-

bislang gerade einmal so viel eingenommen

schenswertes Mehr an politischer Teilhabe prin-

wie seinerzeit die im Wesentlichen auf Ham-

zipiell ermöglichen. Die Organisationsstruktur

burg begrenzte Schill-Partei.

der Piratenpartei zielt mit ihrer umfänglichen

Eine weitere Ursache für die schlechte Fi-

Internetorientierung genau darauf ab. Zugleich

nanzlage der Partei ist der im Vergleich zu den

bestätigt die Piratenpartei verschiedene ein-

anderen Parteien geringe Mitgliedsbeitrag,

schränkende und kritische Bewertungen zur

der allerdings den niedrigen Mitgliedsbeiträ-

Online-Partizipation (Emmer/Wolling 2010: 53).

gen anderer Piratenparteien in Europa gleicht.

Das Internet unterstützt die politische Partizipa-

Obwohl die Mitgliedschaft bei den Piraten

tion, es fördert die Teilhabe an Demokratie und

ausgesprochen preiswert ist, ist die Zahlungs-

durch Nicht- und

ist insofern inkludierend, aber es ersetzt weder

moral in der Partei schwach ausgeprägt. Nur

Geringzahler

die bestehenden Elemente demokratischer Teil-

die Hälfte bis zwei Drittel der Mitglieder ent-

habe, noch kann es die soziale Differenzierung

richten überhaupt ihren Beitrag. Die Partei

auflösen. Weil die Wahrnehmung von Partizipa-

streicht im Gegensatz zu den politischen Mitbe-

tionschancen weiterhin eng mit dem sozialen

werbern säumige Zahler aber nicht aus der Kar-

Status zusammenhängt, wird der Piratenpartei

tei, sondern suspendiert nur deren Stimmrecht,

daher nicht zu Unrecht der Vorwurf gemacht, sie

und das auch nur auf Parteitagen, nicht bei Auf-

verfolge ein „bisweilen elitäres Projekt“ (Krät-

stellungsversammlungen. Selbst die zahlen-

zig 2010: 95).

den Mitglieder leisten nicht durchgängig den

Einnahmenausfall

vollen Beitrag. Viele nutzen die Möglichkeit

3.6 Flaute in der Kasse der Piratenpartei

einer Beitragsermäßigung aus Gründen sozialer Härte, wohingegen nur die wenigsten Piraten der Empfehlung folgen, über ihren regulä-

Die finanzielle Lage einer Partei entscheidet

ren Beitrag hinaus noch einen freiwilligen zu

nicht allein über ihren Erfolg, dennoch ist sie

zahlen. Ein Vorstoß des Bundesvorstands, die

von hoher Relevanz für deren Handlungsfähig-

bisherigen Mandatsträger stärker in die Pflicht

keit. Dieser Umstand stellt für die Piraten

zu nehmen, scheiterte zuletzt (Meiritz 2012).

durchaus eine ernst zu nehmende Herausforderung dar.

Die Konsolidierung der Parteiorganisation und das immense Mitgliederwachstum in den

Den inzwischen auf rund 1,5 Millionen Euro

Jahren 2011 und 2012 lassen immerhin eine ge-

gestiegenen jährlichen Anspruch aus der staat-

ringfügige Besserung erwarten. Das verschafft

lichen Parteienfinanzierung können die Pira-

aber nur eine geringe Entlastung, weil gleich-

ten gegenwärtig nicht geltend machen, weil es

zeitig die Ausgaben weiter anwachsen. Rund

ihnen nicht gelingt, in gleicher Höhe Eigenmit-

ein Drittel des Gesamtetats der Partei auf Bun-

tel zu erwirtschaften. Aus der staatlichen Fi-

desebene wird mittlerweile für die beiden Bun-

nanzierung haben die Piraten deswegen

desparteitage im Jahr ausgegeben. Die wach-

35


D IE P IRATENPARTEI

Tabelle 4:

Mitgliedsbeiträge der deutschen Parteien Partei

Mindestmonatsbeitrag

Staffelung nach Einkommen

Reduzierter Beitrag

CDU

5 Euro

Orientiert an 1 % des Bruttoeinkommens

Einzelfallregelung

CSU

6 Euro

Zwei erhöhte Sätze, die sich an 0,3 %

4,17 Euro;

des Bruttoeinkommens orientieren

Familienmitgliedschaft: 2,50 Euro

Die Linke

2 Euro

1

Progressiv ansteigend bis auf 4 %

Keinen

des Nettoeinkommens FDP

8 Euro

Orientiert an 0,5 % des Bruttoeinkommens

Einzelfallregelung

Grüne

Keinen

1 % des Nettoeinkommens

Einzelfallregelung

Piraten

4 Euro

Keine. Empfehlung: 1 % des Bruttoeinkommens

1 Euro

SPD

5 Euro

Orientiert an einem Satz, der bis zu 6 % des Einkommens ausmacht; gesonderte Regelung für Wahlbeamte (50-250 Euro) und Bundestagsabgeordnete (250 Euro)

2,50 Euro

1 Unter Einbezug der verpflichtenden 0,50 Euro für die Europäische Dachpartei EL. Quelle: Eigene Erhebung.

sende Zahl von Arbeitsgemeinschaften führt

richtung der Parteitage benötigen und die Lan-

ebenfalls zu erhöhtem Bedarf. Zudem wurde

des- und Kreisgeschäftsstellen einrichten. Für

hauptamtliches Personal erforderlich, wobei

den Aufbau einer Infrastruktur, die außerhalb

sich der Bundesverband der Piraten gerade

von Wahlkampfzeiten handlungsfähig wäre,

einmal eine gering entlohnte Pressesprecherin

fehlt es den Piraten schlicht an verlässlichen

und eine geringfügig beschäftigte Leiterin der

Einnahmen. Dementsprechend wächst die Ab-

Bundesgeschäftsstelle leisten kann. Zusätzli-

hängigkeit der Partei von Spenden weiter. Als

cher Personalbedarf, der im Bundestagswahl-

vorteilhaft erweist es sich, dass Spenden,

jahr 2013 zweifelsohne gegeben wäre, kann

gerade Kleinspenden, über das Internet

nur über Spenden gedeckt werden.

vergleichsweise einfach zu generieren sind

Die Partei ist chronisch unterfinanziert. Das gilt sowohl für die Bundesebene, obwohl gera-

36

(Palfrey/Gasser 2008: 261) und dies den Piraten anlassbezogen immer wieder gelang.

de diese einen Löwenanteil der Beiträge ver-

Ein besonders wirksames Instrument sind

einnahmt, als auch für die Landesverbände, die

dabei öffentliche Versprechungen, Spenden zu

ihrerseits immer größere Räume für die Aus-

leisten, wenn andere dasselbe tun. Über die


O RGANISATION DER P IRATEN

Internetseite Pledgebank.com konnten die Pi-

gungen eines stürmischen Wachstums neue,

raten so Werbematerialien für die Landtags-

motivierte und dadurch belastbare Ehrenamtli-

Kompensation

wahlkämpfe finanzieren. Doch solche Instru-

che in die Partei strömten. Die Grenzen dieses

durchs Ehrenamt

mente lassen sich nicht beliebig ausweiten.

Organisationsmodells sind gegenwärtig aber

Bislang gelingt es der Partei zwar, zwischen

mit Händen zu greifen. Gerade in Phasen rück-

den Landesverbänden überschüssige Liquidität

läufiger öffentlicher Aufmerksamkeit und Zu-

auszutauschen oder noch verwendbare und üb-

stimmung erlahmt das geweckte Interesse

rig gebliebene Materialien aus einem Land-

rasch, und es zeichneten sich bereits 2012 ers-

tagswahlkampf in einem anderen einzusetzen;

te Ermüdungserscheinungen in der Piratenpar-

im anstehenden Bundestagswahlkampf wird

tei ab. Piraten mit den unterschiedlichsten

das freilich nicht mehr möglich sein.

Funktionen und Ämtern stellten diese wieder

Die Piraten konnten ihre schwächere Finanzkraft bislang durch ein höheres Aktivitäts-

zur Verfügung, wobei oftmals das Motiv der Überlastung eine wichtige Rolle spielte.

niveau kompensieren, wobei sicherlich die

Die finanzielle Lage der Partei begrenzt

technische Kompetenz ihrer Mitglieder und

gegenwärtig fast jegliche erforderliche per-

Anhänger hilfreich war (Niedermayer 2010:

sonelle Professionalisierung der Parteiarbeit.

847). So entwickelt die Partei ihre Materialien

Weil gleichzeitig die Anforderungen infolge

durch kooperatives Zusammenwirken. Die

der Organisation der Parteiarbeit wachsen

Sammlung von Unterstützerunterschriften bei

und damit auch finanzielle Verpflichtungen

Wahlen wird über das Internet koordiniert, und

verbunden sind, stößt das bisherige Organi-

Ressourcen werden dadurch so gelenkt, dass

sationsmodell der Piratenpartei ohne eine

Schwachpunkte kompensiert werden. Das alles

Verbesserung der Finanzlage klar an seine

war noch leicht möglich, als unter den Bedin-

Leistungsgrenzen.

37


D IE P IRATENPARTEI

4. Programm und Ideologie

Die Programmatik der Piratenpartei galt den

tische Diversifizierung überhaupt angemessen

etablierten Parteien lange Zeit als entschei-

voranzutreiben. Verschweigen darf man sicher-

dender Kritikpunkt. Dabei wurden fehlende

lich nicht, dass auch die etablierten Parteien

Breite, unzureichende Detailschärfe und Sub-

mit ihrer programmatischen Stringenz, Tiefe,

stanz bemängelt. In der Tat deckt weder das

Substanz und Reichweite vielfach nachlässig

Grundsatzprogramm der Piraten alle relevan-

umgegangen sind. Trotzdem stellen Program-

ten Themenfelder ab, noch liegen entsprechen-

me natürlich eine Form der Darlegung und Be-

de Positionspapiere vor. Gerade in den Berei-

wertung des ideologischen Kerns dar, auf dem

chen, die in der gegenwärtigen politischen De-

die jeweiligen Parteien gründen, der sie

batte als zentral erachtet werden, sind die pro-

voneinander unterscheidbar macht und ihnen

grammatischen Angebote der Piraten – wenn

eine Identität verschafft, welche wiederum für

überhaupt vorhanden – bislang zumeist unter-

die Bindung der Wählerschaft unvermindert

komplex. Das gilt trotz der letzten Erweiterun-

wichtig ist (Wiesendahl 2006b: 7 ff.).

gen des Grundsatzprogramms auch für die Europapolitik, die Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion oder die Außen- und Sicher-

38

4.1 Programmentwicklung

heitspolitik. Selbst die Sozialpolitik erweist

Das Grundsatzprogramm der Piraten hat,

sich als große programmatische Leerstelle,

ebenso wie die jeweiligen Wahlprogramme,

obgleich hier die Piraten mit ihrer Forderung

innerparteilich eine hohe, fast weihevolle Be-

nach einem Grundeinkommen im politischen

deutung. Anders als gemeinhin bei solchen Tex-

Wettbewerb sogar ein Alleinstellungsmerkmal

ten üblich, verfügt es indes weder über eine

anbieten (Hensel 2012b: 110 ff.) und dieses Po-

umfängliche Gegenwartsbeschreibung, noch

litikfeld von den meisten Piratenwählern als

sind Menschenbild oder Grundwerte der Partei

wahlentscheidend angesehen wird. Doch jen-

explizit dargelegt. Die politischen Forderungen

seits dieser plakativen Forderung bleiben die

werden vielmehr vor dem relativ umgrenzten

Piraten in allen Teilfeldern der Sozialpolitik

Panorama einer durch Überwachung und Kon-

wie der Arbeitsmarkt-, Gesundheits-, Pflege-

trolle gekennzeichneten Informationsgesell-

oder Rentenpolitik konkrete programmatische

schaft skizziert. Lange Zeit ließ sich dies als

Antworten weitgehend schuldig. Existierende

Ausdruck einer postideologischen Haltung der

disparate Programmelemente aus einzelnen

Partei interpretieren. Die letzten Programmer-

Arbeitsgemeinschaften oder Landesverbänden

weiterungen sind aber von dem Bemühen ge-

wurden zudem bislang nicht systematisch zu-

kennzeichnet, eine stärkere inhaltlich-ideolo-

sammengeführt.

gische Fundierung vorzunehmen.

Natürlich hat die Piratenpartei erst nach

Während das Grundsatzprogramm seit den

2009 eine hinreichend große Mitglieder- und

Anfängen der Partei immerhin eine gewisse

Ressourcenbasis erreicht, um eine programma-

Geschlossenheit und Systematik erkennen


P ROGRAMM UND I DEOLOGIE

lässt, sind die Wahlprogramme der Piraten

verbindliche Ebene, die eine Aushandlung von

oftmals unstrukturierte Aneinanderreihungen

Interessen ermöglicht. Die Parteitage sind

sehr unterschiedlicher Themen. Dadurch ent-

dazu kaum geeignet, da sich die Entschei-

Keine stringente

stehen manche merkwürdigen thematischen

dungsmöglichkeit dort aufgrund der Rahmen-

Programmentwicklung

Setzungen: Im schleswig-holsteinischen Wahl-

bedingungen im Wesentlichen auf eine einfa-

programm tauchen unter Energiepolitik mit ei-

che Zustimmung oder Ablehnung reduziert, so-

nem Mal Forderungen zur Trinkwasserversor-

dass ein für die Demokratie unabdingbarer, auf

gung auf. In Nordrhein-Westfalen findet das

Verhandlung gerichteter Diskurs nicht geführt

Thema Whistleblower-Schutz ausgerechnet un-

werden kann. Verschärft wird dieser Umstand

ter Gesundheitspolitik Erwähnung. Oftmals fin-

dadurch, dass die Piraten in ihrer Parteitagsge-

den sich in den Programmen größere Abschnit-

schäftsordnung keine Änderungsanträge zulas-

te zu bestimmten Themen, wenn einzelne Pira-

sen und Beschlüsse zugleich eine Zweidrittel-

ten hier besonders erfolgreich ihr Interesse

mehrheit erfordern. Ersteres hemmt die Aus-

und ihre Expertise eingebracht haben, weswe-

handlungsmöglichkeiten, Letzteres schützt

gen das saarländische Wahlprogramm über ein

überkommene Programmbausteine so, dass

eigenes Kapitel zum Tierschutz oder das

eine neuerliche Debatte darum faktisch ausge-

schleswig-holsteinische Aussagen zur Steuer-

schlossen ist.

politik enthält.

Die Bedeutung von erfolgreich durchgerun-

Wie begrenzt die eigentliche programmati-

genen Programmbeschlüssen ist vor diesem

sche Diskussion in vielen Bereichen ist, wird

Hintergrund besonders hoch einzuschätzen.

bereits daran deutlich, dass man sich bei der

Tatsächlich rekurrieren nicht wenige Piraten

Erstellung von Landeswahlprogrammen gerne

auf die offiziellen Forderungen der Partei, leh-

großzügig bei Ausarbeitungen anderer Landes-

nen eigene öffentliche Positionierungen ohne

verbände bedient. Besonders auffällig war dies

Parteibeschluss ab oder prangern Verstöße ge-

in Schleswig-Holstein, wo fast die Hälfte der

gen Beschlüsse entschieden an. Programmati-

Inhalte des dortigen Wahlprogramms aus an-

sche Entscheidungen führen keineswegs zur

deren Landesverbänden übernommen worden

Klärung von innerparteilichen Konflikten, weil

war, freilich ohne die in anderen Ländern vor-

die Partei ja zugleich Wert darauf legt, dass die

handenen Begrifflichkeiten und Regelungstat-

individuellen Einstellungen, Positionen und

bestände an die Verhältnisse zwischen Nord-

Forderungen nicht durch die Beschlüsse der

und Ostsee anzupassen (Horst 2012: 531; o. V.

Partei eingeengt werden. In der Partei stößt

2012; Pergande 2012).

man deswegen auf mehr Widerstand, wenn

Eine Ursache der eher unterentwickelten

individuelle Einstellungen, Positionen oder

Programmdiskussion liegt in der Struktur der

Forderungen abseits jedes programmatischen

vielfältigen Kommunikationskanäle und Mit-

Beschlusses im Sinne eines orientierenden

wirkungsmöglichkeiten. Es fehlt eine klare und

Entwurfs artikuliert werden, als wenn diese

39


D IE P IRATENPARTEI

Beiträge den bestehenden Positionen im Zwei-

sätze ist zwar noch nicht abgeschlossen, ja er

fel diametral entgegenstehen. Heftige Debat-

hat sich zum Teil auch festgefahren, dennoch

ten um das Selbstverständnis dessen, was „pi-

gelten die deutschen Piraten im Vergleich zu

ratig“ sein soll, sind dadurch stets die Folge.

ihren Schwesterparteien mittlerweile als Pioniere der programmatischen Erweiterung und

4.2 Programmatische Ausrichtung Gemessen am Erfolg der deutschen Piraten bei

40

Entwicklung eines Vollprogramms (Appelius/ Fuhrer 2012: 319). Einige der bereits von der schwedischen

Wahlen sowie an dem Anspruch, eine interna-

Piratpartiet

gesetzten

programmatischen

tionale Bewegung zu sein, stellt sich die Frage

Schwerpunkte sind bis heute erhalten geblie-

nach einem programmatischen Kern und einer

ben. Dazu gehört ein liberales Politikverständ-

übergreifenden Leitidee. Über eine solche ver-

nis, bei dem der Schutz bürgerlicher Rechte im

fügen immerhin alle großen europäischen Par-

Vordergrund steht, das sich vor allem in der

teifamilien. Ausgehend vom Menschenbild, ei-

Forderung nach Datenschutz und Informations-

ner Zeitdiagnose und den Grundwerten wird

rechten manifestiert (Koß 2011). Dementspre-

jeweils ein ideologischer Rahmen aufge-

chend entwickeln die Piraten ihren Liberalis-

spannt, auf dessen Grundlage Einzelpositionen

mus in erster Linie aus der Bezugnahme auf die

und Forderungen hergeleitet werden. So kön-

gesellschaftliche Transformation im Zuge der

nen sich die jeweiligen Parteien auch in neuen

digitalen Revolution, während eine deduktive

Politikfeldern meist zügig verorten oder Einzel-

Herleitung aus der aufklärerischen Ideenge-

forderungen auf die Grundlage von Werten und

schichte heraus nachrangig ist. Derart grundle-

Erfahrungen zurückführen.

gend argumentiert das Grundsatzprogramm der

Erkennbar gibt es bei den Piraten eine

deutschen Piraten ohnehin nicht. Stattdessen

Scheu vor einer allzu engen ideologischen

rekurriert es auf eine begrenzte Zeitdiagnose,

Festlegung. Gerade in der jüngsten Debatte

der zufolge die bisherigen rechtlichen, wirt-

über ihre wirtschaftspolitische Ausrichtung

schaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen

wurden sehr grundlegende Fragen aufgewor-

durch die technologischen Entwicklungen auf

fen. Abgesehen von der vagen Bezugnahme auf

den Prüfstand gestellt würden. Eine klare Zu-

ein humanistisches Weltbild vermochte die

ordnung zu einem der klassischen politischen

Partei in diesem Bereich aber keine Klärung

Lager ergibt sich daraus jedoch nicht.

darüber herbeizuführen, wie weit wirtschaftli-

In der Politikwissenschaft hat sich einge-

che Freiheit reichen, welchen Stellenwert Ge-

bürgert, Parteien entlang von gesellschaftli-

rechtigkeit haben oder wie das Verhältnis ver-

chen Konfliktlinien einzuordnen. Solche „Clea-

schiedener Grundwerte zueinander sein soll.

vages“ (Konfliktlinien z. B. zwischen Arbeit/

Der Prozess der Ausdifferenzierung und

Kapital, Staat/Kirche, Stadt/Land oder Zen-

Systematisierung der programmatischen An-

trum/Peripherie) zeichnen sich durch dauer-


P ROGRAMM UND I DEOLOGIE

hafte Überzeugungen aus, denen zufolge in-

aktualisiert, die zunächst einmal Teil des klas-

haltliche Differenzen „immer wieder für kon-

sischen Konflikts zwischen Staat und Bürger

krete Entscheidungen relevant sind oder […]

um individuelle oder kollektive Freiheitsrechte

auf ideologische Dimensionen mit abstrakterer

sind. Ihre Forderungen, Staatsbürgerrechte zu

Bedeutung rückführbar sind und […] die Ab-

erweitern, die Neutralität des Staatswesens zu

stimmenden/Wähler immer wieder in die glei-

betonen, individuelle Freiheitsrechte zu si-

chen Gruppen von Befürwortern und Gegnern

chern und sich auf eine in Teilen radikale lai-

zerfallen“ (Pappi 2005: 104). Je nach Herange-

zistische Haltung zu berufen, verweisen hierbei

hensweise werden unterschiedlich viele Kon-

zweifelsohne auf eine liberale Grundhaltung.

fliktdimensionen ausgemacht.

Die gleichzeitige Betonung von Zukunftschan-

Alle Parteien, die sich in den europäischen

cen durch Bildung und Vernetzung legt auch

Parteiensystemen dauerhaft etablieren konn-

eine sozialliberale Orientierung nahe. Schlüs-

ten, haben in mindestens einem Konflikt

selbegriffe wie Demokratie oder Freiheit zäh-

zunächst einen Pol prononciert besetzt: Die

len jedenfalls zweifelsohne zum Markenkern

Sozialdemokraten vertraten die Interessen der

des Sozialliberalismus wie auch der Piraten-

Arbeiter gegenüber den Kapitaleignern. Zen-

partei (Hönigsberger/Osterberg 2012: 19).

trumsparteien waren die Repräsentanz der Ka-

Hinweise, wonach etwa das Grundeinkom-

tholiken gegen den säkularen Staat. Konserva-

men als Antithese zum Sozialliberalismus zu

tive Parteien traten für die Interessen der Land-

deuten wäre (Hensel/Klecha/Walter 2012: 52;

bevölkerung gegen diejenigen der Städter ein.

Offe 2007), werden jedoch von der Partei geflis-

Grüne Parteien ergriffen Partei für postmateri-

sentlich ignoriert. Auch Widersprüche zwi-

elle Anliegen und stellten sich gegen die Indus-

schen der gesellschaftlichen und ökonomi-

trie- und Konsumgesellschaft. Darüber hinaus

schen Konfliktdimension existieren: Jedenfalls

haben Parteien dann in anderen Konfliktdimen-

sind die positiven Bezugnahmen auf Friedrich

sionen nach und nach Positionen bezogen oder

von Hayek (Hönigsberger/Osterberg 2012: 26)

sich mit anderen Parteien zu einer gemeinsa-

nicht einmal ansatzweise als sozialliberal zu

men Partei verbunden.

deuten. Zudem sind die Grundansichten der Pi-

Im historischen Vergleich wird deutlich,

raten hinsichtlich des immateriellen Eigentums

dass die Piratenpartei keine neue Konfliktlinie

eher anarchistischen als liberalen Ursprungs.

besetzt beziehungsweise sich mitnichten an-

Nun sind die vorherrschenden liberalen

hand eines neuen gesellschaftlichen Cleava-

Grundüberzeugungen der Piraten keineswegs

ges konstituiert hat. Bestenfalls könnte der

überraschend, wurden ihre Mitglieder doch

schleichende, aber stetige Übergang zum Inter-

mehrheitlich in der Blütephase des Neolibera-

netzeitalter noch eine neue Konfliktdimension

lismus sozialisiert. Das Versprechen von Frei-

hervorbringen. Zudem hat die Piratenpartei

heit fiel bei ihnen auf fruchtbaren Boden. Die

größtenteils Fragestellungen aufgegriffen und

bürgerrechtlichen Positionen ließen sich eben-

Kein neues Cleavage

41


D IE P IRATENPARTEI

42

so leicht aus dem Fundus des Liberalismus be-

radikalliberale und radikallibertäre Weltauf-

gründen. Ein emphatisches Eintreten für die

fassung werden lassen (Barbrook/Cameron

Freiheit des Individuums, rechtsstaatliche

1997). Für die Hackerethik ist die freie Zugäng-

Überzeugungen und eine affektive Distanz zu

lichkeit aller Informationen ebenso zentral

staatlichem Handeln ließen sich mühelos

(Levy 2010: 24) wie es die Freiheit schöpferi-

adaptieren. Auch gesellschaftspolitisch konn-

scher technischer Entwicklung, Kooperation

ten die Piraten sich in der Tradition des Libera-

und Reziprozität sind (Castells 2005: 58 ff.).

lismus schnell wiederfinden. Doch in der wirt-

Immaterielle Güter wie Software, Texte oder

schafts- und sozialpolitischen Ausrichtung ist

Musikstücke werden nicht als nutzungsbe-

dies deutlich schwieriger. Denn das Vermächt-

schränktes Eigentum anderer aufgefasst, son-

nis des Wirtschaftsliberalismus der Westerwel-

dern sollen verfügbar und jederzeit modifizier-

le-FDP klang für viele zwar rational plausibel,

bar sein. Argumentativer Hintergrund hierfür

war jedoch spätestens nach der Weltfinanzkri-

ist das besondere Wesen digitaler Güter, die zu

se kaum mehr attraktiv. Beim Versuch, eigene

niedrigsten Kosten prinzipiell grenzenlos und

wirtschaftspolitische Grundsätze zu formulie-

ohne Qualitätsverlust reproduzierbar sind.

ren, verfehlten deswegen auf dem letzten Par-

Dieses neu geschaffene Gut kann dann

teitag ausgerechnet die Kapitel zum Verhältnis

wiederum von Dritten genutzt, verbessert und

von Staat und Markt, zur Steuer- und zur Euro-

weiterentwickelt werden. Der dieser Haltung

papolitik das erforderliche Zustimmungsquo-

zugrunde liegende Freiheitsbegriff fokussiert

rum. Gerade bei den Kernfragen einer wirt-

nicht nur auf den Wert der freien Meinungsäu-

schaftspolitischen Ausrichtung sind die Piraten

ßerung, sondern setzt sich eben auch für die

nämlich unsicher, wie sie das sozialliberale

Freiheit des Wissens und der freien (Weiter-)

Bauchgefühl in eine konsistente Programmatik

Verwertung von Kultur ein (Coleman/Golub

übersetzen können.

2008).

Löst man sich von der Selbstzuschreibung

Zugrunde gelegt wird ein sehr optimisti-

als sozialliberale Partei, fällt auf, dass manche

sches Bild vom Menschen, dem ein kollektiv

programmatischen Grundlagen sich von den

orientierter und selbstloser Kooperationswille

Prinzipien und der Praxis der Internetkultur

zugeschrieben wird. Weil sich alle Individuen

und der sogenannten Hackerethik leiten las-

entsprechend verhielten, könnten die Aus-

sen. Einen Widerspruch zum Liberalismus der

tauschbeziehungen der Individuen untereinan-

Piraten ist das keineswegs; schließlich existie-

der hierarchiefrei ausgestaltet werden. Frei-

ren zwischen Hackerethik und liberalen Tradi-

lich müsste den Individuen die erforderliche

tionsbeständen kulturhistorische Verbindungs-

Infrastruktur bereitgestellt werden, um an ei-

linien (Coleman 2011: 513), die bei näherer Be-

ner derartigen partizipativen Gesellschaft teil-

trachtung aus dem Versprechen unbegrenzter

zunehmen. In den Begriff der Infrastruktur wer-

Freiheit im digitalen Raum ein Plädoyer für eine

den gleichermaßen soziale, kulturelle oder


P ROGRAMM UND I DEOLOGIE

ökonomische Elemente einbezogen (Siri/Villa

Ein wichtiger programmatischer Kristalli-

2012; Siri 2012). Infrastruktur wird so als Vor-

sationspunkt dieser Perspektive ist das Urhe-

aussetzung für einen positiv konnotierten

berrecht. In ihrem Grundsatzprogramm fordern

Schlüsseldiskussion

marktvermittelten gesellschaftlichen Fort-

die Piraten, „das nichtkommerzielle Kopieren,

um das Urheberrecht

schritt angesehen, der die Werte gesellschaft-

Zugänglichmachen, Speichern und Nutzen von

licher Gerechtigkeit unter besonderer Berück-

Werken nicht nur zu legalisieren, sondern ex-

sichtigung individueller Freiheit überhaupt

plizit zu fördern“ (Piratenpartei Deutschland

erst zur Entfaltung kommen lässt. Insofern

2011b: 6). Im Hinblick auf verschiedene Formen

stellt diese Forderung durchaus ein Kernstück

der gesellschaftlichen Weiterentwicklung hal-

der programmatischen Erzählung der Piraten

ten sie das Patentrecht für ein Hemmnis beim

dar (Hensel/Klecha/Walter 2012).

technischen und ökonomischen Fortschritt.

