Büro für Entschleunigung

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Eine performative Installation von


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0 Einleitung

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1 Interview

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2 Pr ojektbes chreibung

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3 T heoretis cher hinter grund

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4 Thesen

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6 Pr otokolle

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erkenntnis gewinn

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fa zit

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9 Ausblick

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10 Pr odukte

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11 FingerĂźbungen

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12 FuĂ&#x;notenverzeichnis

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13 Literaturverzeichnis

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14 impressum & danksagung

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Ents chleunigungserfahrung


W i r b i t t e n v i e l m a l s u m E n t s c h l e u n i g u n g 0 Nein, dies ist kein Pamphlet gegen den Fortschritt und gegen unsere »beschleunigte Gesellschaft«... Und doch geht es darum, einmal kritisch zu hinterfragen, was es mit der heute allgegenwärtigen Beschleunigung von technologischen Möglichkeiten und sozialen Wandlungen auf sich hat. Welche Rolle spielt sie beim selbstständigen, kreativen Arbeiten? Und was passiert, wenn man einmal im Leben auf die Bremse tritt anstatt nur aufs Gaspedal, einen Moment lang innehält und seine Lebensumstände hinterfragt: Was bedeutet Beschleunigung für mich, mein soziales Umfeld und mein Leben? Was brauche ich wirklich, um beruflich und privat glücklich zu sein? Und wie kann ich mein Leben freiheitlich gestalten, ohne mich als Großstädter vom allgemeinen Beschleunigungswillen vereinnahmen zu lassen und dennoch produktiv zu sein? In der festen Hoffnung, einige Antworten auf die vorangegangenen Fragen zu finden, haben Florin Schmidt und ich uns ein Zeitfenster von einem Monat geschaffen, um uns in völliger Abstinenz von modernen Kommunikationsmitteln und Massenmedien dem kreativen Arbeiten mit analogen, also »entschleunigten« Produktionsmitteln zu widmen. Es handelt sich um einen Selbstversuch, in dem wir der beruflichen wie privaten »Beschleunigung« des Lebens trotzen. Zudem untersuchen wir, welche Auswirkungen diese Maßnahme auf uns selbst, unser kreatives Arbeiten und unseren Alltag hat. Dies bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass wir in dieser Karenzzeit (im Sinne einer Bedenk-

zeit) nicht produktiv gewesen wären. Im Gegenteil. Während der Projektzeit haben wir sowohl reale Kundenaufträge als auch freie Arbeiten realisiert. Darüber hinaus haben wir uns alle für die Umsetzung nötigen analogen Arbeitstechniken angeeignet. In der folgenden Dokumentation beschreibe ich zunächst das vierwöchige Projekt »Büro für Entschleunigung«, das als performative Installation angelegt ist. Im dritten Kapitel gebe ich den soziologischen Kontext der Arbeit wieder, um in die Begrifflichkeiten wie Be- und Entschleunigung aus theoretischer Perspektive einzuführen. Dieses bildet die Grundlage für Thesen, die ich in Kapitel 4 aufstelle, um eine Prognose über den Verlauf des Projekts und seine Auswirkungen auf mich zu geben. Im Anschluss (Kapitel 5) schildere ich meinen persönlichen Hintergrund und mein bisheriges Leben als selbstständiger Kommunikationsdesigner in der digitalisierten Gesellschaft, damit die veränderten Lebens- und Arbeitsabläufe in vollem Umfang nachvollziehbar werden. Im sechsten Kapitel beschreibe ich anhand von Tagesprotokollen das Erlebte und seine Auswirkungen auf meine Wahrnehmung in Bezug auf mich selbst, Zeitstrukturen und Arbeitsabläufe. In Kapitel 7 überprüfe ich anhand meiner konkreten Erfahrungen die aufgestellten Thesen und erläutere meinen Erkenntnisgewinn. Diesen runde ich in Kapitel 8 mit einem Fazit und in Kapitel 9 mit dem Versuch ab, mit langfristigen Entschleunigungsstrategien einen Ausblick in meine Zukunft zu geben.

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einleitung


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1 Der Journalist Christoph Twickel hat uns Ende Mai in unseren Räumlichkeiten in der Caffamachereihe 44 des Hamburger Gängeviertels besucht, um mit uns über unser Projekt »Büro für Entschleunigung« zu sprechen. CT Wir sind hier im »Büro für Entschleunigung« bei »Schmidt & Bruns Gebrauchsgraphik«. Wieso Gebrauchsgraphik? CB Gebrauchsgraphik ist der allgemeingültige Terminus aus den Sechziger Jahren für den Berufsstand des Grafikers. CT Also ihr habt euch einen ganzen Monat Zeit genommen, euch quasi in diese vergangene Arbeitswelt der 1960er hinein zu versetzen. Nicht nur in die Arbeitswelt, sondern auch in die Lebenswelt? FS Hauptsächlich in die Arbeits welt, obwohl wir auch privat kein Handy oder Internet benutzen. Festnetztelefon geht noch. CB Kein Radio, kein Fernsehen, kein Internet, kein Handy, keine Magazine, keine Nachrichten oder aktuelle Zeitungen. CT Aber ihr trefft euch weiterhin mit euren Bekannten und Freunden? FS Ja, aber auch weniger – da man ja nicht mehr so vernetzt ist. CB Es ist schon etwas weniger geworden, aber alle nehmen Rücksicht, d. h. keiner kommt mit irgendwelchen neuen YouTube-Filmen. CT Das wollt ihr doch auch nicht? Wenn euch nun jemand erzählt: »Ich habe heute Morgen in den Nachrichten gehört...« Das schon?

FS Das lässt sich kaum vermeiden. CT Wie hat sich der Prozess der Entschleunigung lebensweltlich bemerkbar gemacht? Hat sich in den letzten vier Wochen so etwas wie ein anderer Lebensrhythmus eingestellt? CB Ja schon. Wir arbeiten relativ gleich bleibend zu festen Zeiten wie Angestellte im Büro. Dabei ist die Beschleunigungskurve stetig gefallen und die Entschleunigung ist nach und nach eingetreten. Am Anfang war noch ein gewisser Beschleunigungswille da: Man hatte das Gefühl, dass man noch ganz viel schaffen muss und es doch alles etwas schneller gehen sollte. Mit der Zeit ist das Tempo aber bei allen Sachen heruntergegangen. Man hat es beim Schlafen gemerkt oder wie man sich in der Stadt bewegt. Diese vier Wochen sind natürlich eine künstliche Pause und man hinterfragt schon sehr viel. CT Ihr arbeitet hier auch an Aufträgen, für die ihr angefragt worden seid? FS Die Aufträge haben wir uns vorweg und im Rahmen des Projektes gesucht. Und die bearbeiten wir momentan. CT Und diese Aufträge füllen auch den ganzen Arbeitsmonat aus? FS Ja, sogar ziemlich gut. Dadurch, dass hierbei viele zeitgenössische Arbeitsweisen einfließen

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wie Bleisatz, Holzdruck, Siebdruck und das Arbeiten im Fotolabor. Das hat uns in der ersten Woche auch etwas nervös gemacht. CB Man brauchte ein wenig Zeit zum Akklimatisieren und Erlernen der genannten Techniken. Gerade hatten wir auch eine Präsentation und eine Motiventwicklung für ein Plattenlabel. Dort haben wir uns gemeinsam auch noch einmal für ein neu zu entwickelndes Fotomotiv entschieden. Alleine das dauert schon mindestens einen Arbeitstag. Von umgerechnet 22! Das macht sich natürlich sofort bemerkbar. Da sind zwei feste Aufträge absolut genug. Außerdem haben wir neben her auch noch ein paar freie Arbeiten gemacht. CT Ihr müsstet euch ja theoretisch an dem messen, was heute mit der Computergrafik möglich ist. Oder nehmt ihr auch die alten Preise der Sechziger Jahre? CB Das wollten wir ursprünglich. FS Es ist schon mit den Auftraggebern geklärt, dass man sich anderweitig einigt – da das Ganze ja mehr ein Experiment ist, mit dem wir feststellen wollten, ob das Konzept marktfähig wäre. Ich könnte mir vorstellen, dass, wenn man speziell diese Dienstleistung anbietet, einige Unternehmen sicher bereit wären, das Geld zu zahlen und den zeitlichen Aufwand in Kauf zu nehmen. Vielleicht bieten wir das auch in Zukunft an.


CB Wir haben den Versuch ja »Performative Installation« genannt. Das Büro als Raum ist die Installation und unser Tun und Aussehen ist die Performance. Und wir wollten unsere Arbeitsleistung bewusst nicht entlohnt haben, weil wir ja selber gefördert werden. Deshalb haben wir Aufträge von Leuten angenommen, die etwas machen, was uns auch gut gefällt. Wie z. B: das Label »Pingipung«. So ließe sich dieses Modell sicher auch auf die Realität übertragen. Wir eröffnen nach dem Projekt unter dem Namen »On&On« auch unser eigenes Büro, das von der Ausrichtung etwas analoger orientiert sein soll. Eher eine Schnittstelle zwischen Kunst und Design.

man unterbewusst wusste, dass es nur vier Wochen sind. Schade war, dass man mit Freunden nicht gut kommunizieren konnte. Die soziale Interaktion war schon etwas spärlich gesät. Mein Lebensgefühl ist aber definitiv besser geworden – wie man sich bewegt oder wie man schläft. Es ist alles ein wenig runtergefahren und mein Kopf ist freier und offener für neue Ideen. Durch die fehlende ständige Inputaufnahme. FS Bei mir war es ganz ähnlich. Was man komischerweise vermisst hat, war eher das Handy als das Internet. Aus dem einfachen Grunde, besser mit den Leuten in Kontakt treten zu können. Um sich

E nts chleunig ung be d eut et mehr, e i nfach mal i n n ezuhalt en. c h r i sto p h b r u n s

CT Ihr kommt ja quasi aus einer Welt, in der man durch die Vernetzung extrem einfach und unmittelbar über E-Mail, Facebook, Handy usw. immer sofort angeschlossen ist an Kunden, Freunde, Nachrichten. Davon habt ihr euch für einen Monat abgekappt. Ich vermute mal, dass es dort auch so etwas wie einen »Phantomschmerz« gibt. Das »Abgeschnittensein« macht ja irgendetwas mit euch. Habt ihr eine konkrete Erfahrung, an der euch dies besonders aufgefallen ist? Jenseits eurer Techniken, eures Auftretens, des Lebens, von dem was man so machen kann und was man nicht machen kann. CB (denkt nach) Komischerweise ist es uns beiden überhaupt nicht schwer gefallen. Das fehlende Handy und Internet waren gar kein Problem. Vielleicht auch, weil

zu treffen oder Termine zu verschieben. Man musste sich mehr strukturieren und nach exakten Zeiten gehen. Ich bin da sehr viel entspannter geworden. Selbst fünf Minuten auf die Bahn zu warten, hat mich sonst schon nervös gemacht. Ich gehe mittlerweile meist ruhig wie bei einem Spaziergang. Die Beschleunigungskurve geht langsam runter und man wird entspannter. CB Ein freier Künstler oder Esoteriker würde sicherlich sagen, dass vier Wochen gar nichts Aussagekräftiges sind. Das Experiment ist auch eher auf die digitale Boheme zugeschnitten. Ich bin auch ein totaler Input-Mensch. Ich habe immer ein Magazin und ein Buch dabei und höre meistens unterwegs Musik. Ich nehme durch-gehend auf. Durch das Projekt war nun alles, was man aufnimmt, zufälliger. Die Informationsaufnahme war

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nicht so gezielt und nicht so geballt. CT Die Informationsaufnahme ist nicht so gezielt? Man hat also nicht so viel Wahlmöglichkeiten? CB Genau. FS Das ist auch ein großer Punkt. Die ganze Verfügbarkeit fällt auf einmal weg. Das entspannt ungemein. CT Ihr habt euch das Jahr 1966 als Karenzpunkt ausgesucht. Habt ihr einfach auf die Zeitleiste getippt und gesagt: »Das ist es jetzt«? FS Nicht so ganz. Die Ursprungsidee ist schon zwei Jahre alt und aus einer Idee heraus entstanden, in der wir mit diversen Projekten ziemlich im Stress waren. Nachdem wir die Idee aktuell wieder aufgegriffen hatten, sollte es schon etwas weiter weg sein. Alle Jahrzehnte danach waren für uns zu dicht dran. Zu greifbar. CB Man hat ja als junger Mensch von anderen Jahrzehnten meist eine romantische Vorstellung wie die denn gewesen sein könnten... Außerdem gab es 1966 die ersten Spiegelreflex- und Super-8-Kameras, die wir auch gerne benutzen wollten. Umso weiter wir uns in Richtung frühere Jahrzehnte entfernt hätten, desto schwieriger wäre die Umsetzung gewesen (denkt nach) Als visueller Mensch geht man immer vom Ästhetischen aus und wir beide mögen die Sechziger sehr gerne. CT Gab es einen Prozess ,in der sich diese zeitliche Referenz noch mal mit neuer Bedeutung oder so etwas aufgeladen hat? Habt ihr eine neue Erfahrung mit der Zeit gemacht? CB Wir haben uns schon im Voraus viel über die Zeit informiert... Aber es ging uns bewusst nicht darum, uns in einem Korsett der Sechziger zu verschnüren, weil man dadurch automatisch begrenzter

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ist. Wir benutzen die Sechziger Jahre als eine Projektionsfläche. »Schmidt&Bruns Gebrauchsgraphik« ist der Name für die Projektionsfläche und das eigentliche Thema ist das »Büro für Entschleunigung«. Wir wollen die Sechziger nicht imitieren, sondern sie dienen lediglich dazu, die Rahmenbedingungen einzuhalten. Wir brauchten diesen Rahmen, um das Projekt konsequent durchzuziehen. CT Mit den Texten und der Musik der Zeit bis 1966 gibt es auch neue Erfahrungen, die man damit macht, vermute ich mal? ... Man entdeckt ja auch immer. Gleichzeitig haben sie eine Patina, vom Sound oder von der Art der Sprache. Habt ihr so etwas aufgenommen? FS Bestimmte Sachen kehren auch wieder. Wie CDs, die man in seiner Jugend rauf und runter gehört hat, ist es bei uns jetzt so mit den Platten, bei denen wir uns schnell auf ein paar bestimmte Alben eingespielt haben und diese auch bewusster gehört haben. Ganz im Gegensatz zu unseren ganzen iTunes-Playlisten und gigabyteweise Musik, die man sonst auf dem iPod hat. CB Man nimmt die Sprache auch anders wahr – da man sich mit den Medien, die man nutzt, intensiver beschäftigt. Weil man weiß, man hat auch nur das. Die Auswahl ist wesentlich kleiner. FS Das ist auch schön, weil man das sonst nie tut, da man immer vor zu viele Wahlmöglichkeiten gestellt wird: auch mal innezuhalten und sich damit auseinanderzusetzen... CT Entschleunigung heißt ja nun nicht, dass man weniger Stress hat – oder ist der Stress einfach anders? Ihr habt ja Arbeitsvorgänge, die viel mehr Zeit in Anspruch nehmen wie z. B. ein Schreiben aufzusetzen oder eine Vorlage herzustellen. All das produziert ja auch Zeitstress. Was heißt dann Entschleunigung? Weniger in derselben Zeit machen?

CB Entschleunigung bedeutet halt mehr, einfach mal innezuhalten. FS Es hängt viel damit zusammen, dass wir uns von der äußeren Welt abgekapselt haben und gar nicht diesen Anforderungen gerecht werden müssen. Wir haben uns unser eigenes Zeitfenster geschaffen, in dem wir mit unserem Tempo arbeiten können. CB Das »Büro für Entschleunigung« ist in sich schon ein Bruch bzw. ein Oxymoron. Ein Büro ist eher ein Ort der Beschleunigung, an dem man effizient arbeitet. Entschleunigung war, von unserer Definition aus, sein eigentliches Tun bzw. kreatives Arbeiten einfach mal zu hinterfragen. Also einmal kurz innezuhalten, anzuhalten. Den Kopf einmal durchzuspülen. Und sich einmal zu fragen, wo stehe ich, wie arbeite ich und möchte ich das eigentlich. Deswegen auch die entschleunigten Produktionsmittel. Sich etwas neu beizubringen und in diesem Kosmos zu arbeiten. Natürlich ist dies kein Abbild der Realität, sondern man hat vier Wochen lang, wie schon erwähnt, ein künstliches Zeitfenster... Wir sind in diesen Wochen auch auf die Begrifflichkeit des »Rasenden Stillstandes« nach Paul Virilio eingegangen. In der heutigen Zeit, in der sich soziale, gesellschaftliche und technische Prozesse immer weiter beschleunigen, geht das ideendynamische und kreative Konstrukt immer weiter verloren, was ich auch an mir selber gemerkt habe. Durch die massive Inputaufnahme ist man ständig damit beschäftigt, zu vergleichen und zu verarbeiten, ob bei Tag oder Nacht. Eine klare Entschleunigungserfahrung war, dass man mehr Luft hatte für neue Ideen. So ist eine These, die wir entwickelt haben: »weniger Input, mehr Output«. Einfach zu überlegen, wo man mal einen Gang rausnehmen kann und ob man sozial und kulturell über jedes Stöckchen springen muss. Ein wenig mehr Müßiggang betreiben. Soweit es einem möglich ist!

