Oper Köln »Die tote Stadt« Programmheft 2020.21

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anlässlich des 100. Jahrestages der Uraufführung am 04. Dezember 1920 im Kölner Opernhaus

DIE TOTE STADT Erich Wolfgang Korngold



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BURKHARD FRITZ, AUÅ RINE STUNDYTE

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AUÅ RINE STUNDYTE


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DALIA SCHAECHTER, BURKHARD FRITZ

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AUÅ RINE STUNDYTE


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DALIA SCHAECHTER

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WOLFGANG STEFAN SCHWAIGER


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BURKHARD FRITZ

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AUÅ RINE STUNDYTE, JOHN HEUZENROEDER


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BURKHARD FRITZ

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BURKHARD FRITZ


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AUÅ RINE STUNDYTE

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DIE TOTE STADT Oper in drei Bildern Text frei nach Georges Rodenbachs Roman »Bruges-la-morte« (1892) von Paul Schott (Pseudonym von Julius Korngold) Musik von Erich Wolfgang Korngold (1897 – 1957)

Anlässlich des 100. Jahrestages der Uraufführung am 04. Dezember 1920 am Opernhaus Köln


DIE TOTE STADT

MUSIKALISCHE LEITUNG Gabriel Feltz INSZENIERUNG Tatjana Gürbaca BÜHNE Stefan Heyne KOSTÜME Silke Willrett LICHT Andreas Grüter VIDEO Sandra Van Slooten, Volker Maria Engel (schnittmenge.de) CHOR Rustam Samedov DRAMATURGIE Georg Kehren

Uraufführung: 04. Dezember 1920, Opernhaus Köln (Habsburgerring) und Stadttheater Hamburg Premiere (Live-Stream*): Freitag, 04. Dezember 2020, Oper Köln im StaatenHaus

*DAS STREAMING WIRD MIT FREUNDLICHER UNTERSTÜTZUNG DES KURATORIUMS DER OPER KÖLN UND DER FREUNDE DER KÖLNER OPER E.V. ERMÖGLICHT.

FREUNDE

DER KÖLNER OPER E.V.

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HAND LUNG


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Der Witwer Paul lebt gemeinsam mit seiner Haushälterin Brigitta völlig zurückgezogen in der »toten Stadt« Brügge, die wie ein Sinnbild der Vergangenheit ist. Dort gibt er sich der Trauer hin. Seiner verstorbenen Frau Marie hat er als Kultstätte einen ›Tempel der Erinnerung‹ eingerichtet. Als Paul eines Tages auf die Tänzerin Marietta trifft, die als Mitglied einer Tourneetruppe im städtischen Theater in Meyerbeers Oper »Robert der Teufel« auftritt, gerät seine seelische Verfassung ins Wanken, denn Marietta ist der verstorbenen Marie äußerlich zum Verwechseln ähnlich. Es will ihm scheinen, als sei Marie zurückgekehrt. Sein Freund Frank rät ihm, die Lebende und die Tote nicht miteinander gleichzusetzen, doch der Witwer ist wie gefangen von diesem »Traum der Wiederkehr«. Paul lädt Marietta in sein Haus ein, beschenkt sie mit Rosen und bringt sie dazu, geschmückt mit einem Seidenschal das wehmütige Lied »Glück, das mir verblieb« zu singen, das ihn an die gemeinsame Zeit mit Marie erinnert. Marietta spürt, dass Pauls Fasziniertheit mehr der Vergangenheit gilt als ihr. Mit dem Hinweis, sie müsse zur Probe ins Theater, lässt sie ihn zurück. In einer Vision Pauls erscheint ihm Marie, seine verstorbene Frau. Maries Bemerkung »Dich fasst das Leben, lockt die andere!« veranlasst ihn zu der Beteuerung, ihr immer treu bleiben zu wollen.