Der Infrastrukturbegriff durchdringt im Ver-

Auffällig ist die strikte und schwer zu operatio-

ständnis der Piraten die gesamte Palette sozia-

nalisierende Trennung der Sphären kommerzi-

ler und kultureller Elemente der Gesellschaft.

eller Nutzung und nichtkommerzieller Aneig-

In diesem Zusammenhang ist die sogenannte

nung von Wissen und Kultur. Wer Wissen pro-

„Plattformneutralität“ (Seemann 2012) zum

duziere, Dinge erforsche oder kulturelle Wer-

Schlüsselbegriff avanciert. Demnach ist nicht

ke aufführe, erfahre keinen Schaden, wenn ein

nur der Zugang von entscheidender Bedeutung,

anderer sich dieses aneigne, meinen die Pira-

sondern auch der Gebrauch der Infrastruktur

ten.

muss diskriminierungsfrei möglich sein. Jeder

Kritiker dieser Position interpretieren das

Nutzen und jede Leistung, die sich unmittelbar

als „Enteignung der Urheber“ (Appelius/Fuhr-

aus der Verwendung von allgemein finanzier-

er 2012: 90), bemängeln, dass Honorare und

ter Infrastruktur ergeben, müssten daher der

Tantiemen auf den Wert eines „Finderlohns“

Allgemeinheit wieder zur Verfügung stehen.

herabgestuft würden (Hensel/Klecha/Walter

Die Verbrauchsressourcen sollen durch gesell-

2012: 48 f.) oder halten gerade die kommerzi-

schaftliche Umlagen aufgebracht werden. In

elle Organisation von kulturellen Leistungen

diesem Sinne reicht die Freistellung von Nut-

für essenziell, um kreative Ergebnisse zu er-

zungsentgelten für den Einzelnen sogar über

zielen (Hank/Meck 2012). Solche Einschätzun-

den staatlichen Sektor der Daseinsvorsorge hi-

gen teilen etliche Autoren, Musiker und Schau-

naus. Insoweit nämlich Güter nichtstofflicher

spieler (Appelius/Fuhrer 2012: 95; Wagner

Art betroffen sind, wird eine kommerzielle Han-

2012: 130 ff.).

delbarkeit von den Piraten abgelehnt. Sie fol-

Seit Ende 2011 versuchen sich die Piraten

gen hier der angesprochenen Hackerethik, die

von den besonders pointierten Positionen zu

eine Zirkulation von jedwedem Wissen ver-

lösen und signalisieren Dialogbereitschaft. Im

langt, um einen höheren Nutzen für die Allge-

Spätsommer 2012 haben sie eine Liste mit al-

meinheit zu erzielen.

ternativen Geschäftsmodellen vorgelegt, auf

43


D IE P IRATENPARTEI

welche Künstler ausweichen und wie diese mit-

gehen ließe und andererseits die Politik ihre

tels staatlicher Subventionen unterstützt wer-

Konflikt- und Einflusslogik zurückgewinne.

den könnten. In Berlin und Nordrhein-Westfa-

Freilich ist diese Positionierung der Partei nicht

len haben die Piraten erste Vorschläge für Ge-

unproblematisch, umfasst sie doch in der Pra-

setzesinitiativen vorgelegt (Meiritz/Reinbold

xis oftmals eine politisch gefährliche Blindheit

2012; Wagner 2012: 135). Trotz allem haben die

gegenüber der ökonomischen Vermachtung

Piraten in der Debatte keine Hegemonie gewin-

des digitalen Raumes, in dem Großunterneh-

nen können.

men wie Google oder Facebook das Feld domi-

Die Vision eines freien Austauschs von Wis-

nieren (Appelius/Fuhrer 2012: 91; Leggewie

sen erschöpft sich jedoch keineswegs in der

2012: 237). Insgesamt kann man immer wieder

Debatte über das Urheberrecht. Eine weitere

feststellen, dass die Freiheit im Netz und deren

daraus abgeleitete Zielperspektive der Piraten

marktliberale Konsequenzen mit einer in der

ist es, Individuen in die Lage zu versetzen, sich

Piratenpartei ebenso präsenten affektiven

freiwillig zu vernetzen. Das setzt voraus, dass

Nähe zu sozialstaatlicher Chancengleichheit

sie ungehindert kooperieren können. Insbe-

und egalitären Gerechtigkeitsvorstellungen

sondere darf die Plattform, auf der gesell-

schnell in Konflikt gerät (Hensel/Klecha/Wal-

schaftlicher Austausch stattfindet, nicht durch

ter 2012: 52). Diesen Zielkonflikt trägt die Par-

staatliche Interventionen begrenzt werden. Die

tei bislang nicht aus, womit abermals deutlich

anarchischen, selbstregulierenden Strukturen

wird, dass sie große Schwierigkeiten hat, eine

im Internet werden so zur Referenzfolie für eine

in sich stimmige Programmatik zu entwickeln.

gesellschaftliche Utopie, die einzelne Apologe-

Einig ist sich die Partei eher in der Kritik

ten schon vollmundig als „Wiki-Revolution“

der bestehenden politischen Verhältnisse. Dies

Kritik der politischen

(Plaum 2012) anpreisen. Ungeachtet dessen

kulminiert in einer dezidierten Missbilligung

Verhältnisse

bringt die bei Internetnutzern weit verbreitete

der gegenwärtigen Verfasstheit der repräsen-

„Ideologie der Freiheit“ (Castells 2005: 47 f.)

tativen Demokratie und von deren – durchaus

einige Implikationen für andere Politikfelder

nachvollziehbaren – Mängeln. Als Alternative

mit sich.

proklamieren die Piraten eine „echte Demokra-

44

So soll vor allem staatliches Handeln einer

tie“ (Piratenpartei Deutschland 2011b: 5). Die-

vollkommenen Transparenz unterliegen. Gleich-

se euphemistische Formulierung spricht der

zeitig sollen die Mitwirkungsrechte des Einzel-

gegenwärtigen repräsentativen Demokratie

nen umfassend erweitert werden. Diesbezüg-

implizit den demokratischen Charakter ab. Die

lich greifen die Piraten ein latentes Unbehagen

in einer parlamentarischen Demokratie konsti-

der Bevölkerung hinsichtlich der Wirkungswei-

tutiven Elemente „Fraktionsdisziplin und Par-

se der repräsentativen Demokratie auf. Dem

teiendruck“ (ebd.) gelten aus dieser Perspekti-

liegt die Einschätzung zugrunde, dass sich so

ve genauso als Kern des Übels wie der Einfluss

einerseits wirksam gegen Lobbyinteressen vor-

von gesellschaftlich aggregierten Interessen


P ROGRAMM UND I DEOLOGIE

und Lobbygruppen auf politische Entschei-

lamentarismusverachtung, den bekannten po-

dungsprozesse. Mit dieser Herangehensweise

pulären bis populistischen Aversionen gegen-

individualisiert die Partei nicht nur die politi-

über Parteien und Parlamenten […] und einer

sche Wahlentscheidung, sondern letztendlich

begründeten Skepsis gegenüber der repräsen-

auch die Haltung des einzelnen Repräsentan-

tativen Demokratie und ihren Prozeduren“

ten. Als Korrektiv für dessen etwaige Distanz

(Haas/Hilmer 2012: 23) schwanken. Als Reak-

und mangelnde Anbindung an die gesellschaft-

tion auf die Mängel der parlamentarischen De-

liche Entwicklung werden plebiszitäre Verfah-

mokratie und als Antithese dazu entwerfen sie

ren in Aussicht gestellt, welche das Internet

ihr Ideal einer „liquiden Demokratie“. Der Par-

einbeziehen.

lamentarismus wird hier nicht von seiner ge-

Idealisiertes

Insgesamt knüpfen die Piraten damit so-

genwärtigen Funktionslogik her betrachtet,

Parlaments-

wohl an eine populistische Politikverdrossen-

sondern idealisiert. Der Abgeordnete soll dem-

verständnis

heit als auch an ein idealisiertes Parlamenta-

nach auf der bloßen Grundlage des offenen Wi-

rismusverständnis an. Letzteres entspricht der

derstreits der Argumente entscheiden, und

Frühphase des Konstitutionalismus und wird

zwar vollkommen unabhängig von Interessen,

„klassisch-liberal“ interpretiert (Horst 2012:

Fremdeinflüssen und Zwängen. Zugleich soll

541). Durch die so für die Gegenwart fälschlich

aber der stete Einbezug des zur Partizipation

konstruierte Scheidung in Regierung und Volk,

bereiten Teils der Wählerschaft gewährleistet

welches über das Parlament vertreten wird,

werden.

aber auf die Regierung keinen Einfluss besäße,

Die Piraten schließen dabei an eine Kritik

fällt es den Piraten leicht, die politische Elite

des Parlamentarismus an, die in Diskursen

als distanziert und abgehoben darzustellen.

über die Krise des demokratischen Systems

Dagegen berufen sich die Piraten immer wieder

eine gewisse Wirkungsmacht entfaltet (Mouffe

auf einen „gesunden Menschenverstand“, wo-

2010; Schmitt 1926). Diese umfasst eine fakti-

mit sie einem bekannten „Grundaxiom“ des Po-

sche Negation der Parteiendemokratie, sieht

pulismus entsprechen (Priester 2012: 4). Die

Kompromisse kritisch, bezieht sich auf eine

Piraten übertragen diesen Impuls auch auf ihre

Volonté Générale und betont das Mehrheits-

Wahlkampagnen, die teilweise suggerieren,

prinzip als Verfahrensregel zu dessen Identifi-

dass das politische System korrumpiert sei

kation. Dabei läuft diese Perspektive, wie alle

oder dass bislang keine demokratische Beteili-

basisdemokratischen Ansätze, natürlich latent

gung existiere.

Gefahr, diskriminierende, exkludierende oder

Immer wieder lässt sich in der Partei eine

gar totalitäre Ergebnisse zu produzieren

skeptische und kritische Haltung bezüglich der

(Fraenkel 1991: 261-276). Schließlich können

Funktionsweise der existierenden Form der re-

ethnische, kulturelle, religiöse oder soziale

präsentativen Demokratie erkennen, in deren

Minderheiten in dem implizit beschriebenen

Folge die Piraten zwischen „regelrechte[r] Par-

System einer mehrheitsfixierten Demokratie

45


D IE P IRATENPARTEI

stets überstimmt werden, und es kann ihnen so das Recht genommen werden, ihre Identität zu

4.3 Jenseits der Grundlagen

entfalten, ihre Religion auszuüben oder ihre

Die Programmatik der Partei hat sich

kulturellen Riten und Bräuche zu pflegen. Hin-

inzwischen erheblich von der ursprünglichen

ter der liberalen Fassade dieser Kritikschule

Gründungsidee wegbewegt. Gegenwärtig ste-

steht also durchaus eine problematische, anti-

hen nicht sosehr netzpolitische als vielmehr

pluralistische Demokratievorstellung.

Fragen zu politischen Verfahren und Entschei-

Piraten präferieren mitnichten eine totali-

dungsprozessen im Mittelpunkt der Erzählung

täre Ordnung; gleichwohl könnten die vorhan-

der Partei. Für die weiteren Felder der politi-

denen ideologischen Versatzstücke und Ansät-

schen Agenda können die Piraten gleichwohl

ze, konsequent zu Ende gedacht, eine solche

kaum ein konsistentes Angebot vorweisen. Die

Auffassung legitimieren. Durchaus lässt sich

Partei ist dementsprechend „weniger eine in-

ein diesbezügliches Unbehagen auch in den

haltliche Koalition als vielmehr eine demokra-

parteiinternen Diskursen nachweisen (Hönigs-

tische Plattform, die die Bedingung der Mög-

berger/Osterberg 2012: 24), doch mündet die-

lichkeit des politischen, demokratischen Agie-

ses bislang in keine grundlegende Debatte

rens neu verhandeln will“ (Neumann 2013:

über das Demokratiebild der Piraten ein. Der

181).

Vorwurf, nicht selbstkritisch genug die Folgen

Dabei werden verschiedene Politikfelder

der eigenen Positionen zu durchdenken, ist je-

über internetkulturelle oder IT-orientierte Per-

doch nur bedingt an die Piraten selbst zu rich-

spektiven erschlossen. So nähern sich die

ten. Das politische System als Ganzes muss

schleswig-holsteinischen Piraten der Arbeits-

sich vielmehr fragen, warum es ihm immer we-

marktpolitik über die Organisation von Hacker-

niger gelingt, seine Vorteile, Funktionsnotwen-

spaces. Im Bereich der Sportpolitik wollen sie

digkeiten und demokratischen Vorzüge zu ver-

ebenso wie ihre Parteikollegen in Nordrhein-

deutlichen (Hensel/Klecha/Walter 2012: 47).

Westfalen LAN-Parties und eSport fördern.

Insoweit reproduzieren die Piraten einen er-

Insbesondere der Gedanke der Diskriminie-

kennbaren gesellschaftlichen Mangel an de-

rungsfreiheit stellt hohe Anforderungen an das

mokratischer und politischer Grundbildung.

Bildungswesen, die freie Verfügbarkeit von

Das ändert aber nichts daran, dass die Piraten

Gemeingütern oder die Verwertbarkeit von

bislang eben ihrerseits noch keine differen-

Leistungen, die mit öffentlichen Mitteln erstellt

zierte Auseinandersetzung über die pluralis-

worden sind. Subventionen lehnen die Piraten

tisch-repräsentative Demokratie und ihre Vor-

vor diesem Hintergrund ab, sofern sich daraus

teile geführt haben.

keine öffentlichen Nutzungsrechte ergeben. Auch eine soziale Grundsicherung im Sinne eines Grundeinkommens lässt sich davon ausgehend herleiten.

46


P ROGRAMM UND I DEOLOGIE

Die Implikationen dessen reichen inzwi-

friedenheit mit staatlichen Transferleistungen

schen in Politikfelder hinein, die in der Partei

übertragen lässt. Bemerkenswert ist dennoch,

bislang wenig exponiert waren. Das betrifft

dass die Piraten in Bezug auf das Grundein-

Grundeinkommen

insbesondere die Wirtschaftspolitik, die, libe-

kommen eine Position bezogen haben, die zwar

als neue Antwort

ral orientiert, staatliche Interventionen ab-

in nahezu allen Parteien debattiert wird, je-

lehnt (Neumann 2013: 183), sich zugleich aber

doch bislang nirgends mehrheitsfähig war

für die freie Verfügbarkeit von Gemeingütern

(Hensel 2012b). Eine nachvollziehbare Deutung

ausspricht und somit einige Ansätze der alter-

der innerparteilichen Akzeptanz dieser Forde-

nativen Ökonomie und vor allem die im frühen

rung verweist auf die gebrochenen Erwerbsbio-

Hackerwesen verbreitete Kultur des Teilens

grafien, welche in der jungen Branche der In-

übernimmt (Paetau 2011: 11 f.).

formationsverarbeitung besonders ausgeprägt

Den Piraten fällt es sichtlich schwer, die

sind (Appelius/Fuhrer 2012: 126; Wagner 2012:

Essenz ihrer wirtschaftspolitischen Auffassun-

122 f.). Die Forderung erwächst für diese Klien-

gen textlich niederzulegen und die kritischen

tel aus der Tatsache, dass sie in Ermangelung

Einwürfe (mit Bezug auf das Urheberrecht be-

eines stabilen sozialversicherungsrechtlichen

sonders pointiert: Wagner 2012: 138) zu durch-

Status selbst keine Ansprüche an den Sozial-

denken. Erhebliche Unsicherheiten über den

staat besitzen. Das an den Verhältnissen der

genauen Kurs der Partei bleiben daher beste-

Industriegesellschaft orientierte Sozialversi-

hen. Insbesondere dort, wo die Piraten von der

cherungsmodell erfasst oftmals nicht mehr hin-

groben Zielorientierung zu konkreten Forde-

reichend die soziale Lage vieler in modernen

rungen gelangen, sind die Ansätze oftmals

Berufen, insbesondere im IT-Sektor, Tätigen.

nicht zu Ende gedacht. Je konkreter Anliegen

Prekarität oder zumindest Atypik der Beschäf-

werden, desto seltener gelingt es, laufende in-

tigung stellt eine fast schon integrale Erfah-

nerparteiliche Debatten in Beschlüsse zu über-

rung etlicher jüngerer Arbeitnehmer dar. Durch

setzen. Selbst die Forderung nach einem be-

die große Zahl von Piraten, die Berufen im IT-

dingungslos gewährten Grundeinkommen bleibt

Bereich nachgehen, wird verständlich, dass

letztlich vage. Die genaue Ausgestaltung soll

eine Position mehrheitsfähig wird, welche sich

einer möglichen Enquête-Kommission im Bun-

vom tradierten Sozialstaat abwendet, zugleich

destag überlassen werden (Piratenpartei

aber eine Sicherung gegen Armut gewährleis-

Deutschland 2011a), womit sich die Piraten der

tet.

unliebsamen Aufgabe entledigen, das Thema umfassend selbst zu beraten.

Über die Prägung der Piraten als IT-Partei leiten sich auch in anderen Politikfeldern

Das Grundeinkommen fungiert in seiner

Handlungsnotwendigkeiten ab, um den Erfor-

Vagheit aber gerade deswegen als sozialpoliti-

dernissen der Informationsgesellschaft ge-

sche Projektionsfläche, auf die sich alle Unzu-

recht zu werden. Bildung gilt als essenziell, wird aber vorrangig in der Erstqualifikations-

47


D IE P IRATENPARTEI

phase als gesellschaftliche Aufgabe verstan-

weltlich relativ weit ausgedeutet ist, wird der

den. Wenn durch technologischen Wandel Qua-

Letztere bislang in einer sehr puristischen, je-

lifikationen entwertet werden oder weniger

doch nicht minder vehementen Form vertreten.

qualifizierte Personen möglicherweise nicht mehr mithalten können, sehen einige Piraten die Gesellschaft nur in der Pflicht, Armut zu vermeiden. Sie negieren die Notwendigkeit, eine

Während das Grundsatzprogramm noch stark

aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben oder

von den Anfängen der Partei geprägt ist und

die kapitalistischen Verhältnisse zu verändern:

das Bundestagswahlprogramm sich noch in der

Wenn aus wirtschaftlicher Sicht Menschen

Entwicklung befindet, haben die Landeswahl-

„überflüssig“ würden, so reiche ein Grundein-

programme weitaus eher den Charakter kon-

kommen als Gewähr gegen Armut (Fischermann

kreter Aktionsprogramme und lassen erste

2012). In die gleiche Richtung stößt die nun-

Schritte einer programmatischen Weiterent-

mehr im Grundsatzprogramm niedergelegte

wicklung erkennen. Sie folgen nahezu durch-

Wendung, wonach man das Ziel der Vollbe-

gängig vier Schwerpunkten:

schäftigung nicht mehr als zeitgemäß erachtet. Deutlich wird daran: Anders als im tradierten, kontinentalen Sozialstaatsmodell zielen die Piraten mit ihrer Forderung nach einem Grundeinkommen stark auf die unmittelbare Eigenvorsorge des Einzelnen. Der Staat sichert gegen Armut ab, nicht aber den individuellen Status. In diesem Bereich ist der Einzelne auf sich gestellt. Er soll durch die Bereitstellung von freier Infrastruktur in die Lage versetzt

48

4.4 Von Grundsätzen zum Konkreten

mehr Bürgerbeteiligung, etwa durch eine Absenkung der Zugangsschwellen und Quoren für plebiszitäre Verfahren; mehr bürgerliche Freiheitsrechte, etwa durch das Verbot von Videoüberwachungen; vollständige Transparenz sämtlicher politischer Prozesse und Vorgänge sowie kostenfreier Zugang zu Bildung bei gleichzeitiger Reform des Bildungssystems.

werden, seinen eigenen Weg gehen zu können,

Mitunter sehr kleinteilig, aber durchaus auch

womit die prinzipielle Eigenständigkeit und

umfassend fallen die Programmpunkte zur Bil-

Autonomie des Individuums besonders betont

dungspolitik aus. Während im Saarland vor al-

wird. Diese tendenziell meritokratische (d. h.

lem Detailfragen der Hochschulpolitik abge-

an den Verdiensten orientierte) Leistungsuto-

handelt werden, verfolgen die Piraten in Nord-

pie entspricht damit eher liberalen Auffassun-

rhein-Westfalen einen sehr umfassenden An-

gen von Sozialstaatlichkeit als der fürsorgen-

satz, der von der Kindertagesstätte bis zur Er-

den deutschen Tradition. In den sozialpoliti-

wachsenenbildung reicht. Im Zentrum steht

schen Debatten der Piraten werden Begriffe

dabei die Forderung nach einem freien, das

wie Freiheit und Gerechtigkeit thematisiert.

heißt kostenlosen Zugang zur Bildung. Weni-

Während der Erstere theoretisch und lebens-

ger konkret sind hingegen die Forderungen


P ROGRAMM UND I DEOLOGIE

nach Qualität und Struktur des Bildungswe-

ten sie mit den von ihnen priorisierten landes-

sens. Die Affinität zu bildungspolitischen The-

politischen Themen kaum öffentliche Wahrneh-

men resultiert abermals aus der Lebenslage

mung.

vieler Piraten, die entweder noch in der Ausbil-

Im Gegensatz zu den etablierten Parteien

dung stecken oder diese gerade erst abge-

leiten die Piraten bislang ihre programmati-

schlossen haben. Bildung wird zugleich als

schen Bausteine nicht aus einer übergeordne-

Schlüsselthema bei der Bewältigung von Fra-

ten Erzählung oder aus einem ausbalancierten

gen demokratischer Mitwirkung angesehen.

Wertegerüst ab, sondern entwickeln sie ausge-

Besonders deutlich haben sich die Piraten

hend von ihrem netzkulturellen Kern und den

als Transparenzpartei positioniert. Dieser Be-

darin immanenten Handlungsprinzipien. Sie

griff ist in den Wahlkämpfen sowie in den par-

übertragen diese auf die Politik oder schreiben

teiinternen Debatten zum „Fahnenwort“ (Hö-

Positionen fort, zu denen sie sich schon eine

nigsberger/Osterberg 2012: 27) der Piraten-

Meinung oder Position gebildet haben. Über

partei geworden, welches sich zusammen mit

den Begriff der Infrastruktur und über das Prin-

Demokratie und Freiheit zum programmati-

zip des diskriminierungsfreien Zugangs nähert

schen Kern der Partei verdichtet. Kritik an den

sich die Programmatik in einigen Politikberei-

bestehenden Verhältnissen mit der Forderung

chen mittlerweile elaborierten und für sich ge-

nach Transparenz zu verbinden ist gerade für

nommen schlüssigen Konzeptionen an. Freilich

eine (außerparlamentarische) oppositionelle

fehlen eine politische Gesamtschau, eine über-

Partei keineswegs ungewöhnlich, weist aber

greifende Klammer und eine gesamtgesell-

immer wieder populistische Züge auf. Über-

schaftliche Folgenabwägung ebenso wie eine

haupt ist auffällig, dass die Piraten ihre relativ

steuer- und finanzpolitische Gegenrechnung

allgemeinen Grundforderungen immer dann

ihrer Forderungen.

erfolgreich in Szene setzen, wenn sie mit lokal-

Die durchaus intensiven inhaltlichen Debat-

oder regionalpolitischen Konflikten verknüpft

ten finden bei den Piraten in disparaten Zirkeln

werden. In Bezug auf einige stadtpolitische

statt, die zweifelsohne die Bausteine für eine

Konflikte und Skandale können die Piraten in

umfassende und differenzierte Programmatik

Berlin etwa ihre Forderungen nach mehr Trans-

liefern könnten (Hönigsberger/Osterberg 2012).

parenz und Partizipation plausibel in Stellung

Es fehlt jedoch noch an der stringenten Zusam-

bringen und ein offensichtliches Versagen von

menführung. Zudem hat die Partei bislang kei-

Politik auch zur Präsentation spezifischer Re-

ne Gelegenheit gehabt, ihr schnelles Mitglie-

formvorschläge nutzen (Hensel 2011). Dieses

derwachstum nach 2009 wirklich zu verarbei-

Vorgehen scheint jedoch sehr kontextabhängig

ten und die hinzugewonnenen Potenziale für

zu sein, wie die wenig erfolgreiche Kampagne

die programmatische Arbeit zielgerichtet zu

der Piratenpartei im niedersächsischen Land-

nutzen. Die organisatorischen Veränderungen

tagswahlkampf gezeigt hat. Jedenfalls erziel-

der Jahre 2010/11 hatten kaum gegriffen, als

Transparenzpartei

49


D IE P IRATENPARTEI

50

die Partei mit einem Mal in Parlamenten und

schiert durch die Übernahme oder Fortschrei-

Kommunalvertretungen Mandate errang, die

bung bereits vorhandener Programmbausteine,

zusätzliche Koordinations- und Kommunika-

was mal mehr, mal weniger gelingt. Dennoch

tionsaufgaben mit sich brachten. Wahlkämpfe,

ist unübersehbar, dass selbst in den aus ihrer

der Aufbau der Fraktionen, der Umgang mit den

Sicht ausdiskutierten Fragen der Wirtschafts-

Medien und Ähnliches banden Ressourcen, die

und Sozialpolitik die Piraten zurzeit Antworten

für die Programmarbeit fehlten. Programmati-

schuldig bleiben und in vielen Bereichen keine

sche Lücken werden daher so weit als nötig ka-

originären politischen Ansätze liefern können.