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CT Hat das geklappt? CB Bei mir auf jeden Fall. Man sinniert und hinterfragt mehr. Mehr Selbstreflexion. Brauche ich das alles? Muss ich den ganzen Tag bei Facebook dabei sein? Und muss ich 35-mal pro Tag meine Mails checken? Die ganzen Vorgänge, die man reflexartig inne hat, halten einen selbst von vielem ab. CT Darauf geht auch meine Frage hin: Jede Lücke wird gefüllt. Ich stehe an der Haltestelle und warte. Also kann ich noch mal Mails checken oder Musik hören oder eine SMS schreiben, während wir uns unterhalten. Also das Auffüllen von Zeit mit allen möglichen Kommunikationsvorgängen. Das fällt ja wohl weg bzw. passiert sicherlich in einer anderen Taktung?! CB Wir haben uns diesbezüglich auch mit Georg Simmel befasst, der von der »Steigerung des Nervenlebens« gesprochen hat. Durch stetige Beschleunigung wächst Rast- und Ruhelosigkeit, der Konkurrenzdruck und die Manie, sich ständig mit Informationen zu befassen. Seine These war ebenfalls, dass das Geschmacks- und Stilempfinden nachlässt... Das kann man teilweise gut auf die heutige Zeit übertragen. Man hat jegliche Option und man hat das Gefühl, dass jede Idee schon gedacht und in jeder Variante umgesetzt wurde. So dass man sich auch als Kreativer fragt, ob man da noch etwas beitragen muss. Es gibt imk Grunde genommen ja irgendwie schon alles. CT Es gibt bzw. gab ja umgekehrt schon immer diese Sehnsucht nach der guten alten Zeit. Ein bisschen sieht es hier ja aus wie bei »Mad Men«. Die Leute mögen »Mad Men« und gehen bei »Manufactum« einkaufen. Sie sehnen dieses Handgemachte, noch nicht von der digitalen Revolution kontaminierte, herbei. Wie steht ihr dazu? Ist das mit eingeflossen oder war das ein Motiv?


FS In jedem Fall. Das ganze Projekt ist aus unserer eigenen Sehnsucht heraus entstanden. Man merkt auch oft, wenn man sich mit anderen unterhält, dass viele das Projekt gut finden. Man spürt dann eine gewisse Sehnsucht beim Gegenüber. CB Genau – diese Ambivalenz. Vor zwei Jahren, als die Idee entstanden ist, war es uns mit allem viel zu viel, und so kamen wir auf die Idee eines Büros, wo man alles per Hand macht. Genau diese Sehnsucht nach etwas Standhaftem, Ruhigem war der Grund für das Projekt. CT Können wir uns jeden Tag entscheiden, ob und in welchem Maße wir an der Beschleunigung und Verdichtung der Zwischenräume durch digitale Hilfsmittel teilnehmen? Man kann sein iPhone ja auch auslassen oder nur einmal am Tag E-Mails checken. Das sind ja alles Dinge, die wir vermeintlich frei entscheiden könnten. Ist das so oder gibt es einen äußeren Zwang, der einem das aufdrückt? FS Den gibt es auf jeden Fall. Wenn man sich zu viel rausnimmt, läuft man Gefahr den Anschluss zu verpassen. Bei uns ist es eher ein Beobachten für später, inwieweit man sich entschleunigen kann. Wie viel braucht man überhaupt? Wenn man sich zu sehr raus hält, wird es sicher schwierig. CB Für unseren Bereich wird es auch schwierig. Es ist definitiv möglich. – aber für den digitalen, kreativen Bereich nur bedingt. Gerade wenn man selbstständig ist. Wir haben natürlich überlegt, wie man die Entschleunigung bzw. Erfahrung übersetzen könnte. Man nimmt sich beispielsweise eine Stunde pro Tag Zeit für eine »Entschleunigte Stunde«, in der man einfach mal nichts macht. Nur einfach mal überlegen, was man am Tag erlebt hat und was einem die einzelnen Leute mitgeteilt haben. Aber mehr ist sicher nicht drin.

CT Die Zeit, die ihr euch gewählt habt, also das Jahr 1966, war ja die Zeit, als sich die Leute viele Gedanken gemacht haben über das Verhältnis von Privatem, Politischem und Ökonomischem. Und Slogans auftauchten wie: »Das Private ist politisch«. Dann, über 40 Jahre später, leben wir jetzt in einer Zeit, in der man ganz oft, gerade wenn man als Kreativer freiberuflich tätig ist, schwer unterscheiden kann, was privat ist und was zur Arbeit gehört... So ist es bei eurem Versuch sicherlich etwas anderes, wenn man sagt: »Von neun bis fünf gehe ich in mein Büro und dort bin ich mit meiner Arbeit beschäftigt und dann gehe ich raus und bin mit etwas anderem beschäftigt.« Das ist doch etwas, was man schon lange nicht mehr hatte, oder? Was ist das für ein Vorgang? FS Du hast sehr gut beschrieben, wie es vorher bei uns war. Da hat sich das Private und Berufliche extrem vermischt. Wir sind beide keine »Nine-till-five-Menschen«. Bei mir trifft das noch weniger zu, da ich komplett selbstständig arbeite und damit auch meine Probleme habe. So ist es strukturell auch eine totale Umstellung. Man hat sich während des Projektes tatsächlich abends nie Arbeit mit nach Hause genommen. CB Viele Jobs, die wir erledigen, entstehen daraus, dass das Private und das Arbeitsleben völlig fließend sind. Was auch bei dem Job kaum anders möglich ist, da das nichts ist, was man von neun bis sechs machen kann. Weil man darüber hinaus interessiert sein muss. Aber es würde sicherlich auch analoger funktionieren... Aber so wie wir hier momentan arbeiten, ist es real sicherlich nicht umsetzbar. Es ist eher eine Art Kapsel, da wir dieses ganze Spielchen mal nicht mitmachen wollten. Wir haben Auftraggeber, die akzeptieren, dass wir langsam und analog arbeiten und dass sie uns schlecht erreichen. Aber als reales Arbeitsmodell ist das sicher schwierig.

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CT Früher hat man sich ja entschuldigt, wenn man außerhalb der Öffnungszeiten angerufen hat. Das ist ja etwas, was bei denen, die mit der digitalen Revolution aufgewachsen sind, anders geworden ist. Man beansprucht keinen Schutzraum mehr für sich. CB Wir hatten ja feste Besuchszeiten, und außerhalb dieser konnte man im Voraus telefonisch einen Termin mit uns vereinbaren. Die Leute kamen trotzdem oft einfach zu irgendeiner Zeit vorbei. Es wurde von außen nicht wirklich akzeptiert. CT Wie arbeitet ihr denn sonst? Womit verdient ihr euer Geld? Wie läuft normalerweise euer Arbeitstag ab? CB Ich bin im Verlagswesen tätig, sowohl online als auch offline. Die Hälfte der Arbeitswoche gehe ich in einen Verlag, aber mache abgesehen davon freie zuhause Grafik jobs. Ich komme also morgens in den Verlag, mache dann irgendwann Mittagspause, und abends, wenn ich nach Hause komme, esse ich etwas und checke dann meine außerberuflichen, aber trotzdem beruflichen Mails, und erledige dann manchmal noch einen Job von 22 bis 24 Uhr am Rechner zu Hause. Mein Büro ist sowohl zuhause als auch im Verlag als auch bei Kunden. Abends besucht man diese und geht was trinken und bespricht Jobs. Ich kenne diese zeitlich festen Strukturen sehr gut – während es bei Florin das exakte Gegenteil ist. In diesem Falle machen wir beide unabhängig voneinander unsere Erfahrungen. FS Genau. Ich hatte die ganze Zeit diese Homeoffice-Situation, die mich extrem gestört hat, da sich dort das Privat- und Berufsleben sehr mischt. Bei mir sind es viel Illustrationsjobs oder kleine Grafikaufträge. Im künstlerischen Bereich mache ich auch etwas in Richtung Wandgestaltung mit meinem Bruder zusammen.

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CT Wer gibt dir Jobs? FS Mal Werbeagenturen für einen Pitch oder ein Modelabel. Das ist durch das Künstlerische alles etwas internationaler geworden über eine Webpräsenz, über die man kontaktiert wird. Oder man gestaltet in einer anderen Stadt ein Schaufenster. So ist es mit dem Geld schwer, da auch nichts Regelmäßiges reinkommt. Man muss sich immer ein Polster schaffen. So hilft es mir hier auch ganz gut, da wieder eine Struktur reinzubekommen. Das will ich dann danach auch weiterführen und nicht mehr von zu Hause arbeiten. CB Da Florin das analoge Arbeiten viel mehr kennt als ich. Ich arbeite sehr viel digital und kaum analog, während er mehr analog arbeitet, aber diese Strukturen weniger kennt. Deswegen hat hier jeder seine eigenen, neuen Erfahrungen mit diesem Projekt. FS Es war für mich keine besondere Umstellung, analog lange an einer Sache zu arbeiten. Es war ähnlich wie zwei Wochen an einer Serie von Bildern zu arbeiten. CT Das kommt oft vor? FS Ja. Für mich war es eher das Strukturelle, was neu war. CB Das ist auch der Grund, warum wir nach diesem Projekt gemeinsam ein festes Büro haben wollen und kein Homeoffice mehr: Wir wollen diese Vermischung von Privatem und Arbeit zu Hause nicht mehr. Das kenne ich auch von anderen Leuten, die das auch nicht mehr wollen. CT Die Zeit, in die ihr euch reinversetzt habt, war ja eher die Zeit, in der man weg wollte vom Nine-tillfive. Gerade Grafik und Werbung waren ja damals die Avantgarde eines anderen Lebens, in der man gerade diese Vermischung haben wollte. Muss man das nur verteufeln oder sind wir da nicht auch Nutznießer eines Fortschritts, der

da erzielt worden ist? Eine Art Befreiung… Weil grafisches Arbeiten auch ein Teilhaben ist an all den Prozessen, die da dazugehören – auf Konzerte gehen und einen bestimmten Lifestyle ausleben. Das macht die Sechziger doch auch attraktiv als Jahrzehnt! Deshalb as-

Gängeviertel (ehemals von Künstlern besetzter Gebäudekomplex in Hamburg) der Austragungsort dieses Projektes ist? FS Ganz einfach. Der Raum ist ein Atelierraum von meinem Bruder und mir, den wir seit Ende

Für mich war es eher das St ruk t urelle , was neu war. f lo r i n sch m i dt

soziiert man mit dem Jahrzehnt, im Gegensatz zu den Fünfzigern, auch einen Aufbruch in der Arbeitswelt, oder? FS Da vertreten wir in dem Jahrzehnt eben eher die konservative Ecke. CB Das ist, was wir vorhin auch meinten. Dieses Romantisierende, dass sich jeder eine Zeit, in der er nicht gelebt hat, anders vorstellt. Natürlich war es eine Zeit des Umbruchs, aber wir haben für uns von der Schnelligkeit eher ein ruhiges Innehalten projiziert. Wir wollen auf gar keinen Fall irgendetwas verteufeln, oder sagen: Bitte entschleunigt euch alle, Facebook ist furchtbar usw. Wir machen das nach wie vor gerne. Es geht mehr um den bewussteren Umgang damit. Dieses Innehalten. Ich glaube, gerade wegen dieses Lifestyles sind wir seit Jahren selbstständig und wir machen auch unser Büro auf, weil wir genau das lieben und gerne machen. Wir haben im Voraus auch Interviews mit Grafikern geführt, die genau in dieser Zeit gearbeitet haben. Es war auch schön zu sehen, dass einer der Grafiker, der früher bei Reemtsma gearbeitet hat, sagte: Der technische Fortschritt ist super. Ich kann genauer arbeiten und präziser. CT Wie kam es dazu, dass das

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2009 haben. Es hat sich angeboten. Auch vom »Altertümlichen« her. Man kann sich hier gut reinversetzen und das Gängeviertel ist eh ein kleines Gallisches Dorf umgeben von Glasbauten. CB Es ist ein Freiraum und eine tolle Projektionsfläche. Das Zusammenleben im Gängeviertel ist nicht entschleunigt, aber es ist ein anderes Gefühl, sich hier zu bewegen. Gang runter. Und es ist natürlich auch eine Haltungsfrage, die uns hier sowieso zugesagt hat. CT Konntet ihr das Umfeld in euer Projekt integrieren oder habt ihr an Versammlungen teilgenommen? Oder habt ihr das außen vor gelassen? FS Das haben wir nicht direkt in unser Projekt mit einbezogen. CB Es ist schon ein Miteinander. Man ist kein einzelner Körper, der nichts mit dem Ganzen zu tun hat., man ist integriert. CT Wen habt ihr interviewt? CB Wir haben im sozialen Umfeld nach Grafikern, die zu jener Zeit festangestellt waren, mal rumgefragt und haben sie dann kontaktiert und uns getroffen und die Interviews aufgezeichnet. Einfach, um einen genauen Einblick zu kriegen


und ein Gefühl dafür zu bekommen. Die Interviewten haben uns auch diverse Accessoires mitgegeben. Wie das Rechenbuch für das grafische Gewerbe aus den Fünfzigern. FS Das liest sich wie ein Mathematikbuch. Heutzutage wird einem durch den Rechner fast alles abgenommen. CB Wir haben uns mit dem Jahrzehnt ja auch auseinander gesetzt und wollten mit Leuten sprechen, die zu der Zeit gearbeitet haben, um ein Gefühl dafür zu bekommen. CT Was haben die euch erzählt von der Arbeitsweise von damals? Was war der Erkenntnisgewinn für euch? Also von dem, was sie an Lebensgefühl vermittelt haben? CB Es war gesperrter und begrenzter. Es war nichts so frei. Und heute interessieren sich ja alle gesellschaftlich für Kunst und Design. Man hatte schon das Gefühl, dass es früher eher eine Tätigkeit war. Es war mehr ein Job als heute, wo es eher mit Lifestyle zu tun hat. Es war viel reglementierter. Man hatte nicht die Möglichkeiten, die wir heute haben – dass man mit dem Rechner bis zur Produktion alles alleine machen kann. Ich mache alles alleine. Ich bin das Büro. Früher hat eine Person die Reinzeichnung gemacht, eine den Satz und einer hat die Fotos arrangiert und den Fotosatz gemacht. Weniger flexibel und die Arbeitsweise war viel ungenauer. Und der Beruf war – in Anführungszeichen – nicht so »cool«, wie er heute ist wo jeder kreativ sein möchte.

CT Offensichtlich ja auch, weil eine Menge Handwerk und technisches Know-how dazugehörte, das man beherrschen musste. Handwerklich haben die Berufe heute eine andere Aura. Ihr habt das ja jetzt vier Wochen lang gemacht. Was sind die Sachen, aus denen heraus man so eine Art Selbstbewusstsein bezieht – als jemand, der den Beruf ausübt? FS Es hat einen in dem Respekt vor dieser handwerklichen Tätigkeit bestärkt und dass man sich bewusst macht, wie viel Schritte einem durch diese Rechenmaschine abgenommen werden. CB Das Handwerk sind heute eher die Computerprogramme, also Programme muss man genauso können – aber dieses Wissen an Trends, Zeitgeist und Stilistiken ist heutzutage ein Gewinn. Dadurch, dass man dieses große Sammelsurium hat. Sowohl früher als auch heute musste und muss man ein Art gesellschaftliches Bewusstsein haben. Wenn man etwas schafft, was sich andere Leute angucken, ob künstlerisch oder werblich, muss man einen Einblick haben auf Strömungen, ob gesellschaftlich oder politisch. Das Handwerk ist nur anders geworden. Heutzutage muss man sich durch die komplette Vernetzung mehr damit beschäftigen, was wo und wie passiert. Das ursprüngliche Handwerk wird einem mehr als früher abgenommen. Und dadurch ist man freier und kann noch mehr über Ideen transportieren. FS Damals war das Handwerkliche im Vergleich zum Kreativen ein

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größerer Komplex. Von der Umsetzung ist es heute weniger aufwendig. CT Habt ihr das Gefühl, Berufe zu haben oder glaubt ihr wenn ihr eine Zusatzausbildung macht oder einen anderen Weg einschlagt auch etwas komplett anderes machen zu können? Ich bin Journalist und habe trotzdem oft so ein Bauchladengefühl. Diese Unsicherheit darüber, was jetzt eigentlich das Handwerk ist, was ich beherrsche und wie viel das eigentlich wert ist. Gibt mir das einen gewissen Status? Wenn man vier Wochen so arbeitet wie in den Sechziger Jahren, kriegt man ein anderes Gefühl zum Handwerk des Berufstandes, dem man angehört. Ihr macht nichts anderes als vorher – nur macht ihr es anders. CB Das Bauchladengefühl kenne ich sehr gut. Das ist eines der Probleme dieses Berufstandes. Man lebt durchgehend mit dem Gefühl, sich immer ranhalten zu müssen, Ich verspüre schon oft Zugzwang. Aber das ist auch schön, weil man dann auch mal sagen kann, ich mache keine Grafik mehr, sondern ich habe gerade eine gute Idee und mache mal zwei Jahre Projektmanagement für den Kulturbereich. So kommt man über das, was man gelernt hat an andere Bereiche und schweift mal aus. FS Die Digitalisierung verwässert schon ein wenig unseren Berufsstand. Viele bauen selber ihren Flyer. Und es werden sehr viele grafische Erzeugnisse in Umlauf gebracht. Einer der interviewten Grafiker sagte auch, dass seit der digitalen Revolution einfach sehr viel Müll produziert wird.