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Paul, dem der Gedanke an Marietta keine Ruhe lässt, hält nachts vor ihrem Haus Wache, um sie dort bei ihrer Heimkehr abzupassen. Brigitta, die mittlerweile – weil sie Pauls »Untreue« gegenüber Marie verurteilt – ihre Anstellung bei ihm aufgegeben hat und einem Kloster beigetreten ist, zieht innerhalb eines Prozessionszugs an ihm vorüber. Als Frank, der ebenfalls von Marietta fasziniert ist und einen Schlüssel zu ihrer Wohnung besitzt, vor dem Haus erscheint, entwickelt sich ein Zweikampf zwischen den beiden Männern, in dessen Verlauf es Paul gelingt, dem Rivalen den Schlüssel zu entwenden. Kurz darauf kehren Marietta und ihre Freunde vom Theater zurück und beginnen in ausgelassener Stimmung, Szenen aus »Robert der Teufel« zu parodieren. Dabei werden sie von Paul aus dem Verborgenen beobachtet. In der berühmten Szene der ›Nonnenerweckung‹ übernimmt Marietta die Rolle der ins Leben zurückgekehrten Hélène. Dieser übermütige theatralische Vorgang steigert sich in Pauls Wahrnehmung zu einem Akt unerträglicher Blasphemie. Fassungslos schreit er Marietta seine Empörung entgegen und lässt sie wissen, dass er in ihr niemals etwas anderes geliebt habe als seine tote Frau. Marietta nimmt dieses Geständnis als eine Herausforderung an: Sie will Paul nach Hause begleiten und dort – unter Aufbietung aller ihr verfügbaren Mittel – den Kampf mit der toten Rivalin für sich entscheiden.


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Nach einer gemeinsam verbrachten Nacht glaubt Marietta, Paul nun ganz für sich eingenommen zu haben. Doch der Eindruck hält nicht lange vor: Als eine Feiertagsprozession am Haus vorüberzieht, gerät Paul erneut in einen Zustand weltferner Ergriffenheit, der ihn alles Lebendige um ihn herum vergessen lässt. Marietta reagiert darauf zunächst mit Empörung, schließlich auch mit erotischer Provokation. Als sie sich Pauls sorgsam gehütete Reliquie, das Haar der toten Marie, um den Hals legt und damit zu einem »blasphemischen« Tanz anhebt, gerät Paul außer sich und erdrosselt sie. Kurz darauf kommt Paul wieder zu sich. Die dramatischen Geschehnisse von vorhin scheinen sich verflüchtigt zu haben. Von Brigitta angekündigt, kehrt die »Dame von vorher« noch einmal für einige Momente zurück, um Schirm und Rosen, die sie versehentlich zurückgelassen hatte, zu holen. Als sein Freund Frank zu Besuch kommt, stellt Paul in Aussicht, sein Leben neu beginnen zu wollen. Er werde, so sagt er, die tote Stadt Brügge verlassen.

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WO FINDET DAS LEBEN STATT: UM UNS HERUM ODER IN UNSEREM KOPF? Georg Kehren im Gespräch mit der Regisseurin Tatjana Gürbaca GEORG KEHREN   In der Oper »Die tote Stadt« ist immer wieder von der besonderen, spürbar morbiden Atmosphäre des Handlungsorts Brügge die Rede. Sie scheint wie ein Sog zu wirken und die Menschen in ihrem Inneren zu beeinflussen. Insbesondere der Witwer Paul, der sich ganz der Trauer um seine verstorbene Frau hingibt, ist von dieser Aura ›infiziert‹. Wie würden Sie für sich dieses Phänomen ›Brügge‹ beschreiben?

TATJANA GÜRBACA  Es ist schon spannend, wie es Georges Rodenbach, dem Autor der Erzählung »Bruges-la-morte«, gelungen ist, eine so starke Metapher für den inneren Zustand eines Menschen zu finden, dass es schließlich im Bild einer Stadt mündet. Dazu gibt es im Bereich der Literatur und der Oper ja auch Parallelbeispiele: Violetta Valéry in »La Traviata« etwa spricht von der Stadt Paris als einer »belebten Wüste« – also als von einem Ort, an dem die Menschen zwar eng aufeinander hocken, aber wie entseelt aneinander vorbeigehen, was dann wiederum ihre innere Situation beeinflusst. Was Korngolds »Die tote Stadt« betrifft, kam mir gleich zu Anfang meiner Beschäftigung mit dieser Oper der Gedanke, dass sich mit dem Bild von Brügge als einer Stadt, die die Menschen in ihre Atmosphäre eintauchen und sie dann darin verschwinden lässt, auch ein Phänomen unserer heutigen Situation und Mentalität beschreiben lässt: Ich denke


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dabei an den Umstand, dass wir uns immer weiter hinein in die ›Internet-Blase‹, also in eine Ersatzwelt begeben. Es ist bei vielen Menschen wie die Flucht in eine Schattenwelt, und durch die gerade grassierende Pandemie mit ihren Einschränkungen für das soziale Leben hat sich das noch verstärkt. Dabei ist das keineswegs neu: Das Phänomen des SichAbschottens, des ›In-etwas-anderes-Hineinschlüpfens‹ hat es ja durchaus schon früher gegeben. Auch die Geschichten eines E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe geben uns einen Eindruck davon, was es bedeuten kann, wenn Menschen in ›virtuellen Realitäten‹ verschwinden.