M ITGLIEDER

UND

S YMPATHISANTEN

5. Mitglieder und Sympathisanten

Das Wachstum der Piraten wird immer wieder

ihres Programms ist es nachvollziehbar, zu die-

als dynamisch beschrieben. Nachdem die Mit-

sem Zeitpunkt von einer „Ein-Themen-Partei“

gliederzahl erst mäßig, aber kontinuierlich

zu sprechen (Bartels 2009: 219; Jesse 2011:

von anfangs 52 auf 1500 im Frühjahr 2009 ange-

189). In der öffentlichen Wahrnehmung, aber

stiegen war, wuchs die Piratenpartei nach der

auch in der politischen Praxis der Partei prägt

Europawahl innerhalb kürzester Zeit um über

diese Gruppe sehr nachhaltig die Organisa-

10.000 Neumitglieder an. Einen neuerlichen

tionskultur und Arbeitsweise der Partei. Der

Zuwachs lösten die Wahlen in Berlin im Herbst

später einsetzende Zustrom der Gruppe von

Einfluss der

2011 aus. Binnen weniger Monate stieg der

„Digital Natives“ (Palfrey/Gasser 2008) von

Digital Natives

Mitgliederbestand auf rund 34.000 an. Damit

2009 bis 2011 veränderte hingegen die Ausrich-

haben die Piraten ungefähr halb so viele Mit-

tung und Programmatik der Partei.

glieder wie Bündnis 90/Die Grünen, FDP oder

Dieser Kreis verfügte im Gegensatz zur ers-

die Linke. Diese Größenordnung bringt erheb-

ten Generation nämlich keineswegs mehr un-

liche logistische und organisatorische Heraus-

bedingt über profundere Computer- und Inter-

forderungen mit sich. Aufwendig ist auch die

netkenntnisse. Die historische Entwicklung der

kulturelle Integration der neuen Mitglieder,

Computertechnologie und -kultur haben viele

gerade jener, die eben nicht mehr dem subkul-

der Jüngeren nicht miterlebt, dafür nutzten sie

turellen Kernmilieu der Piraten entstammen.

umfangreich und spielerisch die fortgeschritte-

Durch den massenhaften Zustrom von Neumit-

nen und ausgereiften technologischen Mög-

gliedern konkurrieren verschiedene kulturell

lichkeiten des Netzes. Die Digital Natives adap-

geprägte

Politik

tierten im Zuge dessen Kulturtechniken des frü-

ebenso miteinander wie die politischen Ziel-

hen Internets und integrierten sie hemdsärme-

setzungen divergent sind.

lig in ihre Kommunikation. Mit der daraus ent-

Herangehensweisen

an

lehnten Organisationsform der ersten Genera-

5.1 Beitrittswellen und Themenkonjunkturen

tion konnten sie intuitiv etwas anfangen, ohne alle Prinzipien und Glaubenssätze zu übernehmen. Den kulturellen Kern der Partei stellten

Jede der drei Eintrittswellen hat Mitglieder mit

sie somit nicht in Frage, wohl aber den thema-

spezifischen sozialstrukturellen und kulturel-

tischen. Dies verwundert durchaus, denn

len Charakteristika in die Partei strömen las-

immerhin stellte für diesen Kreis der Versuch

sen. Bis zur Europawahl 2009 traten der Partei

der Bundesregierung, Netzsperren zu etablie-

in erster Linie internetaffine Kerngruppen bei.

ren, quasi das zentrale politische Erweckungs-

Ihre Motivation war das Interesse an netzpoliti-

erlebnis dar. Der Frust über die etablierten Par-

schen Fragestellungen und der Spaß daran,

teien wurde mit Hilfe der Piraten in politisches

aus dem Internet heraus Politik betreiben zu

Handeln transformiert. An dieser Stelle stimm-

können. Bei Betrachtung dieser Anhänger und

te die damalige, von den Urpiraten bestimmte

51


D IE P IRATENPARTEI

Themensetzung mit den Interessen der Digital

lich tun, weswegen sie bislang Parteien reser-

Natives überein.

viert gegenüberstehen und sich oft in Wahlent-

Doch im eigenen Lebensgefühl wurzelte ein

haltung üben (Palfrey/Gasser 2008: 259).

über die unmittelbare Abwehr der Netzsperren

Schon als Jugendliche haben sie zwar eine de-

hinausgehender programmatischer Impuls.

zidierte Meinung vertreten, zugleich aber die

Netzpolitik und die freie Verfügbarkeit von

sozialen Verhältnisse akzeptiert und sich mit

Web-Inhalten waren aus dieser Perspektive

den Erschwernissen im schulischen oder uni-

nicht mehr unbedingt zentral, schließlich zahl-

versitären Bereich arrangiert, statt sich dage-

ten viele bei kommerziellen Anbietern bereits

gen aufzulehnen. Politisches Engagement be-

bereitwillig für Musik, Videos oder Apps. Ihnen

zieht sich hier auf die direkten oder mittelba-

ging es im Kern weniger um das Internet selbst,

ren Interessenlagen. Man hat in Bezug auf die

als vielmehr um die dortige soziale Interaktion

eigene Persönlichkeit gelernt, dass Sachver-

und die daraus resultierenden politischen

stand, Qualifikation, eigener Antrieb und Kom-

Möglichkeiten. Auf Facebook, Twitter, My-

munikationsvermögen erwartet werden, und

Space oder StudiVZ kommentierte man

hofft, dass dieses in der Gesellschaft später

schließlich auch politische Fragen, regte sich

Anerkennung findet. In dem Augenblick, in dem

über die Lage im Schul- und Hochschulwesen

die daraus resultierende Identität und Erwar-

auf oder ärgerte sich, wenn der öffentliche

tung aber in Frage gestellt werden, ist man ent-

Nahverkehr nicht funktionierte. Aus dieser

schlossen, dies nicht zu dulden. Dieser Impuls

Realitätswahrnehmung heraus formulierte die

durchzieht gegenwärtig eine Reihe politischer

zweite Generation ihre Ansprüche an die Poli-

Aktivitäten (Hensel/Klecha/Schmitz 2013:

tik ihrer neuen Partei. Die unverbindliche Form

274 ff.), und er fördert auch die Entscheidung,

der Kommunikation im Internet sollte in politi-

den Piraten beizutreten.

sches Handeln überführt werden.

Altersbedingt spielen bei den Digital Na-

In vielerlei Hinsicht entspricht dieses Phä-

tives Bildungspolitik oder die sozialstaatliche

nomen den allgemeinen Befunden zur politi-

Absicherung der eigenen, oft als prekär emp-

schen Partizipation und zum politischen Protest

fundenen Lebensbiografien eine große Rolle.

(Walter 2013). Die Jugendkohorten der letzten

Dabei ist der Zugang zu diesen Politikfeldern

Postideologische

Jahre sind politischer, als gemeinhin behaup-

ebenso wie die Auswahl von Aktionsformen

Unbefangenheit

tet wird (Schneekloth 2010): Sie beteiligen sich

zumeist spielerisch orientiert. Man nähert sich

rege an Unterschriftensammlungen, reichen

unbefangen politischen Vorstellungen, eben

Petitionen ein, diskutieren mit Freunden und

ganz so, wie es das postideologische und post-

Bekannten, nehmen an Demonstrationen teil

moderne Zeitalter erwarten lässt. Hinsichtlich

oder treten Verbänden und Vereinigungen bei,

der Programmatik sind die Angehörigen der

aber sie halten all das nicht unbedingt für Poli-

zweiten Mitgliederwelle der Piraten für aller-

tik. Für sie ist Politik das, was Politiker beruf-

lei Ansätze und Ideen offen. Eine ideenge-

52


M ITGLIEDER

schichtliche, intellektuell anspruchsvolle Her-

genblick, in dem es erstmals etwas zu verteilen

leitung von politischen Programmen haben sie

gibt, in dem bezahlte Ämter und Funktionen lo-

nicht im Sinn, wohl allerdings den Wunsch,

cken, nehmen manche Piraten der ersten und

möglichst schnell zu vielen Fragen der Zeit ir-

zweiten Generation die Ansprüche der Neumit-

gendwie kreative Antworten zu finden. Erra-

glieder als ungerechtfertigt wahr, da diese we-

tisch vollzieht sich deswegen auch die Pro-

der die Jahre des Aufbaus noch die Zeit der

grammentwicklung bei den Piraten.

Stagnation erlebt hatten. Zugleich bezweifeln

Zwischen den älteren Mitgliedern und den

sie deren politische und organisatorische Eig-

neu hinzugekommenen gibt es somit eine erste

nung und heben bei Vorstellungsrunden das

innerparteiliche Friktionslinie, wobei die Zu-

Eintrittsdatum und die eigenen innerparteilich

ordnung zu den Befürwortern eines auf Fragen

gesammelten Meriten besonders hervor. Die-

der Netzpolitik konzentrierten Kernprogramms

ses Verhalten erinnert an den Umgang der eta-

und eines möglichst umfassenden Vollpro-

blierten Parteien mit Seiteneinsteigern: Man

gramms durchaus ein wenig quer zum Beitritts-

aktiviert all die Elemente politischer Kultur, mit

datum verläuft. Dennoch war der Zulauf neuer

denen die Neueinsteiger noch nicht vertraut

Mitglieder dafür entscheidend, dass sich auf

sind und mit denen sie umgehen müssen, wol-

dem Parteitag in Chemnitz 2010 die letztge-

len sie nicht scheitern (siehe Lorenz/Micus

nannte Position durchsetzte. Bis heute stößt

2009).

diese Entwicklung nebst der grundsätzlichen

In der Tat motivieren die neu hinzugekom-

Beschlussfassung für ein bedingungsloses

menen Piraten auch Karriereaussichten, doch

Grundeinkommen vor allem bei den Altpiraten

zum Teil reizt sie offensichtlich auch einfach die

auf Skepsis. Sie kritisieren dabei nicht nur die

Lust auf etwas Neues. Sie sind vom konventio-

Ausweitung der Themenpalette, sondern be-

nellen Politbetrieb gelangweilt und erleben bei

mängeln insbesondere die Vernachlässigung

den Piraten nicht selten eine Art zweiten politi-

der ursprünglichen Kernanliegen. Eine pro-

schen Frühling. Deswegen akzeptieren sie die

grammatische Weiterentwicklung in ihrem

zeitaufwendigen Verfahren, die sich in der Pi-

Kernpolitikfeld ist jedenfalls ausgeblieben,

ratenpartei etabliert haben. Sie fühlen sich zu-

während andere Parteien hierin ihre Kompe-

gleich veranlasst, ihre Treue zur Partei durch

tenzen gestärkt haben (Wagner 2012: 43 ff.).

eine vorbehaltlose Billigung und Unterstützung

Die erste und zweite Generation eint die

des Parteiprogramms zu bekennen. Die stete

Offenheit gegenüber unkonventionell oder al-

Berufung auf das bereits bestehende Pro-

ternativ wirkenden Konzepten sowie eine

gramm, die Pflege der gewohnten Rituale, die

grundlegende Skepsis gegenüber der dritten

langwierige Kür von Kandidaten und die stete

Generation, also jenen Mitgliedern, die erst im

Debatte um Verfahrensfragen drohen dadurch

Zuge der Wahlerfolge in Berlin und im Saar-

aber zum Selbstzweck zu werden. Für eine Par-

land hinzugekommen sind. Gerade in dem Au-

tei, die bislang auf Dynamik aufbaut, die aber

UND

S YMPATHISANTEN

Karriereaussichten locken neue Klientel

53


D IE P IRATENPARTEI

Schwächen und Leerstellen besitzt, ist das eine

ein, womit sie zwangsläufig in Widerspruch zur

gefährliche Mischung. So besteht die latente

Offenheit und der zur Schau gestellten Basis-

Gefahr, dass Themen, die aus Sicht der Mehr-

demokratie der Piraten geraten.

heit weniger interessant sind, in der programmatischen Arbeit der Partei keinen Niederschlag finden. Die Masse der alten und neuen Mitglieder droht mit dem Schwarm der Mehrheit zu treiben.

54

5.2 Glücksritter, Parteiwanderer und merkwürdige Gestalten Während sich die Differenzen, Motivationen

Der Einfluss der im „Goldrausch“ (vgl. Hon-

und programmatischen Interessenlagen aus

nigfort 2012) Hinzugekommenen trägt aller-

den einzelnen Beitrittswellen heraus ergeben,

dings gegenwärtig zur weiteren programmati-

stellt sich die Frage, wer sich hinter den Mit-

schen Diversifizierung der Partei bei. Zentrale

gliedern verbirgt. Ein erster Blick fällt natür-

Fragestellungen der Piraten der ersten Genera-

lich auf Personen, die zuvor anderen Parteien

tion, etwa im Bereich der Freiheit des Internets

angehört haben. Das ist durchaus nicht unge-

oder der Modifikation des Urheberrechts, für

wöhnlich und erfasst eine Partei nicht erst im

die die zweite Generation wenigstens noch ein

bereits erwähnten Goldrausch. Im Laufe der

lebensweltlich fundiertes Interesse aufbringt,

Jahre sind einige zu den Piraten dazugestoßen,

sind für die Neumitglieder kaum mehr von Be-

die zuvor bereits in anderen Parteien aktiv wa-

lang. Selbiges gilt für eher affektiv bezogene

ren. Der stellvertretende Bundesvorsitzende

Haltungen wie die Ablehnung eines Nations-

Sebastian Nerz hatte als CDU-Bewerber erfolg-

oder Volksbegriffs, die mit einem Male für die

los für den Tübinger Stadtrat kandidiert. Der

Mehrheit der Mitglieder nicht mehr selbstver-

saarländische Fraktionsvorsitzende Michael

ständlich sind. Das wiederum bringt langge-

Hilberer war einstmals Mitglied der Jungen

diente Mitglieder dazu, ihre eigene Mitglied-

Union. Das SPD-Parteibuch hatten früher der

schaft zu überdenken (Schneider 2012). Ein

schleswig-holsteinische Abgeordnete Wolf-

Grund für diese andere Themenagenda und da-

gang Dudda, sein Berliner Kollege Pavel Meyer

rin eingewobene Kontroversen sind die alters-

und Niedersachsens Landesvorsitzender An-

mäßigen Unterschiede und die damit verbun-

dreas Neugebauer besessen. Die Grünen muss-

denen differierenden lebensweltlichen Lagen.

ten Anke Domscheid-Berg ebenso ziehen las-

Die ganz neuen Piraten sind vielfach älter als

sen wie Bruno Kramm, der nun die bayerische

die beiden Vorgängergenerationen, verfügen

Landesliste der Piraten zur Bundestageswahl

über mehr und andere Lebenserfahrungen,

anführt. Die einstigen Vorstandsmitglieder Ju-

fremdeln dafür teilweise aber mit den techno-

lia Schramm und Stefan Lamprecht waren eini-

logischen Möglichkeiten des Internets. Ange-

ge Zeit in der FDP. Dort war auch der Berliner

strengt suchen sie so nach Strukturen, fordern

Abgeordnete Gerwald Claus-Brunner, während

straffere Organisationsweisen und Strategien

sein heutiger Fraktionskollege Simon Kowa-


M ITGLIEDER

lewski zur gleichen Zeit in Niedersachsen den

Im Zuge des Erfolgs zieht die Piratenpartei

PDS-Jugendverband Solid gegründet hatte, ehe

auch notorische politische Querulanten an, die

er sich der Partei DIE PARTEI des Satirikers

der Partei eine negative öffentliche Wahrneh-

Martin Sonneborn anschloss und danach bei

mung bescheren. Probleme verursachen vor-

den Violetten Fuß zu fassen suchte (Appelius/

rangig solche Mitglieder, deren politische Pri-

Fuhrer 2012: 226, 262, 290, 298; Bewarder

märsozialisation oder deren politische Ansich-

2012; Häusler 2011: 74).

ten im rechten Spektrum zu verorten ist. Wenn

Vielfach handelt es sich damit um Personen,

sie gezielt rechtsextreme Thesen lancieren,

die einige Jahre in einer der etablierten Partei-

sieht sich die Partei unter Zugzwang, was

en politisch aktiv waren. Über die seinerzeit er-

wiederum zu oft schwierigen Diskussionen

haltenen Qualifizierungen, etwa durch die An-

führt, in welchem Umfang derartige Positionen

gebote der politischen Stiftungen, besitzen sie

von der innerparteilich hochgeschätzten Mei-

eine grundlegende Qualifizierung, welche sie

nungsfreiheit gedeckt werden.

UND

S YMPATHISANTEN

aufgrund der oftmals schwerfälligen örtlichen

Mittlerweile sind die Parteivorstände der

Parteistrukturen jedoch selten anwenden konn-

einzelnen Ebenen diesbezüglich sensibilisiert

ten. Das so erworbene basale Wissen können sie

und greifen recht energisch durch, um einer

nun in der Piratenpartei erstmals in vollem Um-

negativen Berichterstattung zuvorzukommen.

fang anwenden. Bei den Piraten trifft man näm-

Sie suspendieren dann vorsorglich Aufstellun-

Abgrenzung

lich kaum auf jene Bedenkenträger, die aus ih-

gen von umstrittenen Kandidaten (Bohnen-

gegen Rechte

rer parteipolitischen Erfahrung heraus Neuerun-

kamp 2012), reagieren auf antisemitische Aus-

gen skeptisch gegenübertreten. Daher kann

sagen von einzelnen Kommunalpolitikern der

man viel experimentieren.

Partei oder irrlichternden Kreisvorsitzenden

Durch Übertritte wandelt sich die Parteiba-

und führen Rücktritte oder Parteiausschluss-

sis der Piraten; sie gewinnen politische Man-

verfahren herbei (Deckert 2012; Fischermann

dats- und Funktionsträger aus anderen Partei-

2012). Während also in Bezug auf Ämter und

en. Auf kommunaler Ebene haben die Piraten

mögliche Mandate die Partei empfindlicher re-

mehr als 50 Mandate durch Übertritte hinzuge-

agiert, duldet die Piratenpartei aber immer

wonnen. Doch bis auf die früheren Bundestags-

noch Mitglieder, deren Einlassungen zweideu-

abgeordneten Jörg Tauss (SPD), Herbert Rusche

tig sind. Gerade die nicht moderierten Foren

und Angelika Beer (beide Grüne) haben die Pi-

der Partei im Internet bieten eine Nische für

raten bislang kaum prominente Zugänge von

antisemitische und rechtspopulistische Argu-

den etablierten Parteien zu verzeichnen. Es

mentationen oder Ansätze zur Holocaustrelati-

sind letztlich randständige Figuren oder Perso-

vierung (Hönigsberger/Osterberg 2012: 38 f.).

nen, die in ihren alten Parteien schlicht „in Un-

Stets kommt in derartigen Kontexten die

gnade gefallen waren“ (Jesse 2011: 189).

Frage auf, wie weit innerparteiliche Meinungsfreiheit bei den Piraten reichen darf. Der Druck

55


D IE P IRATENPARTEI

einer fortgesetzten medialen Debatte um eine

szene wie auch die digitalen Bürgerrechtsakti-

etwaige Rechtslastigkeit der Partei veranlass-

visten finden sich in der Piratenpartei somit

te den Bundesparteitag der Piraten im April

zwar wieder, sehen diese aber mitnichten als

2012, eine unmissverständliche Erklärung zum

ihr politisches Sprachrohr an. Am stärksten ist

Thema Holocaustleugnung abzugeben. Gleich-

an einigen Orten die Bindung an den Arbeits-

zeitig versuchen verschiedene innerparteili-

kreis Vorrat ausgeprägt, der gegen die Einrich-

che Initiativen gegen die befürchtete schlei-

tung der Vorratsdatenspeicherung gegründet

chende Unterwanderung oder ideologische

wurde.

Einflüsse von rechts vorzugehen. Aktionen und

Einige der bekannteren und profilierteren

Initiativen im Internet oder entsprechende Kon-

Köpfe der deutschen Netzszene sind in der Zwi-

ferenzen, die insbesondere der Landesverband

schenzeit sogar demonstrativ auf Distanz zu

Berlin forciert, setzen sich vermehrt mit Diskri-

den Piraten gegangen (Becker 2012a). Viele

minierungen und Ressentiments in der Gesell-

professionelle Netzaktivisten bewerten die

schaft sowie in der Partei auseinander.

netzpolitische Agenda der Piraten als wenig

Trotz mancher Parteiwanderer und seltsa-

fundiert. Bei einigen kommt auch ein wenig

mer Gestalten fällt jedoch auf, dass Personen

Neid hinzu, schließlich haben die Piraten eine

mit abseitigen Ideen in aller Regel nicht mehr-

mediale Aufmerksamkeit erlangt, um die sie

heitsfähig sind und die Parteimitglieder gegen

selbst über Jahre mit höchstens mäßigem Er-

diese auf den unterschiedlichen Kommunikati-

folg gerungen hatten. Ohnehin empfinden er-

onsebenen der Partei massiv vorgehen.

probtere Aktivisten die Organisationsstruktur als zu wenig effektiv und machen die Erfah-

5.3 Das gesellschaftliche Umfeld der Partei

rung, dass ihre Reputation und Kompetenz innerparteilich kaum anerkannt wird. Das ändert nichts daran, dass die Piraten durchaus als Ko-

Für eine Partei, die sich als Bewegung versteht,

operationspartner wahrgenommen werden,

Wurzeln in

erscheint das Vor- und Umfeld überaus schwach

wenn es um die Mobilisierung von Protest geht,

der Netzszene

organisiert zu sein. Allenfalls gibt es eine aus-

wie es sich beispielsweise im Fall der Anti-

geprägte Verbindungslinie zum Zentrum der

ACTA-Demonstrationen zeigte. Dennoch sind

deutschen Hackerszene, dem Chaos Computer

die Organisationen und Aktivisten im netzpoli-

Club, von dem sich allerdings bislang kein füh-

tischen Umfeld insgesamt bemüht, den Werde-

rendes Mitglied den Piraten angeschlossen

gang der Piratenpartei zu verfolgen und zu be-

hat. Der ehemalige Wikileaks-Sprecher Daniel

einflussen. So trifft man auf Bundesparteitagen

Domscheit-Berg oder die Referentin für digita-

immer wieder Netzaktivisten an. Andere kom-

le Verbraucherrechte beim Verbraucherzentra-

munizieren über Twitter oder Blogs regelmä-

len-Bundesverband, Katharina Nocun, sind da-

ßig mit den Piraten und mischen sich in einige

her rare Ausnahmen in der Partei. Die Hacker-

der parteiinternen Diskussionen ein.

56


M ITGLIEDER

Wenn man die politische Identität der Mit-

auf Personen, die zumindest einen ähnlichen

glieder über ihre Vereins- und Organisationszu-

Hintergrund haben. Auffallend ist allerdings,

gehörigkeit sowie ihre Parteimitgliedschaft de-

dass diese einer gewerkschaftlichen oder ar-

finiert, fällt ansonsten jedoch auf, dass es eine

beitnehmerorientierten Politik selten ver-

eigenartige Sphärentrennung gibt. Die Parteiar-

ständnisvoll, sondern eher kritisch gegenüber-

beit wird merklich von den sonstigen gesell-

stehen.

UND

S YMPATHISANTEN

schaftlichen Aktivitäten geschieden. Wann

Dabei blicken Piraten keineswegs feind-

immer Mitglieder der Partei Aktionen durchfüh-

schaftlich auf Gewerkschaften. Vielmehr wird

ren, legen sie meist Wert darauf, dass sie als

in Gesprächen fast schon mit Enttäuschung be-

Privatpersonen handeln. Umgekehrt profilieren

tont, dass diese für das Kernmilieu der Piraten

sich Piraten innerparteilich nur selten mit ihrem

kaum etwas zu bieten hätten. Insbesondere auf

Beziehung zu

Engagement außerhalb der Partei.

die aus der Tertiarisierung (der Verlagerung

Gewerkschaften

Diese Sphärentrennung betrifft auch die

des volkswirtschaftlichen Schwerpunkts auf

formale Mitgliedschaft in Organisationen jen-

den dritten, den Dienstleistungssektor) er-

seits der Piratenpartei. Gewerkschaftsmitglie-

wachsenen veränderten Arbeitsbeziehungen

der etwa sind in der Partei selten anzutreffen.

mit Formen von Werkarbeit, Selbstständigkeit,

Dennoch finden sich bei Mitgliedern oder Mit-

Honorartätigkeiten, Leiharbeit oder Ähnlichem

arbeitern der Fraktionen in Berlin, Schleswig-

sind aus Sicht vieler Piraten von den Gewerk-

Holstein und Nordrhein-Westfalen entspre-

schaften bislang nicht adäquat aufgegriffen

chende Bezugspunkte in deren politischer Bio-

worden. Durch die stetige Bezugnahme auf das

grafie. In Einzelfällen war eine gewerkschaftli-

fordistische Normalarbeitsverhältnis hätten

che Interessenorganisation für die eigene poli-

die Gewerkschaften ein Idealbild von Erwerbs-

tische Sozialisation sogar wichtig. Im Kreise

arbeit, welches nicht den Erfahrungen vieler

der Abgeordnetenmitarbeiter finden sich eini-

selbstständig und kreativ tätiger Piraten ent-

ge wenige ehemalige Jugend- und Auszubilden-

spreche. Auch werden die Trägheit von gewerk-

denvertreter. Darüber hinaus sind auch einige

schaftlichen Organisationen gegenüber dem

Abgeordnete in Gewerkschaften oder in der

digitalen Wandel und deren fehlende aktionis-

betrieblichen Interessenvertretung aktiv gewe-

tische Spontaneität und Flexibilität bemängelt.

sen: Schleswig-Holsteins Landtagsabgeordne-

Insoweit fallen nicht nur die politischen Per-

ter Wolfgang Dudda ist immerhin stellvertre-

spektiven und Forderungen von Gewerkschaf-

tender Vorsitzender der Bezirksgruppe Zoll der

ten und Piratenpartei auseinander. Viele Pira-

Gewerkschaft der Polizei. Sein Kollege in

ten weisen eine aus ihrer arbeits- und lebens-

Nordrhein-Westfalen, Torsten Sommer, ist

weltlichen Prägung entwickelte und von der

ohne Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft Be-

traditionellen gewerkschaftlichen Perspektive

triebsratsmitglied bei der WAZ-Gruppe. Auch

abweichende Vorstellung von politischer Orga-

auf der örtlichen Ebene stößt man vereinzelt

nisation, demokratischer Partizipation und Re-

57


D IE P IRATENPARTEI

präsentation auf, die den Aspekt der Flexibilität

der Frauen in der Partei durch eine Quotenre-

und Individualität besonders stark betont (Stal-

gelung zu verbessern, ist die Piratenpartei –

der 2011). Trotzdem lassen sich auf beiden Sei-

wie auch die FDP – gegenwärtig gegen eine sol-

ten Anzeichen einer Annäherung beobachten.

che Regelung. Um die Positionierung in dieser

Nachdem die Piraten nach dem Einzug in ver-

Frage gibt es innerhalb der Piratenpartei seit

schiedene Landtage Zeit gebraucht haben, um

geraumer Zeit immer wieder heftige Konflikte.

Funktion und Bedeutung verschiedener politi-

Insbesondere die Aktivistinnen im Berliner Ke-

scher Akteure zu überblicken, haben sie lang-

gelklub, einem informellen Zusammenschluss,

sam begonnen sich gegenüber Kooperationen

der sich mit geschlechterpolitischen Fragen

mit Akteuren wie den Gewerkschaften zu öffnen;

auseinandersetzt, versucht die Debatte für fe-

zumindest erste Kontakte sind festzustellen.

ministische Ansätze zu öffnen. Dessen unge-

Die Bindung zu anderen Vereinen oder Ini-

achtet behaupten weite Teile der Partei, Ge-

tiativen wiederum ist selten. Selbst in Gegen-

schlecht als Kategorie spiele schlicht keine

den mit hohen Vereins- und Organisationsbin-

Rolle. Nach einer Erhebung des Kegelklubs

dungen bekennen sich die Piraten meist dazu,

sind rund drei Viertel der Mitglieder der Auf-

eben nicht in eine der zahlreichen Gruppierun-

fassung, dass in der Piratenpartei Männer und

gen eingebunden zu sein. Anscheinend haben

Frauen vollständig oder weitgehend gleichbe-

bei den Piraten vorwiegend jene angeheuert,

rechtigt seien. Bei der parallel gestellten Fra-

die zuvor allenfalls individualisiert aktiv gewe-

ge, ob Frauen und Männer in der Gesellschaft

sen sind und sich daher nicht über andere Kol-

gleichberechtig seien, waren die Antworten

lektivorganisationen definieren.

sehr viel verhaltener, immerhin ein gutes Drittel verneinte das Vorhandensein von Gleichbe-

5.4 Jenseits von Geschlecht und Quote? Frauen bei den Piraten Männerpartei

58

Seit ihren Anfängen ist die Piratenpartei in ers-

rechtigung (Kegelklub 2012: 22). Angesichts dieser Zahlen scheinen die Piraten von den Mitgliedern als ein Hort der Emanzipation wahrgenommen zu werden.

ter Linie eine Männerpartei. Die Partei selbst

Sieht man jedoch genauer hin, fällt die auf-

führt darüber keine Statistik, Erhebungen ge-

fallend geringe Repräsentanz von Frauen in

hen aber von Frauenanteilen zwischen 8,5 Pro-

herausgehobenen Funktionen auf. 2009 waren

zent (T. Neumann 2011: 190) und 18 Prozent (Ke-

gerade einmal vier Prozent der Kandidaten auf

gelklub 2012) aus.

den ersten fünf Landeslistenplätzen zur Bun-

Selbst wenn man den höheren Wert

destagswahl weiblichen Geschlechts. Mit einer

zugrunde legt, ist dieser deutlich niedriger als

Ausnahme waren die Bundesvorstände bis 2011

in den etablierten Parteien. Während zuletzt

reine Männerrunden. In drei der vier Landtags-

die CSU aus ihrem geringen Frauenanteil den

fraktionen der Piraten findet sich nur eine ein-

Schluss zog, wenigstens die Repräsentation

zige Frau. Im Lichte der bisherigen Kandidaten-


M ITGLIEDER

UND

S YMPATHISANTEN

Tabelle 5:

Frauenanteil und Quotenregelungen im Vergleich Frauenanteil Mitgliedschaft Frauenquote Frauenanteil auf den ersten fünf Plätzen der Landeslisten zur Bundestagswahl 2009 Frauenanteil in den Landesparlamenten Frauen als Landesvorsitzende1 Frauen als Fraktionsvorsitzende in Land- und Bundestag 1 2 3 4 5 6 7

SPD 31 %

CDU 26 %

CSU 19 %

FDP 23 %

Linke 37 %

Grüne 37 %

Piraten < 18 %

40 % 43 %

33 % 29 %

40 % 40 %

– 23 %

50 % 59 %

50 % 56 %

– 4%

36 %

25 %

21 %

17 %

53 %

50 %

13 %

2

42

23

2

11 4

17 5

2

1

1

(1)6

1

4

87

Stand Oktober 2012. In Brandenburg ist der Vorsitz vakant, zuvor war dort ebenfalls eine Frau Vorsitzende. Die CSU ist nur in Bayern vertreten und gliedert sich dort in zehn Bezirksverbände; hier angegeben ist die Zahl der weiblichen Bezirksvorsitzenden. Einige Landesverbände verfügen über eine Doppelspitze mit weiblichen und männlichen Vorsitzenden, in Baden-Württemberg gibt es gar einen sechsköpfigen Sprecherrat. Außer in Hamburg haben die Grünen in allen Ländern eine Doppelspitze, in der mindestens eine Frau vertreten ist. Einbezogen ist die Vorsitzende der CSU-Landesgruppe in der gemeinsamen Bundestagsfraktion mit der CDU. Die Grünen haben im Bundestag sowie in einigen Landesparlamenten Doppelspitzen.