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CB Durch diese Lifestyle-Aura, die der Berufsstand hat, dieses »Immer-kreativ-sein«, hat man immer wieder unwissende Leute, ob im Bereich Wandgestaltung, Illustration oder Grafik, die denken, dass man ja als Kreativer den ganzen Tag nur Spaß hat und deswegen auch Material und Stunden nicht oder kaum bezahlt zu bekommen braucht. Es wird nicht mehr so als Handwerk anerkannt. Da z. B. jeder ein bisschen Schrift in Word setzen kann. Deswegen ist die handwerkliche Unterscheidung auch heutzutage viel subtiler. Das ist auch das Problem an diesem Job. Dass jeder irgendwie gerade kreativ ist. CT Ist das auch mal so eine Art Ansage? Dass man nicht irgendwer ist, der mit dem Laptop unterwegs ist und den man einfach anrufen kann, sondern man kommt vorbei und gibt einen Auftrag und verhandelt darüber? Ich mache viele Jobs auf Zuruf, wo ich davon ausgehe, dass man sich schon irgendwie einig wird und mal redet man auch über Geld, aber eigentlich gibt es nicht diesen Vorgang mit Büro und Vertrag. Verträge kriegt man eher für Abrechnungsangelegenheiten im Nachhinein zugeschickt. Ist das bei euch auch so? CB Genauso ist es! Vertrag ist beim Kunden oft eher ein Schimpfwort. Man hat das Gefühl, man verschreckt denjenigen, der einem das Geld gibt. Ich mache den Stundenlohn vom Auftraggeber abhängig. Heutzutage kann man kaum mehr mit einem festen Stundenlohn und dem Prinzip »Friss oder

Stirb« arbeiten. Das geht nicht. Es geht bei mir mehr nach der einfachen Formel »Brotjob vs. Herzjob«. Brotjobs machen oft nicht so viel Spaß und die Kunden sind etwas dröger. Aber darüber hinaus habe ich die Möglichkeit, Herzjobs zu machen, über die man dann neue Aufträge akquirieren und sich positionieren kann. Eben dieses ständige Wechselspiel. CT Bei einem Workshop, den ich letztens mit Tänzern und Choreographen auf Kampnagel gemacht habe, sprachen wir auch über die Arbeit und den schönen Begriff der »Querfinanzierung«. Sehen eure Abrechnungen hier anders aus als die, die ihr in eurem normalen Arbeitsleben macht? FS In diesem Projekt fallen die Abrechnungen bisher weg. CT Habt ihr mit den Interviewten darüber gesprochen, wie sie damals Verträge geschlossen, Aufträge angenommen und ihre Leistungen abgerechnet haben? CB Nein. Es ging uns eher um die Arbeits- und Lebensweise. CT Vielleicht kann man zum Abschluss noch mal über eure Quelle reden, das Buch »Beschleunigung« von Hartmut Rosa und über die Thesen, die ihr mit auf den Weg genommen habt. CB Rosa ist ein Soziologe aus Jena. Ursprünglich wollten wir als Gegenvergleich auch Peter Glotz mit einführen, aber die Zeit reichte bisher nicht aus. Was für uns so

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interessant an dem Buch war, und was uns auch vorher nicht bewusst war, ist, dass man über Zeitstrukturen jegliches politische oder gesellschaftliche Phänomen empirisch aufarbeiten kann. Strukturen, die epochal, gesellschaftlich oder staatlich vorgegeben sind. Rosa spricht beispielweise von Handlungs- und Verflechtungsketten. Aufeinander folgende Tätigkeiten, die wir auch aktuell mit denen vorher abgeglichen haben. Wie oft hat man vorher dieses und jenes gemacht und was machen wir jetzt gerade?! Aber auch die Rast- und Ruhelosigkeit, von der Georg Simmel spricht. Der ständige InputGedanke. Aber auch, dass man sich ständig mit seinen Kooperationspartnern synchronisieren muss. Privat z. B. mit der Freundin, mit der man schon morgens Termine vereinbart. Im Digitalen sowieso. Wie solche Verflechtungs- und Handelungsketten aussehen und auch der dem Mensch innewohnende Effizenz- und Beschleunigungswille, den wir am Anfang auch sehr stark verspürt haben. Einfach die Empfindung für Zeit. Wir wollten überprüfen, ob sich die Wahrnehmung für Zeit ändert. Rosa spricht von drei Zeitebenen: zum einen die Freizeit- und Alltagsebene, dann die auf das ganze Leben bezogene Daseinsebene und die epochale Ebene, also die Epoche, in der man eigentlich lebt. Diese drei Ebenen synchronisiert man die ganze Zeit miteinander. Bei jeder Entscheidung, die man trifft. Wie definiere ich mich selber? Und das war in den vier Wochen schon eine ganz andere Erfahrung. Eben weil man sich mal ganz andere


Gedanken macht. Sehr viele triviale Inhalte sind weggefallen, die sonst den Kopf verstopfen. Ich habe mal gelesen, dass es Hormone gibt, die nachts während des Schlafens den Kopf spülen. Wie wenn man einen Rechner defragmentiert. Unnötige Erinnerungen und Erfahrungen werden weggespült. Deswegen war als körperliche Erfahrung auch der Schlaf besser als vorher. Auch ein Thema war die eingangs schon erwähnte Ambivalenz der Beschleunigung. Die war sowohl in Marx‘ Kommunistischem Manifest schon Thema – als auch bei Goethe. Diese ewige Sehnsucht nach Innehalten und

Stillstehen. Wir sind auch zu der Erkenntnis gekommen, dass all diese Erkenntnisse, die seit der Industriellen Revolution und vorweg entstanden sind, sich sehr gut auf die heutige Zeit beziehen lassen. Es drehte sich normalerweise bei jeder Vernissage oder jedem Kinofilm, den man besucht, immer um die Frage: »Kann ich das irgendwie produktiv für mich nutzen?« Stattdessen sollte man probieren, seine Zeit auch mal völlig unproduktiv zu gestalten. Müßiggang zu betreiben. Was im Renaissance-Zeitalter ein Luxusgut war. So haben wir das Buch von Hartmut Rosa eher als theoretischen Unterbau für das

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Projekt benutzt. Natürlich könnte man das Ganze mit mehr Zeit sehr viel weiter treiben. Und wir hätten auch Lust dazu. Aber man verliert, selbst mit Fördergeldern, einen Monat lang Einnahmen! Man muss sich ja auch wieder synchronisieren. CT Danke für das Gespräch. Das Gespräch führte Christoph Twickel. Christoph Twickel, Jg. 1966 lebt als Journalist und Autor in Hamburg, arbeitet als Radio-Moderator für den NDR und ByteFM, als Autor für Spiegel Online, Spex, Brand Eins.

interview


p b b

r o j e k t es c h r e i u n g 2

Das Projekt »Büro für Entschleunigung« mit der Unterzeile »Schmidt & Bruns Gebrauchsgraphik« ist als performative Installation angelegt. Der eingerichtete Büroraum stellt die Installation dar, während die Arbeit selbst und unsere äußere Erscheinung die Performance beinhaltet. Der Ausgangspunkt des Projektes war, kreatives Arbeiten mit »entschleunigten« Produktionsmitteln in der digitalen Gesellschaft aktiv zu untersuchen. Ein spezielles Augenmerk haben wir auf die Bereiche »analoge Produktionsweisen«, »Massenmedien« und »Zeitstrukturen« gelegt. Hierbei haben wir für den Zeitraum von einem Monat auf die Nutzung von Massenmedien und moderne Kommunikationsmittel verzichtet – mit Ausnahme von solchen, die bis zum Jahre 1966 vorhanden waren oder entstanden sind. Das Jahr 1966 haben wir als maßgebliche zeitbezogene Projektionsfläche gewählt, weil uns dieses Jahr sowohl stilistisch als auch geschichtlich immer besonders interessiert hat. Frühere Zeiträume hätten in der Wahl der Produktionsmittel und spätere bei der Einbeziehung historischer Kontexte Nachteile gehabt. Des Weiteren kamen 1966 die ersten Spiegelreflexund Super-8-Kameras auf den Markt. Beide Medien wollten wir gern einsetzen. Äußerlich haben wir uns ebenfalls in Kleidung und Frisur an das Jahrzehnt angepasst, um dem Lebensgefühl für unsere Untersuchungen näher zu kommen. Hierbei sei vorweg gesagt, dass es uns nicht darum ging, ein Abbild dieser Zeit zu schaffen. Dies hätte unserer Meinung nach eher den Effekt eines künstlerisch einengenden Korsetts gehabt, das den notwendigen Freiraum eher limitiert hätte. Eben diesen geistigen und gegenständlichen Freiraum haben wir in einem Atelier des Hamburger Gängeviertels vorgefunden und in ein Büro im Stile der Fünfziger und Sechziger Jahre verwandelt. Dort haben wir mit analogen Arbeitstechniken Aufträge für reale Kunden umgesetzt. Die Aufträge wurden im Vorfeld akquiriert, während wir uns folgende Arbeitstechniken während dieses einen Monats angeeignet haben: Holz- und Siebdruck, Bleisatz, Kalligrafie, analoge Fotografie und -entwicklung sowie den Umgang mit der Schreibmaschine. Der Büroname »Schmidt & Bruns Gebrauchsgraphik« setzt sich, wie in den Sechziger Jahren üblich, aus

unseren Nachnamen zusammen. Wobei »Gebrauchsgraphik« der übliche Terminus für den Berufsstand des heutigen »Kommunikationsdesigners« war. Dies ist auch der Studiengang, in dem Florin und ich ausgebildet sind. Vor dem Studium hat Florin das Fachabitur für Gestaltung erworben, während ich eine Ausbildung zum Mediengestalter für Print und Operating in einer Druckerei und Werbeagentur absolviert habe. Seit einigen Jahren arbeiten wir als Freelancer, sowohl gemeinsam als auch einzeln, in den Bereichen Grafik, Editorial-Design, Wandgestaltung, Urban Art und Illustration. Zudem realisieren wir mit zwei Freunden unter dem Namen »cacao collective« diverse multimediale Installationen. Wegen der aufgezählten Tätigkeiten zählen wir uns zur »Digitalen Bohème«, die vermutlich auch einen Großteil der Leserschaft dieser Dokumentation darstellt. (Der Begriff »Digitale Bohème« bezeichnet freischaffende Medienberufler mit künstlerischen Ambitionen, die neue Kommunikationstechnologien nutzen, um ihre individuellen Handlungsspielräume zu erweitern.) Wie in diesem Milieu üblich, verschmelzen auch bei uns unser Privat- und Arbeitsleben seit Jahren miteinander. Der Beruf und die Liebe zum visuellen Schaffen setzen häufig voraus, dass man sich dauerhaft und eingehend mit Zeitgeist-Entwicklungen auseinandersetzt, ob gesellschaftlich, politisch oder rein visuell. Genau diese Auseinandersetzung und der begleitende Erfolgsdruck, um ein ausreichendes Einkommen zu erzielen, bewirkten eine dauernde Rastund Ruhelosigkeit. Aus diesem Zustand heraus entstand eine starke Sehnsucht nach etwas Standhaftem und Ruhigem – einem Innehalten. Vor ungefähr zwei Jahren waren Florin und ich in mehreren Projekten gleichzeitig involviert. Der Stresspegel dabei war so hoch, dass uns die romantische Vorstellung eines Büros, in dem man »entschleunigt« und auf analogem Wege für sich arbeiten kann, schlichtweg begeisterte: ohne Druck, das ständige Flimmern

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In der Vorbereitungsphase zum Projekt führten wir Interviews mit diversen Personen, die im Jahr 1966 als Grafik-Designer tätig waren, um ein Gefühl für die Arbeitsweise und dem dazugehörigen Lebensgefühl für diese Epoche zu bekommen. Es liegt uns fern, mit diesem Projekt den Einzug von digitalen Technologien in unseren Alltag verteufeln zu wollen. (Einer der interviewten Grafiker äußerte sich beispielsweise sehr erfreut über die technischen Neuerungen seit seiner aktiven Berufszeit. Seiner Meinung nach impliziere der technische Fortschritt ein schnelleres, komplexeres und genaueres Arbeiten. Man spare mit heutigen Produktionsmitteln beträchtlich an Zeit. Diese Einschätzung können wir nachvollziehen.) Mit dem Projekt »Büro für Entschleunigung« möchten wir vielmehr einen sensiblen und reflektierten Umgang mit modernen Medien fördern. Es geht uns nicht zuletzt auch um den gezielten, sinnvollen Konsum von Informationen. Um diese Überlegungen für den Leser transparent zu gestalten, bedarf es zunächst der Erläuterung unserer theoretischen Ausgangslage. Im folgenden Abschnitt werde ich in zentrale Begriffe zur »Sozialen Beschleunigung« einführen, um unser Anliegen aus dieser Perspektive vorzustellen.

von Bildschirmen und dem dauernden Klingeln von Mobiltelefonen. Diese Idee haben wir vor geraumer Zeit überdacht und nun projektgebunden in Form eines Selbstversuchs umgesetzt. Der Versuch handelt davon, sich in einem künstlich geschaffenen Zeitfenster von vier Wochen die eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen vor Augen zu führen und diese mit dem Ziel zu hinterfragen, was man als kreativ Schaffender benötigt, um den eigenen Prioritäten entsprechend Arbeits- und Privatleben in der »beschleunigten Gesellschaft« zu gestalten. Die Zeit des Selbstversuchs haben wir wegen des Kontrastes zu unserem normalen Alltag »Entschleunigungserfahrung« genannt, die ich in dieser Dokumentation beleuchten werde. Als theoretische Grundlage dienten uns die Werke »Beschleunigung« des Soziologen Hartmut Rosa sowie »Die Großstädter und das Geistesleben« des Soziologen Georg Simmel. Beide Autoren setzen sich mit dem Thema der Beschleunigung im urbanen Milieu auseinander. Im weiteren Verlauf werden wir zur Untersuchung unserer Fragestellungen einige Variablen der Autoren auf unsere Unternehmung anwenden und erläutern.

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projektbeschreibung


theoretischer h i n t e r g r u n d 3 Das Phänomen »Soziale Beschleunigung« ist ein wesentlicher Bezugspunkt unserer Untersuchungen, da sie den Grundstein für das gesamte Projekt bildet. Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt dieses Phänomen als die erhöhte Geschwindigkeit des sozialen Wandels. Segment schon längst verloren. Dies lässt sich konkret an der allgemeinen Arbeitssituation aufzeigen. Im Gegensatz zu den Fünfziger Jahren wechselt der Mensch heute wesentlich öfter die Arbeitsstelle. Ehepaare lassen sich wesentlich häufiger scheiden usw. Die Gegenwart, also das konkrete »Ereignisjetzt« sozialer Situationen, schrumpft in zunehmendem Maße und wird häufig bestimmt durch frühere bzw. künftige Ereignisse.

Demnach unterliegen moderne Gesellschaften seit Jahrhunderten der »Sozialen Beschleunigung«. Einen massiven Höhepunkt erreicht dieses Phänomen im 18. Jahrhundert in der Sattelzeit vor der Industriellen Revolution und bezeichnet den Übergang der Frühen Neuzeit zur Moderne. Dieser ist geprägt von der Idee des Fortschritts. Durch den Wechsel von der Agrarzur Industriegesellschaft vollzieht sich eine beschleunigte Entwicklung der Technologie und in den Wissenschaften. Dementsprechend gründet die »Beschleunigungslogik« jener Zeit auf Fortschritt, die in Gesellschaft und Technologie ihren Niederschlag findet. Ungefähr zwei Jahrhunderte später löst die »Digitale Revolution« um 1989 herum einen ähnlich bedeutenden sozialen Wandel aus, der in fast alle Lebensbereiche hinein wirkt. Durch die neuen Kommunikationsmittel (z.B. Computer) verstärken sich Prozesse der globalen Vernetzung um ein Vielfaches. Es besteht allerdings ein entscheidender Unterschied zwischen der »Beschleunigungslogik« des 18. und der des 20. und 21. Jahrhunderts. Im 18. Jarhundert beinhaltete diese den Gedanken des gesellschaftlichen Fortschritts, während an der Schwelle des 20. zum 21. Jahrhunderts laut Rosa die »Soziale Beschleunigung« hauptsächlich dazu dient, das kapitalistische Wirtschaftssystem aufrecht zu erhalten. Nach Hartmut Rosa ist die »soziale Beschleunigung« in drei Formen zu unterteilen: die technische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Beschleunigung des Lebenstempos. Die technische Beschleunigung bezieht sich auf die Produktion, den Transport und die Kommunikation. Also auf die immer schnellere Bewegung von Menschen, Gütern und Informationen. Diese sei deswegen Beschleunigung »in« der Gesellschaft. Die Beschleunigung des sozialen Wandels dagegen ist eine Beschleunigung »der« Gesellschaft selbst. Der Philosoph Hermann Lübbe spricht gar von einer »Gegenwartsschrumpfung«.1 Das meint eine in immer kürzeren Abständen nötige, Neubeschreibung von Gegenwart und Zukunft durch eine zunehmende Innovationsverdichtung. Was in einem Bereich heute noch Gültigkeit besitzt, hat diese in einem anderen

»Was ist Zeit ? W enn niemand mich fragt, w eiß ich es. W ill ich es einem Frag endem erk l ären, s o w eiß ich es nicht. Au g u st i n u s vo n H i p p o, um 4 0 0

Die Beschleunigung des Lebenstempos lässt sich dagegen als eine »Verdichtung von Handlungsepisoden«2 sowie als »Veränderung der Zeiterfahrung« beschreiben. Die Handlungsstränge des Individuums werden komplexer, vielschichtiger und verknappter. Sie verdichten sich zunehmend durch Massenmedien und moderne Kommunikationmedien. Demgemäß bezeichnet Rosa die Beschleunigung als eigenständiges Grundprinzip der Moderne, als »die in einem »kapitalistischen Wirtschaftssystem angelegten Steigerungsprinzipien des Wachstums und der Beschleunigung, welche kulturprägend und strukturbildend für die Lebens- und Gesellschaftsform der Moderne sind«3.