GK   Das Bild, das Sie gemeinsam mit ihrem Bühnenbildner Stefan Heyne für diese Situation und für die Befindlichkeit der Hauptfigur Paul entwickelt haben, ist eine Art Guckkasten in Form eines Zylinders, der sich drehen lässt und sich zuweilen auch öffnet, und in den man von außen hineinschaut – ein ›KaiserPanorama‹, wie man das früher nannte.

TG  Dieser Panorama-Kasten, in den man von außen hineinsieht, während sich dann innen Bilder auftun, ist für mich wie eine Entsprechung der Situation Pauls innerhalb der Stadt Brügge: In der Oper, und noch mehr in der Vorlage von Georges Rodenbach, wird deutlich, wie sehr dieser zurückgezogen lebende, merkwürdige Witwer unter Beobachtung steht – alles, was er tut oder nicht tut, wird wahrgenommen, kommentiert und weitergetragen. Bei Rodenbach wird das Gefühl dieses Mannes, von außen beobachtet zu werden, zum Beispiel deutlich, wenn er der Frau, die in der Oper dann Marietta heißt, dazu auffordert, vom Fenster zurückzutreten – er will vermeiden, dass sie von außen gesehen wird und dass es dann wieder

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Gerede gibt. Ich musste auch an »Hoffmanns Erzählungen« denken, wo der Künstler Hoffmann als eine von der Gesellschaft kritisch beäugte und kommentierte Gestalt im Zentrum steht und dabei, ganz für sich, in seinem Inneren weibliche Traumgeschöpfe herbeiphantasiert.

GK   Es handelt sich bei »Die tote Stadt« – in der Art wie hier geistige ›Schattenwelten‹ zum Thema werden – um ein ›Nachtstück‹. Auch das spiegelt sich für mich im Bühnenbild wider.

TG  Durch diese Bar-Situation um den Guckkasten herum darf man sich an die Einsamkeit der Menschen in Städten erinnert fühlen – etwa so, wie auf den berühmten Bildern von Edward Hopper: Da finden nächtliche Gespräche an der Theke statt, die nirgendwo hinführen und folgenlos bleiben, oder die schweigend ausgetragen werden, weil sich das, was man erzählen könnte, letztlich nur im eigenen Kopf abspielt. Interessant im Zusammenhang mit der »Toten Stadt« ist auch die Frage, was eigentlich mehr Gewicht besitzt: unsere sogenannte Lebenswirklichkeit oder aber das, was wir in unserem Kopf daraus entwickeln – all die Träume, Ängste, Phantasien, auch das Bild, das wir von uns selber haben und das sich, wenn es sich nur in unserem Kopf abbildet, in der Wahrnehmung unserer Person durch andere gar keinen Widerhall findet. GK   Die Oper kam 1920 heraus – direkt nach dem Ersten Weltkrieg. Alle Menschen hatten enge Angehörige, geliebte Menschen verloren, die Versorgungslage war noch immer nicht so wie vorher. Dieses Werk muss dem Publikum damals mächtig nahegerückt sein.


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TG  Ein Kollege hat bei den Proben berichtet, dass seine Großtante als junge Frau gerade ihren Verlobten verloren hatte, als sie in Hamburg, wo am 4.12.1920 parallel zu Köln die Uraufführung stattfand, eine Vorstellung der »Toten Stadt« besuchte, und wie sehr es sie emotional mitgenommen hat. Sich so etwas vorzustellen, berührt auch noch im Nachhinein, weil es etwas darüber erzählt, wie wir Werke rezipieren und wie wir aus unserem eigenen höchstpersönlichen Erleben schöpfen, wenn wir ein Werk auf uns wirken lassen.