Quelle: Eigene Darstellung und Erhebung mit Daten von Niedermayer (2013b: 95).

aufstellungen zur Bundestagswahl dürften ei-

der Partei eine Reihe von spezifischen Hinder-

ner möglichen Piratenfraktion ebenfalls nur

nissen, die einer Beteiligung von Frauen entge-

wenige Frauen angehören.

genwirken.

Wie in den etablierten Parteien auch sind

Die Kegelklub-Erhebung zumindest weist

Frauen bei den Piraten gerade in Spitzenfunk-

klar auf geschlechterspezifische Differenzen

tionen selten vertreten. Sechs der sechzehn

und Ausschlussmechanismen hin. Demnach

Landesvorstände kommen sogar komplett ohne

fühlen sich 25 Prozent der männlichen Partei-

eine Frau im Vorstand aus. In acht weiteren Lan-

mitglieder durch sogenannte Shitstorms abge-

desvorständen ist nur eine Frau vertreten.

schreckt, denen sich Vorstandsmitglieder und

Geschlechts-

Sicherlich mag der geringe Frauenanteil in den

Kandidaten im Netz immer wieder ausgesetzt

spezifische Aus-

Gremien der Partei dem Anteil innerhalb der

sehen. Dieser beachtliche Wert wird noch auf-

grenzungsformen

Mitgliedschaft entsprechen. Trotzdem gibt es in

fälliger dadurch, dass für 37 Prozent der Frau-

59


D IE P IRATENPARTEI

en genau dies ein zentrales Hindernis für die

Funktionen gesteigert werden könnte, weicht

Übernahme eines Parteiamtes darstellt. Mit 19

die Partei bisher aus. Versuche, 2009 ein Pira-

zu 7 Prozent ist zudem der Anteil der Frauen

tinnennetzwerk zu gründen, wurden wüst be-

fast dreimal so hoch wie der der Männer, die

kämpft (Kucklick 2013: 161), Frauenquoten ver-

die Aufstellungs- und Befragungsprozedur, das

einzelt als „Tittenbonus“ verunglimpft (Christ-

„Postgender“ als

Kandidatengrillen, abschreckend finden (Ke-

mann 2012). Allerdings gibt es auch Diskus-

Rechtfertigung?

gelklub 2012: 18). Diese beiden Aspekte sind

sionsansätze, die unter dem Etikett postgender

von besonderer Bedeutung. Während die wei-

den Versuch unternehmen, eine Gleichstel-

teren Merkmale wie Arbeitsaufwand, drohen-

lungspolitik jenseits von Quotenregelungen zu

de Überforderung, fehlende Unterstützung, Un-

durchdenken (Siri/Villa 2012: 169), wozu auch

sicherheit, unsympathische Teamkollegen oder

der Kegelklub zu zählen wäre.

60

harte Konkurrenz bei der Wahl wohl in allen

Quotenregelungen und andere Gleichstel-

Parteien, Organisationen und Vereinen anzu-

lungsmaßnahmen werden unter anderem mit

treffen sind (Siri/Villa 2012: 160), dürften die-

dem Argument zurückgewiesen, dass diese die

se beiden Aspekte als spezifisch „piratig“ gel-

eigentlich abzulehnende und zu überwindende

ten. Dass ausgerechnet dabei aber die Ge-

Kategorie des Geschlechts nur weiter festigten

schlechterdifferenz so ausgeprägt ist, zeigt,

(Häusler 2011: 72 f.). Trotz derartiger gender-

dass die Parteistruktur der Piraten latent ab-

theoretisch gesättigter Rekurse entsteht im Rah-

schreckend auf Frauen wirkt.

men der zumeist stark polarisierten Diskussio-

Selbst bei der vermeintlichen Einigkeit zwi-

nen zu derartigen Themen jedoch oft der Ein-

schen den Geschlechtern hinsichtlich der Ab-

druck, dass sich in der Partei zugleich diejeni-

lehnung einer Quotenregelung (Kegelklub

gen Männer finden, die sich zu den Verlierern

2012: 20) fallen geschlechterspezifische Unter-

der Gleichstellungsprozesse der letzten dreißig

schiede auf. Unter den Frauen in der Partei ist

Jahre zählen. Gerade für Mitglieder mit techni-

die Präferenz für die Einführung einer Quote

schen oder naturwissenschaftlichen Ausbildun-

höher als bei den Männern. Auch die Frage

gen erscheinen Quotenregelungen, Frauenför-

nach der Gleichberechtigung in der Partei se-

derpläne oder ähnliche Gleichstellungsinstru-

hen sie beileibe nicht so euphorisch wie die

mente in Anbetracht des in diesen Bereichen

Männer. Die Frage, ob die Partei oder das je-

hohen Männerüberhangs gar als Bedrohung der

weilige Mitglied „postgender“ (d. h. ablehnend

eigenen biografischen Planung. Die Selbstdefi-

gegenüber der Differenzierung von Menschen

nition als postgender bietet da eine willkomme-

anhand ihres Geschlechts) sei, bejaht zwar

ne theoretische Grundierung und Rechtfertigung

eine Mehrheit der Männer, nicht aber der Frau-

dieser subjektiven Wahrnehmung. Dass dieses

en (Kegelklub 2012: 25).

Konstrukt bislang auch von einer Mehrheit der

Einer umfassenden Diskussion, wie der

Frauen in der Partei geteilt wird, hängt mit der

Frauenanteil in der Mitgliedschaft oder in

gemeinsamen Ablehnung eines klischeehaften


M ITGLIEDER

Bildes von Feminismus zusammen, die als ide-

Auftreten von männlichen Piraten kritisiert,

ologische Klammer fungiert. Gerade weil der

und chauvinistische Aussagen bleiben nicht

Gleichstellungsansatz der 1970er Jahre mit der

unkommentiert. Zudem wird im Parteialltag

Lebensrealität vieler Frauen gegenwärtig we-

auch positiv wahrgenommen, dass Frauen, so

nig gemein hat, kann dieser als Negativfolie

sie denn für Ämter kandidieren, durchaus gute

genutzt werden, um einen anderen ideologi-

Chancen haben, gewählt zu werden. Insbeson-

schen Überbau zu formulieren und hegemonial

dere wenn nur wenige Frauen für Ämter kandi-

in der Partei zu verankern.

dieren, scheint es bei den Mitgliederversamm-

Indessen sind Ansätze einer gewissen Sensibilisierung erkennbar. So wird sexistisches

UND

S YMPATHISANTEN

lungen die Bereitschaft zu geben, diese auch zu wählen.

61


D IE P IRATENPARTEI

6. Wählerschaft der Partei

Der Zuwachs der Wählerschaft der Piratenpar-

Anliegen der Piraten gäbe (Borchard/Stoye

tei war genau wie die Mitgliederentwicklung

2011: 18 f.). Doch ob solch ein Potenzial für eine

bis zur Bundestagswahl 2009 beachtlich.

dauerhafte, gar flächendeckende parlamentari-

Danach stagnierte die Wählerklientel auf ei-

sche Repräsentanz reichen würde, durfte be-

nem verlässlichen Niveau von rund zwei Pro-

zweifelt werden. Nach den Landtagswahlen im

zent der Stimmen. Die Piraten waren so nahezu

Frühjahr 2012 veränderte sich diese Sichtweise.

flächendeckend zur größten der „sonstigen

Bei allen drei Urnengängen bestätigte sich näm-

Parteien“ geworden. Allenfalls geringfügige

lich, dass das Ergebnis der Piratenpartei regio-

Vorteile im urbanen Raum sowie in West-

nal überaus ausgeglichen war. Die Partei erhielt

Mehr als eine hippe

deutschland ließen sich ausmachen (Brähler/

nicht nur Zuspruch von einem hippen, städti-

urbane Partei

Decker 2012: 8; Jesse 2011: 190; Onken/

schen und internetaffinen Publikum, sondern

Schneider 2012: 613). Dieses Ergebnis bestä-

war in der Lage, in Flächenländern ebenso Erfol-

tigte sich auch auf kommunaler Ebene, als die

ge zu generieren.

62

Partei erstmals bei den hessischen Kommunal-

Eine Auswertung aller Wahlen, auch der

wahlen im Frühjahr 2011 flächendeckend antrat

jüngsten niedersächsischen, belegt, dass die

und in alle Räte der kreisfreien Städte sowie in

Partei vorherige Nichtwähler sowie Erstwähler

die Hälfte aller Kreistage einzog. Auch bei den

erreichte und dass sie phasenweise ausgespro-

Kommunalwahlen in Niedersachsen im Septem-

chen attraktiv war für Wähler aus allen politi-

ber 2011 verbuchten die Piraten dort, wo sie

schen Lagern. Rund die Hälfte ihrer Wähler hat-

kandidierten, in der Regel Ergebnisse von drei

ten ihre Stimme zuvor der SPD, den Linken oder

Prozent.

den Grünen gegeben. Ein Fünftel stammte aus

Im September 2011 gelang der Partei in Ber-

dem vormals schwarz-gelben Elektorat. Ein

lin bei den Abgeordnetenhauswahlen dann mit

Drittel schließlich stammte von anderen Partei-

8,9 Prozent erstmals der Sprung über die 5-Pro-

en, waren Erst- oder vorherige Nichtwähler.

zent-Hürde. Solch ein Ergebnis gerade in einem

Außerdem sind die Piraten zum Sammelbe-

Stadtstaat war jedoch kein sicherer Beleg für

cken all jener Wähler geworden, die sonst zu

die weitere Etablierung der Partei. Immerhin

nichtetablierten Kleinparteien tendiert hatten

kennt die deutsche Parteiengeschichte zahlrei-

(Haas/Hilmer 2012: 191; Niedermayer 2013a:

che Parteien, die kurzzeitig solche Erfolge ge-

67). Offensichtlich haben etliche Wähler, die

feiert hatten, denen aber nie der Sprung in den

zuvor konstant und konsequent gegen die eta-

Deutschen Bundestag gelang. Überdies ließ sich

blierten Parteien votiert hatten, ohne damit Er-

das Ergebnis leicht als „berlinspezifisch“ deu-

folg im Sinne parlamentarischer Vertretung zu

ten (Niedermayer 2012: 25). Zugleich waren sich

erzielen, bei den Piraten einen Pol gefunden,

Beobachter jedoch recht sicher, dass es auch

um ihren Unmut wirksam zu artikulieren.

außerhalb der Hauptstadt zumindest einen ge-

In Bezug auf Einstellungen, thematische In-

wissen Resonanzboden für die netzpolitischen

teressen und vorherige Wahlentscheidungen


W ÄHLERSCHAFT DER P ARTEI

Tabelle 6:

Wählerwanderung Piraten Berlin

Saarland

Schleswig-Holstein

Nordrhein-Westfalen

Niedersachsen

Grüne

+17.000

+3.000

+13.000

+80.000

+6.000

SPD

+14.000

+3.000

+10.000

+90.000

+5.000

Linke

+13.000

+7.000

+6.000

+80.000

+8.000

FDP

+6.000

+4.000

+14.000

+40.000

+5.000

CDU

+4.000

+4.000

+14.000

+60.000

+2.000

Andere Parteien

+22.000

k.A.

k.A.

+40.000

+13.000

Erstwähler

+12.000

+3.000

+6.000

+30.000

+14.000

Nichtwähler

+23.000

+8.000

+11.000

+70.000

+10.000

Zugezogene

+23.000

k.A.

k.A.

k.A.

+9.000

Quelle: Eigene Darstellung mit Daten von Infratest-dimap.

sowie beim Stimmensplitting lässt die Wähler-

ziert. Als zentrale Ursache wird ein „Dogmatis-

schaft der Piratenpartei Präferenzen für eine

mus der politischen Klasse“ (Alemann/Daniel

Position „links von der Mitte“ erkennen

2012: 190) gesehen, der Entscheidungen als

(Hirscher 2011: 3). Der insgesamt hohe Zustrom

zwingend, alternativlos und unausweichlich

von Wählern aller Parteien und der hohe Anteil

begründet. Dies wird sekundiert durch eine

einstiger Nichtwähler lassen aber vermuten,

wissenschaftliche Debatte, die insbesondere

dass die Wählerschaft in erster Linie nicht

die materiellen Einflussmöglichkeiten der Po-

durch eine konsistente politische Grundüber-

litik als stark limitiert ansieht (Crouch 2008).

zeugung zu ihrer Stimmabgabe für die Piraten

So gewinnt ein Teil der Bevölkerung den Ein-

bewogen wurde. Die Nachwahlbefragungen of-

druck, dass sich die politischen Repräsentan-

fenbaren vielmehr Hinweise auf ein Protest-

ten nicht um die Problemlagen der Wähler küm-

wahlverhalten. Relativ stabil geben rund zwei

merten. Das politische System wird als untaug-

Drittel der Piratenwähler an, dass sie aus Ent-

lich angesehen, seine Funktionen hinreichend

täuschung für die Partei votiert hätten. Der An-

zu erfüllen, was eine rückläufige Wahlbeteili-

teil der enttäuschten Wähler lag damit sogar

gung, aber gleichzeitig eine anwachsende Pro-

noch höher als der entsprechende Wert bei der

testneigung der Bevölkerung nach sich zieht.

Linken (SPD 2012a: 2; 2012b: 15).

Entgegen zahlreichen normativen Interventio-

Seit einigen Jahren wird ein gestiegenes

nen, die den Wert der repräsentativen Demo-

Protestpotenzial in der Gesellschaft identifi-

kratie verteidigen (Fraenkel 1991: 158; Klei-

Protestwählerschaft

63


D IE P IRATENPARTEI

nert 2012; Weber 1976: 156), wächst gleichzei-

tationen, welche die Partei als Ausdruck eines

tig das Bedürfnis nach mehr und unmittelbarer

Generationenkonflikts deuten. Doch diesbe-

Partizipation. Die Forderung nach Transparenz

züglich ist Zurückhaltung angebracht, weil „al-

Transparenz

im Staatswesen, das Versprechen von mehr

ters- und geschlechtsspezifische Interessenla-

als Verheißung

Mitwirkung und eine latente Kritik an der

gen in sozialstrukturelle und kulturelle Kon-

Macht- und Wirkungslosigkeit von Parlamen-

flikte […] eingebettet sind“ (Onken/Schneider

ten führt also zu einem durchaus verheißungs-

2012: 615).

vollen Angebot an die Wählerschaft, und zwar quer durch die politischen Lager.

64

Der geringe Anteil von über 60-Jährigen bringt es mit sich, dass die Erwerbstätigenquo-

Dieser Bevölkerungsteil wird durch die Pi-

te der Partei mit 70 Prozent so hoch liegt wie

raten wieder an die Wahlurnen gebracht bezie-

bei keiner anderen Partei (Appelius/Fuhrer

hungsweise veranlasst, sein Wahlrecht weiter-

2012: 64). Trotz ihrer hohen Akzeptanz bei den

hin wahrzunehmen. Recht typisch für eine Pro-

Arbeitslosen sind die Piraten in erster Linie

testpartei ist auch der hohe Zuspruch seitens

also eine Partei, die von Leuten gewählt wird,

deprivilegierter Wähler mit geringen Monats-

die im Arbeitsleben stehen. Die Piraten bün-

einkünften (Brähler/Decker 2012: 2) oder ohne

deln somit nicht die gesellschaftliche Unter-

berufliche Anstellung sowie von Wählern

schicht, sondern in erster Linie eben hoch ge-

männlichen Geschlechts (Onken/Schneider

bildete, junge und zukunftsbejahende Grup-

2012). Am erheblichen Anteil von Wählern mit

pen, die dennoch mit den Verhältnissen unzu-

Abitur ist ersichtlich, dass die Piraten-Wähler-

frieden sind.

schaft zugleich aber über einen sehr hohen Bil-

Durch die Wahl der Piratenpartei wird also

dungsgrad verfügt (Brähler/Decker 2012: 3;

Protest ausgedrückt, wobei die Entscheidung

Onken/Schneider 2012: 617).

für die Piraten zugleich ein demokratiebeja-

Den zahlreichen Jung- und Erstwählern der

hendes Element enthält. Die Piraten werden

Piraten steht nur eine marginale Zahl von Wäh-

gerade nicht als echte Anti-System-Partei ge-

lern mit mehr als 60 Lebensjahren gegenüber.

wählt, sondern als Formation, die sich dezi-

Ein derartig drastischer Generationenunter-

diert für eine Erneuerung der demokratischen

schied lässt sich bei keiner anderen Partei fest-

Ordnung stark macht, die jedoch andere Perso-

stellen und führt dazu, dass die Wählerschaft

nen und andere Ansätze mitbringt als die ande-

der Piratenpartei mit durchschnittlich 33,6 Jah-

ren Parteien.

ren mit weitem Abstand die jüngste aller Par-

Aufgrund ihres Protesthintergrundes wei-

teien ist (Brähler/Decker 2012: 6). Selbst bei

sen die Wähler der Piratenpartei aber nur eine

den desaströs verlaufenen Wahlen in Nieder-

geringe Bindung zu ihrer Partei auf. Das zeigte

sachsen erzielten die Piraten bei den Jung- und

sich gerade im Verlauf der Umfrageergebnisse

Erstwählern deutlich über fünf Prozent der

des Jahres 2012 bis Januar 2013 für die Piraten-

Stimmen. Naheliegend wären daher Interpre-

partei auf Bundesebene:


W ÄHLERSCHAFT DER P ARTEI

ken (SPD 2011: 14). Eine Erklärung findet sich

Tabelle 7:

bei den als wahlentscheidend angesehenen

Sonntagsfrage Piratenpartei „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre …“

Themen. Bei allen Wahlen gaben recht konstant

15.01.2012

7%

als wahlentscheidendes Thema soziale Gerech-

Sehnsucht nach

19.02.2012

9%

tigkeit an. Die zentrale Bedeutung des Themas

sozialer Gerechtigkeit

18.03.2012

8%

reicht an die traditionell hohen Werte von SPD

15.04.2012

12 %

und Linken heran. Die programmatische Un-

12.05.2012

11 %

klarheit der Piraten erweist sich dabei anschei-

10.06.2012

10 %

nend als Vorteil, schließlich lassen sich

15.07.2012

9%

dadurch sehr unterschiedliche Vorstellungen

12.08.2012

8%

auf die Partei projizieren.

16.09.2012

7%

Gegenüber dem Durchschnitt der Wähler-

21.10.2012

6%

schaft sind die Anhänger der Piratenpartei in

04.11.2012

4%

geringerem Maße für Steuersenkungen oder

09.12.2012

3%

Klimaschutz, präferieren dafür doppelt so stark

13.01.2013

4%

einen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan

über 40 Prozent der Wähler der Piratenpartei

oder fordern Bürokratieabbau ein (Onken/ Quelle: Emnid, nach www.wahlrecht.de/emnid.

Schneider 2012: 623). Die Wählerschaft der Partei kokettiert somit zumindest mit Positionen im liberal-libertären Spektrum wie auch im

Die Wählerschaft der Piratenpartei stellt

linkspopulistischen Bereich.

sich, abgesehen von den Faktoren Alter und

Durch diese Themenspanne hat sich bei den

Geschlecht, heterogen dar. Dabei fällt auf, dass

Piraten ein elektoraler Schwemmsand angela-

die Partei in fast allen gesellschaftlichen Grup-

gert, der jedoch schwerlich zu halten ist. Viel

pen reüssiert. Sie erreicht nämlich meist auch

zu heterogen und widersprüchlich sind die Er-

überdurchschnittliche Werte bei den Selbst-

wartungswerte der neuen Wählerklientel. Die

ständigen (Borchard/Stoye 2011: 4; Hirscher

Piraten selbst nehmen schon seit geraumer Zeit

2011: 3 f.), was sich mit der starken Affinität zu

wahr, dass ihre Wählerschaft sie für andere

IT-Berufen erklären lässt. Erklärungsbedürftig

Themen unterstützt als für jene, die ihnen

ist demgegenüber, warum die gewerkschaftlich

selbst wichtig sind und bei denen sie ihre Kern-

gebundenen Arbeiter, nicht jedoch die Ange-

kompetenzen sehen. Um für die heterogenen

stellten überdurchschnittlich stark für die Pira-

Wählerpotenziale programmatische Angebote

ten votierten. In Berlin avancierten die Piraten

zu machen, fehlt es den Piraten jedoch an orga-

mit 14 Prozent sogar zur drittstärksten Partei in

nisatorischer Stringenz und Effektivität.

diesem Wählersegment, gleichauf mit den Lin-

65


D IE P IRATENPARTEI

7. Das politische System reagiert

Die Piratenpartei ist mittlerweile eine arrivier-

Partei entgegen den zahlreichen Unkenrufen

te, keineswegs aber etablierte Partei. Gesell-

in allen Wahlen des Jahres 2012 erfolgreich in

schaftlich hat sie unverkennbar einen Nerv ge-

die Landtage eingezogen war, sortierte sich

troffen. Kleinparteien akzentuieren mit ihren

das Feld neu.

Erfolgen oftmals Mängel in der politischen Re-

Die umfangreichen Reaktionen auf die Pira-

präsentation, wenn einzelne soziale Gruppen

ten, die von entrüsteten Verurteilungen über

oder spezifische Themen nicht mehr adäquat

interessierte Sondierungen bis zu offenen Um-

von den etablierten Parteien vertreten werden.

armungen reichten, machten gleichsam darauf

Wie gezeigt worden ist, haben die Piraten das

aufmerksam, dass sie zusehends als parteipo-

spezifische Nischenthema der Netzpolitik mit

litischer Konkurrent wahr- und ernst genom-

der Unzufriedenheit eines großen Teils der

men wurden. Damit eröffnete sich für die Pira-

Wählerschaft sehr wirksam verbinden können.

ten eine Stellung im Parteiensystem, die es ih-

Wie aber auch deutlich geworden ist, sind die-

nen erlaubte, verschiedene Funktionen erfül-

Aufstrebende

se Erfolge überaus flüchtig. Ein Grund hierfür

len zu können: Als aufstrebende Außenseiter

Außenseiter

sind die Reaktionen der etablierten Akteure

konnten sie Druck ausüben, der vor allem bei

des politischen Systems. Die Stärken der poli-

den etablierten Parteien zu Reaktionen, zu Be-

tische Newcomer werden von jenen adaptiert

wegung, Umdenken und Erneuerung führte

oder deren Schwächen ausgenutzt.

(Hensel 2012b: 107 f.). Die Parteien erkannten

Als parteipolitischer Träger eines auf den ersten Blick recht begrenzt wirkenden Themas

dabei in dreierlei Hinsicht Handlungsbedarf: kommunikativ, inhaltlich und strategisch.

wurden die Piraten von den etablierten Parteien 2009 kaum als ernst zu nehmende Konkurrenz angesehen. Das Zugangserschwerungsgesetz und die wachsende Protestbereitschaft der

66

7.1 Kommunikative und organisationskulturelle Reaktionen

Wähler vor dem Hintergrund der Großen Koali-

Die 2009 durchaus naheliegende Analyse, die

tion waren mit der Bundestagswahl bereits Ge-

Piraten als Internetpartei einzustufen, führte

schichte. Allein die Tatsache, dass es den Pira-

dazu, dass die etablierten Parteien vor allem

ten gelungen war, ein zuvor kaum politisiertes

versuchten, basispartizipatorische Prinzipien

Themenfeld zu besetzen und zahlreiche Neu-

und Ansprüche mit den Möglichkeiten des In-

wähler anzuziehen, gab den etablierten Partei-

ternets zu verschränken. Schließlich schienen

en Rätsel auf, doch nach dem Verblassen der

die Piraten geradezu intuitiv genau das zu rea-

ersten medialen Aufmerksamkeit für die Pira-

lisieren, was die Jungen, Wütenden und Unzu-

ten hatte man sich in den Parteizentralen

friedenen dieser Republik in den vergangenen

wieder mit anderen Dingen befasst. Diese Si-

Jahren immer wieder gefordert hatten, nämlich

tuation änderte sich erst durch den Erfolg der

unkonventionelle, thematisch begrenzte, zeit-

Berliner Piraten im Herbst 2011. Nachdem die

lich flexible und tendenziell basisdemokrati-


D AS POLITISCHE S YSTEM REAGIERT

sche Formen des Engagements (Klatt/Walter

und mediale wie parlamentarische Logiken ge-

2011: 35 f.). Tatsächlich drehten sich die Re-

bunden sind, schränkt das notwendigerweise

formdebatten in allen Parteien bereits seit rund

ihre Experimentierfähigkeit ein.

drei Dekaden genau um solche Aspekte, und

Doch alle Parteien stellen schnell fest, dass

mit der erhöhten Nutzung des Internets und sei-

deren konsequente Umsetzung zumeist an-

ner Potenziale im Hinblick auf Partizipation und

strengend und trotz aller technischen Entwick-

Kommunikation wurde schon seit geraumer

lungsfortschritte oft unproduktiver und ineffek-

Zeit in den Parteien experimentiert (Wie-

tiver ist als traditionelle Formen der Organisa-

sendahl 2006a: 163 ff.). Allerdings waren sie

tion. Meist beschränken sich etablierte Par-

kaum in der Lage, daraus nachhaltig erfolgrei-

teien daher weiterhin auf oberflächliche For-

che Parteireformen zu entwickeln.

men der digitalen Kommunikation und Partizi-

Die digitalen Medien wurden von den Par-

pation.

teiorganisationen in erster Linie als Distribu-

Spätestens der Durchbruch der sozialen

tions- und nicht als Partizipationskanäle ver-

Netzwerke hat die vorwiegend in eine Richtung

standen. Ausnahmen bilden hier beispiels-

laufende Netzkommunikation der Parteien je-

weise die Gründung des virtuellen Ortsvereins

doch massiv in Frage gestellt. Die ersten Erfol-

der SPD und des „Internet-Landesverbandes“

ge der Piraten 2009 waren dafür der deutlichs-

der FDP Mitte der 1990er Jahre. Über diese wur-

te Indikator. Als Reaktion darauf haben sich die

de eine eigene, virtuelle Parteigliederung er-

etablierten Parteien seitdem verstärkt die Kul-

probt, die sich allerdings vornehmlich mit Fra-

turtechnik digitaler Medien angeeignet: Twit-

gen der Netzregulation und der Gestaltung des

ternde Politiker, diverse Grundsanierungen

digitalen Zeitalters befasste (Bieber 2010:

von Homepages, eine intensivierte Pflege von

33 f.) und deren Arbeit von den Parteivorstän-

Profilseiten in sozialen Netzwerken sowie die

den nicht allzu ernst genommen wurde.