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Diese neuzeitliche »Akzelerationsdynamik ist demnach ein dynamischer Vorgang bzw. ein sich selbst antreibender zirkulärer Prozess«,4 der drei externe Motoren beinhaltet. Diese sind, wie oben beschrieben, sowohl ökonomischer, kultureller und sozialstruktureller Natur, die sich in einer ständigen Wechselwirkung gegenseitig stimulieren. Die kumulative Wirkung ist nach Rosa die immer weitergehende Beschleunigung von Prozessen, denn auf eine Aktion folgt immer eine Reaktion. Auf diese Weise gewinnt die gegenseitige Stimulierung beständig an Tempo. Dieses Tempo ist »ein Ausdruck für die Menge der Verflechtungsketten, die sich in jeder einzelnen gesellschaftlichen Funktion verknoten.«5 Diese Verflechtungsketten werden in der Spätmoderne stetig länger und kleinteiliger. Der

Philosoph Marshall Berman beschreibt die Modernität als einen »Zustand unaufhörlicher Dynamik«6. Diese totale Dynamisierung von sozialen Prozessen verursache eine veränderte Qualität der Zeit und damit eine »kategoriale Veränderung und Neubestimmung sowohl des individuellen als auch des kollektiven Selbstverständnisses«.7 Das heißt, dass der Identitätswandel des Einzelnen und der Wandel sozialer Strukturen durch Modernisierung sich gegenseitig bedingen. Laut Rosa drohe die »soziale Beschleunigung« in der Spätmoderne in ihr Gegenteil – in eine erstarrte Steigerungsspirale – umzuschlagen. Das könnte dazu führen, dass sich gesellschaftliche Synchronisation und Integration nicht mehr aufrechterhalten lassen. Es kommt zu einer »Verzeitlichung der Zeit«,8 infolge dieser sich stetig steigernden Beschleunigungsprozesse. Durch dieses »institutionell und strukturell erzwungene Tempo« sei der Mensch überfordert. Er müsse sich in seinem Handeln stets an den Zeitmustern und Aktivitäten seiner »Kooperationspartner« orientieren und seine Zeit gezwungenermaßen rigide planen. Diese Zeitpraxis sei jedoch nicht die Folge individueller Entscheidungen, sondern folge einem gesellschaftlich vorgegebenen Muster. Die von Rosa kritisch kommentierte Disziplinargesellschaft in der westlichen Welt zeichnet sich durch internalisierte und stark etablierte Zeitstrukturen aus. Für das Individuum sei ein Ausweichen aus dieser »strikten zeitlichen Regulierung«9 nicht möglich, ohne dass sich gesellschaftliche Nachteile ergeben wie z.B. eine Ausgrenzung oder Diskriminierung. In modernen Gesellschaften werden drei unterschiedliche Zeitperspektiven und –horizonte gleichzeitig ausgebildet. Die Zeitstrukturen des Alltagslebens bestimmen das Handeln in Bezug auf Arbeit und Freizeit, also der »Alltagszeit«. Hier geht es darum, die Geschwindigkeit und die Dauer der alltäglichen Handlungen beständig zu synchronisieren und Arbeit und Freizeit effizient miteinander in Einklang zu bringen. Die zweite Zeitperspektive ist die der Lebenszeit und beinhaltet die Frage nach der Gestaltung des Lebens von Individuen. In dieser bezieht der Mensch seine Entscheidungen und Handlungen auf die gesamte Lebensdauer, z.B. bei der Wahl seiner Ausbildung, seines Ehepartners usw. Die dritte Perspektive dagegen ist die übergreifende Zeit ihrer Epoche, also die so genannte Weltzeit.10 Damit ist die Einbettung des eigenen Lebens in seine Generation und sein Zeitalter gemeint. Diese drei Zeitebenen bestimmen das »In-der-Zeit-Sein«11 der gesellschaftlichen Akteure. Die Zeit von Individuen in modernen Gesellschaften findet demnach auf drei Ebenen statt. Dieses »In-der-Zeit-Sein« wird immer häufiger zum modernen Qualitätsmerkmal für individuelle Leistungsfähigkeit, vorausgesetzt, es gelingt, alle drei Ebenen permanent miteinander zu synchronisieren. Dementsprechend führt jede Entscheidung in einer Zeitebene zu einer Wechselwirkung in den

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anderen Ebenen. Darüber hinaus gibt es eine vierte Zeit, die in jeder Kultur durch Rituale und Feste praktiziert wird und als »Sakralzeit« 12 bezeichnet wird und als Auszeit gilt. Diese - auch heilige Zeit genannt - steht über der linear verlaufende Zeit des Lebens und ist in einer metaphysischen Ebene angesiedelt. In dieser Zeit wird dem Menschen ein staatlich oder kulturell verankertes Moment des Besinnens zuteil, das mitunter dazu dient, die drei regulären Zeitebenen miteinander in Einklang zu bringen. Dies ist jedoch in hohem Maße von der sozialen und kulturellen Struktur der jeweiligen Gesellschaft abhängig. So verfügen, laut Otthein Rammstedt, »einfache und undifferenzierte Gesellschaften über ein ‚occasionales’ Zeitbewusstsein, welches nur zwischen Vergangenheit und Zukunft unterscheidet.«13 Während frühere ständisch differenzierte Gesellschaften eher einem zyklischen Zeitbewusstsein zugeneigt waren, welches die »Zeit als Kreislauf immer wiederkehrender Prozesse und Zustände erfahren wird.«14 Während zwischen Vorher und Nachher unterschieden wird, sind Vergangenheit und Zukunft gleichbedeutend. In den »stärker ausdifferenzierten Gesellschaften der Neuzeit«15 ist das Zeitbewusstsein ein lineares und basiert auf dem Prinzip von Kausalität und Fortschritt. Daher wird heute von einem linearen Zeitbewusstsein mit offener Zukunft gesprochen. Die Zeiterfahrung der modernen Gesellschaft ist laut Rammstedt durch Bewegung und Beschleunigung geprägt, während sie im Gegensatz zur Zeiterfahrung und –wahrnehmung früherer Gesellschaften ungewiss ist. Im Mittelalter beispielsweise galt durch den großen Einfluss von Kirche und Religion die Zukunft als gewiss und fest verankert. Das »Rasen der Ereignisgeschichte«,16 wie der Philosoph Paul Virilio es bezeichnet – lässt einen gewissen Halt, wie ihn die Menschen in früheren Epochen im Glauben gefunden haben, vermissen. Virilio konstatiert zudem, dass sich der räumliche Bezug des Menschen zur Welt durch die mittlerweile fehlenden Grenzen im Internet gänzlich verändert hat. Distanzen und die Zeit für deren Überwindung schrumpfen im virtuellen Raum dadurch ganz gewaltig. Dies führt dazu, dass die nicht-virtuelle Welt in eine Art Stillstand gerate. Der rastlose Wandel in der

virtuellen Realität findet eine Entsprechung in der Beschleunigung des Lebenswandels im realen Leben. Dies wiederum führt zum »Rasenden Stillstand«.17 Diese »Komplementärerfahrungen« von Stillstand und Beschleunigung sind ihre gegenseitigen Kehrseiten. Das Gefühl, dass alles immer noch etwas schneller gehen kann und muss, also der permanente, selbst auferlegte Druck des Individuums zur Beschleunigung aller möglichen Handlungen ist der entscheidende Punkt: Dies geschieht nicht um voran zu kommen, sondern lediglich um den bestehenden, selbst geschaffenen Platz in der Gesellschaft zu halten. Also quasi ein Stillstehen. Durch das »Rasen der Ereignisgeschichte« bedingt sich dieses »Stillstehen der ideendynamischen Entwicklung«,18 d. h. der gesellschaftliche Akteur ist so sehr damit beschäftigt, sich sozial zu synchronisieren und mit der Zeit »Schritt zu halten«, dass er kaum eine Möglichkeit wahrnehmen kann, sich selbst tiefenstrukturell zu entwickeln. Für einen Moment der Selbstreflexion ist kaum noch Platz. »Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur nie dazu«. Diese Aussage des Schriftstellers Ödon von Horvath beschreibt genau den genannten Zustand.19 Das Paradoxe daran ist, dass der heutige Mensch der westlichen Gesellschaft die maximale Freiheit genießt, eben das zu tun, was er möchte. Trotzdem besteht ein permanentes Gefühl der Heteronomie. Die Menschen sind ständig von dem Gedanken getrieben, noch etwas erledigen zu müssen. So kann man von einer »Rhetorik des Müssens«20 sprechen. Die Zeit an sich ist nicht gottgegeben, sondern sozial konstruiert. Die Zeitnormen, in diesem Falle also die Zwänge, die den Menschen antreiben, sind keine ethischen Normen, sondern fungieren eher als stumme Gewalt. Sie sind nirgendwo niedergeschrieben oder offiziell als Grundlage oder Gesetz verabschiedet worden. Diese Rhetorik erzeugt bei den Akteuren eine Zunahme von Handlungen und Tätigkeiten. Diese wiederum führt zu einer expotentialen Steigerung der Abhängigkeiten aller Handlungen und Akteure untereinander. Somit steigt der Synchronisierungsbedarf auch beim Individuum. Demzufolge gilt: Je pluralistischer, also auch demokratischer, eine Gesellschaft ist, desto zeitaufwändiger wird sie. Es entsteht eine zunehmende »Vergesellschaftung«.21

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sollen oder wollen. Dadurch erhöhen sich die Zahl der Schnittstellen und Kreuzungen von Optionen um ein Vielfaches, damit auch der Entscheidungsdruck. Beim gesellschaftlichen Akteur führt dies - in Kombination mit Beschleunigung auf allen Ebenen - bisweilen zu Irritationen und Rast- und Ruhelosigkeit. Zeit wird immer mehr zum knappen, wertvollen Gut, das das Individuum möglichst effizient zu nutzen und aufzuteilen hat. Das berühmte Zitat Benjamin Franklins: »Remember that time is money« beschreibt diesen Zustand ziemlich treffend. Mit der »Steigerung des Nervenlebens« beschrieb Georg Simmel in seinem Standardwerk »Die Großstädter und das Geistesleben« schon 1900 den Zustand der »wirren Halt- und Rastlosigkeit« hervorgerufen durch das ewige Suchen nach momentaner Befriedigung und durch immer neue »Anregungen, Sensationen und äußere Aktivitäten«.26 Dies führt seiner Meinung nach »zur wilden Jagd nach Konkurrenz«27 und zur »spezifisch modernen Treulosigkeit auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen«.28 Heute, über 100 Jahre später, hat diese Aussage nichts an Aktualität verloren. Schon lange vor der Industriellen Revolution entwickelte sich laut Rosa ein markantes Gegensymptom zur Beschleunigung in Form der »Schwarzen Melancholie«, welche sich in einem »Zustand der Lähmung und des Stillstandes«, also der »vergangenheits- und zukunftslosen zeitlichen Leere«29 äußerte. Dieser Zustand trat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in veränderter Form als »l’ennui«, Langeweile oder »boredom« auf. Rosa zufolge war dies eine Folge der bürgerlichen Kultur, die sich dem flüchtigen Augenblick verschrieben hatte. Er vermutete hinter »dem rasanten Wandel der modernen Gesellschaft die ewige Wiederkehr des Gleichen« eher eine Flucht vor der Langeweile, die paradoxerweise zu einer neuen Form der Langeweile führte. Mit ähnlichen Begriffen wurden Anfang des 20. Jahrhunderts Symptome bezeichnet, die zu den so genannten Beschleunigungskrankheiten gezählt werden. Darunter fallen z.B. Neurasthenie, eine psychische Störung, die als Nervenschwäche bezeichnet wurde. Als zeitgenössische Ausprägung der Phänomene um Beschleunigung und Entfremdung zählen Krankheitsbilder wie die klinische Depression oder das Burnout-Syndrom, das laut Medienberichten bei Akteuren der »Digitalen Bohème« vermehrt in Erscheinung tritt. Der Beschleunigungswille, der laut Hartmut Rosa dem Menschen innezuwohnen scheint, impliziert zuweilen die Sehnsucht nach dem genauen Gegenteil. Das Grundprinzip der Ambivalenz, die er als »Weg zum wahren Leben«30 und gleichzeitig »allesverschlingenden Strudel«31 nennt, ist bestimmend für die gesamte Neuzeit. Während der Mensch sein Handeln beständig dynamisieren und beschleunigen möchte, sehnt er sich gleichzeitig nach Stillstand und dem Verweilen im Augenblick.

Die Abhängigkeitsketten haben sich, ähnlich wie die Handlungsketten, enorm verlängert. Unsere heutige »Multioptionsgesellschaft«,21 beschreibt und fördert eben diesen Zustand. Das dauerhafte Bedürfnis nach Mehr: mehr Konsum, mehr Erlebnis, mehr Leben. Und all das in möglichst kurzer Zeit. In der multioptionalen Gesellschaft sucht jeder nach der persönlich besten Zusammenstellung von Optionen. Der Soziologe Èmile Durkheim sprach von einer »Anomie«, einer regellosen Existenz der Multioptionalität.23 Das Leben zerfalle in unzählige kleine Episoden, was eine Entfremdung des Menschen von sich selbst, seinen Mitmenschen und den Dingen zur Folge habe. Es findet kaum noch eine »Anverwandlung«24 statt, d. h. ein sich »zu eigen machen von Dingen« im Sinne dessen, dass man diesen Dingen nahe steht bzw. eine Beziehung zu ihnen hat. Die Dinge kommen einem dadurch äußerlich und fremd vor, dass man versucht, sie sich in einem erhöhten Tempo anzueignen. Als Beispiel im Alltag kann man beobachten, dass im Urlaub kaum länger an einem Ort verweilt, sondern stattdessen versucht wird, möglichst viel zu sehen und aufzunehmen. Ähnlich liegt der Fall bei vielen Menschen mit Büchern, die man unbedingt besitzen muss. Wenn sie erst zuhause im Regal stehen, verlieren sie an Wert und es wird wieder einem anderen »Objekt der Begierde« nachgejagt. Die »Anverwandlung« misslingt somit. Dieses Phänomen ist eines der »Wunder« des Kapitalismus und damit der Wegwerfgesellschaft, die uns dazu bringt, fast ausschließlich zu produzieren, zu kaufen und zu besitzen – und immer weniger zu konsumieren, obgleich der Konsum an sich ehedem einen sehr hohen Wert genoss.

ei ge ntli c h bi n i c h ga n z an d e r s. i ch kom m e nur n i e da zu. Ödö n vo n H orváth

Man kann sowohl auf dieses Phänomen als auch auf das der »Sozialen Beschleunigung« bezogen von »Dynaxität« sprechen. Dies ist ein Kunstwort des Psychologen Michael Kastner, das aus den Begriffen Dynamik und Komplexität zusammengesetzt wird.25 Die Vielfalt an Möglichkeiten, Aufgaben und Aktivitäten nimmt permanent zu. Wir haben immer mehr Wahlmöglichkeiten in Bezug darauf, was wir tun können,

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Diese Ambivalenz war der Hauptgrund, das Projekt »Büro für Entschleunigung« durchzuführen. Während wir die vielfältigen technischen Möglichkeiten und modernen Kommunikationsmittel, sowohl privat als auch beruflich extensiv und gern nutzten, schwang immer die Sehnsucht nach einem Innehalten mit. Besonders in Zeiten, in denen wir beruflich sehr stark involviert waren, potenzierte sich dieses Bedürfnis

nach Ruhe und Müßiggang, der Wunsch nach einer eigenen »Sakralzeit« war geboren. Unter Zuhilfenahme der in diesem Abschnitt erläuterten theoretischen Grundlagen und mit unseren eigenen Arbeitserfahrungen haben wir Thesen aufgestellt, die wir in unserem Projekt und Selbstversuch untersucht haben. Diese werden im folgenden Kapitel vorgestellt.

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4 In diesem Abschnitt stellen wir unsere Annahmen bezüglich Verlauf und Ergebnissen des Selbstversuchs im »Büro für Entschleunigung« vor. Der Übersicht halber haben wir sie in drei Einheiten unterteilt: a) Massenmedien und Kommunikationsmittel, b) analoge Produktionsweisen und c) Zeitstrukturen. Der theoretische Kontext und zentrale Begriffe daraus wurden im vorangegangenen Kapitel ausführlich erläutert. Diese Thesen dienen dazu, die Erfahrungen und Wahrnehmungen der Projektzeit besser zu strukturieren und die später gewonnen Erkenntnisse für die Leser transparent zu machen.