GK  Wie würden Sie in diesem Zusammenhang die ›Kirche des Gewesenen‹ deuten, die Paul für seine verstorbene Frau Marie errichtet hat. Ist solch ein Tempel der Erinnerung etwas, das man für sich selbst meiden sollte? Oder kann man nicht – umgekehrt – daraus sehr viel Kraft beziehen? Speist sich nicht auch das Genre Oper wesentlich aus diesem Phänomen?

TG  Da stellt sich die Frage: Warum gibt es Theater und Oper? Doch eigentlich, weil es Geschichten gibt, die irgendein unbewältigtes, unabgegoltenes Element beinhalten, etwas, das wir erinnern und das uns betrifft, und das uns deswegen dazu bringt, diese Geschichten immer und immer wieder erzählen und hören zu wollen. Mit der ›Kirche des Gewesenen‹, wie Paul sie kultiviert, hat es dann aber doch etwas Besonderes auf sich. Bei ihm geht es ja schon lange nicht mehr wirklich um Erinnerung. In seiner Haltung zu seiner verstorbenen Frau haben wir es mit Verklärung, also mit ›Verunklarung‹ zu tun. Die Verstorbene hat den Rang einer Heiligen eingenommen. Das Bild, das er sich von Marie macht, und das er anderen vermittelt, ist verzerrt. So signalisiert er Marietta, was Marie betrifft: »Sie war rein. Vergleiche dich nicht mit ihr!«

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GK   Das Bild, das er sich von Marie macht, scheint auch eine eigene Dynamik zu besitzen: In der Szene, in der ihm die Tote erscheint, werden wir zu Zeugen ihres Vorwurfs, er sei ihr untreu.

TG  Wir haben fast keine Informationen über diese frühere Frau, aber im Verhältnis Pauls zu Marietta kommt es einem vor, als würde er diese Tänzerin für etwas bestrafen wollen, was eigentlich sein Verhältnis zu Marie betrifft, und was er in seinen Gedanken an Marie nicht zulässt. Zugleich darf man sich fragen: War das Verhältnis zwischen Paul und Marie wirklich so gut? Was ist mit ihr überhaupt passiert? Warum ist sie gestorben, wo sie doch offenbar noch recht jung war? War es ein Unfall, eine Krankheit, Selbstmord oder vielleicht sogar Mord? Man könnte sogar so weit gehen zu fragen: Hat es diese Frau überhaupt gegeben? Dass sich jemand eine Geschichte um eine angeblich wichtige Bezugsperson erfindet, geschieht häufiger, als man denkt – bei E. T. A. Hoffmann ist das eines der Samenkörner für seine Erzählungen. Das muss man nicht unbedingt negativ sehen: Paul hat mit der ›Kirche des Gewesenen‹, die er für sich schafft, auch etwas von einem Künstler, und vielleicht braucht der ›schöpfende Mensch‹ auch zwangsläufig ein ›inneres Urbild‹ von etwas, wonach er sucht – egal wie verstiegen uns Außenstehenden das dann vorkommen mag. GK   Auch in »Die tote Stadt« treten Künstler in Erscheinung: Marietta ist Tänzerin, und um sie herum erleben wir eine Clique von reichlich aufgekratzten Theaterleuten, die dann auf der Straße eine Szene aus Meyerbeers »Robert der Teufel« parodieren. Was erzählt das?


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TG  Dabei handelt es sich einerseits um ganz lustige, ein bisschen schräge Vögel, die man vielleicht auf den ersten Blick gar nicht so ernst nimmt, frei nach dem Motto: ›Die wollen ja nur spielen.‹ Andererseits stellen sie dann etwas her, das – was Pauls Thematik betrifft – genau ›ins Schwarze‹ trifft. Diese Situation, wie sie auf der Straße eine scheinbar harmlose Theaterszene spielen und dabei von Paul beobachtet werden, hat etwas von der berühmten Szene in Shakespeares »Hamlet«, wo eine wandernde Schauspieltruppe dem Hofstaat ein Stück präsentiert, das den vor Kurzem begangenen Königsmord offenlegt, also genau das abbildet, was im Hintergrund gerade schwelt. Was »Die tote Stadt« und die von den Theaterleuten parodierte Szene aus »Robert der Teufel« betrifft, trifft sie Paul an seinem empfindlichsten Punkt, und das ist die Erinnerung an Marie. GK   Ob sich Marietta in dieser Theaterszene, bei der sie die Rolle der wieder ins Leben zurückgekehrten Hélène spielt, dessen bewusst ist, dass Paul zusieht?