Eröffnung digitaler Diskussions- und Beteili-

Tatsächlich kollidieren die in den etablier-

gungsplattformen sind eine Folge davon.

ten Parteien eingeübten Gesetzmäßigkeiten

Digitale Kommunikation und Kooperation

der inner- wie außerparteilichen Kommunika-

bedarf aber nicht nur technischer Strukturen,

tion schnell mit der latent anarchischen Netz-

sondern ebenso kultureller Fähigkeiten. In Be-

kultur. Politiker sehen sich dem Dilemma ge-

zug auf die dazugehörige Authentizität haben

genüber, die Kulturtechniken des Netzes anzu-

die meisten Politiker quer durch die etablier-

wenden, ohne ihre politische Logik und organi-

ten Parteien aufgrund ihrer abweichenden

sationskulturellen Anforderungen, wie Strate-

Mediensozialisation oftmals Schwierigkeiten,

giefähigkeit, Effizienz und Produktivität, zu

was ihnen im Internet schnell Häme einbringt.

vernachlässigen (Hensel 2012b: 108 f.). Da die

Offener reagieren die Parteien freilich auf

etablierten Parteien an gewachsene Traditio-

die neuen und alten Möglichkeiten einer basis-

nen, filigrane innerparteiliche Machtbalancen

demokratischen Partizipation, welche die Pira-

67


D IE P IRATENPARTEI

tenpartei besonders prononciert eröffnet hat

Rolle. Gut sichtbar war dies im allgemeinen

und die einer forcierten Online-Kommunika-

Bedeutungsgewinn des thematischen Kernbe-

tion innezuwohnen scheint. Die FDP beispiels-

reichs der Piraten, also der Frage, wie die He-

weise lässt die Prioritäten bei der Antragsbera-

rausforderung der Digitalisierung der Gesell-

tung im Vorfeld von FDP-Parteitagen ohne wei-

schaft zu gestalten sei. So schrieben die etab-

tere Vorgaben durch die Delegierten selbst

lierten Parteien nun vor allem der Netzpolitik

festlegen und setzt in ihrem bayrischen Landes-

eine höhere Priorität zu. Natürlich gab es auch

verband mittlerweile eine Plattform ein, die Li-

dazu schon längere Zeit Diskurse, bloß wurden

quidFeedback ähnelt. Auch in anderen Parteien

diese eher randständig geführt. Netzpolitik

hat man Formen basisdemokratischer Mitwir-

wurde nach dem ersten Wahlerfolg der Piraten

kung entdeckt oder experimentiert in der Zwi-

2009 als Thema innerhalb der etablierten Par-

schenzeit mit digitalen Plattformen wie Liquid-

teien ernster genommen und bot gerade einem

Feedback oder Adhocracy.

versierten Nachwuchs Profilierungsmöglich-

Dennoch: Gerade weil es sich um langfristi-

keiten. Junge Abgeordnete wie Lars Klingbeil

ge Prozesse der Modernisierung der politi-

(SPD), Jimmy Schulz (FDP), Halina Wawzyniak

schen Kommunikation und Organisation han-

(Linke) oder Konstantin von Notz (Grüne) nut-

delt, hat das Auftauchen der Piraten in Bezug

zen diese Leerstelle jedenfalls effizient aus.

auf die kommunikative Kompetenz zwar kurz-

Durch diese inhaltliche Neuorientierung schien

fristig zu keinen wesentlichen Veränderungen

sich die Auseinandersetzung mit der neuen

der bisherigen Arbeitsweisen in den etablier-

Partei insgesamt auf eine rationale Handlungs-

ten Parteien geführt, wohl aber werden länger-

ebene zu verlagern. Sichtbarstes Zeichen ist

fristige Anpassungsprozesse an Erfordernisse

die Enquête-Kommission des Bundestags zur

der Internetkommunikation gefördert.

Netzpolitik, über die viele der prominenten netzpolitischen Aktivisten der Republik einge-

7.2 Inhaltliche Reaktionen

spannt wurden. Auch innerhalb der etablierten Parteien

Motor für inhaltliche

Das Auftauchen der Piratenpartei wirkte über-

versuchte man netzpolitische Kompetenzen

Entwicklungen

dies als Initiator und Motor der Entwicklung

aufzubauen, indem man Arbeitskreise und

von neuen oder alternativen politischen Inhal-

Kommissionen einsetzte oder Kongresse ab-

ten. Insoweit nahmen die Piraten eine weitere,

hielt. Beschlüsse und Thesenpapiere waren so

geradezu prototypische Funktion nichtetablier-

vielfach bereits vor dem Piraten-Hype 2011/12

ter Kleinparteien wahr: Ihre Präsenz brachte

in der Diskussion. Mit einem parteinahen Ver-

die innerparteilichen Debatten und Machtver-

ein wie Liberale Basis e. V. bei der FDP oder

hältnisse der etablierten Parteien in Bewe-

einem der SPD nahen Thinktank wie D64 exis-

gung. Dabei spielt vor allem die Aufwertung

tieren mittlerweile Umfeldorganisationen für

von vormaligen Außenseiterpositionen eine

netzpolitische Themen. Die Grünen haben dazu

68


D AS POLITISCHE S YSTEM REAGIERT

bereits im November 2011 auf ihrem Parteitag

der Piratenfraktion im Parlament, die Bezie-

umfassend beraten. Einen Monat darauf zogen

hung zwischen den Parteien blieb aber von ei-

die Sozialdemokraten nach, deren Bundes-

nem Gefühl der Fremdheit und Konkurrenz be-

tagsfraktion zudem ein halbes Jahr später ein

stimmt. Die politische Gegnerbeobachtung

Thesenpapier zur Reform des Urheberrechts

nahm sich der Piraten derweil intensiver an.

zur Debatte stellte (Wagner 2012: 45, 131). Zu

Gleichzeitig sendeten die Spitzenkandidaten

den Kernthemen der Piraten besitzen somit alle

der SPD in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-

etablierten Parteien mittlerweile Expertise,

Holstein und Niedersachsen vorsichtige Signa-

können auf Beschlüsse verweisen oder bieten

le an die neue Partei aus, um von vornherein

Diskursforen an.

weder deren Wähler zu verschrecken noch sich rechnerische Koalitionsoptionen zu verbauen.

7.3 Strategische Orientierungen

Auch in der CDU mangelte es nicht an Versuchen, die Piraten in den Kommunalparlamen-

Freilich hatten die meisten Beobachter erwar-

ten und Landtagen zumindest punktuell einzu-

tet, dass sich so das Wählerpotenzial der Pira-

binden. Der vormalige Parlamentarische Ge-

ten domestizieren ließe, was sich als Trug-

schäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag,

schluss erwiesen hat, da die Piraten eben nicht

Peter Altmaier, stellte eine Kooperation per-

nur aus netzpolitischen Gründen Zulauf erhal-

spektivisch in Aussicht und gab sich in Bezug

ten, sondern weil sie als Projektionsplattform

auf die Kommunikationsweise und die politi-

verschiedener Interessen gewählt werden. In-

schen Ideen und Ansätze der Piraten überaus

soweit mussten die etablierten Parteien die Pi-

verständnisvoll. So räumte er sogar Fehler sei-

raten unverändert als ernsthaften Mitbewerber

ner Regierung im Bereich der Netzpolitik ein,

bei der Bundestagswahl einschätzen und auch

stellte sich Diskussionen mit Piraten und lud

in Bezug auf einen möglichen Parlamentsein-

den neuen Mitbewerber regelrecht zum Mitma-

zug Strategien entwickeln.

chen ein: „Es sind junge Leute voller Ideale, die

Neue Koalitions-

die Welt zum Besseren verändern wollen, aber

konstellationen

Bei der SPD hofierte man die Kritiker von Netzsperren und intensivierte die weiteren

noch nicht wissen, wie“ (Altmaier 2011).

Kontakte zu Vertretern der digitalen Szene, um

Nun scheint eine Koalition aus Union und

dem in den Jahren zuvor entstandenen politi-

Piraten für 2013 trotz einiger Mutmaßungen

schen Vertrauensverlust in diesen Themenbe-

(Bieber 2012b; Wentzien 2012) wohl eher aus-

reichen zu begegnen. Darüber hinaus suchten

geschlossen zu sein. Die inhaltlichen Schwach-

die Sozialdemokraten nach der Berlin-Wahl im

stellen und die mangelnde programmatische

Herbst 2011 zaghaft Kontakt zu den Piraten.

Kohärenz der Piraten mit ihren vielschichtigen

Klaus Wowereit stellte sich zwar im Vorfeld sei-

personellen und organisatorischen Problemen

ner Wiederwahl als Regierender Bürgermeis-

sprechen aus Sicht der Union klar gegen eine

ter im Berliner Abgeordnetenhaus den Fragen

solche Zusammenarbeit. Und auch die Piraten

69


D IE P IRATENPARTEI

70

dürften Schwierigkeiten haben, sich mit der

Während die Volksparteien somit abwar-

Partei einzulassen, die die Netzsperren maß-

tend, aber eben nicht ablehnend reagieren,

geblich vorangetrieben hat. Dennoch hätte

fällt den kleineren Parteien die Reaktion auf

eine wenigstens rechnerische Mehrheit aus

ihre neue Konkurrentin bislang schwerer. Die

CDU/CSU und Piraten für Merkels Union im-

FDP kann trotz ihrer netzpolitischen Bilanz in

mense Vorteile. Wenn 2013 eine Konstellation

der Regierungsarbeit den Piraten keine bürger-

eintritt, in der abermals eine Große Koalition

rechtlich-liberal orientierten Wähler entrei-

als einzige realistische Option verbleibt, wäre

ßen. Sie scheitert nicht zuletzt an den kulturel-

ein theoretisches Drohpotenzial mit einer an-

len Differenzen zu den Piraten. Hinzu kommt

deren Mehrheitsoption für die Union natürlich

eine verbreitete emotional-kulturelle Aversion

günstig. Somit erfüllen die Piraten für die CDU

innerhalb des Piratenmilieus gegen die deut-

eine Doppelfunktion: Sie könnten einerseits

lich wirtschaftsliberaler positionierten Frei-

helfen, eine rot-grüne Mehrheit zu verhindern,

demokraten. Das gilt ungeachtet der auch in

andererseits eröffnet ihr Parlamentseinzug

diesem Feld erkennbaren Deckungsfähigkeit

eine strategische Möglichkeit, Sozialdemokra-

der Positionen. Zu Recht sehen Strategen der

ten oder Grüne unter diesen Umständen von ei-

FDP weder in den Piraten noch in den abgewan-

nem Bündnis mit der CDU zu überzeugen.

derten Wählern eine Klientel, welche sie dau-

Ähnlich verhält es sich mit der strategi-

erhaft erreichen könnten. Aus Sicht der Libera-

schen Ausrichtung der CSU. Weil die Christso-

len ist allenfalls erfreulich, dass die Wahler-

zialen aber auch die absolute Mehrheit in Bay-

folge der Piraten die Option auf ein rot-grünes

ern wiedergewinnen wollen, ist das Verhältnis

Mehrheitsbündnis erschweren.

zu den Piraten zwiegespalten. Schließlich hat

Auch aus diesem Grund ist das Verhältnis

die CSU sehr genau zur Kenntnis genommen,

zwischen Grünen und Piraten gegenwärtig am

dass sich die Sozialstruktur im Freistaat nach-

kontroversesten. Viele Piraten sehen die Grü-

haltig geändert hat. Die dort nun ansässigen

nen als die Negativfolie schlechthin an, weil

modernisierten sozialen Milieus fremdeln mit

diese ihre einstigen Ideale verraten hätten.

der CSU, einige sind aber bedingt durch ihre

Bereits auf diesen Vorwurf reagieren die Grü-

Jobs in der Hightech-Industrie Bayerns quasi

nen überaus empfindlich. Weitaus stärker

eine Kernklientel der Piraten. Nicht von unge-

macht ihnen aber zu schaffen, dass Piraten sich

fähr befindet sich dort der größte Landesver-

als veritable Konkurrenz bei der eigenen Wäh-

band der Piraten. Die CSU versucht sich daher

lerklientel erweisen. Immerhin jeder dritte

in einer Doppelstrategie. Ihre Innenpolitiker

Wähler der Grünen kann sich eine Wahl der Pi-

suchen die Abgrenzung zur Partei, um die eige-

raten vorstellen, Programm und Nonkonformi-

ne konservative Kernklientel nicht zu verschre-

tät im Auftreten sind schließlich ähnlich (Haas/

cken. Zugleich öffnen sich andere Teile der Par-

Hilmer 2012: 183 f.; Hönigsberger/Osterberg

tei aber für netzkulturelle Entwicklungen.

2012: 20). Wesentliche Erfolgsfaktoren des


D AS POLITISCHE S YSTEM REAGIERT

Wahlhochs der Grünen werden ihnen von den

che Protestklientel wetteifert. Die Wahrneh-

Piraten somit zumindest partiell streitig ge-

mung eines Teils der Linken ist durch Deutun-

macht.

gen vorgeprägt, welche die Piraten klar als li-

Gegnerschaft

Die Grünen ringen insgesamt noch um die

berale Partei einordnen oder die Debatte über

zu Grünen

passende Strategie im Umgang mit den Piraten

eine vermeintliche Rechtslastigkeit fälschlich

(Schulte 2012). Gerade die Führungsschicht der

überhöhten.

Partei sucht die offensive Konfrontation mit der

Im Gegensatz zu den Grünen sind die Lin-

neuen Konkurrentin. Programmatische Män-

ken aber von Anfang an sehr pragmatisch mit

gel, organisatorische Schwierigkeiten, ein nai-

ihrem neuen Wettbewerber umgegangen. In

ves Politikbild oder ein geringer Frauenanteil –

zahlreichen Kommunalvertretungen gibt es ge-

tatsächlich finden sich aus grüner Perspektive

meinsame Fraktionen beziehungsweise Grup-

genug Angriffspunkte, die auch mit größter

pen. Anderswo sind die Fraktionen der Linken

Härte angegangen werden. Die jüngeren Grü-

um gemeinsame Anträge bemüht. Zu dieser

nen beziehen sich hingegen häufiger positiv

pragmatischen

auf die mit den Piraten geteilte Netzkultur und

auch, dass die Linken das gegenwärtige Auftre-

plädieren für einen besonnenen Umgang mit

ten der Piraten durchaus als Chance sehen, die

der neuen Partei.

eigenen offenen strategischen Fragen auszu-

Herangehensweise

gehört

Auf Debatten setzt man auch bei den Lin-

klammern. Schließlich könnte ein Einzug von

ken. Man spekulierte berechtigterweise da-

Piraten und Linken die Bildung einer rot-grü-

rauf, durch öffentliche Dispute zwischen Ver-

nen Minderheitsregierung befördern. Eine sol-

tretern der Piraten und der Linken etwas von

che Regierung wäre davon befreit, bloß von

der immensen Aufmerksamkeit abzubekom-

Gnaden der Linken zu existieren, und könnte

men, welche den Piraten im Zuge ihres Hypes

zudem in außenpolitischen Fragen auch unab-

zuteil wurde. Ungeachtet dessen sieht die Lin-

hängig von der Linken agieren, was der Linken

ke in den Piraten durchaus eine Konkurrenz,

eine Reihe schwieriger Grundsatzfragen erspa-

die gerade in Westdeutschland um eine ähnli-

ren würde.

71


D IE P IRATENPARTEI

8. Piraten in Parlamenten

72

Als griffigen Slogan postulieren die Piraten in

dem soll das faktische Delegationsrecht der

Wahlkämpfen „Klarmachen zum Ändern“ und

Fraktionen in die Ausschüsse durch ein indivi-

stellen eine umfassende Restrukturierung der

duelles Mitwirkungsrecht aufgeweicht werden.

politischen Verhältnisse in Aussicht. Diese Ori-

Zugleich sollen kleinere Fraktionen die beson-

entierung findet konsequenterweise ihren Nie-

deren Rechte größerer Fraktionen, etwa im Hin-

derschlag im Auftreten der Piraten in der parla-

blick auf die Einberufung des Parlaments, er-

mentarischen Sphäre selbst. Vor allem die Ab-

halten, wozu die Piraten eine Verfassungsän-

geordneten in Berlin und Schleswig-Holstein

derung anstreben. Ähnliche Vorstöße unter-

kokettieren mit einer zur Schau getragenen

nahmen die Piraten in Schleswig-Holstein, wo

Distanz zu den etablierten Mechanismen parla-

sie die verankerten Rechte großer Fraktionen

mentarischer Arbeit und Kultur. Allein über ih-

zur Beeinflussung von Verfahrensfragen auch

ren zum Teil sehr unkonventionellen Kleidungs-

für kleine Fraktionen reklamieren. Gleichzei-

stil erlangten sie leicht mediale Aufmerksam-

tig lehnten die Piraten dort mit Verweis auf die

keit. Abgeordnete im Blaumann, mit Kopftuch

Gewissensfreiheit des Einzelnen das im parla-

oder Schiebermütze lösten für einige Zeit ein

mentarischen Alltag übliche sogenannte Pai-

mediales Echo und Empörung der Parlaments-

ring (Absprache zwischen Abgeordneten von

kollegen aus. Allerdings: Dramatisch sind die-

Regierungs- und Oppositionsparteien, an einer

se Aufwallungen nicht, rasch setzt ein Gewöh-

Abstimmung nicht teilzunehmen, um die Mehr-

nungseffekt ein. Zudem legen andere Parla-

heitsverhältnisse nicht zu verändern) selbst in

mentarier der Piraten wie der nordrhein-west-

Krankheitsfällen ab. Mehr oder weniger aus-

fälische Fraktionsvorsitzende Joachim Paul de-

geprägt stellen die Piraten damit Regeln zur

zidiert Wert auf einen konventionellen Klei-

effizienten Arbeit parlamentarischer Gremien

dungsstil.

in Frage. Das dahinterliegende idealisierte

Während der von den Piraten ausgehende

Verständnis von parlamentarischer Demokra-

Kulturschock parlamentarisch weitgehend ver-

tie kollidiert jedoch offensichtlich immer

daut ist, fordern diese die Fraktionen der eta-

wieder mit deren tatsächlicher Funktionsweise.

blierten Parteien mit Anträgen zur Änderung

Neben den Geschäftsordnungen haben die

der Geschäftsordnung immer wieder heraus. In

Piraten überaus schnell Initiativen zur Auswei-

Berlin forderten sie eine Vergrößerung des

tung von Entscheidungs- und Mitwirkungsrech-

Parlamentspräsidiums und reklamierten damit

ten in den Landesverfassungen gestartet. Ihre

einen Vizepräsidentenposten für sich. Zudem

Gesetzesentwürfe dazu thematisieren grob

verlangen sie, originäre Rechte der Fraktionen

zwei Regelungsbereiche. Zum einen wollen sie

auf einzelne Abgeordnete übergehen zu las-

eine deutliche Ausweitung plebiszitärer Ele-

sen. So sollen Entschließungsanträge oder

mente. Zum anderen greifen sie das vorhande-

Große Anfragen bereits von jedem einzelnen

ne Missverhältnis zwischen Parlament und Re-

Abgeordneten gestellt werden können. Außer-

gierung auf der Landesebene auf. Gegen die


P IRATEN IN P ARLAMENTEN

Handlungsvorteile einer dortigen Regierung

schmieder 2013: 219). Der seinerzeit gewählte

kommen die Landesparlamente nur mühsam an

Andreas Baum ist seitdem vor allem damit be-

(Klecha 2011: 38 ff.). In ihrem Bestreben, dies

schäftigt, die Fraktion im Inneren zusammen-

zu korrigieren, kümmern sich die Piraten je-

zuhalten, und tritt nach außen hin eher wenig

doch wenig um den verfassungsrechtlich ge-

in Erscheinung. Zum Gesicht der Fraktion avan-

schützten Kernbereich exekutiver Eigenverant-

cierten dagegen der erste Parlamentarische

wortung, sondern streben tendenziell eine All-

Geschäftsführer Martin Delius sowie der omni-

zuständigkeit des Parlaments an.

präsente Christopher Lauer, der seit Herbst

Indem sie Verfahrensmodalitäten ändern wollen, besetzen die Piratenfraktionen ein

2012 mit Baum auch offiziell eine Doppelspitze bildet.

Thema, das in ihrer Wahlkampfkommunikation

Die Mandatsträger der Piraten erfuhren re-

eine große Rolle spielt. Doch auf die schon

lativ schnell und immer wieder die Nachteile

meist zu Beginn einer Legislaturperiode ge-

der von ihnen umfassend praktizierten Trans-

stellten Anträge folgten seitens der Fraktionen

parenz ihrer parlamentarischen Tätigkeit. Vor

bislang eher wenige Impulse. Ein zentraler

allem Debatten über strategische oder sensib-

Grund ist der langwierige Aufbau der Arbeits-

le fraktionsinterne Fragen wurden durch die

strukturen in den Fraktionen. Fehlende Erfah-

mediale Berichterstattung wesentlich verkom-

rungen und Routinen hemmen deren Aktivitä-

pliziert. Und selbst seit dem Nachlassen der

ten. Kompetenzen, um beispielsweise den

medialen Aufmerksamkeit finden negative

Haushaltsplan zu verstehen, müssen erst müh-

Wahrnehmungen der Fraktionsarbeit schnell

sam aufgebaut werden. Überdies verwenden

ihren Weg in die parteiinterne Kommunikation

die Piraten ausgesprochen viel Zeit für die ge-

und gelangen von dort immer wieder an die Öf-

meinsame Erörterung der Regularien des Ab-

fentlichkeit. Infolgedessen sehnen sich einige

Sehnsucht nach

geordnetendaseins und für profane Fragestel-

Abgeordnete nach Vertraulichkeit und Ver-

Vertraulichkeit

lungen, die sonst im Hintergrund von den Frak-

schwiegenheit.

tionsgeschäftsführungen geregelt werden.

Doch entsprechende Forderungen führten

Die Berliner Piratenfraktion liefert für die

zu erbitterter Gegenwehr aus Teilen der Frak-

weiteren Fraktionen zugleich eine positive wie

tion sowie aus der Partei (Koschmieder 2013:

negative Referenz. Dort hatten persönliche

220). Alle Sitzungen der Fraktionen wie des

Konflikte zwischen den Mandatsträgern den

Fraktionsvorstands werden daher nach wie vor

Findungsprozess der Fraktion verzögert. Die

im Internet übertragen und sind mit wenigen

Berliner Abgeordneten standen dadurch früh-

Ausnahmen für Gäste offen. Wie einst bei den

zeitig in einem unvorteilhaften Licht. Bereits

Grünen war die Resonanz darauf am Anfang

bei der Konstituierung kam es vor den Augen

noch groß. Mit der Zeit aber kamen immer we-

der Öffentlichkeit zum offenen Streit über die

niger Medienvertreter zu den Sitzungen, von

Zusammensetzung der Fraktionsspitze (Ko-

interessierten Bürgern einmal ganz abgese-

73


D IE P IRATENPARTEI

hen. In allen Fraktionen pendelte sich die Zahl

nach der Aufstellungsversammlung versuchten

der Zuschauer und Zuhörer der Streams auf

die Bewerber auf der Landesliste miteinander

eine sehr überschaubare Größenordnung ein,

ins Gespräch zu kommen, um sich besser ken-

selten finden sich in Nordrhein-Westfalen mehr

nenzulernen. Niedersachsens Piraten organi-

als 50, in Schleswig-Holstein durchgängig we-

sierten beispielsweise einen Kandidaten-

niger als 20 und im Saarland in der Regel keine

Workshop. Diese Teambuilding-Maßnahmen,

10 Zuschauer ein.

die in Berlin erst nach der Konstituierung der

Zäher Fraktions-

Daneben war gerade der Aufbau der Berli-

Fraktion eingesetzt hatten, wurden somit vor-

aufbau in Berlin

ner Fraktion von einigen Pannen begleitet: Die

verlagert. Doch das änderte nichts an dem Um-

Bewerber auf die Mitarbeiterstellen etwa er-

stand, dass die Piraten in den ersten Monaten

hielten versehentlich sämtliche E-Mail-Adres-

ihrer Zugehörigkeit zu den jeweiligen Landes-

sen ihrer Mitkonkurrenten mitgeteilt (o. V.

parlamenten kaum Aufmerksamkeit für kon-

2011; Wagner 2012: 85). Abgeordnete stellten

struktive politische Beiträge erhielten. Als Op-

ihren Lebensgefährten als persönlichen Mitar-

positionspartei können sie ohnehin nicht viel

beiter ein und ernteten öffentliche Empörung

verändern, dazu fehlen die Mehrheiten. So ver-

(van Bebber 2011; Wagner 2012: 84). Erschwert

suchen die Mandatsträger wenigstens die ei-

wurde der Aufbau konstruktiver Arbeitsstruk-

genen Ideale zu erfüllen und legen bestimmte

turen durch die innerhalb der Fraktion beste-

Informationen offen: Nebentätigkeiten und Ne-

henden sehr unterschiedlichen Vorstellungen

benverdienste werden von fast allen Mandats-

von der Wahrnehmung des eigenen Mandats.

trägern en détail angegeben. Formalisierte

Kaum einer der Kandidaten hatte mit einem

Kontakte mit Vertretern von Lobbyorganisatio-

Wahlerfolg gerechnet, und so brachen entspre-

nen werden ebenfalls penibel aufgelistet. Eini-

chende Differenzen gleich zu Beginn der Wahl-

gen Vordenkern schwebt vor, dies mittelfristig

periode auf. Da einige Fraktionsmitglieder

mit den entsprechenden Drucksachen zu ver-

sowieso schon längere Zeit in herzlicher Ab-

knüpfen, um so die Verbindungslinie von Inte-

lehnung zueinander verbunden waren, entlu-

ressen zu Beschlüssen darzulegen.

74

den sich Spannungen oft aufgrund von Kleinig-

Abseits jenes ehrenwerten Versuchs, Vor-

keiten. Am Ende sah sich die Fraktion veran-

bild zu sein, ist die wohl wichtigste Aufgabe ei-

lasst, einen Mediator zu engagieren und einen

ner Oppositionsfraktion im parlamentarischen

wöchentlichen Stuhlkreis einzurichten, um un-

Regierungssystem, die Regierungsarbeit zu

ter Ausschluss der Öffentlichkeit über ihre

kontrollieren. Tatsächlich haben die Piraten

zahlreichen persönlichen Animositäten zu

sich diesbezüglich redlich bemüht: Im Saarland

sprechen (Burger 2012; Neumann/Fritz 2012:

und in Nordrhein-Westfalen haben sie jeweils

331; von Törne 2011).

die Wiedereinsetzung eines Untersuchungs-

Eine solche Situation war bei den folgen-

ausschusses aus der vorherigen Legislaturpe-

den Landtagswahlen nicht gegeben. Schon

riode beantragt, dessen Arbeit durch die Auflö-


P IRATEN IN P ARLAMENTEN

Tabelle 8:

Kleine Anfragen der Piraten Land

Anteil der Piraten an

Anteil der Piraten an

Kleinen Anfragen

der Opposition insgesamt

Berlin

21,5 %

28,3 %

Saarland

30,2 %

28,6 %

Schleswig-Holstein

11,2 %

17,6 %

Nordrhein-Westfalen

12,9 %

18,3 %

Quelle: Eigene Darstellung mit Zahlen von Becker/Kaiser/Latsch u. a. (2012: 31).

sung der Landtage vorzeitig geendet hatte. In

ten Opposition, so erhält man eine erste Aus-

Berlin war die Piratenfraktion an der Einset-

kunft über die quantitative Arbeitsleistung der

zung eines Untersuchungsausschusses zu den

Neuparlamentarier. Nur im Saarland sind die

Pannen beim Bau des neuen Berliner Flugha-

Piraten demnach so produktiv, wie man es in

fens maßgeblich beteiligt, wobei ihnen sogar

Anbetracht ihrer jeweiligen Stärke erwarten

die Leitung des Gremiums zugefallen ist. Parla-

dürfte. Die reine Quantität von Anfragen sagt

Parlamentarische

mentarische Untersuchungsausschüsse sind

jedoch nur wenig aus. Vielmehr ist die gezielte

Aktivität

die meist spektakulären Höhepunkte in der

Multiplizierung von Anfragen, um die Auswir-

Kontrolltätigkeit der Opposition. Wie ernst die

kungen eines Sachverhalts in jedem einzelnen

Piratenfraktion dort diese Aufgabe nimmt, wird

Wahlkreis abzufragen, nicht unüblich und wur-

schon an der Besetzung des Vorsitzes mit ihrem

de insbesondere von der FDP in Nordrhein-

ehemaligen parlamentarischen Geschäftsfüh-

Westfalen ausgiebig angewandt (Kompa 2012).

rer deutlich.