M assenmedien & moderne Kommunik ationsmit tel 1 Durch den Verzicht auf Massenmedien und moderne Kommunikationsmittel entsteht ein Phantomschmerz,

der das Gefühl der Anbindung an die Gesellschaft vermissen lässt. 2 Durch den Verzicht auf Massenmedien und moderne Kommunikationsmittel verringert sich die beschriebene

»Steigerung des Nervenlebens«. 3 Durch den Verzicht auf Massenmedien und moderne Kommunikationsmittel entflechten und verkürzen sich

private und berufliche Handlungsketten. Der Druck durch Entscheidungszwänge sinkt. 4 Durch den Verzicht auf Massenmedien und moderne Kommunikationsmittel erfährt die Privatsphäre

wieder einen höheren Stellenwert.

Analoge Pr oduktionsweisen 5 Durch das Arbeiten mit »entschleunigten«, d. h. analogen Produktionsmitteln verliert man Zeit. 6 Das analoge Arbeiten ermöglicht eine stärkere Bindung zum Endprodukt.

7 Durch die künstlich minimierte Auftragslage und die »entschleunigte« Arbeitsweise stellt sich weniger

Stress ein und der Leistungsdruck sinkt.

8 Das Konzept eines Grafikbüros, das eine ausschließlich analoge Produktionsweise verfolgt, ist nicht wettbewerbsfähig.

Zeitstrukturen

9 Der bereits beschriebene »Rasende Stillstand« wird durch die veränderten Zeitstrukturen, Einflüsse und

Handlungen unterbunden bzw. reduziert.

10 Eine »Gegenwartsschrumpfung« nach Lübbe findet nicht statt – stattdessen wird die Gegenwart zum

größten wahrzunehmenden Teil des Zeitbewusstseins.

11 Die Synchronisation mit Kooperationspartnern wird durch den Selbstversuch erschwert, nimmt jedoch

gleichzeitig an Bedeutung ab.

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e n t schleunigungs e r f a h r u n g 5 In diesem Absatz möchte ich einen kurzen, persönlichen Einblick in meine »normalen«, d. h. digitalisierten, Tagesabläufe bis zu Beginn des Projekts wiedergeben, um die Veränderungen auch für Leser dieser Dokumentation nachvollziehbar zu gestalten. Diese erklären ebenfalls, wie die Annahmen der vorangegangenen Thesen zustande kommen. Im Anschluss lege ich anhand meiner Tagesprotokolle aus der Projektzeit die Erfahrungen chronologisch dar und beschließe sie jeweils mit meiner persönlichen »Entschleunigungserfahrung«.

Der von Virilio stammende Begriff des »Rasenden Stillstands« (Vgl. Kapitel 3) traf sehr gut auf mich zu. So hatte ich meistens das Gefühl, in einem unaufhörlichen Strudel von sich gegenseitig bedingenden Handlungen, Aktivitäten und Entscheidungen festzustecken. Die Handlungsketten, also die Aneinanderreihung von Handlungen während eines Tages, waren unaufhörlich lang. Mein Arbeitsalltag und meine Freizeit kamen mir mehr wie in viele, kleine Episoden zerstückelt denn als Ganzes vor. So begann mein Tag meist schon mit dem starken Bedürfnis, während des Kaffeekochens das aktuelle Weltgeschehen aufzunehmen, mögliche Kontaktaufnahmen per Handy, Mail oder aus sozialen Netzwerken (Facebook / Flickr / Xing) in die Wege zu leiten und auf diese zu reagieren. Diese konnten beruflicher oder privater Natur sein. Meistens war beides der Fall. Ich ging morgens entweder in ein großes deutsches Verlagshaus zum Arbeiten oder erledigte freie Aufträge von zuhause aus. Das Surfen und das bei mir dazugehörige Prokrastinieren über Youtube und Blogs zogen sich, sowohl zuhause als auch im Verlag, stringent durch den Tag. So bedingte eine Handlung die andere. Es bestand ein durchgehendes Bedürfnis, in einem Moment der Ruhe oder der fehlenden Konzentration sofort noch mal kurz den Maileingang zu prüfen oder die Social-Media-Funktionen zu aktivieren. Es reichte auch eine Wartezeit am S-Bahnsteig von einigen Minuten, um ungeduldig zu werden und dann die Zeit doch noch möglichst produktiv mit dem Schreiben einer SMS oder einer Mail zu überbrücken. Abgesehen davon, hatte ich immer eine Zeitung, ein Buch oder ein Magazin dabei. Meistens von allen drei etwas.

In meinen »Höchstzeiten« der Input-Aufnahme las ich drei Bücher gleichzeitig. Ein triviales auf der Toilette, ein anspruchsvolleres Sachbuch zuhause und einen guten Roman unterwegs. Dazu kamen zwischen 10-15 Magazine pro Monat, eine Wochenzeitung und ab und zu eine Tageszeitung für unterwegs.

Der Zwang, sich abzulenk en und unt erhalt en zu l assen, bestand eig ent lich dur chw eg. Portable Musik auf dem iPod gesellte sich dazu, die wie geschaffen dafür ist, sich guten Gewissens von der Kontaktaufnahme durch andere Menschen abzukapseln. Das stundenlange Surfen und Suchen nach neuer Musik bedingte naturgemäß auch das ständige Hören. Die ständige Suche nach virtuellem und materiellem Besitz von Medien und Musik kostete sehr viel Zeit. Ob es ein neues Album in digitaler oder eine neue Zeitschrift in analoger Form war. Sobald etwas von mir »erbeutet« wurde, schaute ich nach neuen »Objekten der Begierde«. All das glich mehr einem Anhäufen denn einem Konsumieren.

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So kam es selten zur »Anverwandlung« (Vgl. Kapitel 3) von materiellen Dingen. Mit der Anschaffung eines Smartphones potenzierte sich der Informationsschub und der entsprechende Handlungsbedarf noch um ein Vielfaches. Nun konnte ich auch unterwegs immer Mails oder den eigenen Blog schreiben, surfen und Clips angucken. Der Zwang, sich abzulenken und unterhalten zu lassen, bestand eigentlich durchweg. Man könnte von einer durchgehenden Informationsaufnahme auf mehreren Ebenen sprechen, die verbunden war mit den vielen visuellen Eindrücken, die in einer Großstadt ohnehin auf einen einwirken. Besonders als als visuell veranlagter Mensch, erlag ich obendrauf ständig allen möglichen visuellen »Kleinigkeiten«: Menschen, Plakatwände, Monitore usw. Dieser von Simmel als »Steigerung des Nervenlebens« bezeichnete Zustand war allgegenwärtig. So bestand auch eine der ersten Tätigkeiten, wenn ich abends nach Hause kam, im Einschalten des Rechners. Dann beantwortete ich weitere Mails, las oder schrieb Blogs und schaute online eine Serie oder einen Film – bis ich schlafen gegangen bin. Auffällig daran war das zwingende »Multitasking«, also mindestens zwei Sachen gleichzeitig zu machen. Wenn ich also telefonierte, surfte ich nebenbei oder beschäftigte mich mit einer grafischen Arbeit. Es bestand immer ein Drang, möglichst viel zu machen, ohne dass mich jemand dazu gezwungen oder angehalten hätte. Zwischendurch wusste ich natürlich, dass ich auch weniger Zeit vor dem Monitor verbringen könnte, aber ein gutes Buch oder Magazin kann man, wie schon erwähnt, auch unterwegs oder auf der Toilette lesen. Bei mir bestand oft der Drang, viel zu schaffen und immer »bescheid zu wissen«. Dieses »In-der-Zeit-Sein« ist als selbstständiger Kreativer sehr wichtig. Man soll immer »am Ball bleiben«, auch sozial. Die Schaffung und Erweiterung von sozialen Netzwerken, im Beruflichen wie Privaten, gehörte ebenfalls dazu. Wenn man abends auf einer Vernissage oder Party ist, ergeben sich ja auch immer Möglichkeiten zur Erweiterung eben dieses Netzwerkes oder die Aussicht auf neue Projekte. Diese »Beschleunigungslogik« war für mich immer allgegenwärtig.

Wenn mich das Angebot für einen neuen Auftrag erreichte, der interessant erschien, sagte ich bedenkenlos zu, auch wenn ich schon ausgelastet war: »Irgendwie schafft man das schon!« war immer meine Devise. Dieses Verschmelzen von Privat- und Arbeitsleben vermittelte mir das ständige Gefühl, nie mit der Arbeit fertig zu sein. Genauso wie das, von vielen Bekannten ebenfalls beklagte Home-Office-Syndrom, ein Synonym für Verwaltungstätigkeiten des eigenen Lebens (z.B. Korrespondenz mit Ämtern, Vermietern, Stromanbietern etc.). So war man tatsächlich durchgehend mit der Synchronisation mit seinen Kooperationspartnern, also der Partnerin, Freunden, Bekannten, Vorgesetzten, Kunden, Verwandschaft und der Familie und der Abwägung aller zu treffenden Entscheidungen beschäftigt. Die schon erwähnte »Multioptionsgesellschaft« ging auch an mir nicht spurlos vorbei. Im Gegenteil. Ich versuchte immer, die für mich beste Option zu wählen. Beispielsweise in der Videothek überlegte ich, welcher Film mir kulturell am meisten vermitteln würde. Genauso war es bei Ausstellungseröffnungen und Feierlichkeiten am Wochenende. Woraus ziehe ich den größten Nutzen? Der ständige, nach Effizienz strebende Umgang mit Zeit und die möglichst produktive Ausgestaltung meiner Handlungen, bestimmten meinen Alltag. Immer wenn sich jemand nach meinem Befinden erkundigte, gab ich zurück, dass ich momentan ziemlich im Stress sei. Gute Freunde stöhnten bei dieser häufigen Antwort. Wenn mich meine Eltern anriefen, erwähnte ich meist eingangs, dass ich wirklich wenig Zeit zum Telefonieren hätte, während ich nebenher die Spülmaschine ausräumte oder nach einem Albumdownload im Internet suchte. Mich begleitete das durchgehende Gefühl von Zeitnot. Dies machte sich nicht nur psychisch in Form von Wirrsein, einer ständigen Rast- und Ruhelosigkeit, sowie in oft wechselnden Gemütszuständen, sondern auch physisch bemerkbar. Genauer gesagt in Form von starken temporär auftretenden, heftigen Kopfschmerzattacken, einem oftmals unruhigem Schlaf und ständigen Schweißausbrüchen.

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6 Im folgenden Abschnitt werde ich den Zeitraum des Selbstversuchs aus meiner Sicht heraus chronologisch darlegen. Dabei spielen zum einen die Abläufe des Tages eine Rolle sowie die persönliche Bewertung der einzelnen Vorgänge.

Tag 1 montag, 02.05.2011 Florin und ich treffen uns als erstes morgens gemeinsam im »Büro für Entschleunigung« zur Besprechung. Schon entsteht das erste Problem durch mein »fehlendes« Smartphone: Ich soll unseren Firmenstempel abholen, kann den Laden aber ohne Karte nicht finden. Nachdem mir eine alte Dame in einem Teeladen bezüglich des Weges hilft, habe ich das Vergnügen, mit einer ebenfalls älteren Dame (Buchhändlerin) zu sprechen, die nicht sonderlich hilfsbereit ist. Bei der Ankunft hat der Laden zu. Der Kioskfernseher verrät mir, dass Osama bin Laden tot ist. Erste Gespräche mit Herrn Scheffler in der Bleisatzwerkstatt und Frau Sturm in der Holzdruckwerkstatt. Problem: Bei Frau Sturm ist die Anmeldung zum Kurs nur per E-Mail möglich. O-Ton Ellen Sturm: »Na, da haben ja alle anderen mit drunter zu leiden.« Meine Freundin erwähnt erstmals entstehende Probleme durch die fehlende moderne Kommunikation. Wir machen das Büro sauber und befreien den Raum von den letzten Störelementen. Florin erlitt abends fast einen Stromschlag beim Reparieren der alten Bürolampen. Für kreative Arbeit war noch keine Zeit. Am Abend beim Trinken eines Fingerbreit Whiskey entstand bei uns ein erstes Gefühl des Ankommens im gemeinsamen Büro. Der erste Tag ist noch hektischer als normale Arbeitstage im meinem ursprünglich »digitalisierten« Alltagsleben. Das Gefühl, ohne Smartphone unterwegs zu sein, entspannt mich zum einen, macht mich auf der

anderen Seite auch unsicherer bzw. unflexibler. So ist das Bewegen im öffentlichen und urbanen Raum ruhiger, aber mitunter auch planloser. Der dadurch entstehende Kontakt mit Mitmenschen, um sich z. B. nach dem Weg zu erkundigen, kann interessant sein oder auch entnervend. Ich fühle mich weniger autark. Ein Gefühl der Unsicherheit entsteht. Komischerweise empfinde ich nicht das geringste Bedürfnis nach modernen Medien. Aber ein Gefühl von Entschleunigung will sich auch nicht einstellen. Tag 2 dienstag, 03.05.2011 Wir fahren als erstes zum Großmarkt Boesner, um Arbeitsmaterialien zu besorgen. Dort finden wir nicht alles, was wir benötigen und vergessen leider auch einiges. Nach einem gemeinsamen Mittagessen beim Asiaten erledigen wir von einer Telefonzelle aus einige wichtige Telefonate und transportieren noch fehlende Einrichtungsgegenstände aus Florins Wohnung in unser Büro. Daraufhin holt Florin den am Vortag erwähnten Stempel ab, ich kaufe Nahrungsmittel ein. Nach einem gemeinsamen Glas Whiskey am Abend gehen wir ins Metropolis-Kino und schauen uns »Who’s Afraid of Virginia Woolf« aus dem Jahre 1966 an. Der zweite Tag verläuft ähnlich hektisch wie der erste. Dies wird durch unsere fehlende Planung verstärkt. Das Gefühl, den Alltag noch mehr strukturieren und planen zu müssen, nimmt zu. Und der Tag »verfliegt« geradezu, obwohl ich das Gefühl habe, kaum etwas zu schaffen. Vorher erschien das alles etwas einfacher.

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Das Wort »Entschleunigung« mutet noch immer wie ein Fremdwort an. Tag 3 mittwoch, 04.05.2011 Als erstes belade ich morgens meinen »Hackenporsche« mit allen Magazinen aus meiner Sammlung, die aus den Sechziger Jahren stammen sowie weiteren Büroaccessoires und begebe mich ins Büro. Nach einem Mittagessen in der Kantine der HfBK besorgen wir einige weitere Arbeitsmaterialien bei »Persiehl und Schreier« und beginnen im Büro mit der Ideenentwicklung für unsere Compliment Cards / Grußkarten. Wir fertigen mit unseren neu erlangten Kenntnissen eine Holzdruckform an, skribbeln mögliche Texte für das Anschreiben und entwickeln ein Layout für die Karten, das Anschreiben und unsere Visitenkarten. Der Arbeitstag endete erst um 20:00 Uhr. Erschöpft fahre ich nach Hause und verbringe den Rest des Abends sinnierend auf dem Balkon. Der dritte Tag verläuft, den ersten beiden Tagen ähnlich, hektisch und ist sehr anstrengend. Das erste kreative Arbeiten dagegen gibt mir ein gutes Gefühl. Es gestaltet sich allerdings sehr schwierig, alle auch sonst nötigen Arbeitsschritte wie das Setzen von Schrift und das Drucken einer Grafik, analog umzusetzen. Wir müssen stark umdenken und erfinderisch sein. Hinzu kommen die fehlenden Korrekturmöglichkeiten, beispielsweise beim Schreiben auf unserer alten TriumphSchreibmaschine. Dieser Umstand kostet mich viele Nerven.


Tag 4 donnerstag, 05.05.2011

Tag 5 freitag, 06.05.2011

Als erstes besorge ich morgens aus dem Holzcontainer eines Baumarktes ein wenig Feuerholz. Dabei will mich ein Mitarbeiter des Diebstahls bezichtigen und verhaften lassen. Nachdem alles doch glücklich geklärt werden kann und ich mit dem Fahrrad, aufgrund der verlorenen Zeit, relativ hektisch ins Büro fahre, entgehe ich nur knapp einem Verkehrsunfall. Triefnass im Büro angekommen, führen wir kurz darauf unser erstes Kundengespräch mit einem Gastronomen, das sehr positiv verläuft. Wir können ihm unsere gestalterischen Vorstellungen sehr gut näher bringen. Daraufhin gehen wir essen und verbringen den Rest des Arbeitstages mit der weiteren Ausarbeitung und Umsetzung unserer Compliment Cards. Mein Arbeitstag endet um 22:00 Uhr.