TG  Die Frage kann man sich stellen, und vielleicht ist es so, in jedem Falle aber teilt sich uns mit: Dieses ganze übermütige Spektakel ist keineswegs so harmlos, wie es zunächst scheint, und Paul ist der Anspannung, die das Ganze bei ihm auslöst, schließlich nicht mehr gewachsen. In der Meyerbeer-Oper geht es um auferstandene Nonnen, um eine Verquickung des Heiligen mit dem Satanischen, diese Szene besitzt sowohl eine blasphemische als auch eine erotische Komponente, und Paul zieht beim Zuschauen in seinem Inneren Parallelen zu seiner eigenen Situation und zu der seiner verstorbenen Frau. Das erzählt etwas darüber, wie das Theater uns Bilder liefert – Bilder, die mit uns etwas zu tun haben, und die in unserem Innern etwas anstoßen.

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GK   »Die tote Stadt« wird immer vorrangig aus der Perspektive Pauls, also des Mannes betrachtet, aber was hat es mit Marietta auf sich? Auf den ersten Blick erscheint sie ja wie die Verkörperung einer für die Zeit des Symbolismus so typischen Idee des Weiblichen als ›unergründlich‹, ›geheimnisvoll‹, ›gefährlich‹ oder gar ›lasterhaft‹ – wenn man dieser Sicht folgt, könnte man sie als ›Vamp‹ bezeichnen. Wie aber sehen Sie diese Frau losgelöst von derartigen Projektionen, was ihre Haltung zu Paul und ihre etwaigen Absichten betrifft?

TG  In der Erzählung von Georges Rodenbach, wo sie Jane heißt, erscheint sie ziemlich schablonenhaft, ausschließlich als Projektionsfläche männlicher Erwartungen – sozusagen als Vorgängerin jener ›dunklen‹ Frauengestalten, die man später, verkörpert von Schauspielerinnen wie Veronica Lake oder Lauren Bacall, in den Krimis des ›Film-noir‹-Genres erleben konnte. Diese weibliche Hauptfigur in »Bruges-la-morte« ist, sehr einseitig, als durch und durch berechnend gezeichnet. Da bekommt man dann zum Beispiel mit, wie sie heimlich in die Wohnung des Witwers kommt, um zu überprüfen, wieviel Geld er überhaupt noch besitzt und ob es sich also lohnt, mit ihm zusammenzubleiben. Marietta in Korngolds Oper ist weitaus facettenreicher, keineswegs so eindeutig festgelegt wie die ›Jane‹ der Vorlage und bietet somit als Figur mehr Möglichkeiten der Interpretation. Zunächst wirkt sie – der Geschichte entsprechend – eher undurchsichtig, und es entsteht die Frage, was für ein Interesse sie für diesen eigenbrötlerischen Witwer hat, ob sie wirklich etwas für ihn empfindet. Natürlich wäre es einfach, ihr rein materielle Interessen zu unterstellen, was man ihr dann auch nicht verübeln könnte, denn für eine sozial in keiner Weise


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abgesicherte Tänzerin konnte eine dauerhafte Verbindung zu einem wohlhabenden Mann in jener Zeit eine Art Lebensversicherung bedeuten. Aber dann gibt es doch auch Momente, in denen sich, was Marietta betrifft, viel weitere Horizonte auftun als in der Romanvorlage: Zum Beispiel am Schluss des zweiten Aktes, wenn sie sich entschließt, die Nacht mit ihm zu verbringen, da entsteht, vor allem ausgelöst durch die Musik (»dein Mund, dein Mund«) eine so ungeheure emotionale Ebene, dass man sich geradezu an »Tristan und Isolde« erinnert fühlt.

GK   Marietta ist Tänzerin, ›Performerin‹, also eine darstellende Künstlerin – als solche ist sie es gewohnt, eine bestimmte, von ihr beabsichtigte Wirkung bei den Betrachtern herzustellen. Es dürfte ihr nicht entgangen sein, wie fasziniert Paul von ihr ist, und wahrscheinlich findet sie doch vielleicht schon allein das schmeichelhaft und interessant.