Qualitativ gibt es erhebliche Differenzen in

Wichtig für die parlamentarische Alltagsar-

den Themenfeldern, in denen die Piraten Anfra-

beit ist das Fragerecht der Opposition. Durch

gen stellen. In einigen Bereichen bringen sie

dieses können Oppositionsparteien nicht nur

durchaus Erfahrungswissen ein, das meist aus

den öffentlichen Informationsstand verändern,

ihren beruflichen Erfahrungen herrührt. Der

sondern auch die Regierung zu Positionierun-

ehemalige Polizist Dirk Schatz beispielsweise

gen zwingen und Missstände anprangern.

stellt in Düsseldorf Fragen zur Zahl der Einstel-

Nimmt man die Zahl der Kleinen Anfragen,

lungen und Bewerbungen im gehobenen Poli-

die die Piratenfraktionen in den vier Landes-

zeidienst oder zur polizeilichen Kriminalstatis-

parlamenten gestellt haben, und setzt diese in

tik. Auffällig ist auch, dass sich einige Piraten

Relation zum Anteil der Piraten an der gesam-

bestimmten Lieblingsthemen widmen. Saar-

75


D IE P IRATENPARTEI

lands Piratenabgeordnete Jasmin Maurer frag-

in geringerem Maße die alleinige Urheber-

te beispielsweise umfänglich Informationen

schaft für sich beanspruchen.

zum Tierschutz ab. Vielfach erfragen die neuen

Gegenwärtig kann das noch mit dem Aufbau

Abgeordneten auch Statistiken, die mit dem

der Arbeitsstrukturen erklärt werden. Deutlich

Haushaltsvollzug oder Ähnlichem zusammen-

wird das bei einem Vergleich mit anderen Frak-

hängen, um ihre noch vorhandenen Informa-

tionen, die erstmals oder nach längerer Unter-

Mühsamer

tions- und Kompetenzdefizite auszugleichen.

brechung wieder in einen Landtag eingezogen

Kompetenzaufbau

In den drei Flächenländern werden auch

sind und ebenfalls im ersten halben Jahr eher

immer wieder kommunalpolitische Themen

wenig zuwege brachten: Die Grünen im nord-

aufgeworfen, worin sich das bislang weitge-

rhein-westfälischen Landtag etwa reichten

hende Fehlen von Kommunalfraktionen der

1990 nur einen Entschließungsantrag, aber

Piraten in den betreffenden Ländern bemerk-

keinen Gesetzesentwurf ein. Die FDP produ-

bar macht. Interessant ist, dass die jeweiligen

zierte hingegen 2000 in Düsseldorf zehn Anträ-

Landesregierungen auffällig bemüht sind, den

ge, legte aber ebenfalls keinen Gesetzesent-

Fragestellern die jeweiligen Rechtsgrundla-

wurf vor. Zehn Jahre später legte die Linke

gen detailliert und in der Regel verständlich

immerhin 18 Entschließungsanträge vor. Ge-

zu erörtern.

messen an den Vergleichswerten aus dem Wes-

76

Wenn man darüber hinaus die Plenaranträ-

ten der Republik scheinen die Piraten nicht auf-

ge und Gesetzentwürfe der Piratenfraktionen in

fallend weniger aktiv zu sein als einst die Grü-

den vier Landtagen analysiert, erlangt man Hin-

nen, sodass man den neuen Fraktionen eine

weise, in welchem Umfang die jeweiligen Frak-

gewisse Anlaufzeit zugestehen muss.

tionen bemüht sind, die politische Agenda zu

Zu diesen Lernprozessen gehört auch, die

beeinflussen und eigene Anliegen auf die Ta-

Wirksamkeit der eigenen Anträge zu erhöhen.

gesordnung zu setzen. Auch hier liegt das

Gelegenheitsfenster, in denen die Opposition

quantitative Arbeitspensum der Piraten unter-

mit ihren Anliegen durchdringt, sind rar gesät

halb desjenigen der übrigen Oppositionsfrak-

und oftmals nur über eine vorausschauende

tionen (siehe Tabelle 9, nächste Seite).

Bündnisarbeit im parlamentarischen wie

Die Piratenfraktionen reichen in allen

außerparlamentarischen Bereich zu erzielen.

Landtagen die wenigsten Entschließungsanträ-

Ausgerechnet beim Thema Transparenzgesetz

ge ein. Gleichzeitig ist der Anteil von interfrak-

zur Offenlegung von Verwaltungsprozessen ge-

tionellen (von mehreren Fraktionen initiierten)

genüber dem Bürger haben die Piraten dabei in

Anträgen so hoch wie bei keiner anderen Oppo-

Berlin eine überaus bittere Lektion gelernt.

sitionsfraktion. Ähnlich verhält es sich bei den

Nach ersten Gesprächen mit Linken und Grünen

Gesetzentwürfen. Die Piraten reichen also we-

bestand die Aussicht auf ein gemeinsames Vor-

niger Initiativen ein als die übrigen Opposi-

gehen aller Oppositionsfraktionen. Möglicher-

tionsfraktionen, und dabei können sie auch nur

weise wäre bei Wahrung der Verschwiegenheit


P IRATEN IN P ARLAMENTEN

Tabelle 9:

Plenaranträge der Piraten Fraktion

Entschließungsanträge

Gesetzesentwürfe

Gesamt davon interfraktionell

gesamt

Piratenfraktion Berlin

davon interfraktionell

33

13

5

3

0

0

2

0

3

1

2

1

5

3

8

6

Piratenfraktion Nordrhein-Westfalen Piratenfraktion Schleswig-Holstein Piratenfraktion Saarland

Quelle: Eigene Erhebung für den Zeitraum bis Mitte Oktober 2012.

Tabelle 10:

Plenaranträge anderer Oppositionsparteien Landtag

Fraktion Entschließungsanträge gesamt

davon

Gesetzesentwürfe gesamt

interfraktionell Berlin Saarland Schleswig-Holstein Nordrhein-Westfalen

davon interfraktionell

Grüne

92

16

3

3

Linke

76

16

3

3

Linke

11

2

10

4

Grüne

12

2

4

2

FDP

4

1

2

1

CDU

15

1

0

0

FDP

4

0

4

4

CDU

8

0

1

1

Quelle: Eigene Erhebung für den Zeitraum bis Mitte Oktober 2012.

auch ein Mitwirken der Koalitionsfraktionen zu

Vorgehen hinfällig. Damit schwand aber die

erwarten gewesen, wenn nicht die Fraktion der

mögliche Kooperationsbereitschaft der Regie-

Grünen vorgeprescht wäre. Nachdem diese ih-

rungsmehrheit. Vertrauensvolle Zusammenar-

ren eigenen Vorschlag ins Plenum eingebracht

beit und vollständige Transparenz schließen

hatte, also letztlich transparent gemacht hatte,

sich also mitunter aus. Solche Lernprozesse

was sie beabsichtigte, war ein gemeinsames

durchlaufen gegenwärtig auch die kommuna-

77


D IE P IRATENPARTEI

len Mandatsträger. Vertraulichkeit von Abspra-

gen Fachausschüssen verfolgten von ihnen be-

chen, die Erörterung im Verborgenen, die ver-

vorzugte Bereiche, statt gesellschaftlich re-

schwiegene Verhandlung eröffnen ihnen

levante Themen aufzugreifen, weil weder sie

oftmals andere Einflussmöglichkeiten als die

noch die Parteibasis sich dafür interessierten.

vollständige Offenlegung aller politischen

Dieses individualisierte Politikverständnis

Schritte und Ziele.

hat den Fraktionen bereits eine Reihe von Pro-

Wie bereits bei den Anfragen fällt auf, dass

blemen eingebracht. Einzelne Abgeordnete

die Initiativen der Piraten entweder auf Indivi-

fühlen sich nämlich mitnichten an die Beschlüs-

dualinteressen einzelner Abgeordneter zuge-

se der Fraktion gebunden oder handeln ohne

schnitten sind oder sich eine Schwerpunktbil-

weitere Rücksprache mit dieser. Das führt

dung im Bereich der Themenfelder „Bürger-

oftmals zu einem diffusen Bild in der Öffent-

rechte, Überwachung und Transparenz“ sowie

lichkeit. Gleichwohl lässt sich erkennen, dass

„Bildungspolitik, Sozialpolitik und innere Si-

die Fraktionen zunehmend kohärenter agieren.

cherheit“ erkennen lässt (Koschmieder 2013:

Die parlamentarischen Geschäftsführer drän-

227). In einigen anderen Politikfeldern können

gen darauf, dass die Abgeordneten sich

die Piraten gegenwärtig nur wenig Sachkom-

möglichst frühzeitig gegenüber der Fraktion

Professionalisierung

petenz einbringen beziehungsweise haben sich

rechtfertigen, wenn sie nicht der Fraktionslinie

und Anpassung

die zuständigen Mandatsträger meist ein we-

folgen wollen. Immer wieder wird dabei betont,

nig widerwillig der entsprechenden Themen

es handele sich nicht um einen Fraktions-

angenommen. Das gilt auch für den Einbezug

zwang. Doch die Mechanismen sind genau jene,

von Sachkompetenz ihrer Parteibasis. In eini-

welche die Arbeit von Fraktionen in parlamenta-

gen Politikfeldern ist diese ausgesprochen ge-

rischen Demokratien ausmachen (Schütt-

ring, in anderen versuchen Arbeitsgruppen der

Wetschky 1991): Den Abgeordneten, die sich

Partei, Sachverstand beizusteuern. Allerdings

freiwillig einer Fraktion anschließen, wird ab-

sind auch dort die Interessen oftmals nicht auf

verlangt, die Regeln einer selbst gewählten

die konkreten landespolitischen Forderungen

Gemeinschaft zu akzeptieren oder sich

bezogen. Das führt wiederum dazu, dass die

anderenfalls mindestens zu rechtfertigen. Die

Abgeordneten vielfach nicht die Geduld auf-

Spezialisierung in Fachausschüssen bringt es

bringen, sich jeder Debatte zu stellen, bezie-

mit sich, dass die Abgeordneten in all jenen

hungsweise diese sehen sich oft einem zeitli-

Feldern, in denen sie keine eigene Sachkom-

chen Entscheidungszwang gegenüber, der den

petenz besitzen, auf die Expertise ihrer Frak-

weit ausschweifenden und wenig strukturier-

tionskollegen vertrauen. Offensichtlich er-

ten Beteiligungsprozessen entgegensteht. In

zeugt das parlamentarische System also einen

den Fraktionsführungen betrachtet man das

Druck auf die Fraktionen, geschlossen zu agie-

recht unverhohlen als Mangel; so lägen einige

ren. Die Ablehnung von Fraktionsdisziplin wird

Themenfelder blank. Die Piraten in den jeweili-

damit zu einem vordergründigen Alleinstel-

78


P IRATEN IN P ARLAMENTEN

lungsmerkmal der Piraten, das sich in der Rea-

schaftlichen Gruppen kooperiert. Wenn keiner-

lität aber längst an die Gewohnheiten und Er-

lei explizite Gesprächswünsche an die Piraten-

fordernisse parlamentarischer Arbeit angegli-

fraktionen herangetragen werden, meiden sie

chen hat.

solche Kontakte zumeist. Als Form der Einbin-

Das insgesamt noch recht diffuse Bild der

dung von gesellschaftlicher Öffentlichkeit lie-

Piratenfraktionen ist zudem einer fehlenden

ße sich allenfalls der Einbezug der Parteibasis

strategischen Kommunikation geschuldet. Die

ansehen, was in Berlin unter anderem über das

Piratenfraktionen gehen in aller Regel nur zag-

System LiquidFeedback erfolgt, wo sämtliche

haft auf gesellschaftliche Großgruppen zu und

Anträge im Abgeordnetenhaus mit Stimmungs-

Maue Basis-

orientieren einen nicht geringen Teil ihrer Öf-

bildern versehen werden. Doch die Beteili-

beteiligung

fentlichkeitsarbeit in erster Linie auf die eige-

gungsquoten sind auch in Berlin keineswegs

ne Parteibasis. Wenn überhaupt, wird eher zu-

besser als im bundesweiten LiquidFeedback. In

fällig im Rahmen von Anträgen, Gesetzentwür-

der Regel stimmen gegenwärtig nur 50 bis 150

fen oder fachlichen Zuständigkeiten mit gesell-

der insgesamt 3800 Berliner Piraten mit ab.

79


D IE P IRATENPARTEI

9. Fazit

Drei Erfolgsquellen

Selten hat eine neue Partei in Deutschland so

Rechtsstaats. Im ersten Falle haben die Mög-

viel Furore gemacht wie die Piratenpartei wäh-

lichkeiten der verlustfreien Duplizierung von

rend ihres fulminanten Aufstiegs in den Jahren

Werken und ihrer vereinfachten Veränderung

2009 bis 2012. Eine in Schweden eskalierte po-

oder Weiterverarbeitung die bestehenden In-

litische Auseinandersetzung um die Verletzung

strumente des Schutzes von Urhebern und Ver-

des Urheberrechts beim Austausch von Dateien

wertern vor neue Herausforderungen gestellt.

im Internet brachte auch hierzulande eine klei-

Beim zweiten Komplex geht es um einen politi-

ne Gruppe von Netzaktivisten, IT-Fachleuten

schen Konflikt, der seine Wurzeln in der Ausei-

und politisch Unzufriedenen mit dem Ziel zu-

nandersetzung um die Volkszählung in den

sammen, eine politische Partei für das Inter-

1980er Jahren hat und der mit der Sicherheits-

netzeitalter zu gründen. Diese bewegte sich

gesetzgebung nach den Anschlägen vom

zunächst im üblichen Schattenfeld nichteta-

11. September 2001 an Aktualität gewonnen

blierter Kleinparteien, bis sie im Rahmen eines

hat. Die Vorstöße zur Ausweitung der Vorrats-

Konflikts um die Regulierung des Internets im

datenspeicherung sowie die konkrete Forde-

Vorfeld der Europawahl 2009 eine gewisse Auf-

rung, den Zugang zu Seiten mit kinderporno-

merksamkeit erreichte. Zwar verpassten die

grafischen Inhalten zu erschweren, wurden

Piraten seinerzeit den Sprung ins Parlament,

dabei zu den Kristallisationspunkten in der po-

wohl aber erhielt die Partei in jenen Jahren Zu-

litischen Debatte.

lauf von jüngeren Aktivisten, die das Erschei-

Der Schutz von Freiheitsrechten des Einzel-

nungsbild und die Inhalte der Partei sukzessive

nen gegenüber staatlichen Eingriffen sowie

veränderten. Auf dieser Grundlage und vor dem

das Recht, Wissen und Informationen weiterzu-

Hintergrund einiger Besonderheiten der Berli-

verwenden, stellten die netzpolitischen Kern-

ner Politik gelang bei den Abgeordnetenhaus-

forderungen der Piratenpartei dar. Damit ge-

wahlen im Herbst 2011 ein Coup: Die Piraten

lang es ihr schon 2009, sich als digitale Bürger-

zogen erstmals in ein Landesparlament ein und

rechtspartei zu profilieren. Doch obwohl sie in

enterten in der Folge drei weitere Parlamente.

dieser Phase ihren Bekanntheitsgrad erhöhte,

Zugleich wuchs die Partei zum zweiten Mal

wachsende Mitgliederzahlen aufwies und ers-

sprunghaft an. Dieser Aufstieg der Piratenpar-

te Wahlerfolge verzeichnete, verfehlte sie

tei speiste sich aus drei schon seit einigen Jah-

seinerzeit wie auch in den folgenden beiden

ren sprudelnden Quellen: Netzpolitik, Internet-

Jahren bei allen anstehenden Wahlen deutlich

kommunikation und einer latenten politischen

den Sprung in die Parlamente.

Unzufriedenheit.

80

Befördert durch die Wahlen im Jahr 2009,

Die politischen Debatten zur ersten dieser

wurden die Piraten zur mitgliedergrößten der

Quellen, der Netzpolitik, fokussieren sich vor

nicht im Bundestag vertretenen Parteien; ihre

allem auf zwei Regelungskomplexe: das Urhe-

Mitgliedschaft war ausgesprochen jung und

berrecht und die Entwicklung des liberalen

agil. Deswegen besaß die Partei einen direk-


F AZIT

ten und authentischen Zugang zur modernen,

zeugung, dass es vernünftige, logische, sinn-

digitalen Kommunikation, ihrer zweiten Er-

volle oder auch zwangsläufige Antworten gäbe,

folgsquelle. So sind die Piraten mit vielen der

wenn nur allen relevanten Informationen ver-

historischen und gegenwärtigen Verfahrens-

fügbar seien. Zahlenmäßig ist die Gruppe je-

weisen, Kommunikationsformen, kulturellen

ner, die derart umfänglich im Internet aktiv

Codes und Ausdrucksformen im Internet ver-

sind und auch die Zeit haben, die großen Infor-

traut, was ihnen den Zugang zum kommunikati-

mationsmengen angemessen zu verarbeiten,

ven Dasein ihrer vorwiegend jüngeren Wähler

recht gering. Allerdings sind deren kommuni-

erleichtert. Dazu gehören die Nutzung bidirek-

kative Fähigkeiten überaus nützlich, um unkon-

Netzkulturelle

tionaler (d. h. in zwei Richtungen funktionie-

ventionelle Kommunikationskanäle zu er-

Prägung

render) und damit interaktiver Kommunika-

schließen. Soweit sich diese Aktivisten nicht in

tionskanäle ebenso wie die ständige Bereit-

einem selbstreferenziellen Umfeld bewegen –

schaft, Informationen auszutauschen und auf-

wozu es in der Netzkommunikation eine latente

zunehmen. Organisationskulturell sind die

Neigung gibt –, stellen sie kommunikative Ker-

Hierarchiefreiheit und das Prinzip der Selbst-

ne dar, die weit in die Gesellschaft hineinrei-

organisation von zentraler Bedeutung. Tech-

chen. Schließlich ist abseits der intensiven

nikbejahend, ja technikbegeistert, nutzt man

Nutzer das Gros der Bevölkerung in der einen

alle Tools, jedwede Software und jedes Instru-

oder anderen Form häufig online und trifft dort

ment, die einem das Internet bereitstellt. Tech-

mehr oder minder zwangsläufig auf diese Akti-

nologische Kompetenz und Erfahrung strahlen

visten. Die Anwender- und Programmierungs-

auf die Organisationsstruktur der Piraten aus.

kompetenzen der ehrenamtlichen Mitglieder

Zwar ist ihr organisatorischer Aufbau auch aus

kompensieren das Fehlen hauptamtlicher

Gründen parteirechtlicher Vorgaben in vieler-

Strukturen. Hieran zeigt sich, welch immenses

lei Hinsicht konventionell, doch ist er verwo-

Potenzial zur politischen Mobilisierung im In-

ben mit umfänglichen digitalen Kommunika-

ternet vorhanden ist und dass dies von den eta-

tionsweisen und bezieht die spezifische kolla-

blierten Parteien bislang kaum genutzt wird.

borative Arbeitsweise im Internet auf innovati-

Trotzdem bleiben die Piraten nur sehr be-

ve Weise stark in die Arbeit der Partei mit ein,

grenzt handlungs- und ausstrahlungsfähig.

etwa durch die parteieigenen Kommunika-

Zum einen lässt sich das Kommunikationsge-

tionstools wie dem Piratenwiki oder Liquid-

wirr der Piratenpartei mit unzähligen Mailing-

Feedback oder durch Nutzung sozialer Netzwer-

listen und Blogs, den kommunikativen Aktivitä-

ke wie Facebook oder Twitter.

ten bei Twitter, den konkurrierenden Mei-

Auch die inhaltliche Arbeitsweise der Par-

nungsfindungstools, den verschiedenen Pod-

tei ist dadurch geprägt. Die Mitglieder entwi-

cast- und Webzeitungsangeboten kaum über-

ckeln programmatische Antworten auf themati-

blicken. Um halbwegs systematisch einzelnen

sche Herausforderungen oftmals in der Über-

Debatten zu folgen, bedarf es erheblicher Zeit-

81


D IE P IRATENPARTEI

ressourcen und einer ausgeklügelten Strate-

„Generation Praktikum“ sowie gewerkschaft-

gie, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen.

lich gebundene Arbeiter entdeckten in den Pi-

Der fortschreitenden innerparteilichen Diffe-

raten eine Alternative zu den etablierten Par-

renzierung und Aktivität stehen seit geraumer

teien.

Zeit personelle Kontroversen, misslungene

Die durch den Berliner Erfolg ausgelöste

Parteitage und fortwährender Streit entgegen,

bundesweite Aufmerksamkeit beflügelte die

die das Bild der Partei in der Öffentlichkeit

Aktivisten, führte den Piraten neue Mitglieder

stark prägen. Die nautischen Begriffe, eigen-

zu und ermöglichte den Sprung über die Sperr-

tümlichen Rituale, die komplizierten Wahlver-

klausel im Saarland, in Schleswig-Holstein und

fahren und die Verschrobenheit einiger Cha-

in Nordrhein-Westfalen. Auch hier zog sie all

raktere der Partei wirken eher exkludierend

jene an, die sich nicht oder nicht mehr von den

und abschreckend.

etablierten Parteien vertreten fühlten und die

All diese recht spezifischen Eigenschaften

zugleich die Wahl einer originären Protestpar-

der Piraten waren für die Parteientwicklung je-

tei am linken oder rechten Flügel des Parteien-

doch nicht immer hinderlich. Gerade im Berli-

systems bewusst ablehnten. Die Umfragen ver-

ner Wahlkampf stellten sie durchaus noch eine

hießen der Partei deswegen eine glänzende

Stärke dar, trafen sie in der netzaffinen Haupt-

Zukunft. Auf zweistellige Resultate taxierten

stadt doch auf einen entsprechenden Reso-

alle Meinungsforschungsinstitute sie im Früh-

nanzraum. So war es nicht verwunderlich, dass

jahr 2012. Die Mitgliederzahlen verdreifachten

den Piraten 2011 gerade dort ihr Durchbruch

sich nochmals binnen Jahresfrist. Strukturen

gelang. Und mehr noch: Die Erweiterung des

konnten weiter konsolidiert werden. Die Me-

Programms um gesellschaftspolitische The-

dien und gerade die Gruppe vornehmlich jün-

men, wie sie im Berliner Landesverband exem-

gerer Online-Journalisten begleiteten den Auf-

plarisch und erfolgreich erprobt wurden, er-

stieg der Partei in dieser Phase mit einem ge-

schloss den Piraten weitere wichtige Potenzia-

wissen Wohlwollen.

le. Mit einem bunten Sammelsurium plakativer

Die Piraten nährten unterdessen eine Reihe

Forderungen gelang es dort, gleichermaßen

von politischen Hoffnungen in Bezug auf eine

ein linksliberales wie auch ein urban-alternati-

andere, erneuerte Demokratie. Sie kokettier-

ves Milieu anzusprechen. Zugleich erhielten

ten mit einem umfänglichen Transparenzver-

sie durch die erhöhte mediale Präsenz Zugang

sprechen. Es war dabei in Wahlauseinander-

Zugang zur

zu einer bunten Protestwählerschaft, ihrer drit-

setzungen zweitrangig, dass dieses im parla-

Protestwählerschaft

ten Quelle. Die Piraten an Spree und Havel

mentarischen Alltag schwerlich einzulösen, ja

sammelten so erstmals eine insgesamt unzu-

möglicherweise auch kontraproduktiv sein

friedene Wählerklientel ein, die für die folgen-

kann. Schließlich sind die Vorurteile in der

den Wahlerfolge der Partei elementar war: Jun-

Wählerschaft gegenüber der politischen Klas-

ge Männer, Arbeitslose, aber auch Teile der

se immens. So bemängeln viele Bürger die

82


F AZIT

Nachvollziehbarkeit komplexer Entscheidun-

sich in politischen Grundsatz- wie Detailfragen

gen, verstehen die im Mehrebenensystem nicht

konkret zu verorten. Mit der zunehmenden Grö-

immer logischen Kompromisse nicht und wäh-

ße sind die innerparteilichen Prozesse kompli-

nen als Motiv hinter manchen Entscheidungen

zierter geworden. So ist die Partei politisch

Eigennutzen von Politikern oder schwer kon-

inzwischen vielfältiger und keineswegs mehr

trollierbaren Lobbygruppen. Die Aussicht auf

nur netzpolitisch ausgerichtet. Doch jenseits

Transparenz erscheint da wie eine logische Re-

der prononcierten Forderung für ein bedin-

aktion und wirkt verheißungsvoll, wenngleich

gungsloses Grundeinkommen, dem Plädoyer

sie latent populistisch bleibt.

für ein humanistisches Menschenbild in der

Ähnliches lässt sich über die basisdemo-

Wirtschaftspolitik oder der plakativen Forde-

kratischen Ideen der Piratenpartei sagen. Sie

rung nach fahrscheinlosem Nahverkehr man-

greifen idealisierte und in Teilen naive Vorstel-

gelt es den Piraten vielfach an detaillierten

lungen einer attischen Demokratie auf und sug-

Konzepten, wie sie ihre Forderungen umsetzen

gerieren, dass diese durch die technologischen

oder konkretisieren wollen. Auch einige wich-

Möglichkeiten des Internets nun erstmals auf

tige Richtungsentscheidungen sind bis heute

komplexe Gesellschaften anwendbar würde.

offengeblieben. Sozial-, Renten-, Außen- oder

Gerade vor dem Hintergrund der gestiegenen

Wirtschaftspolitik sind selbst auf der Ebene des

Partizipationsbereitschaft in der Bevölkerung

Grundsatzprogramms weitgehend ungeklärt.

fallen solche Forderungen auf fruchtbaren Bo-

Die parteipolitische Selbstverortung als sozi-

den. Natürlich blenden die Piraten dabei die

alliberale Kraft stellt sich weiterhin als Bauch-

geradezu klassischen Probleme der plebiszitä-

gefühl heraus, das bislang mit nur wenig Sub-

ren Demokratie aus. Die jakobinische Versu-

stanz angereichert worden ist. Nichtsdestowe-

chung, Minderheiten zu majorisieren, die man-

niger gibt es natürlich ideologische Grundla-

gelnde Verantwortung von Entscheidern oder

gen. Die Übernahme von Elementen der Hacker-

die soziale Selektivität von plebiszitären Ent-

ethik, die Bezugnahme auf das Konzept der

scheidungen sind unverändert gewichtige Pro-

Gemeingüter, das Plädoyer für Netzneutralität

bleme.

und ein liberales Staatsverständnis sind in den

Neben den strukturellen Problemen der Pi-

Forderungen zweifelsohne erkennbar, wenn-

Politische

raten gibt es gegenwärtig einige Schwierigkei-

gleich die textliche Niederlegung dieser Posi-

Wachstumsschmerzen

ten, die sich aus dem Wachstum ihrer Organi-

tionen den Piraten Mühe bereitet. Auf den Par-

sation ergeben haben: Die Partei hat program-

teitagen wird dieses Unbehagen schnell sicht-

matisch nur in wenigen Fällen mehr Substanz

bar und steht gegenwärtig auch einer stringen-

gewonnen. Zwar debattiert sie in fast allen Po-

ten Programmdebatte entgegen.

litikfeldern und zeigt erste Ansätze einer pro-

Dass sich dieses Problem nicht lösen lässt,

grammatischen Erweiterung. Jedoch fällt es ihr

hängt mit dem Fehlen einer klaren innerpartei-

und vor allem ihren Repräsentanten schwer,

lichen Aushandlungsebene zusammen. Paral-

83


D IE P IRATENPARTEI

Vorzüge der Unprofessionalität

84

leles Arbeiten und gegenläufige Aktivitäten

Eingreifen mit funktionalen Argumenten in De-

der Mitglieder in einer der zahlreichen Arbeits-

batten wird die Partei unmerklich, aber doch

gemeinschaften sind strukturell gewollt, füh-

entscheidend beeinflusst. Längst läuft die Par-

ren jedoch zu Ressourcenverschwendung. Die

teiorganisation überdies Gefahr, dass die Unter-

Basispartizipation vollzieht sich oft ungelenkt

schiede zwischen schwächeren und stärkeren

und entfaltet mitunter auch selbstzerstöreri-

Regionen vertieft werden.

sche Potenziale. Gerade dann, wenn das Prin-

Für eine dieser Entwicklung entgegenwir-

zip der Selbstermächtigung des Einzelnen in

kende Professionalisierung fehlt es der Partei

einen Gegensatz zu bereits niedergelegten

jedoch insbesondere an finanziellen Ressour-

programmatischen Zielen gerät, schwillt die

cen. Auch die parlamentarische Arbeit der Par-

innerparteiliche Erregung rasch an. Das fol-

tei löst bislang nicht das Versprechen ein, die

gende kommunikative Gewitter in den sozialen

Dinge wirklich zu verändern. Die neuen Parla-

Netzwerken, in Blogs oder Foren dringt seit den

mentarier und Mandatsträger auf kommunaler

Wahlerfolgen und aufgrund der vollkommenen

Ebene sind bislang noch damit beschäftigt,

Transparenz der Partei rasch nach außen, wo

Strukturen aufzubauen. Sie müssen sich viel-

es medial verstärkt wird. Innerparteiliche Mei-

fach in unbekannte und dazu noch reichlich

nungsverschiedenheiten schaukeln sich so zu

komplexe Materie einarbeiten und werden

erbitterten persönlichen Auseinandersetzun-

davon infolge ihres Erfahrungsmangels über-

gen hoch und lassen sich nur schwer begren-

fordert. Zusätzlich müssen sie ihre oftmals un-

zen. Besonders bedenklich ist, dass diese Form

ter Zeitdruck zu treffenden Entscheidungen für

des Umgangs auch dazu führt, dass in der Mit-

die notorisch kritische Parteibasis aufbereiten.

gliedschaft und auf Funktionärsebene Frauen

Diese lauert wie auch die Medienberichterstat-

massiv unterrepräsentiert sind. Die von den Pi-

ter geradezu auf Fehler der Verantwortlichen;

raten gepflegte Chiffre, postgender zu sein

kleinere und größere Skandale werden schnell

(also Geschlechterunterschiede bereits über-

aufgebauscht. So gestaltet sich die Einbezie-

wunden zu haben), erweist sich im Lichte des-

hung der Parteibasis bei parlamentarischen

sen allzu oft als Rechtfertigungsstrategie.