Bis ungefähr 13:00 Uhr sind wir beide mit der Produktion der Compliment Cards beschäftigt. Zu den Arbeitstechniken gehören Holzdruck, Kalligrafie, das Schreiben an der Schreibmaschine, das Stempeln von Logos und das Auswählen und Schneiden von Papier. Nach einem gemeinsamen Mittagessen machen wir einen ausgiebigen Spaziergang um die Alster, um das weitere Vorgehen zu besprechen und zu planen. Als nächstes betreiben wir etwas kreativen Müßiggang im Büro und blättern in Magazinen, um Ideen für unsere Holzschnittplatten zu entwickeln, die wir bis zum kommenden Montag für den Holzdruckkurs von Frau Sturm fertig zu stellen haben. Später bekommen wir Besuch von einem Nachbarn aus dem Haus und einer Freundin, die uns ihre Super-8-Kamera samt Filmen und Accessoires sowie einige alte Schallplatten als Leihgabe mitbringt. Danach entwickeln wir weitere Ideen. Schließlich kommen meine Freundin und einige Freunde zu Besuch. Nach einigen Gläsern Whiskey fährt jeder nach Hause und damit eigentlich ins Wochenende. Doch am Wochenende sind noch einige Arbeitsschritte nötig, um in der kommenden Woche »alles geregelt zu kriegen«.

Das Gefühl der »Entschleunigung« setzt langsam ein. Und das analoge, kreative Arbeiten macht zunehmend Spaß. Ich habe das Gefühl, sehr konzentriert arbeiten zu können. Nichts, abgesehen von der Türklingel und dem damit verbundenen Besuch von Menschen, lenkt mich ab. Das Mobiltelefon fehlt mir ebenso wenig wie mein Rechner. Die gemeinsamen Arbeitsabläufe von Florin und mir harmonieren sehr gut. Ich habe geradezu Glücksgefühle beim Arbeiten. Nicht nur die kreative Arbeit, sondern auch die vielen, vorausgehenden Überlegungen zur Umsetzung mit begrenzten Mitteln fordern mich und machen mich somit auch sehr zufrieden. Ein Parkbesuch mit der Lektüre des Buches »Die Pest« von Albert Camus rundet den Abend ab.

Der letzte Tag der Woche lässt mich aufatmen. Ich habe das Gefühl, langsam eingearbeitet zu sein und fühle mich in den neuen Strukturen wohl. Ich bin mein eigener Herr und fast niemandem Rechenschaft schuldig. Es bestehen keine Verpflichtungen, Mails zu

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beantworten oder noch unbedingt eine kulturelle Veranstaltung am bevorstehenden Wochenende besuchen zu müssen. Besonders schön zu sehen ist, wie wohl sich unsere Gäste bei uns fühlen. Einige äußern selbst ein Gefühl des »Loslassens« in unseren Räumlichkeiten. Das ausgiebige Hören unserer Plattensammlung, ohne die Möglichkeit des ständigen Wechselns, und das bewusste Hören durch die überschaubare Auswahl an Musik eröffnet mir ebenfalls neue Horizonte. Tag 6 samstag, 07.05.2011 Den ersten Teil des Tages verbringen Florin und ich im Park »Planten un Blomen«. Danach beschäftigt sich jeder von uns beiden mit seinen Ideen für den Holzschnitt. Am Abend kommen einige Freunde zu Besuch ins Büro. Das Aufhalten und Arbeiten im Büro übt eine wahre Entspannung und damit auch Entschleunigung auf mich aus. Ich habe das Gefühl, am richtigen Ort zu sein. Außerdem erwartet mich zuhause auch kein Rechner, der mir zur Berieselung und zum Vorantreiben meiner beruflichen Selbständigkeit das Gefühl vermittelt, ich müsste mich mit »ihm« beschäftigen. Durch die fehlende Musik auf dem Fahrrad und den ausbleibenden privaten und beruflichen Termindruck freue ich mich geradezu auf die täglichen »Wegbeschreitungen« quer durch die Stadt. Außerdem beginne ich, viel über mein bisheriges Dasein und mich selbst zu reflektieren. Ein Zustand, der bisher meist ausbleibt oder von mir kaum verfolgt wird.

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Tag 7 sonntag, 08.05.2011 Am späten Vormittag sitzen wir beide wieder im Büro. Wir arbeiten an unseren Holzschnitten und stellten diese beide gegen Nachmittag fertig. Im Gegensatz zu sonst sprechen wir kaum miteinander und sind in unsere Arbeit vertieft. Gegen Abend verlassen wir gemeinsam das Büro. Nun bin ich fast an einem meditativen Punkt des Arbeitens und Daseins angekommen. Ich habe die gesamte Arbeitswoche und das Wochenende zu großen Teilen im Büro verbracht. Aber es fühlt sich nicht falsch an. Ich habe das Gefühl, »das Richtige« zu tun. Da, wo ich gerade bin, gehöre ich hin. Tag 8 montag, 09.05.2011 Wir treffen uns pünktlich um 09:45 Uhr im Büro und erledigen den letzten Feinschliff an unseren Holzplatten. Daraufhin fahren wir zum Kurs von Frau Sturm, um unsere Holzdrucke anzufertigen. Nach einigen Tests halten wir unser Endprodukt in der Hand und begeben uns zu Herrn Scheffler in die Bleisatzwerkstatt. Dort werkeln wir unter seiner Anleitung an unseren Bleisätzen und fahren dann wieder ins Büro, um unsere Anschreiben für die Compliment Cards voranzutreiben. Dort besucht uns Florins Mutter, um uns noch einige Gegenstände für das Büro vorbei zu bringen. Wir machen ausnahmsweise um 19:00 Uhr Feierabend. Der Tag ist arbeitsreich, doch ist fast jegliches Gefühl von Hektik vergangen. Langsam finde ich mich damit ab, meinen ursprünglichen Erwartungen an das eigene Schaffen nicht gerecht zu werden. Abends reflektiere ich die erste Woche am Altonaer Balkon und komme

wieder zu dem Schluss, auf dem richtigen Weg zu sein. Einige meiner ursprünglichen Verhaltensweisen, in Bezug auf meine Arbeits- und Planungsweise, kamen mir albern vor. Ich merke langsam, was ich alles nicht brauche. Nach der intensiven Beschäftigung mit dem Buch von Camus fahre ich nach Hause. Tag 9 dienstag, 10.05.2011 Nachdem ich weitere Anschreiben und Visitenkarten produziere, gehen Florin und ich zu Fuß ins Stadtzentrum, um Besorgungen zu erledigen, zu Mittag zu essen. Im Anschluss kaufen wir für unser bevorstehendes Haustreffen ein, zu dem wir alle Nachbarn eingeladen haben. Danach helfen wir einer Freundin bei ihrem Umzug und bis zum Haustreffen am Abend. Spätabends kehre ich zuhause ein. Am heutigen Tag ist für kreative Arbeit kaum Platz. Und doch habe ich etwas geschafft und bin meinen Verpflichtungen nachgekommen. Der Tag rast geradezu. Nur kann ich jetzt besser damit umgehen. Ich akzeptiere die neuen Zeitstrukturen, die gänzlich andere sind als die in meinem bisherigen »digitalisierten« Leben. Tag 10 mittwoch, 11.05.2011 Nachdem wir gemeinsam abgwaschen und das Tagesprotokoll schreiben, überdenken wir eine Weile den bisherigen Ablauf unseres Selbstversuches. Wir notieren uns Fragen und beantworteten uns diese gegenseitig, um einen Einblick in unsere aktuelle Lebensphase zu bekommen. Gegen Mittag kommt eine Freundin mit Kuchen zu Besuch. Später gehen wir essen und geben unseren ersten fotografierten Schwarz-Weiß-Film im Hauptbahnhof bei photo dose ab. Ich bringe noch ein

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Anschreiben zu einem Kunden. Danach geht es weiter mit unserem Fragenkatalog. Später fertige ich ein paar weitere Visitenkarten an und bekomme einen Wutausbruch beim Produzieren, weil sie nicht richtig gelingen wollen. Dadurch muss ich alles noch einmal machen. Gegen 18:00 Uhr räumen wir das Büro auf und gehen, pünktlich wie noch nie, nach Hause. Ein Arbeitstag, wie er im Buche steht: pünktlich um 18:00 Uhr »den Stift fallen lassen« und zwischendrin ausgiebige Pausen machen. Ein Gefühl des »Nicht(s)Müssens« überkommt mich – besonders auf dem Heimweg. Mit dem Fahrrad fahre ich gelöst und entspannt wie noch nie nach Hause. Dem folgt ein weiterer Abend auf dem Balkon. Tag 11 Donnerstag, 12.05.2011 Wir beginnen den Arbeitstag mit der Gestaltung unseres aktuellen Zeitplanes. Dem folgt eine kurze, aber sehr kreative gemeinsame Ideensammlung und Ausarbeitung für unsere beiden Kunden. Wenig später steht die Idee eines Plakats im Siebdruck für einen gemeinsamen Kunden, dem Betreiber eines Plattenlabels. Nach dem Kauf von Konzertkarten und dem Mittagessen, kaufen wir noch einige Arbeitsmaterialien bei Jerwitz ein und machen Fotos in einem Pfeifenladen für die Umsetzung unseres Plakatmotivs im Siebdruck. Der sehr »hanseatische« Geschäftsführer ist, nachdem wir mit ihm über dieses Projekt sprechen, außergewöhnlich hilfsbereit. Später kehren wir ins Büro zurück und arbeiten die Ideen weiter aus. Später schnitze ich noch an einem zweiten Holzdruck. Auch heute verlassen wir gegen 18:00 Uhr das Büro. Kreativ gesehen: der beste Tag bisher. Alles greift ineinander und wir werden kaum abgelenkt. Das »reale«,


digitalisierte Leben habe ich langsam, aber sicher ausgeklammert und hinter mir gelassen. Die Hektik um mich herum wirkt mitunter bizarr und unverständlich. Eine neue Erkenntnis macht sich breit: Wie kurz der Zeitraum doch ist, den ich benötige, um mich mental auf den analogen Alltag umzustellen. Tag 12 freitag, 13.05.2011 Der Freitag beginnt weitaus später als üblich. Nachdem wir abwaschen und aufräumen, kommt Dr. Fehrmann zu Besuch. Wir trinken Kaffee und sprechen ausgiebig über unser Projekt. Später beschäftigen wir uns weiter mit dem theoretischen Grundgerüst unseres Selbstversuchs und gehen Mittag essen. Danach beende ich meinen zweiten Holzschnitt. Später kommen einige Freundinnen zu Besuch. Im Nachhinein haben wir diesen Tag offiziell zum »Tag der Entschleunigung« ernannt. Die Entschleunigungskurve steigt kontinuierlich. Das Projekt fühlt sich somit auch immer besser an. Ich habe immer öfter das Gefühl, mental weiter zu mir vorzudringen. Auch mein ursprünglich meist sehr unruhiger Schlaf ist wesentlich besser und ruhiger geworden. Ich transpiriere weniger und nervtötende Dinge, die um mich herum passieren, tangieren mich immer weniger. Tag 13 samstag, 14.05.2011 Freizeit. Tag 14 sonntag, 15.05.2011 Freizeit. Tag 15 Montag, 16.05.2011 Nachdem wir aufräumen und abwaschen, nehmen wir ein einstündiges Resumèe vor. Gegen Mittag fahren wir in die Bleisatzwerkstatt und beginnen allein mit dem Feinsatz unserer Visitenkarten. Das Hantieren mit den kleinen Bleibuchstaben dauert ziemlich lang und am

Ende haben wir die falsche Schriftgröße genommen. Übereifrigkeit wird bestraft. So entwickeln wir zu zweit ein System für die Herangehensweise und Arbeitsteilung und beginnen von neuem. Wir setzen die Headlines für unseren Kunden Pingipung (Plattenlabel) und drucken diese für den Siebdruck in mehreren Varianten und Schriftausgleichungen auf Transparenzpapier. Danach kehren wir ins Büro zurück und verfassen einige Anschreiben für Kunden und Freunde. Nachdem im Bleisatz durch Voreile und Hektik wieder Fehler entstehen, wird mir wieder aufgezeigt, wie wichtig eine ruhige und durchdachte Herangehensweise ist. Das Zeitpensum für unsere Kundenaufträge jedoch scheint aufzugehen. Alles in allem ist nun erst – oder schon – die Hälfte der Projektzeit vorüber. Tag 16 dienstag, 17.05.2011 Zu Beginn des Tages führe ich einige Festnetz-Telefonate von zuhause aus, um diverse Bürotermine zu koordinieren. Danach fahren wir zu Frost Siebdruckbedarf, um Siebe und Farbe zu kaufen. Von dort aus holen wir unsere, mittlerweile getrockneten Drucke aus der Bleisatzwerkstatt und gehen in die HfBK zum Mittag essen. Zurück im Büro vertiefen wir uns in den theoretischen Aspekt des Projekts. Zwischendrin bekommen wir Besuch von zwei Nachbarn. Im Anschluss besorgen wir bei Schacht & Westerich Papier, holen unsere entwickelten Fotos aus dem Labor ab und versuchen, gegen Abend einen Copyshop zu finden, der noch geöffnet hat. Schließlich werden wir in der Grindelallee fündig, machen dort Kopien für den morgigen Siebdruck und fahren zurück ins Büro. Dies ist ein weiterer, halbwegs produktiver Tag, der leider von ein paar Fehlplanungen überschattet wurde. Immer wieder erleiden wir Rückschläge hinsichtlich Planung und Produktivität. Tag 17 mittwoch, 18.05.2011 Mein Tag beginnt mit einem Unfall. Beim Ankleiden schießt mir die Metallöse meiner Hosenträger in das linke Auge. Ich fahre, auf einem Auge fast blind, sofort mit dem Fahrrad zum Arzt. Dadurch verpasse ich den

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Anfang der Siebdruckeinführung in der Werkstatt des Gängeviertels. Nachdem ich mich kurz sammle, fällt mir der Einstieg aber nicht schwer, obwohl ich nur auf dem einen Auge sehen richtig sehen kann. Als wir am Abend die Siebe belichten, reißt mir ein belichtetes Sieb aus Versehen beim Trocknen mit dem Heißluftfön. Hochgradig genervt brechen wir die Arbeit ab. Der Unfall mit den Hosenträgern wirft mich etwas aus der Bahn. Doch nachdem ich beim Arzt gewesen bin und mich in den 90 Minuten im Wartezimmer entspanne, bin ich bereit, mich den Herausforderungen des Siebdrucks zu stellen. Bis auf das Maleur am Abend, verläuft der Arbeitsteil des Tages sehr erfreulich. Ich habe es mit dem Trocknen des Siebes zu eilig und werde prompt dafür bestraft. Eine weitere Lektion in Sachen »Entschleunigung«. Tag 18 Donnerstag, 19.05.2011 Im Büro angekommen, fällt mir unsere kostbare Kaffeekanne aus der Hand und zerspringt in tausend Teile. Danach fahre ich mit dem kaputten Sieb vom Vortag zu Frost und kaufe ein neues. In der Siebdruckwerkstatt angekommen, verstopft unser zweites Sieb aufgrund falscher Farbe. Beim Versuch, es zu reinigen, reißt es. Ich fahre also zum zweiten Mal zu Frost, um noch mal ein neues Sieb zu bestellen. Später kommen ein paar Freunde zu Besuch und wir verbringen bei einigen Gläsern Whiskey einen verlängerten Abend im Büro. Wir hätten uns nach diesen Tagen in »Büro Destruct« umbenennen sollen. Erst mein Auge, dann die Kaffeekanne und schließlich zwei Siebdrucksiebe. Das war eine wahre Woge der Zerstörung. Doch mein sehr entspannter Umgang mit solchen Situationen in diesen Tagen erstaunt mich selbst. Allein das scheint mir ein klares Zeichen für eine Veränderung meiner Lebensgewohnheiten. Und somit weicht der Ärger über den materiellen Verlust dem Zugewinn von Erkenntnissen. Tag 19 freitag, 20.05.2011 Nach einem morgendlichen Besuch beim Augenarzt hole ich die bestellten Siebe bei Frost ab und wir treffen uns in der Werkstatt, um die neuen Siebe zu beschichten.

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Dann unternehmen wir einen Spaziergang in den Park und vertiefen den theoretischen Aspekt des Projekts durch Lektüre ein wenig. Nachdem die Siebe trocken sind, belichten wir sie und beginnen mit dem Druck der ersten Farbe. Im Gegensatz zum Vortag funktioniert nun alles einwandfrei. Wir drucken bis zum frühen Abend und beenden gegen 18:00 Uhr die Arbeit.

Raumgestaltung durch neue Elemente und das »Performen« vor der Kamera sind etwas Neues in der Projektzeit. Die Zusammenarbeit mit dem Fotografen läuft spielend.

Dies ist ein wahrlich erfreulicher Tag. Nach allen möglichen technischen Rückschlägen beim Siebdruck werden wir schließlich mit einem einwandfreien Arbeitsablauf entschädigt. Der Siebdruck mutet wie eine Art ZenTätigkeit an. Ich muss mich dabei sehr stark konzentrieren und darf mich nicht ablenken lassen, da ein falscher Schritt fatal ist und wir dann von neuem anfangen müssten.

Wir treffen uns morgens in der Bleisatzwerkstatt, um die Schrift für den Siebdruck unseres Kunden Pingipung zu setzen. Außerdem entwerfen wir noch ein kleines Motiv mit Schrift für eine Freundin zum Geburtstag. In der Mittagszeit suchen und kaufen wir Papier für unseren Kunden. Im Anschluss fährt Florin zurück ins Büro, um Besucher rein zu lassen, während ich bis 18:00 Uhr weiter mit Bleisatz arbeite. Später bekommen wir Besuch von Florins Mutter und seiner Schwester.