TG  Ich glaube aber, dass in Korngolds Oper wirklich etwas mit ihr ›passiert‹. Das macht sich an mehreren Stellen bemerkbar: Es passiert zunächst einmal nach der ersten Strophe des Liedes, das offenbar auch Marie gesungen hat und das für Paul eine so große Bedeutung besitzt, »Glück, das mir verblieb«. Da ist sie selber plötzlich total verwirrt, versucht das dann mit der Äußerung »Das dumme Lied« von sich abzuschütteln, aber es wird deutlich, dass sie selber auch verzaubert ist. Dieser erste Akt endet dann mit einer seltsamen Flucht der Marietta – sie hält es da offenbar nicht mehr aus, irgendetwas hat sie da berührt und stark angekratzt – sie hatte die Situation am Ende erkennbar doch nicht im Griff, zumindest nicht so im Griff, wie sie es sich zu Anfang erwartet hatte. GK   Kann man denn davon ausgehen, dass sie schon zu Anfang in Bezug auf Paul einen Plan verfolgt?

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TG  So unbedarft und unwissend, wie Marietta – wenn man die Aufführungsgeschichte verfolgt – am Anfang ihres Erscheinens bei Paul häufig gezeichnet wurde, ist sie meines Erachtens nicht. Ich glaube, dass sie da schon mehr über ihn weiß, als es vielleicht zunächst den Anschein hat. Es gibt da seltsame Zwischentöne, wo sie auch angriffslustig und spöttisch auf ihn reagiert. Man bekommt das Gefühl, dass auch sie ihn beobachtet. Und, ist es wirklich Zufall, dass sie in einem Kleid daher kommt, das exakt dieselbe Farbe und denselben Schnitt hat, wie es früher Marie zu tragen pflegte? Wie zufällig ist es, dass sie dieses Lied kennt und singt? Da ist so ein Moment von erotischer Aggression, mit der sie auf diesen Mann losgeht – da könnte man dann durchaus den Eindruck bekommen, dass sie einem Plan folgt. Auf den Proben haben wir, um diese Momente zu überprüfen, auch mit dem Subtext improvisiert, Marietta sei vielleicht Maries Schwester, gebe Paul die Schuld an deren Tod und sei nun gekommen, um Rache zu nehmen. So weit muss man nicht gehen, aber: Auf keinen Fall darf man Marietta Unbedarftheit unterstellen. Letztlich entwickelt diese Beziehung zu Paul aber auch für sie eine Dynamik, die sie nicht mehr steuern kann. GK   Wie verhält es sich mit der Haushälterin Brigitta? In der Aufführung entsteht der Eindruck, dass sie auf irgendeine Art die Fäden in der Hand hält.

T G  In Rodenbachs Erzählung nimmt die Haushälterin einen breiten Raum ein und durchläuft eine präzise geschilderte Wandlung, als sie erfährt, dass ihr Dienstherr eine neue Frau empfängt. Sie empfindet es daraufhin für sich als eine Unmöglichkeit, unter diesen Umständen weiterhin in diesem Haus zu arbeiten. Doch auch was die Oper betrifft, ist Brigittas Verhältnis zu Paul ein sehr persönliches, allerdings ganz einseitig, nur in der Richtung

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von ihr zu ihm, und man wird den Verdacht nicht los, dass da nicht nur ein moralisch-religiöser Vorbehalt ist, wenn die Tänzerin in sein Leben tritt, sondern dass da doch eine Eifersucht hinzukommt. Brigitta – so kann man es sich vorstellen – lebt in diesem Haus der toten Marie wie eine ›Spinne in ihrem Netz‹ – als sei sie schon immer da. Sie beobachtet alles und weiß, was sich hier abspielt, wie das Gewissen des Hauses. Sie sieht sich als die ›eigentliche Frau‹ in Pauls jetzigem täglichen Leben, und diese Position wird ihr nun streitig gemacht.

leichzeitig bewegt sie sich in der Gemeinschaft der G Beginen, also der Nonnen – somit in einer Frauenwelt, das finde ich auch interessant, weil es in diesem Stück ja auch um einen Geschlechterkampf geht, um ein großes Duell zwischen Frau und Mann.

GK   Für Brigittas Stellung innerhalb des Hauses ergibt sich aus dem Umstand, dass da eine Frau – die tote Marie – ist, deren Sache sie quasi exklusiv vertritt, die aber, weil sie tot ist, nicht weiter stört, eine recht günstige Position.