Prozessen als noch nicht ausgereift.

Eine weitere Kehrseite der mangelnden

Über lange Zeit ist es der Piratenpartei ge-

Struktur und Hierarchie in der Partei ist auch die

lungen, ihre Mängel charmant als Andersartig-

sukzessive Ausbildung einer informellen Macht-

keit zu vermarkten. Ja, die Piraten haben einen

hierarchie. Speziell die Fraktionen und einzel-

Imagegewinn daraus generieren können, dass

ne herausgehobene Mitglieder gewinnen mit ei-

sie in der Tat anders sind als die etablierten

nem Mal eine erhebliche Deutungsmacht im Hin-

Parteien. Dadurch konnten sie Projektionsflä-

blick auf die Weiterentwicklung der Partei. Über

che für unbefriedigte, zum Teil untereinander

die Besetzung von Versammlungsämtern, Wahl-

widersprüchliche politische Bedürfnisse blei-

leitungen und nicht zuletzt durch das situative

ben. Darüber gelang es ihnen, eine Zeit lang


F AZIT

jene Protestwähler an sich zu binden, die ihnen

kaum noch mit ihren damaligen Anliegen. Auch

in der ersten Jahreshälfte 2012 zugelaufen wa-

außenstehende Netzaktivisten kritisieren eine

ren. Spätestens seit dem Sommer 2012 kom-

fehlende thematische Weiterentwicklung und

men allerdings zunehmend die Nachteile der

Agilität. Zugleich haben alle anderen Parteien

Parteiorganisation zum Vorschein. Der erhebli-

netzpolitische Kompetenzen aufgebaut und

che Verschleiß beim Führungspersonal, die In-

diese zum Teil wirksamer in die gesellschaftli-

effizienz der Basispartizipation, die Unprofes-

che Debatte eingespeist als die Piraten. Diese

sionalität im öffentlichen Auftritt und nicht

vermögen indessen abseits der Parteitage kei-

zuletzt die Mühen, die politische Alltagsarbeit

ne Klärung von Positionen zu erreichen, mit der

abseits von Wahlkämpfen durch eine Themen-

Folge, dass ein seit Jahren schwelender Kon-

und Strategieplanung zu gestalten, stellen sich

flikt um die Nutzung von LiquidFeedback als ei-

als grundlegende Probleme der Partei dar.

nes orts- und zeitunabhängigen Entscheidungs-

Auch deswegen bröckeln die Zustimmungswer-

tools wieder an Schärfe gewinnt. So verstärkt

te langsam, aber stetig. Personalquerelen,

sich in der Öffentlichkeit der Eindruck, die Pi-

Schwierigkeiten des niedersächsischen Lan-

raten befassten sich in erster Linie mit sich

desverbands bei der Kandidatenaufstellung

selbst und mit parteiinternen Verfahrenswei-

und Kommunikationsprobleme der Landtags-

sen, legten es aber keineswegs auf einen in-

fraktionen haben das Image der Piraten in der

klusiven gesellschaftlichen Dialog an. Selten

Öffentlichkeit beeinträchtigt. In der Zwischen-

gelingt es der Piratenpartei, in laufende gesell-

zeit behindern die selbst aufgestellten Regeln

schaftliche Debatten wirksam einzugreifen,

ein Stück weit eine wirksame Kommunikation

gar die politische Agenda zu beeinflussen oder

und Vernetzung der Partei. Durch die affektive

zu steuern. Im besten Falle reagiert sie auf lau-

Ablehnung von Lobbyismus steht man der insti-

fende Diskussionen, doch vielfach erst verzö-

tutionalisierten Kommunikation mit gesell-

gert und dann kaum wahrnehmbar.

schaftlichen Großgruppen reserviert gegen-

Mit dem Scheitern bei der niedersächsi-

über und sucht selten selbst den Diskurs mit

schen Landtagswahl im Januar 2013 scheint der

ihnen, aus Angst korrumpiert zu werden.

Hype um die Piratenpartei nun vorerst vorbei zu

So verflog der im Wahlkampf entstandene

sein. In den Parteizentralen der im Bundestag

Reiz, und die Protestwähler begannen sich von

vertretenen Parteien bereitet man sich auf die

der Partei abzuwenden. Parallel dazu gingen

Bundestagswahl vor und meint, sich nicht mehr

auch die einstigen Kerngruppen der Piraten

allzu intensiv um den neuen politischen Mit-

Stück für Stück auf Distanz. In dem Maße, wie

bewerber kümmern zu müssen. Das verein-

die Partei ihre so ertragreiche dritte Quelle, die

facht die Strategiebildung: Rot-Grün versus

Protestwähler, anzapfte, versiegte nämlich

Schwarz-Gelb und dazwischen allein die Linke

ihre erste. Gerade einige Piraten der ersten

als Joker im Spiel, der politische Kalküle

Stunde bemängeln, die Partei beschäftige sich

durcheinanderbringen kann; daneben allen-

Abwärtsspiralen

85


D IE P IRATENPARTEI

falls noch die Möglichkeit einer Großen Koali-

„Filter Bubble“ (Pariser 2012: 678) geraten

tion. Vielfach scheinen sich Politik und Medien

sind: Jenseits der Aktivitäten ihrer Partei neh-

wieder auf den Status quo ante Piraten einzu-

men sie Politik und Gesellschaft kaum noch

stellen. Doch möglicherweise greift diese

wahr, was insbesondere im niedersächsischen

Rechnung zu kurz, denn ein Potenzial ist ein-

Wahlkampf zu einem Problem wurde, in dem

deutig vorhanden.

Materialien, Aktionen und Veranstaltungen

Schließlich haben die Piraten in vier sehr

stark auf die Kernklientel zugeschnitten wa-

unterschiedlich strukturierten Bundesländern

ren. Ähnliche Probleme zeichnen sich bei den

den Sprung über die Sperrklausel geschafft und

Vorbereitungen der Partei auf die Bundestags-

erzielten zwischenzeitlich zweistellige Umfra-

wahl ab. Der Blick vieler Mitglieder verengt

gewerte auf Bundesebene. Sie hatten empirisch

sich mittlerweile auf die Binnenperspektive ih-

bewiesen, dass es reale Perspektiven für eine

rer Partei, und sie haben die Fähigkeit zur au-

Partei ihrer Art gibt. Insbesondere die dritte

thentischen und unkonventionellen politischen

Quelle, die gesellschaftliche Unzufriedenheit,

Kommunikation deutlich eingebüßt.

hat die Piraten ja bei Wahlen stark werden las-

Die Geschichte der bundesdeutschen Par-

sen. Ihre Ergebnisse sind einerseits ein Resultat

teienlandschaft lehrt indes, dass Parteien im

der Beliebigkeit und Flexibilität der Wähler,

Wege ihrer Etablierung und Konsolidierung

andererseits sind sie auch eine Gegenreaktion

Rückschläge hinnehmen müssen, dass sie im

darauf. Die neue Partei kanalisierte die Hoff-

Idealfall daraus lernen und sich verändern.

nungen auf eine konzisere und klarer akzentu-

Eine ausgeprägte Lernbereitschaft ist bei den

ierte Politik. Dass es der Piratenpartei gelungen

Piraten zweifelsohne zu konstatieren. Auch

ist, von allen anderen Parteien Wähler und in

verfügen sie durch die unvermindert junge Par-

einem etwas begrenzteren Umfang auch Mit-

teimitgliedschaft über beachtliche Aktivitäts-

glieder abzuziehen, zeugt jedenfalls davon,

ressourcen. 45 Landtagsabgeordnete, über

dass es offensichtlich die Sehnsucht nach einer

200 Kommunalmandate und die Aussicht, bei

Potenzial

politischen Alternative gibt. Genau dafür haben

der Europawahl durch den Wegfall der Sperr-

bleibt erhalten

die Piraten zumindest zeitweilig eine geeignete

klausel in jedem Fall Mandate erlangen zu kön-

Projektionsfläche geboten. Fraglich ist, ob ihnen

nen, ermöglichen der Partei den Aufbau von

das nochmals gelingt.

Kompetenzen. Einige der Lern-, Veränderungs-

86

Dafür spricht allerdings, dass auch die

und Professionalisierungsprozesse, die schon

zweite Erfolgsquelle weiterhin ertragreich ist.

auf der Ebene der Piratenfraktionen deutlich zu

Schließlich haben die Piraten bewiesen, wel-

erkennen waren, könnten in der kommenden

ches Mobilisierungspotenzial in einer konse-

Zeit auch in die Parteibasis diffundieren und zu

quenten Nutzung des Internets liegt. Zum Pro-

einer Neubestimmung bzw. Konkretisierung

blem ist jedoch geworden, dass die aktiven Pi-

von bislang widersprüchlichen Prinzipien und

raten immer stärker in eine selbstreferenzielle

Zielen führen. Es ist wesentlich für eine Partei,


F AZIT

dass sie in einer gesellschaftlichen Konflikt-

dungen in der bundesdeutschen Geschichte ge-

linie (Cleavage) einen Pol unverwechselbar be-

hen. Ihr vorläufiger Niedergang überdeckt aber

setzt. Die Tatsache, dass die Piratenpartei

sowohl die Potenziale der Partei selbst als auch

bislang kein wirklich genuin neues Cleavage

die in der Mitte der Gesellschaft vorhandene

besetzen kann, muss sich dabei keineswegs

Basis für eine Protestpartei. Die drei Quellen,

negativ auswirken. Sie könnte sich tatsächlich

aus denen heraus die Piraten ihren zwischen-

als liberale oder möglicherweise auch linksli-

zeitlichen Erfolg speisen konnten, sind jedoch

berale Kraft etablieren, wenn zugleich der Nie-

sehr verschieden und nur bedingt miteinander

dergang der FDP anhält und das vorhandene

kompatibel. Die Piraten werden Schwierigkei-

gesellschaftliche Potenzial für eine liberale

ten haben, alle drei Quellen erneut in gleicher

Partei nicht anderweitig absorbiert werden

Weise anzuzapfen. So könnte es sein, dass an-

kann. Das sozialliberale Bauchgefühl der Pira-

dere Parteien diese stärker zu nutzen vermö-

ten und die habituelle Nonkonformität stehen

gen.

den Selbstverortungen der bisherigen FDP-Anhängerschaft allerdings entgegen. Gegenwärtig sieht es aus, als würden die Piraten eher den Weg anderer Parteineugrün-

Für die Piraten bedeutet dies: Ihre weitere

Etablierung schwierig,

Etablierung ist nach wie vor nicht ausgeschlos-

aber nicht

sen, doch sie wird weitaus schwieriger, als es

ausgeschlossen

im Frühjahr 2012 den Anschein hatte.

87


D IE P IRATENPARTEI

Anhang Glossar Unter Mitarbeit von Christopher Schmitz Etherpad, #gate und Kegelklub – die Piratenpartei auf Anhieb zu verstehen ist nicht immer einfach. Sowohl in ihren politischen Forderungen als auch in ihren Organisationsmitteln, ihrer Arbeitsweise und Sprache sind die Piraten oftmals unkonventionell und stark von der Kultur des Internets geprägt. Dies hebt sie einerseits in der Landschaft der deutschen Parteien hervor und ist eine Quelle für Authentizität und Zusammenhalt innerhalb der Partei. Andererseits erschwert es vielen Menschen den Zugang zur Partei. Im Folgenden finden sich einige Erklärungen und Übersetzungen zentraler Begriffe, Abkürzungen und Symbole.

ACTA, SOPA/PIPA Diese Buchstabenkombinationen stehen für verschiedene internationale Gesetzesvorhaben oder Abkommen, die eine stärkere Regulierung der Internetkommunikation vorsahen oder implizierten und daher in die Kritik gerieten. Für Europa ist insbesondere das Anti-Conterfeiting-Trade-Agreement (kurz ACTA) relevant, das sich gegen Produktpiraterie und Urheberrechtsverletzungen richtete und zum Jahreswechsel 2011/2012 eine europaweite Protestbewegung auslöste. Infolgedessen lehnte das EU-Parlament das ACTA-Vorhaben im Juli 2012 ab. Die Piratenpartei hatte bereits in den Jahren zuvor weitgehend erfolglos gegen ACTA demonstriert und auch 2012 die Proteste unterstützt.

Approval Voting Die Piraten greifen für ihre Wahlen auf unterschiedliche Abstimmungsverfahren zurück. Am häufigsten ist das Approval Voting, die sogenannte Akzeptanzwahl. Dabei kann man beliebig vielen Kandidaten jeweils eine Stimme geben. Gewählt ist am Ende derjenige Kandidat mit der höchsten Zustimmung.

Adhocracy

Barcamp

Bei Adhocracy handelt es sich um eine Plattform, welche versucht, die Vorstellungen der Liquid Democracy umzusetzen. Die Software funktioniert ähnlich wie das von den Piraten verwendete LiquidFeedback.

Barcamps stellen ein offenes Konferenzformat dar, dessen Konzept an den Prinzipien von OpenSource-Projekten orientiert ist und das sowohl in der Piratenpartei als auch in der Internetszene weit verbreitet ist. Die Initiatoren von Barcamps sind zumeist nur für organisatorische und konzeptionelle Rahmenelemente verantwortlich, während die Teilnehmer der Konferenz diese in weiten Teilen selbstorganisiert mit Inhalten füllen. Viele Treffen und Konferenzen der Piraten haben den Charakter von Barcamps. An diesen nehmen Mitglieder und Funktionsträger der Partei weitge-

AK Vorratsdatenspeicherung Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung ist ein 2005 entstandener Zusammenschluss von Datenschützern, Bürgerrechtlern und Netzaktivisten. Diese engagierten sich gegen die von der Bundes-

88

regierung geplante Einführung der Vorratsdatenspeicherung und forderten eine Ausweitung von herkömmlichen Bürger- und Freiheitsrechten auf die digitale Sphäre. Aktive aus diesem Spektrum wechselten später in die Piratenpartei. Einige lokale Strukturen des Arbeitskreises scheinen in der Piratenpartei aufgegangen zu sein.


A NHANG

hend gleichberechtigt teil. Ein jährlich stattfindendes Barcamp der Piraten stellt beispielsweise die Konferenz OpenMind dar.

Bit-Torrent-Tracker Bit-Torrent-Tracker sind Plattformen im Internet, die zwischen Nachfrage und Angebot von Dateien mit Musik, Videos oder Computerspielen vermitteln, ohne diese selbst anzubieten. Das Vorgehen der schwedischen Justiz gegen den populären BitTorrent-Tracker The Pirate Bay spielte eine wichtige Rolle für den Aufstieg der schwedischen Piratenpartei, aber auch für die Popularisierung der deutschen Piratenpartei im Jahr 2009.

Blog Der oder das Weblog (kurz Blog) ist eine Art online und öffentlich geführtes Tagebuch. Die Bezeichnung leitet sich aus dem Begriff Logbuch ab. Artikel und multimediale Beiträge, sogenannte Blogposts, erscheinen zumeist in chronologischer Reihenfolge. Die meisten Blogs bieten eine Kommentarfunktion an. Die Inhalte und die in Blogs benutzten Medienformate sind sehr variabel. Dementsprechend umfangreich ist das Themenspektrum der Blogosphäre, also der Gesamtumwelt verschiedenster Blogs. So gibt es Reise-Blogs, Wissenschafts-Blogs, Kunst-Blogs etc. In der Piratenpartei kommunizieren viele Mitglieder und Funktionsträger über Blogs, in denen viele der innerparteilichen Debatten geführt werden.

Chaos Computer Club Der Chaos Computer Club (CCC) ist die größte Hackervereinigung und einer der wichtigsten Bezugspunkte der politischen Internetszene in Deutschland. Seine Mitglieder nehmen immer wieder Stellung zu Aspekten, die mit dem technologischen Wandel und der zunehmenden Digitalisierung der Gesellschaft einhergehen. Die Devise „Öffentliche Daten nutzen, private Daten schützen!“ geht beispielsweise auf den CCC zurück, ebenso das

Konzept einer Kulturwertmark (einer Pflichtabgabe je Internetzugang) zur Reform des Urheberrechts. Auch die Verbannung von Wahlcomputern aus den Wahlkabinen in Deutschland geht maßgeblich auf vom CCC aufgedeckten Sicherheitslücken bei den Geräten zurück. Der CCC ist wie auch der AK Vorratsdatenspeicherung Teil des historischen Vorfelds der Piratenpartei.

Club Mate Club Mate ist ein koffeinhaltiges Brausegetränk, das in der Hackerkultur und anderen digitalkulturellen Kreisen große Popularität genießt. Auch auf Treffen oder in Abgeordnetenbüros von Piraten werden oftmals größere Mengen (leerer) MateFlaschen gesichtet.

Creative Commons Ähnlich wie OpenSource bezeichnet Creative Commons ein alternatives Urheberrechts- und Lizenzsystem, das den Umgang mit Werken vereinfachen soll. Urheber können durch die Wahl des Lizenztyps festlegen, ob und unter welchen Bedingungen ihr Werk verwendet oder weiterverbreitet werden darf. Die Lizenzierungen reichen hierbei von der Kennzeichnung als gemeinfrei über die freie Weitergabe unter Nennung des Urhebers unter der Maßgabe, dass keine Veränderungen am Werk durchgeführt werden dürfen, bis hin zu restriktiven Lizenzen, die eine nichtvergütete Weiterverwendung untersagen. Dadurch soll erreicht werden, dass Urheber selbstbestimmt über die Weiterverwendung ihrer Werke verfügen können und zweckund werkgebundene Lizenzen vergeben können. Die Idee und Praxis von Creative Commons ist innerhalb der Piratenpartei sehr weit verbreitet und stellt den Ausgangspunkt für verschiedene programmatische Debatten um Gemeingüter dar.

Digital Natives Der Begriff geht vermutlich auf einen Essay von Marc Prensky mit dem Titel „Digital Natives, Digital

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Immigrants“ aus dem Jahr 2001 zurück. Dieser behauptet, dass mittlerweile eine Generation herangewachsen sei, die bereits von Kindesbeinen an mit digitaler Technologie, also hauptsächlich Internet und Mobiltelefonen, sozialisiert wurde. Eine solche Generation ginge selbstverständlicher mit diesen Technologien um. Unsicherheiten älterer Kohorten ob der Konfrontation mit einer völlig fremden Technologie und Lebenswelt oder die schrittweise CoEvolution vom analogen ins digitale Zeitalter sind dieser Generation dementsprechend fremd und in Teilen auch unbegreiflich. Die Gruppe der Digital Natives trug in Deutschland wesentlich zum Wachstumsschub der Piratenpartei im Jahr 2009 bei und beförderte einen kulturellen und programmatischen Wandel der Piratenpartei.

Digitales Zeitalter In Abgrenzung zum analogen Zeitalter wird damit die zunehmende Durchdringung gesellschaftlicher Strukturen von digitaler Kommunikation beschrieben. Wann und wie umfangreich der Übergang stattgefunden hat, ist dabei ebenso umstritten wie die Bewertung dieses neuen Zeitalters, die zwischen freudiger Erwartung, Begrüßung, Skepsis und offener Ablehnung changiert. Die Piratenpartei selbst beschreibt sich oftmals als Partei des digitalen Zeitalters. Eine derartige, an sozialwissenschaftliche Theorien zur Wissensgesellschaft erinnernde Perspektive dient innerparteilich vielfach als Reservoir für die eigene Sinngebung und historische Einordnung der Partei.

Fail Ein Fail bezeichnet in der netzkulturellen Kommunikation die negative Bewertung einer Aktion, Aussage oder Tatsache z. B. als Fehlschlag, ein zum Scheitern verurteiltes Vorhaben oder ein offensichtliches Fehlurteil. Die Verwendung dieses Begriffs tritt dabei fast immer in einem abwertenden, spöttischen Kontext auf und ist auch in der Piratenpartei im Rahmen von Kritik an Personen, Handlungen oder Prozessen weit verbreitet.

Filter Bubble

Mit eSport werden Wettkämpfe zwischen Computerspielern bezeichnet, die diese mit sportlichem Ehrgeiz betreiben. Es gibt hier verschiedene Ligen, Turniere, Welt- und Europameisterschaften.

Der Begriff Filter Bubble ist vom Netzaktivisten Eli Pariser in die Debatte eingeführt worden. Er verweist damit auf den Umstand, dass die Internetkommunikation durch die Algorithmen der Suchmaschinen und sozialen Netzwerke so angelegt ist, dass man bevorzugt mit den Personen und Dingen in Verbindung gebracht wird, die den eigenen Interessen und Neigungen entsprechen. Weil dieser Prozess von den Benutzern selbst zumeist nicht wahrgenommen wird, verschiebt sich deren Wahrnehmungshorizont. Sie nehmen nur noch den sie interessierenden und genehmen Teil der Realität wahr und werden nicht mehr mit missliebigen oder gegenläufigen Tendenzen konfrontiert. Durch die ausgedehnte Kommunikation via Internet und durch ihre eigenen Online-Strukturen laufen die Piraten massiv Gefahr, Opfer ihrer Filter Bubble zu werden.

Etherpad

Gate

Etherpads sind Editionsprogramme mit angehängter Chat-Funktion im Internet. Die als eine Art ge-

Ein Gate ist die Bezeichnung für ein Informationsleck oder andere Formen eines politischen Skan-

eSport

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meinschaftlich genutzter Notizbücher fungierenden Pads bieten für Arbeitsprojekte den Vorteil, dass sie von mehreren Personen gleichzeitig benutzt werden können und somit kollaborative Prozesse ermöglichen. In der Piratenpartei werden in Etherpads verschiedenste Formen von Texten produziert.


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dals. Vermutlich wurde der Begriff von der Watergate-Affäre inspiriert, wobei es seiner Verwendung sicherlich entgegenkommt, dass er nicht nur auf einen historischen Moment Bezug nimmt, sondern sich dahinter auch schlicht die englische Bezeichnung „Tür“ verbirgt, durch die man Zugang zu Informationen erhalten kann. Vor allem in der Kommunikation auf Twitter hat es sich eingebürgert, von Medien oder Parteimitgliedern aufgedeckte Skandale mit dem Kürzel #gate zu versehen.

Hacker Hacker bilden sicherlich eine der schillerndsten und ältesten Subkulturen des Internets. Grundsätzlich meint der Begriff Hacker einen Technikenthusiasten. Eine Gemeinsamkeit der verschiedenen Hackerkulturen ist die Suche nach Grenzen und Schwachstellen technischer Systeme sowie Möglichkeiten, diese zu überwinden. Zwar ermöglicht dies einen potenziellen kriminellen Missbrauch der so gewonnenen Kenntnisse, aber zumeist dienen Praktiken von Hackern entweder als Test der eigenen Fähigkeiten oder einem aus Hackersicht definierten Begriff des Gemeinwohls. Entgegen der landläufigen Auffassung bezeichnet der Begriff des „Hackers“ demnach keine Personen mit hoher krimineller Energie, die in Computernetzwerke einbrechen, um sich zu bereichern oder der eigenen Zerstörungswut freien Lauf zu lassen. Solche Leute werden innerhalb der Hackerszene als „Cracker“ bezeichnet. Die historische Entwicklung der Hackerkultur, vor allem in ihren politischen Ausformungen, stellt eine zentrale Grundlage der Ideen- und Symbolwelt der Piratenpartei dar und bietet für viele Mitglieder einen ideologischen Überbau, auf den maßgebliche programmatische Einflüsse zurückgehen.

Hackerspace Dieser Begriff bezeichnet Räume, in denen sich Hacker und andere an Wissenschaft, Technologie oder digitaler Kultur Interessierte treffen, sich aus-

tauschen und gemeinsam Projekten nachgehen. Ein bekannter deutscher Hackerspace stellt der Berliner Club C-Base dar, wo 2006 die Piratenpartei gegründet wurde.

Hashtag Hashtags stellen eine verbreitete Praktik im Mikrobloggingdienst (Dienst zum Versenden von Kurznachrichten mit begrenzter Zeichenanzahl ähnlich wie bei SMS) Twitter dar. Sie ermöglichen eine Verschlagwortung der eigenen Beiträge, indem Begriffen oder Wendungen das Rautenzeichen (#) vorangestellt wird. Sie dienen dazu, die einzelnen Nachrichten (sogenannte Tweets) zu sortieren, da Beiträge mit identischem Hashtag einfacher aufgefunden werden können und so eine Diskussion oder ein Meinungsaustausch unter einem eigenen Oberbegriff strukturiert werden kann. Hashtags selbst können zu Symbolen für bestimmte Debatten oder Protesthaltungen werden. So avancierte im Vorfeld des ersten politischen Durchbruchs der Piratenpartei im Sommer 2009 das Twitter-Schlagwort #zensursula, zum Symbol der Protestbewegung gegen das Zugangserschwerungsgesetz.