Tag 20 samstag, 21.05.2011 Freizeit. Tag 21 sonntag, 22.05.2011

Tag 23 dienstag, 24.05.2011

Die Arbeit mit Bleisatz klappt hervorragend. Herr Scheffler zeigt mir noch einige Kniffe. Durch eine nun optimierte Zeitplanung verläuft der Tag produktiv und stressfrei. Tag 24 mittwoch, 25.05.2011

Freizeit. Tag 22 montag, 23.05.2011 Als erstes richten wir das Büro etwas her, wischen Staub und waschen ab. Wir bringen eine Garderobe an, streichen eine Wand und bestücken das Büro mit neuen Gegenständen wie einer Stenorette, weiteren Magazinen und einem alten Siemens-Telefon. Darauf gehen wir kurz Mittag essen. Gegen 14:00 Uhr kommt ein befreundeter Fotograf, um eine Strecke mit uns als Protagonisten des Projekts zu fotografieren. Das Wetter, bzw. das Licht lässt uns meist im Stich doch am Ende funktioniert alles ziemlich gut. Nach vier langen Stunden des Fotoshootings, befassen wir uns noch etwas mit dem soziologischen Aspekt des Projekts und erstellen handschriftlich eine Gliederung für unsere Dokumentation. Pünktlich um 18:00 Uhr schließen wir das Büro ab und fahren nach Hause. Es ist ein angenehmer Ausnahmetag, an dem es nur gilt, das Projekt visuell wiederzugeben. Die erweiterte

Zu Beginn des Tages besucht mich meine Schwester mit ihrem Kind. Außerdem kommen Florins Großeltern und sein Onkel zu Besuch. Ich beeile mich daraufhin, bis 13:30 alle Drucke in der Bleisatzwerkstatt fertig zu bekommen. Später treffe ich mich mit Florin und wir essen in der HfBK-Mensa zu Mittag. Im Büro tippe ich noch ein Anschreiben sowie unser Konzept für einen befreundeten Journalisten, der uns zum Projekt interviewen will. Das Anschreiben werfe ich in seinen Briefkasten selbst ein. Später erstellen wir einen Papier-Dummy für die Präsentation mit unserem Kunden Pingipung und ein Freund kommt mit seinem Kind zu Besuch. Währenddessen gehe ich in die Werkstatt, um die zwei Siebe für den entsprechenden Druck zu beschichten. Zum Feierabend kniffeln Florin und ich ein wenig und fahren dann zu einem Konzert der Musikerin »Anika« auf Kampnagel. Ein mehr als produktiver Tag. Die Arbeitsteilung von Florin und mir entpuppt sich als erfolgreich. Die einzelnen Tätigkeiten füllen den Tag voll und ganz aus. Die modernen Kommunikationsmittel fehlen mir nach wie vor nicht.

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Tag 25 donnerstag, 26.05.2011 Durch einen leichten Kater komme ich verspätet und verstimmt im Büro an. Den Tag über probiere ich die Super-8-Kamera aus, lese alte Magazine und entspanne mich. Gegen Abend empfangen wir unsere Kunden und präsentieren ihnen unsere Ideen. Nachdem unser Gesamtkonzept positiv angenommen wird, entschließen wir uns gemeinsam für einen Motivwechsel. Darauf verabschieden wir unsere Kunden und gehen abschließend gemeinsam zum Friseur. Abgesehen von meiner ungünstigen körperlichen Verfassung, ist dies einer der entspanntesten und »entschleunigsten« Tage. Langsam spüre ich aber auch, dass die Projektzeit auf das Ende zugeht. Tag 26 freitag, 27.05.2011 Wir treffen uns morgens bei der Fotolabor-Verantwortlichen Frau Trams im Fotostudio, um kurzfristig die beiden neuen Motive für unseren Kunden Pingipung analog zu fotografieren, selbst zu entwickeln und für den Siebdruck aufzuarbeiten. Da wir schon ein paar Jahre keine Entwicklung von Bildern im Fotolabor gemacht haben, dauert es ungefähr bis 18:00 Uhr, bis wir wieder im Büro sind. Kurz darauf treffen wir uns noch einmal mit unserem Kunden und verabschieden gemeinsam das neue Bildmotiv. Wir schafften, trotz des großen Arbeitspensums, was wir schaffen wollen. Auch wenn alles, wie immer, länger dauert als geplant. Das rechtzeitige Einplanen von Zeitpuffern erweist sich immer wieder als immens wichtig für eine gute Umsetzung. Tag 27 samstag, 28.05.2011 Freizeit. Tag 28 sonntag, 29.05.2011 Freizeit.


Tag 29 montag, 30.05.2011 Wir räumen gemeinsam das Büro auf und waschen ab. Gegen 11:00 Uhr kommt Christoph Twickel, um uns zu interviewen. Nach zwei Stunden verabschieden wir uns von ihm und gehen Mittag essen. Danach fahren wir zu Scharlau und lassen Kopien unseres fotografierten Motivs für den Siebdruck auf Transparenzpapier drucken. Nach einem Spaziergang zurück ins Büro bekommen wir Besuch von mehreren Freunden. Es kommt außerdem einer der Kunden (Café Latté) vorbei, um Änderungen an der Speisekarte zu besprechen.

Unser vorletzter Tag verläuft auch sehr entspannt. Das Interview offenbart uns noch einmal neue Aspekte des Projektes , so haben wir danach viel zu besprechen. Ich bin etwas traurig, dass das Projekt nun aufs Ende zugeht. Langsam stellt sich trotz allem aber auch eine kleine Vorfreude auf die bevorstehende Wiederkehr der Kommunikations- und Massenmedien ein. Tag 30 dienstag, 31.05.2011 Den gesamten Tag verbringen wir damit, die GastronomieKarte für unseren Kunden zu bearbeiten und möglichst zu beenden. Daneben besorgen wir Papier und gehen zum

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Mittagessen. Um 19:00 Uhr ist dann Feierabend. Nicht nur vom Tag, sondern von dem gesamten Monat und damit vom entschleunigenden Selbstversuch. Der letzte Tag gestaltet sich etwas hektischer als gedacht. Die Gastronomie-Karte für unseren Kunden und alle damit zusammenhängenden Arbeitsschritte ziehen sich sehr in die Länge. Auch das obliegt einer schlechten Planung. Und leider spüre ich am letzten Tag schon wieder die langsam aufsteigende Ungeduld beim Arbeiten. Aber auch eine gewisse Vorfreude auf das Surfen und besonders auf meine MP3-Sammlung. Unterbewusst bin ich schon wieder fast angekommen im »digitalen« Alltag.

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e k e n n g ew

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7 Im folgenden Abschnitt gleiche ich die in Kapitel 4 aufgestellten Thesen mit den dargelegten Entschleunigungserfahrungen ab und dokumentiere die daraus gewonnenen Erkenntnisse. M assenmedien & moderne Kommunik ationsmit tel Durch den Verzicht auf Massenmedien und moderne Kommunikationsmittel entstand in der Zeit des Selbstversuches keinerlei Phantomschmerz, wie ich ursprünglich angenommen hatte. Ganz im Gegenteil: Das Wissen, dass ich auf ein so relevantes Medium wie beispielsweise dem Mobiltelefon (zumindest temporär) verzichten kann, vermittelte mir ein Gefühl von persönlicher Stärke. Gerade das Smartphone spielte vorher eine zentrale Rolle in meinem Alltag. Von Nachteil war allerdings die fehlende Flexibilität bei der schnellen Beschaffung von Informationen. Die führte zu einem starken Gefühl von Verlust der persönlichen Unabhängigkeit und Eigenständigkeit. Wenn ich eine Information benötigte oder jemanden kurzfristig kontaktieren wollte, war dies nur unter vielen Umständen möglich. Anstatt eines Phantomschmerzes erlebte ich einen persönlichen Wettbewerbsnachteil. Durch die Eindämmung von Eindrücken und Informationen reduzierte sich auch die »Steigerung des Nervenlebens« nach Simmel. Die von ihm beschriebene »wirre Halt- und Rastlosigkeit«, die vor dem Versuch durchaus auf mich zutraf, nahm beständig ab. Die permanente Suche nach einer momentanen Befriedigung in Form von Input jeglicher Art war vorher eine Gewohnheit, die mich von wichtigeren Dingen abhielt. Die »wilde Jagd nach Konkurrenz«, diese Art von Getriebensein, die ich sehr gut kannte, ließ spürbar nach – und damit auch die Ablenkung vom eigenen Ich. Durch den Verzicht auf Kommunikations- und Massenmedien habe ich ebenfalls festgestellt, dass sich

die erläuterten Handlungsketten stark verkürzten und automatisch entflochten. Die Anzahl von Tätigkeiten fiel geringer aus. Allein durch den Wegfall der mobilen Kommunikation über Handy und E-Mail erledigte sich ein großer Teil der alltäglichen, repetitiven Tätigkeiten. Eine mediale Aufnahme im Sinne einer Handlungskette bestand während des Selbstversuches nur aus alten Magazinen und Büchern und Schallplatten. Die Anzahl der vorhandenen Schallplatten war im Verhältnis zu meiner heimischen MP3-Sammlung wesentlich geringer. Durch die geringere Auswahl sank auch der Druck von Entscheidungszwängen. Eben dieser Druck fiel auf allen Ebenen ganz enorm ab. Beispielsweise der fehlende MP3-Player reduzierte die Entscheidungszwänge ebenfalls in hohem Maße, wenn ich unterwegs war. So nahm ich meine Umgebung und was zufällig um mich herum passierte wieder bewusst wahr. Meine Privatsphäre erfuhr ebenfalls mehr Aufmerksamkeit und dadurch einen höheren Stellenwert. Durch die fehlende Interaktion im Bereich der sozialen Medien (z.B. Facebook) und die allgemein eingeschränkten Möglichkeiten sich mitzuteilen, erfuhr mein unmittelbares soziales Umfeld ebenfalls eine viel größere Beachtung. Gleichzeitig bestand von meiner Seite aus in dieser Zeit wenig Bedürfnis mich - wie in sozialen Medien üblich - der Allgemeinheit mitzuteilen. Dies führe ich auf die gestiegene Qualität der Interaktion mit den Menschen in meinem engsten sozialen Umfeld zurück.

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analoge Pr oduktionsweisen prozess erschwerten und dadurch verlängerten. Zum den Endprodukten hatte ich – entgegen der aufgestellten These – keine größere Bindung als zu digital hergestellten Produkten. Durch die künstlich minimierte Auftragslage und die veränderte Arbeitsweise aufgrund »entschleunigter« Produktionsmittel nahm der Stress entgegen meiner Annahme eher zu. Die zeitaufwändigeren Arbeitsschritte erforderten noch mehr Zeit als ohnehin ursprünglich angedacht war. Ein wichtiger Lernfaktor war für mich die Einbeziehung von größeren Zeitpuffern in der Planungsphase der Projekte. Der Leistungsdruck blieb dagegen konstant. Das Konzept eines Grafikbüros, das Dienstleistungen mit »entschleunigten«, analogen Produktionsmitteln anbietet – auch hier eine Überraschung - ist entgegen meiner ursprünglichen These, doch wettbewerbsfähig. Es wäre prinzipiell möglich, analog entstandene Produkte mit den Attributen »handgemacht« und »hochwertig« als Unikat erfolgreich am Markt zu positionieren.

Die Arbeit mit analogen Produktionsmitteln wie Siebdruck, Holzdruck, Bleisatz oder der Schreibmaschine verlangsamte den Produktionsprozess erheblich. In meinem Fall kam erschwerend hinzu, dass ich nur geringe Vorkenntnisse von den Arbeitsweisen besaß. So waren die sichtbaren Erfolge in der Aufbau- und Lernphase sehr spärlich. Da ich regulär hauptsächlich digital arbeite, musste ich mich besonders auf die Langwierigkeit der Prozesse einstellen, genauso wie auf die fehlenden Korrekturfunktionen oder Möglichkeiten, Prozesse rückgängig zu machen. Dadurch entstand bei mir ein Gefühl des hohen Zeitverlustes. Erst nach und nach gewöhnte ich mich an die neuen Zeitstrukturen. Durch den Produktivitäts-gedanken, der mir antreibt, fiel es mir gerade zu Beginn besonders schwer, mich an diese langsamen Abläufe und das Warten auf konkrete Ergebnisse zu gewöhnen. Der ganz normale menschliche Beschleunigungswille veranlasste mich zudem anfangs noch häufig zu unbedachten und übereilten Handlungen, die den Arbeits-

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erkenntnisgewinn


Zeitstrukturen Der vorab beschriebene Zustand des »Rasenden Stillstands« nach Virilio (Vgl. Kapitel 3) wurde durch den Selbstversuch tatsächlich weitestgehend unterbunden. Durch die fehlenden modernen Kommunikationsmittel und Massenmedien war ich plötzlich medial gesehen »mittellos«. Somit war mir der Zugang zur virtuellen Realität verwehrt. Gleichzeitig verspürte ich durch die mediale Verknappung ein gestiegenes Freiheitsgefühl, obwohl ich mich künstlich in diese Lage gebracht hatte. Unter diesen Umständen war ich wieder viel mehr mit meiner realen Umwelt verbunden, was zu einer Erhöhung der Lebensqualität führte. Durch die fehlenden aktuellen Medien sank der Druck, möglichst alle Vorgänge zu beschleunigen. Stück für Stück gewöhnte ich mich an die Langwierigkeit der Prozesse. Dieser Druck nahm auch dadurch ab, dass ohne Internet, Fernsehen und Magazine der Input fehlte, der mich normalerweise antrieb und beschleunigte. Da ich im Gegensatz zu vorher keine Aufträge zu akquirieren hatte und nicht ständig mit Kunden kommunizieren musste, wurde auch der kommunikative Teil des Arbeitens und der damit einhergehende »soziale Input« sehr viel geringer. Die von Lübbe beschriebene »Gegenwartsschrumpfung« (Vgl. Kapitel 3) fand, wie angenommen, nicht statt. Die Beschäftigung mit den konkreten Ereignissen der Gegenwart nahm die größten Teile meiner Wahrnehmung ein. Durch die fehlende »Innovationsdichte« brauchte ich keine ständige »Neubeschreibung« von Gegenwart und Zukunft. Gesellschaftlich hatte ich mich ebenfalls bewusst aus dem meisten Zusammenhängen herausgenommen. Somit beschäftigten mich auch viele Umstände nicht, die mich normalerweise tangiert hätten, seien es aktuelle Nachrichten oder

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öffentliche Debatten. Dieses »Aus-der-Zeit-sein« vermittelte mir im positiven Sinne das Gefühl, ein »Außenseiter« zu sein. Nur die Gegenwart zählte in dieser Zeit und die Zukunft war für diesen eher kurzen Zeitraum in weite Ferne gerückt. In dieser Art von »Blase« konnte ich relativ sorglos schweben und mich nur mit dem Projekt und meiner selbst beschäftigen. Die Synchronisation mit den Kooperationspartnern (Partnerin / Familie / Freunde/Kunden) wurde, wie angenommen, durch den Selbstversuch erschwert. Durch die fehlenden modernen Kommunikationsmittel wie Mobiltelefon (SMS) und Internet (E-Mail) und die damit verbundene schlechte Verfügbarkeit fiel das Verabreden und Treffen mit Freunden zum großen Teil weg. Das Synchronisieren mit meiner Partnerin dagegen erforderte viel Planung und Rücksichtnahme auf beiden Seiten. Wir mussten uns beispielsweise morgens gemeinsam und verbindlich einigen, wie wir den Tag oder Abend gestalten wollten. Vor dem Projekt entstanden diese Vereinbarungen eher spontan bzw. mit genügend Spielraum für Änderungen. Zur Projektzeit war ich jedoch nicht sonderlich flexibel in meiner Zeiteinteilung. Die fehlende oder geringere Synchronisation vermittelten mir dennoch Ruhe und Kraft, um mich mit mir selbst auseinanderzusetzen. Es bestand selten die Dringlichkeit, mich zu vernetzen und die Bedeutung der Vernetzung nahm im Zeitraum des Selbstversuches rapide ab. Auf diese Weise genoss ich den Status des künstlich herbeigeführten »Ausgestoßenseins« aus sozialen Kontexten. Nicht zuletzt wusste ich ja auch um die zeitliche Begrenzung dieses Zustands.


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8 Das Projekt »Büro für Entschleunigung« mit der Unterzeile »Schmidt & Bruns Gebrauchsgraphik« war für mich eine wichtige Erfahrung und unter den Gesichtspunkten eines Selbstversuches erfolgreich. Das Untersuchen der kreativen Arbeit mit »entschleunigten« Produktionsmitteln in einer digitalisierten Gesellschaft ermöglichte mir die Aneignung neuer handwerklicher Fertigkeiten. Außerdem habe ich viel über mich und meine Handlungs- und Funktionsweisen gelernt und für mich selbst den weitläufigen Begriff von Zeit und die dazugehörigen Strukturen erforscht. Die gewonnen Erkenntnisse kann ich nach diesem Projekt in drei Bereiche unterteilen. M assenmedien & moderne Kommunik ationsmit tel Das Innehalten und der Verzicht auf moderne Medien bewirkten bei mir so etwas wie eine Defragmentierung meines Sammelsuriums an Wahrnehmungen und Wissen. Es war, als würde mein Kopf durchgespült und von unnützem Wissen gereinigt werden. Ich habe in dieser Zeit festgestellt, was ich persönlich nicht benötige und wie »skurril« und leichtfertig mein Umgang mit modernen Medien vorher war. Das Smartphone war vor dem Projekt mein ständiger Wegbegleiter, der einem selbst einiges abverlangte. Ich musste ständig auf das Gerät Acht geben und es mit möglichst mit viel Aufmerksamkeit bedenken. Dadurch, dass ich alles Weltwissen inklusive vieler persönlicher Daten auf einem Gerät mit mir herumtrug, war ich sehr flexibel und unabhängig. Aber dieser Zustand birgt Verpflichtungen und mitunter auch Zwänge. Seit Beendigung des Projektes benutze ich das Gerät sehr viel zielorientierter. Ich habe die Funk-

tionen für Push-Mitteilungen (automatischer Hinweis , wenn neue Nachrichten eintreffen) von Facebook und meines E-Mail-Programms abgestellt. Ich überprüfe unterwegs nur noch in sehr großen Abständen meine Mails. Ähnlich ist es mit meinen Computer zuhause. Ich bemühe mich, abgesehen von bewusst herbei geführten Momenten zur Berieselung, mir das Internet möglichst gezielt zunutze zu machen. So lässt sich durch einen bewussten Konsum der heteronome Einfluss der Kommunikations- und Massenmedien eindämmen. Dafür reflektiere ich, welche Information ich wirklich benötige, um glücklich bzw. «In-der-Zeit« zu sein, ob beruflich oder privat. Um der schon beschriebenen »Anomie« (Vgl. Kapitel 3) zu entkommen, muss ich der »regellosen Existenz der Multioptionalität« wieder eine soziale Ordnung zu Grunde legen, um den Konsum wirkungsvoller zu gestalten. Auf diese Weise richte ich mir einen individuellen, medialen Filter ein.

analoge pr oduktionsweisen Das analoge Arbeiten erfordert viel mehr Zeit, Konzentration und Muße. Die Korrekturmöglichkeiten sind sehr begrenzt und man kann kaum in größerer Stückzahl produzieren. Außerdem ist es nicht möglich, annähernd so sauber und genau zu arbeiten, wie mit einem Computer. Das digitale Arbeiten gibt dem Kreativen die Möglichkeit, nahezu alles umsetzen zu können, was er möchte. Doch diese Freiheit kann gleichzeitig auch erschöpfend sein. Das Projekt und die vorangegangenen Interviews mit Grafikern, die in der ausgewählten Zeit (1966) beruflich tätig waren, haben mir sehr klar aufgezeigt, wie viel Wissen und umfangreiches technisches Können in der Vergangenheit nötig waren, um das umzusetzen, was ich jeden Tag am Computer realisiere.

Seither zolle ich der analogen Arbeit und dem dazugehörigen Handwerk sehr viel mehr Respekt als vorher. Ich habe überdies viel über meine Arbeitsweise gelernt. Mein eigener Beschleunigungswille behindert oftmals meine Kreativität. Der selbst auferlegte Druck, möglichst produktiv zu sein, begünstigt diesen Zustand. Dazu kommt der Umstand, dass mit dem unendlichen visuellen Gedächtnis des Internets so gut wie alle existierenden Stilistiken jederzeit abrufbar sind, was mich in der Vielzahl manchmal eher hemmt als inspiriert. In der analogen Zeit stellten Grafikmagazine eine der Hauptquellen der Inspiration dar. Daher war die Inspiration eine andere und gestaltete sich mehr von innen heraus.

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zeitstrukturen auf die neuen Zeitstrukturen sehr schnell. Die bereits erwähnte Synchronisation von Geschwindigkeit und Dauer der täglichen Handlungen zum Zwecke der Produktivität gestaltete sich durch die verkürzten Handlungsketten sehr viel leichter. Auch die Synchronisation der verschiedenen Zeitebenen untereinander verlief spielend. Alles erschien trotz der »Neuartigkeit« weniger komplex und übersichtlicher. Es war allerdings sehr viel wichtiger, sowohl privat als auch beruflich, den Tag stringent zu planen. Eine rigide Zeitplanung, die mir am Anfang fehlte, war die Voraussetzung für einen produktiven und trotzdem stressfreien Alltag. Diesen Umstand erkannte ich erst durch einige, anfängliche Rückschläge und Fehlplanungen. Das »Innehalten« in verschiedenen Situationen, also der Verzicht auf künstlichen, selbst herbei geführten Input, wie beispielsweise Musik hören auf dem Fahrrad oder lesen in der Bahn, verhalf mir zur intensiven Reflexion – über mich selbst, mein soziales Umfeld und die Gesellschaft, in der ich lebe. Und damit zu einem kritischeren Bewusstsein als vorher.

Der Lebensrhythmus ist stark geprägt von Zeitstrukturen. Meine bisher gängigen Strukturen haben sich in der Projektzeit dadurch stark verschoben, dass viele alltägliche Handlungen, Rituale und Prozesse durch den Verzicht auf moderne Kommunikations- und Massenmedien schlicht weggefallen sind. So war im Vergleich zum ursprünglich »digitalisierten Leben« besonders auffällig, wie zusammenhängend und geordnet der Arbeitstag in der Projektzeit oftmals aussah. Durch die zeitaufwändigeren Arbeitsschritte war das Pensum an konkreten Arbeitsergebnissen pro Tag wesentlich kleiner. Dadurch wurden die Handlungsketten kürzer und übersichtlicher. Der Tag wirkte mehr wie ein Ganzes denn als Abfolge zerstückelter Episoden. Außerdem war das so genannte Multitasking kaum von Nöten, da ich in der Regel eine einzige Tätigkeit über einen längeren Zeitraum ausgeführt habe. Dabei verging die Zeit für mich schneller vor als bei der Arbeit am Computer. Das war anfangs sehr gewöhnungsbedürftig. Gerade, weil ich ein Mensch bin, der regulär versucht, den Tag möglichst »produktiv« zu nutzen, d. h. möglichst viele Ergebnisse in kurzer Zeit zu erzielen. Dennoch vollzog sich die Umstellung

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9 Den hinlänglich beschriebenen Produktivitätsgedanken werde ich trotz des Projekts »Büro für Entschleunigung« nicht abschütteln können. Auch dies eine Erkenntnis nach der Versuchszeit: Er wohnt mir inne. Deshalb habe ich mir häufiger die Frage gestellt, ob ich die erfahrene Entschleunigung in den Alltag übersetzen könnte bzw. welchen längerfristigen Nutzen das Projekt für mich haben könnte. Wobei es problematisch ist, von Zweck und Nutzen zu sprechen, da es sich teilweise um eine emotionale Erfahrung handelt. Ich werde daher versuchen, die gewonnenen Erkenntnisse aus dem Projekt »Büro für Entschleunigung« längerfristig in eine Entschleunigungsstrategie umzuwandeln. Diese setzt sich aus folgenden Handlungsweisen zusammen:

»Ents chleunigte Stunde« Ich übe mich abends für eine kurze Zeit in der schöpferischen Nichtarbeit oder dem produktiven Träumen, sprich dem Müßiggang. Ich denke z.B. darüber nach, was mir die Menschen, denen ich tagsüber begegnet bin, erzählt haben und was das für mich bedeutet. Ich lasse meinem Kopf ein wenig Freiraum, um das Erlebte im Wachzustand zu verarbeiten und vernünftig zu verorten. Erlernen des Müßiggangs Ich bin noch immer mit der Aneignung des Müßiggangs beschäftigt. Es ist ein langwieriger Prozess, der allerdings nichts mit Faul- oder Trägheit zu tun hat, sondern damit, sich aktiv zum Nichtstun zu entscheiden und damit auf absichtslose Weise aktiv zu sein. So lernt man, wieder zu staunen. Und das kann ich am besten im urbanen, öffentlichen Raum. Es ist ein sublimes Gefühl, zwischen all der Geschäftigkeit der Großstadt und der Hast der Menschen wie ein Fremdkörper durch die Menge zu flanieren und sich einfach auf eigene Art und Weise ein Abbild der Realität zu schaffen und immer wieder zu staunen. Auf diese Weise kommt man auch auf neue Ideen. Dr osselung des Bes chleunigungswillens Ich drossele den eigenen Beschleunigungswillen bei kreativen Prozessen. Ich vermeide es mittlerweile, zur Inspiration Unmengen von Bildern im Netz zu betrachten. Diese Masse an Input verwirrt mich eher, als dass sie mich inspirieren würde. Eine gute Idee braucht manchmal ihre Zeit. Und sie lässt sich nicht produktiv einsparen oder beschleunigen. In diesen Fällen verordne ich mir ohne Gewissensbisse eine Portion kreativen Nichtstuns wie z. B. einen langen Spaziergang – oder ich gehe einer völlig gegensätzlichen Tätigkeit nach. Medialer Filter Während des Selbstversuches ist mir klar geworden, was ich nicht brauche und was nicht fehlen darf. Seither versuche ich nach einem eigenen Raster klar zu unterscheiden, welchen medialen Input, besonders im Internet, ich benötige und welchen nicht. Ähnlich verhält es sich auch beim Konsum von anderen Medien wie Zeitungen, Magazinen oder Musik. Reduktion von Information Durch die Reduktion von Information entlaste ich Körper und Geist. Das heißt, ich konsumiere gezielter. Der unbewussten Informationsflut im öffentlichen Raum kann man sich leicht entziehen, wenn man wirklich will. Die bewusst gesteuerte, individuelle Informationsflut kann man abmildern, indem man ab und an auf gewisse Inhalte verzichtet und klare Prioritäten setzt, was wünschenswert ist und was nicht. Nach dem Prinzip: weniger Input – mehr Output. Dadurch, dass man weniger mit der Aufnahme von Informationen beschäftigt ist, hat man mehr Kapazitäten für den eigenen Output.

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Ich muss gar nichts! Obwohl es gerade für einen Selbstständigen immer etwas zu tun gibt, versuche ich, mich der »Rhetorik des Müssens« zu entziehen und mich entgegen großer Teile der Gesellschaft nicht über mein Übermaß an Beschäftigung zu positionieren. Es gilt, der gesellschaftsgültigen Arbeitswut mit einem Mindestmaß an Müßiggang und schöpferischer Faulheit entgegenzutreten. Anverwandlung von Dingen Als konsumfreudiger Mensch versuche ich trotz vieler »Objekte der Begierde« mir mittlerweile Dinge wie Musik, Bücher und Kleidung anzuverwandeln, anstatt sie bloß anzuhäufen. In gewissem Maße möchte ich eine persönliche Beziehung zu den Dingen aufbauen und ihnen damit eine Geschichte und einen persönlichen Wert geben. Durch diese gesteigerte Wertschätzung tritt auch die ständige Jagd nach der nächsten Trophäe in den Hintergrund. One thing at a time Die alte Management-Regel für Führungskräfte entfaltet auch in punkto Entschleunigung ihre Wirkung. Durch das persönliche Wirken an einem Sachverhalt ohne Ablenkung von außen ist man schneller, intuitiver und konzentrierter in seinem Schaffen. Die Handlungsketten verkürzen sich mit dieser Methode ebenfalls. Dieser Ausblick soll nicht als ratgeberischer Ansatz verstanden werden. Die Wirkungsweisen solcher Versuche fallen individuell sehr unterschiedlich aus und die Leserschaft stellt ohnehin eine Minderheit in der Gesellschaft dar. Aus diesem Grund kann ich nur von mir selbst ausgehen, auch wenn ich davon überzeugt bin, dass allgemeingültige Tendenzen vorhanden sind. Dennoch kann ich abschließend mit voller Überzeugung zur partiellen »Entschleunigung« aufrufen. Ich selbst werde zumindest versuchen, diese Art von Innehalten alle paar Jahre erneut durchzuführen und mich auf den Prüfstand zu stellen.

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Büro für Entschleunigung Plakat Bleisatz • Fotografie • Siebdruck • Kalligrafie 10


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Büro für Entschleunigung Compliment Cards • Visitenkarten • Anschreiben • Umschlag Holzdruck • Kalligrafie • Stempel • Schreibmaschine 40

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Pingipung Records 7-Inch Vinyl-Box Bleisatz • Fotografie • Siebdruck • Kalligrafie 30


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Caffe Latte Speise- & Getränkekarte Holzdruck • Kalligrafie • Schreibmaschine Eine analoge Vorlage

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Holzdruck Florin Schmidt

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Vgl. Herrmann Lübbe, Im Zug der Zeit, 2003, S. 78 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 56 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 92 Vgl. Hartmut Rosa, Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 55 Vgl. Norbert Elias in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 29 Vgl. Marshall Bermann, All that is solid melts into Air,1983, S. 198 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 55 Vgl. Mike Sandboothe in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 34 Vgl. Alyson Brown in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 30

Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 31 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 31 12 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 35 13 Vgl. Otthein Rammstedt, Alltagsbewußtsein von Zeit, 1975, S. 47-63 14 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 27 15 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 27 16 Vgl. Paul Virilio in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 41 17 Vgl. Paul Virilio in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 41 18 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 41 19 Vgl. Ödön von Horváth, Kasimir und Karoline, 1994, S. 97 20 Vgl. Hartmut Rosa, Vortrag 16. Juni 2010, Einstein-Forum Potsdam 21 Vgl. Georg Simmel in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, S. 30 22 Vgl. Peter Gross, Die Multioptionsgesellschaft, 2005, S. 67 23 Vgl. Émile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, 1988, S. 30 24 Vgl. Hartmut Rosa, Vortrag 16. Juni 2010, Einstein-Forum Potsdam 25 Vgl. Michael Kastner, Die Zukunft von Work Life Balance, 2009, S. 31 26 Vgl. Georg Simmel in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 100 27 Vgl. Georg Simmel in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 100 28 Vgl. Georg Simmel in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 100 29 Vgl. Hans-Jürgen Schings in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 87 30 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 73 31 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 73 10 11

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l i t e r a t u r v e r ze i c h n i s 13 Bermann, Marshall (1988), All that Is Solid Melts Into Air. The Experience of Modernity, New York: Penguin Books. Brown, Alyson (1998), »Doing Time«: The extended present of the long-term prisoner, in: Time and Society, Jg. 7 S. 93 – 103. Durkheim, Émile (1988), Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Elias, Norbert (1988), Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gross, Peter (1994), Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Horváth, Ödön von (2009) Kasimir und Karoline, in: Klaus Kastberger/Kerstin Reimann (Hg.) Wiener Werkausgabe, Band 4. De Gruyter, Berlin 2009 Kastner, Michael (2009), Die Zukunft von Work Life Balance, Kröning: Asanger. Lübbe, Hermann ( 1998), »Gegenwartsschrumpfung«, in Klaus Backhaus/Klaus Bonus (Hg.), Die Beschleunigungsfalle oder der Triumph der Schildkröte, 3. erweiterte Auflage, Stuttgart: Schäffler/Pöschel. Rammstedt, Otthein (1975), »Alltagsbewußtsein von Zeit«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 27. Rosa, Hartmut (2005), Beschleunigung. Die Veränderungen von Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Sandbothe, Mike (1997), »Die Verzeitlichung der Zeit in der modernen Philosophie«, in: Antje Gimmler/Mike Sandbothe/Walter Ch. Zimmerli (Hg.), Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen, Analysen, Konzepte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Schings, Hans-Jürgen (1977), Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in der Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart: Metzler. Simmel, Georg (1903/1995) »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901 – 1908, Bd. 1, hg. von Rüdiger Kramme u.a., Gesamtausgabe, Bd. 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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verzeichnisse


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Ohne diese Menschen und Institutionen wäre das Projekt »Büro für Entschleunigung« nicht dasselbe gewesen. Ihnen gilt unsere Dankbarkeit. Diana Bach • Florian Bartsch • Laura Benz • Wilhelm & Gisela Bruns • Elisabeth & Friedrich Damm • Jürgen Damm Damm Elektrotechnik GmbH • Katharina Dechert / Formschön Lektorat • Elke Drengwitz • dynamik druck Marc Einsiedel • Dr. Andreas Fehrmann • Gängeviertel e. V. • Adolf & Anita Götze • Heiko Gogolin • Prof. Heike Grebin • Jakob/Caffè Latte • Andreas Kleve • Marco Köster • Kreativgesellschaft • Kupferdiebe • Jochen Lenze Mateusz • Jivan Frenster • Jessica Mintelowsky • Gianni Occhipinti • Andi Otto • Pingipung Records • Egbert Ruehl • Richard Scheffler • Lothar Schmidt • Monika Schmidt • Prof. Dr. Eva Schürmann • Jan Stölting • Ellen Sturm • Pfeifen Tesch • Asmus Tietchens • Ursula Trams • Christoph Twickel • Walter Wannack

Herausgeber

Florin Schmidt & Christoph Bruns

layout & Satz

Florin Schmidt & Christoph Bruns

reinzeichnung

Christoph Bruns

lektorat

fotografen

Katharina Dechert • www.formschoen-lektorat.de

Gianni Occhipinti (Farbe) • www.gianni-occhipinti.de Christoph Bruns (s/w)

texte

Christoph Bruns

interview

Christoph Twickel

druck

dynamik druck Hamburg • Tarpen 40 • 20295 Hamburg • www.dynamik-druck.de

papier

Adhoc Freelive Vellum (by Fedrigoni) • www.fedrigoni.de

typografie

Neutraface Family (by House Industries) • www.houseind.com

auflage

50 Stück

© 2011 ON&ON • WWW.ON-N-ON.DE

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© 2011


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