Internetkultur Die Internetkultur bezeichnet ein Konglomerat von Werten, Einstellungen und Codes, die typisch für die Kommunikation im Internet sind. Ausfluss dessen sind zahlreiche Subkulturen, die sich mehr oder weniger stark voneinander unterscheiden. Allen gemein ist der ursprünglich starke Einfluss wissenschaftlicher Prinzipen, da die ersten dreißig Jahre der Internetentwicklung vielfach im universitären Umfeld stattfanden. Dadurch ist die Internetkultur einerseits von einer kollaborativen, emanzipatorischen und offenen Kommunikationskultur, andererseits aber auch von einer libertärmeritokratischen Grundhaltung geprägt, die in der Netzkultur eine eigenwillige Symbiose eingehen. Ausdruck findet das in Arbeitsweisen ebenso wie in Symboliken, Begrifflichkeiten und Ähnlichem. Vieles davon ist in die Piratenpartei eingegangen.

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JuPis

Liquid Democracy

JuPis ist die Abkürzung für Junge Piraten, die Jugendorganisation der Piraten, welche als selbstständiger Verein organisiert ist.

Liquid Democracy ist eine demokratietheoretische Konzeption, welche die Grenzen zwischen repräsentativer und direkter Demokratie aufzulösen und deren Merkmale zu vermischen sucht. Während in der repräsentativen Demokratie die Differenz zwischen denjenigen, die Entscheidungen treffen (Agenten), und jenen, die sie dazu beauftragt haben (Prinzipale), konstitutiv ist, versucht Liquid Democracy diese Trennung zu vermindern und im besten Falle aufzuheben. Somit wird den Teilnehmern einer solchen Demokratie die Möglichkeit eröffnet, über konkrete politische Entscheidungen direkt mitzubestimmen oder ihre Stimme weitergeben zu können. Im Unterschied zur plebiszitären Demokratie wird bei Liquid Democracy durch die Einbindung von digitaler Kommunikation versucht, flexibel Aushandlungsebenen und Rückkoppelungsformen zu finden. Verfechter der Liquid Democracy erhoffen sich davon, dass wie in der attischen Demokratie die Bürger ihre Anliegen selbst wahrnehmen und zugleich der in Demokratien essenzielle Diskurs auch in der Großgesellschaft möglich bleibt. Kritiker verweisen auf die Selektivität der Verfahren und bemängeln die geringe Inklusionsleistung von aufwendigen Partizipationsweisen. Ein besonderer Kritikpunkt stellt dabei die verwendete Software dar. Die Piratenpartei setzt hier auf das System LiquidFeedback.

Kandidatengrillen Mit Kandidatengrillen wird das Befragungsritual beschrieben, das die Piraten im Vorfeld einer Wahl anwenden. Dabei werden die Bewerber für ein Amt ausgiebig nach politischen Positionen, Vorlieben und persönlichen Vorstellungen über das Amt oder vorherige politische Erfahrungen befragt.

Kegelklub Der Kegelklub ist eine lose parteiinterne Vereinigung, in der sich vor allem weibliche Mitglieder der Piraten aus dem Landesverband Berlin zusammengeschlossen haben. Der Kegelklub widmet sich schwerpunktmäßig geschlechterpolitischen Fragen und hat u. a. mehrere Mitgliederstudien erstellt. Die Positionen des Kegelklubs sind sowohl durch feministische Sichtweisen als auch durch die Postgender-Perspektive geprägt.

LAN-Party LAN-Parties sind Treffen, bei denen mehrere Computerspieler über die in einem Netzwerk zusammengeschalteten Rechner gegeneinander Wettkämpfe austragen.

LiquidFeedback LimeSurvey LimeSurvey ist ein Tool zur Erhebung von Umfragen im Internet. Die Piraten setzen in einigen Landesverbänden diese Software ein, um kurzzeitig Stimmungsbilder in der Partei zu erheben. Auch eine bundesweite Befragung zur Organisation des Bundesparteitags 2013 wurde über LimeSurvey abgehalten.

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LiquidFeedback ist der Name einer internetbasierten Diskussions-, Meinungsbildungs- und Abstimmungssoftware, die sich am demokratietheoretischen Konzept der Liquid Democracy orientiert. LiquidFeedback ist in der Piratenpartei ebenso verbreitet wie umstritten und genießt bislang nur in wenigen Landesverbänden Satzungsrang. Nach Meinung vieler Befürworter des Systems bietet die Institutionalisierung von LiquidFeedback die Möglichkeit, das von der Partei angestrebte Ideal einer umfassenden Basispartizipation praktisch zu rea-


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lisieren, indem die Parteibasis dauerhaft, verbindlich und flexibel an politischen Entscheidungen teilhaben kann. LiquidFeedback wird bereits von einigen Mandatsträgern und Fraktionen der Piratenpartei eingesetzt, um die Parteimitglieder bei ihrer politischen Entscheidungsfindung miteinzubeziehen. Ein Vorteil des Systems besteht darin, demokratische Prozesse zeitlich, örtlich und thematisch zu flexibilisieren. Die Kritik am System selbst macht sich vor allem an technischen Mängeln und Defiziten in der Bedienbarkeit fest. Andererseits wird immer wieder der nicht aufzulösende Widerspruch zwischen dem Anspruch auf geheime Wahl und dem Ziel der Verbindlichkeit und Manipulationskontrolle ins Feld geführt.

Mailinglisten Mailinglisten sind ein eher klassisches Instrument der Internetkommunikation und können grundsätzlich als thematisch gegliederte elektronische Kettenbriefe beschrieben werden. Jede über die Liste verschickte Mail wird von allen Personen, die jene spezifische Liste abonniert haben, empfangen. Umgekehrt ist es damit auch jeder Person möglich, eine Nachricht über die Liste zu verschicken. Ein großer Teil der Kommunikation in der Piratenpartei vollzieht sich auf den Mailinglisten, die zudem als Instrument der Informationsverteilung genutzt werden. Jede Gliederungsebene und jeder Arbeitszusammenhang verfügt in der Regel über eine Mailingliste.

Mem Mem (Pl. Meme) ist ein internetspezifischer Begriff für einen sehr bekannten, klassischen, archetypischen oder auch nur in seiner Art sehr originellen Inhalt, der aufgrund dieser spezifischen Eigenschaft denkwürdig und ausreichend bekannt ist. Die genaue Form dieses Inhalts ist dabei ebenso wenig festgelegt wie die genauen Anforderungen, die nötig sind, damit ein Inhalt zum Mem wird. Ein bekanntes Mem ist beispielsweise „Where the hell is Matt?“ Die Videos des Amerikaners Matt Har-

ding, der an den verschiedensten Orten der Welt den gleichen Tanz tanzte, wurden millionenfach aufgerufen. Da Bekanntheit relativ ist je nach Größe der Gruppe, für die ein Inhalt produziert wird, ist die Bedeutung oder sinnstiftende bzw. prägende Wirkung eines Inhalts von außen nur sehr schwierig zu erfassen. Vielfach sind Meme auch einfach nur geflügelte Worte oder Aphorismen, die vor allem in Netzkreisen eine hohe Popularität genießen. Aktuelle oder klassische Meme sind vielfach Teil der innerparteilichen Kommunikation der Piraten.

Microbloggingdienste Siehe Twitter

Mumble Mumble ist ein Programm, das für Chats benutzt werden kann. Hauptsächlich genutzt wird es jedoch für Gesprächskonferenzen via Internet. Mumble ist eine unter OpenSource-Lizenz vertriebene Kommunikationssoftware und erfüllt im Grunde die gleichen Aufgaben wie die weit bekanntere Alternative Skype. Die zahlreichen Arbeitsgemeinschaften, Vorstände oder Arbeitszusammenhänge in der Piratenpartei nutzen Mumble, um ihre Sitzungen abzuhalten.

My little Pony Eine seit den 1980er Jahren populäre amerikanische Serie mit animierten Spielzeugponys, die seit einigen Jahren im Internet eine hohe Popularität gewonnen hat. Sie ist dort Teil der Internetkultur, ein sogenanntes Mem. Die Berliner Piraten haben in die Geschäftsordnung ihres Landesparteitags eine Regelung aufgenommen, dass eine Folge der Serie auf Antrag abgespielt werden kann. Dies wird angewandt, um hoch aufwallende Debatten zu befrieden.

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Netzaktivisten Dieser Begriff bezeichnet diejenigen, die sich für Bürgerrechte im Internet einsetzen sowie jene, die das Internet nutzen, um ihre politischen Debatten und Ziele zu verbreiten.

Nerd Gemeinhin werden mit diesem Begriff Männer bezeichnet, denen ein Set von stereotypen Eigenschaften zugeschrieben wird: Interessen im Bereich der naturwissenschaftlich-technischen Fächer, hohe Kompetenz im Bereich der Computerund Informationstechnik, die jedoch zulasten der Sozialkompetenz gehen. Ursprünglich in einem diffamierenden Sinne gebraucht, entfaltet der Begriff „Nerd“ seit einigen Jahren eine Art popkulturellen Siegeszugs, seitdem stereotype Merkmale, wie die große rechteckige Hornbrille, salonfähige Modeaccessoires oder Fernsehserien wie „The BigBang-Theory“ zum Bestandteil der Populärkultur wurden. Analog zu diesem Prozess wurde der Aufstieg der Piratenpartei als politischer Siegeszug der Nerds beschreiben. Nicht wenige Piraten beziehen sich mit einer gewissen Ironie auf den Begriff Nerd, um ihre ambivalente Rolle zwischen Sub- und Populärkultur zu verorten.

OpenMind Die OpenMind ist eine jährlich von den Piraten ausgetragene Konferenz, auf der vor allem neue Ideen und inhaltliche Impulse für die politische Arbeit gesammelt werden. Auch werden dort strategische Debatten und innerparteiliche Vernetzungsprozesse vorangetrieben. Die OpenMind findet in der zweiten Jahreshälfte in Kassel statt und wird in Form eines Barcamps organisiert.

OpenSource Der Ausdruck OpenSource bezieht sich auf ein Softwareprojekt, das einen speziellen urheberrechtlichen und organisatorisch offenen Status

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aufweist. Softwareprogramme werden hier mittels offener Lizenzen zur freien Verfügung ins Netz gestellt. Damit werden diese zur Bearbeitung und Verbesserung durch interessierte, engagierte und qualifizierte Personen freigegeben. Die freie Enzyklopädie Wikipedia folgt ebenso dem OpenSourcePrinzip wie das Betriebssystem Linux. Im Umfeld derartiger Projekte hatte sich in den letzten Jahrzehnten eine soziale Szene entwickelt, die als historisches Vorfeld für die Entstehung der Piratenpartei und deren gesellschaftliche Verankerung zu betrachten ist. Auch die Organisationsstrukturen und -kultur der Piratenpartei selbst sind stark von der Idee und den Erfahrungen vieler Piraten in OpenSource-Projekten geprägt.

Pad Siehe Etherpad

Plattformneutralität Plattformneutralität bedeutet, dass der Zugang zu einer Infrastruktur und deren Nutzung diskriminierungsfrei möglich sind. Jeder Nutzen, der sich unmittelbar aus der Verwendung von Infrastruktur ergibt, steht im Gegenzug auch der Allgemeinheit wieder zur Verfügung. Verschiedene Konzepte und Ideen der Piratenpartei, wie beispielsweise die Forderung eines fahrscheinlosen öffentlichen Nahverkehrs, lassen sich mit Hilfe des Aspekts der Plattformneutralität erfassen.

Pledgebank.com Hierbei handelt es sich um eine Internetplattform, auf der Personen Versprechen abgeben können, etwas zu tun, wenn eine bestimmte Zahl anderer es auch tun wird. Die Piraten nutzen diese Seite immer wieder zur Generierung von Spenden, die geleistet werden, wenn sich hinreichend viele andere Spender finden.


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Postgender

Stream

Postgender bezeichnet einen in der Geschlechterforschung entstandenen Ansatz, der sich für die Abschaffung von Geschlechterunterschieden einsetzt. Dieser Ansatz geht davon aus, dass sich erst durch die Differenzierung in unterschiedliche biologische Geschlechter die Diskriminierung nach dem gesellschaftlich konstruierten Geschlecht ergibt. Deswegen wird beispielsweise die Abschaffung geschlechtseindeutiger Vornamen oder der Verzicht auf nach dem Geschlecht differenzierten Statistiken eingefordert. In der Kritik steht dieser Ansatz, weil er dazu führe, real existente Unterschiede und Ungleichheiten zu missachten. Ein wesentlicher Teil der Piraten stuft sich als postgender ein. Zugleich wird an der Postgenderperspektive immer wieder erhebliche Kritik geübt.

Ein Stream bezeichnet die Übertragung von Inhalten (Musik, Filmen, Podcasts, Veranstaltungen etc.) im Internet. Der Begriff geht auf den dabei notwendigen Datenstrom zurück, der entsteht, wenn live oder zeitversetzt die gesendeten Inhalte vom Sender zum Empfänger fließen, ohne dass die Daten auf dem empfangenden Rechner dauerhaft gespeichert werden müssen. Das umfangreiche Angebot an Videostreams von Parteitagen, Veranstaltungen oder Barcamps der Piratenpartei ermöglicht zumindest partiell eine Teilhabe am Parteileben unabhängig vom Wohnort und von den Ressourcen der Mitglieder.

Shitstorm Der mittlerweile von der Netz- in die Massenkultur gewanderte Begriff bezeichnet eine massive Welle von Kritik im Internet, die von einer großen Menge von Personen gegenüber einer Einzelperson oder einer bestimmten Gruppe formuliert wird. Im Gegensatz zu einem bloßen Sturm der Entrüstung haben Shitstorms die Tendenz, sich zu verselbstständigen und einen mehrheitlich vulgären, destruktiven und aggressiven Charakter anzunehmen. Gerade das Medium Twitter fördert aufgrund seiner kommunikativen Charakteristika die Entstehung von Shitstorms, da die vorgegebene Zeichenbegrenzung eine Schlichtung von Konflikten durch detaillierte und differenzierte Beiträge verhindert. Bei den Piraten gehören Shitstorms aufgrund der intensiven Nutzung digitaler Kommunikationsmittel zum Parteialltag. Dabei tragen Shitstorms aufgrund ihres destruktiven und aggressiven Charakters oftmals dazu bei, inhaltliche oder strategische Positionierungen der Partei zu unterminieren.

Twitter Twitter ist ein webbasierter Microbloggingdienst. Mittels sogenannter Tweets, Kurznachrichten von maximal 140 Zeichen Länge, findet die chronologisch angeordnete Kommunikation über die sogenannte Twitter-Timeline statt. Twitter ist vor allem für aktive Piraten ein wichtiges Forum zur Verbreitung von Informationen und zur sozialen Interaktion.

Vorratsdatenspeicherung Die Vorratsdatenspeicherung beschreibt einen mittlerweile ersatzlos abgeschafften Gesetzentwurf, dem zufolge alle Anbieter von Telefondiensten verpflichten werden sollten, sämtliche anfallenden Verkehrsdaten bei Kommunikation über Festnetz, Mobilfunk oder das Internet ausnahmslos für maximal sechs Monate („auf Vorrat“) zwischenzuspeichern. Die Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung ist für die politische Sozialisation vieler Piraten von hoher Bedeutung.

Web 2.0 Web 2.0 ist ein Schlagwort für eine Evolutionsstufe des World Wide Web. Ein Web 1.0 wurde dabei erst retrospektiv identifiziert, als im Laufe der tech-

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nischen Entwicklung deutlich wurde, dass sich die Kommunikationsstrukturen im Internet gewandelt hatten. Meist ist mit Web 2.0 eine Verschiebung von Produktions- und Konsumverhalten im Web gemeint. Zu Zeiten des Web 1.0 war es lediglich Experten vorbehalten, online Inhalte zu produzieren, weil die technischen Hürden entsprechende Qualifikationen voraussetzten. Mit zunehmender Massentauglichkeit des Internets wurden Grenzen zwischen Produzenten und Konsumenten weitgehend aufgelöst, wodurch kollaborative Prozesse in einem größeren Maßstab möglich wurden. Die Entwicklung der Piraten hat von der technischen und sozialen Verbreitung des Web 2.0 stark profitiert, da es die kulturellen, aber auch organisatorischen Voraussetzungen für eine Teilhabe an der Partei verbreiterte.

Whistleblower Whistleblower verraten als Insider Geheimnisse oder haben Zugang zu vertraulichen Dokumenten, die sie öffentlich machen. Durch das Internet ist die Verbreitung solcher Informationen vereinfacht worden. Eine Plattform wie Wikileaks hat sich dieser Form der Kommunikation verschrieben. Die Piraten treten dafür ein, Whistleblower zu schützen. Hier folgen sie den Ansprüchen der Hackerkultur.

Wiki Ein Wiki ist ein Sammelbegriff für ein dezentral und kollaborativ betriebenes System, das es den Nutzern ermöglicht, nicht nur Inhalte zu lesen, sondern diese auch umgehend und nachvollziehbar zu verändern und zu editieren. Das bekannteste Wiki-basierte Projekt ist die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Innerhalb der Piratenpartei werden Wikis zur kollektiven Sammlung und öffentlichen Bereitstellung von organisatorischen und inhaltlichen Informationen benutzt.

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#zensursula Ist sowohl ein Hashtag als auch ein wichtiges Symbol der Protestbewegung gegen das Zugangserschwerungsgesetz. Der Begriff stellt eine Kombination aus dem Wort Zensur und dem Vornamen der ehemaligen Familienministerin Ursula von der Leyen dar. Geprägt wurde dieser Begriff im Zuge der Debatte um die Einführung des sogenannten Zugangserschwerungsgesetzes, das die Internetdienstanbieter dazu anhielt, auf Anweisung von Polizeibehörden Websites mit kinderpornografischen Inhalten zu sperren. Die Gegner und Kritiker des Gesetzesvorhabens argumentierten hierbei, dass Sperrungen technisch ineffektiv, da sehr leicht zu umgehen seien und potenziell harmlose Internetauftritte ebenso treffen könnten, wodurch sie letztlich ihren Zweck verfehlten und darüber hinaus nicht das Problem an sich lösen würden. In Anbetracht dieser Umstände wurde das Vorhaben dieser Netzsperren als ein unverhältnismäßiger Eingriff in mutmaßliche Grundrechte der Bewegungsfreiheit im Netz und letztlich auch als Einstieg in eine allgemeine Zensur empfunden.

Zugangserschwerungsgesetz Siehe #zensursula


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Verzeichnis der Tabellen

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Tabelle 1:

Europäische Piratenparteien bei Wahlen auf nationaler Ebene ....................... 9

Tabelle 2:

Bundesparteitage der Piraten ..................................................................... 18

Tabelle 3:

Bundesvorstände der Piratenpartei ............................................................. 24

Tabelle 4:

Mitgliedsbeiträge der deutschen Parteien ................................................... 36

Tabelle 5:

Frauenanteil und Quotenregelungen im Vergleich ........................................ 59

Tabelle 6:

Wählerwanderung Piraten .......................................................................... 63

Tabelle 7:

Sonntagsfrage Piratenpartei....................................................................... 65

Tabelle 8:

Kleine Anfragen der Piraten ........................................................................ 75

Tabelle 9:

Plenaranträge der Piraten ........................................................................... 77

Tabelle 10:

Plenaranträge anderer Oppositionsparteien ................................................. 77


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Hinweise zu den Autoren Dr. Stephan Klecha, geboren 1978, hat Sozialwissenschaften in Göttingen studiert. Nach beruflichen Tätigkeiten an der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg arbeitet er jetzt als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Seine thematischen Schwerpunkte liegen in den Bereichen Veränderungen des Parteiensystems, Regierungsformate (insbesondere Minderheitsregierungen) und Wahlrecht. Alexander Hensel (M.A.), geboren 1983, hat Politikwissenschaft, Philosophie sowie Medienund Kommunikationswissenschaft in Göttingen und Madrid studiert. Er forscht seit 2009 zum Thema Piratenpartei und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Seine thematischen Schwerpunkte liegen in den Bereichen soziale Bewegungen, Parteien und Internetkultur. Er betreut zudem den Blog und das Videoangebot des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Christopher Schmitz (B.A.), geboren 1988, studiert Politikwissenschaften an der Georg-AugustUniversität Göttingen. Seit 2012 arbeitet er zu sozialen Bewegungen sowie Protestformationen und Internetkultur. Weitere Arbeitsinteressen liegen in den Bereichen moderne politische Theorie und Krisendiagnosen der Demokratie.

Danksagung Studien wie diese sind letztlich nicht nur das Werk der Autoren. Ohne die großzügige Förderung der Otto Brenner Stiftung wie der Hans-Böckler-Stiftung hätte es keine Möglichkeit gegeben, derart umfänglich und empirisch weitläufig in das Thema einzusteigen. Ohne die Unterstützung von Professor Dr. Franz Walter wäre dieser Zweig der Parteienforschung am Göttinger Institut für Demokratieforschung wohl kaum so intensiv eingeschlagen worden. Und ohne die Zuarbeit, die Literaturrecherche und die Unterstützung bei der Erstellung des Glossars durch Christopher Schmitz wären wir wohl im Material schlicht ertrunken. Ebenso danken wir unseren Kollegen und Kolleginnen vom Göttinger Institut für Demokratieforschung, mit denen wir einzelne Aspekte und Thesen fortwährend gewinnbringend diskutieren konnten. Elke Habicht hat mit ihrem Lektorat dazu beigetragen, dass der Text noch flüssiger und lesbarer geworden ist. Last but not least danken wir auch der Piratenpartei, deren Mitglieder uns nicht nur umfängliches Material bereitgestellt haben, sondern auch keine Scheu hatten, sich von uns zahlreich interviewen und umfangreich beobachten zu lassen. Göttingen, im März 2013

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Otto Brenner Stiftung

Die Otto Brenner Stiftung … ... ist die gemeinnützige Wissenschaftsstiftung der IG Metall. Sie hat ihren Sitz in Frankfurt am Main. Als Forum für gesellschaftliche Diskurse und Einrichtung der Forschungsförderung ist sie dem Ziel der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Ausgleich zwischen Ost und West.

OBS-Arbeitsheft 74 ISSN 1863-6934 (Print) Herausgeber: Otto Brenner Stiftung Jupp Legrand Wilhelm-Leuschner-Straße 79 D-60329 Frankfurt/Main Tel.: 069-6693-2810 Fax: 069-6693-2786 E-Mail: info@otto-brenner-stiftung.de www.otto-brenner-stiftung.de

Die OBS dankt der Hans-Böckler-Stiftung (siehe www.boeckler.de) für ihre Beteiligung an der Förderung des Projekts. Ohne diese Unterstützung der

Autoren:

HBS hätte die OBS die „Piraten-Studie“ nicht reali-

Alexander Hensel, Stephan Klecha

sieren können.

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Dieses Arbeitsheft darf nur für nichtkommerzielle

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Elke Habicht, M.A.

In den Arbeitsheften werden die Ergebnisse der

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Titel: Karikatur Gerhard Mester

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... initiiert den gesellschaftlichen Dialog durch Veranstaltungen, Workshops und Kooperationsveranstaltungen (z. B. im Herbst die OBS-Jahrestagungen), organisiert internationale Konferenzen (Mittel-Ost-Europa-Tagungen im Frühjahr), lobt jährlich den „Brenner-Preis für kritischen Journalismus“ aus, fördert wissenschaftliche Untersuchungen zu sozialen, arbeitsmarkt- und gesellschaftspolitischen Themen, vergibt Kurzstudien und legt aktuelle Analysen vor. … macht die Ergebnisse der geförderten Projekte öffentlich

OBS-Arbeitsheft 74

zugänglich und veröffentlicht z. B. die Ergebnisse ihrer Forschungsförderung in der Reihe „OBS-Arbeitshefte“. Die Arbeitshefte werden, wie auch alle anderen Publikationen der OBS, kostenlos abgegeben. Über die Homepage der Stiftung können sie auch elektronisch bestellt werden. Vergriffene Hefte halten wir als PDF zum Download bereit.

rat reicht. Dort besteht auch die Möglichkeit, das

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Redaktionsschluss: 15. März 2013

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Alexander Hensel, Stephan Klecha

Die Piratenpartei Havarie eines politischen Projekts?

OBS-Arbeitsheft 73 Fritz Wolf

Im öffentlichen Auftrag Selbstverständnis der Rundfunkgremien, politische Praxis und Reformvorschläge

OBS-Arbeitsheft 72* … freut sich über jede ideelle Unterstützung ihrer Arbeit. Aber wir sind auch sehr dankbar, wenn die Arbeit der OBS materiell gefördert wird.

Bernd Gäbler

… ist zuletzt durch Bescheid des Finanzamtes Frankfurt am Main V (-Höchst) vom 6. Dezember 2011 als ausschließlich und unmittelbar gemeinnützig anerkannt worden. Aufgrund der Gemeinnützigkeit der Otto Brenner Stiftung sind Spenden steuerlich absetzbar bzw. begünstigt.

Hans-Jürgen Arlt, Wolfgang Storz

Hohle Idole Was Bohlen, Klum und Katzenberger so erfolgreich macht

OBS-Arbeitsheft 71* „Bild“ und Wulff – Ziemlich beste Partner Fallstudie über eine einseitig aufgelöste Geschäftsbeziehung

OBS-Arbeitsheft 70* Andreas Kolbe, Herbert Hönigsberger, Sven Osterberg

Marktordnung für Lobbyisten Wie Politik den Lobbyeinfluss regulieren kann

OBS-Arbeitsheft 69 Sandra Siebenhüter

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Aktuelle Ergebnisse der Forschungsförderung in der Reihe „OBS-Arbeitshefte“

Geben Sie bitte Ihre vollständige Adresse auf dem Überweisungsträger an, damit wir Ihnen nach Eingang der Spende eine Spendenbescheinigung zusenden können. Oder bitten Sie in einem kurzen Schreiben an die Stiftung unter Angabe der Zahlungsmodalitäten um eine Spendenbescheinigung. Verwaltungsrat und Geschäftsführung der Otto Brenner Stiftung danken für die finanzielle Unterstützung und versichern, dass die Spenden ausschließlich für den gewünschten Verwendungszweck genutzt werden.

Auswirkungen von Leiharbeit auf Menschen mit Migrationshintergrund

OBS-Arbeitsheft 68* Bernd Gäbler

„... und unseren täglichen Talk gib uns heute!“ Inszenierungsstrategien, redaktionelle Dramaturgien und Rolle der TV-Polit-Talkshows

OBS-Arbeitsheft 67* Hans-Jürgen Arlt, Wolfgang Storz

Drucksache „Bild“ – Eine Marke und ihre Mägde Die „Bild“-Darstellung der Griechenland- und Eurokrise 2010

OBS-Arbeitsheft 66 Rainer Weinert

Berufliche Weiterbildung in Europa Was Deutschland von nordeuropäischen Ländern lernen kann

OBS-Arbeitsheft 65 Burkart Lutz unter Mitwirkung von Holle Grünert, Thomas Ketzmerick und Ingo Wiekert

Fachkräftemangel in Ostdeutschland Konsequenzen für Beschäftigung und Interessenvertretung

OBS-Arbeitsheft 64 Brigitte Hamm, Hannes Koch

Soziale und ökologische Verantwortung Zur Umsetzung des Global Compact in deutschen Mitgliedsunternehmen * leider vergriffen Diese und weitere Publikationen der OBS finden Sie unter www.otto-brenner-stiftung.de Otto Brenner Stiftung | Wilhelm-Leuschner-Straße 79 | D-60329 Frankfurt/Main


Otto Brenner Stiftung

OBS-Arbeitsheft 74

OBS-Arbeitsheft 74 Die Piratenpartei

Alexander Hensel, Stephan Klecha

Die Piratenpartei Havarie eines politischen Projekts?

www.piraten-studie.de www.otto-brenner-stiftung.de

Eine Studie der Otto Brenner Stiftung Frankfurt/Main 2013


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