TG  Und Paul scheint sich gar nicht darüber im Klaren zu sein, welchen Kräften er da ausgesetzt ist. Man hat das Gefühl, dieser verträumte einsame Mann Paul ist dieser Haushälterin doch ganz schön ausgeliefert. Gleichzeitig, und das wird auch ihr nicht entgehen, nimmt er sie gar nicht richtig wahr – bis er dann am Ende plötzlich, ganz unvermittelt, aufmerkt: »Brigitta, du, in alter Lieb und Treu«. GK   Und Frank: Ist er wirklich Pauls Freund, oder nicht doch viel eher ein Rivale?


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TG  Wie er in Pauls Traum zu einer Art Doppelgänger wird, finde ich spannend. Das ist wie bei E.T.A. Hoffmann, Dostojewski oder in dem schönen Schubert-Lied »Der Doppelgänger«. Da sieht einer seinen Rivalen und stellt dann plötzlich fest: ›Das bin ja ich selber!‹ Und ehe er sich versieht, ficht er diesen Kampf gegen sich selber oder gegen sein eigenes Spiegelbild aus. Bei Hans Christian Andersen gibt es auch diese aufregende Erzählung, wo das Spiegelbild plötzlich stärker wird als das eigentliche Ich und dieses letztlich sogar überwältigt. GK   Sie erwähnen Pauls Traum: Wie ziehen Sie innerhalb dieser Geschichte die Grenzlinie zwischen Wirklichkeit und Vision? Was findet denn nun tatsächlich statt, und was ereignet sich ›nur‹ in Pauls Kopf?

TG  Dieses Werk beziehungsweise seine Handlung sind auf so gekonnte Weise kompliziert und verschachtelt, dass man nie wirklich sicher sein kann, was denn nun Traum und was Realität ist, und wann eventuell der eine Traum in den anderen übergeht. Und zu dieser bewussten Verunsicherung, was die Realitätsebenen der Geschichte betrifft, tragen auch diese Alter-Ego-Figuren bei.

GK   Sie meinen, Frank als das ›Alter Ego‹ von Paul? TG  Frank kann als ein Alter Ego von Paul gesehen werden, Fritz wiederum als Alter Ego von Frank. Der Pierrot ist auch Fritz und Frank und Paul. Brigitta ist – auf eine seltsame verschobene Art – wie ein Alter Ego von Marie, diese wiederum hat ihre Alter-Ego-Entsprechung in Marietta. Diese Konstellationen ziehen sich also durch das ganze Stück. Ich fand es im Übrigen von Anfang an interessant, dass die Oper von einer Frau und einem Mann, Brigitta und Frank, eröffnet wird, und dass es sich

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bei diesen beiden in gewisser Weise um Alter-Ego-Figuren der eigentlichen Hauptgestalten Marietta/Marie und Paul handelt.

GK   Verschmilzt Paul, in seiner totalen Hingabe, nicht auch mit Marie, um die er so exzessiv trauert?

TG  Es scheint fast so, als würde er – auch in seiner Begegnung mit ihr, deren Zeugen wir werden – diese Frau geradezu ›aus sich selber herausholen‹. Die Figur des Paul hat, wie schon erwähnt, ja auch diese künstlerische Komponente. Er ist Melancholiker, und er versucht, sich die Welt zu greifen und sie zu begreifen, und zugleich versucht er auch, die Zeit anzuhalten. Indem Paul das Gewesene festzuhalten versucht, will er vielleicht auch ein Stück weit den eigenen Tod überwinden. GK   Der Regisseur Alfred Hitchcock, der große Meister des ›Suspense‹ und der psychischen Obsessionen, soll ein Bewunderer Korngolds gewesen sein. Die Vorlage des Films »Vertigo« hat viele Anleihen bei Rodenbach/Korngold. Welche Bedeutung haben nun bei Ihnen diese filmischen, an Traumbilder aus Kriminalfilmen erinnernden Sequenzen?

TG  Ich hatte in diesem besonderen Fall wirklich den Eindruck, dass die Musik dazu einlädt, die Handlung auch mit filmischen Bildern zu kommentieren. Man kann es kaum als Zufall bezeichnen, dass Korngold wenige Jahre später in Hollywood so erfolgreich war und von der Academy sogar mit zwei Oscars ausgezeichnet wurde. In seiner Musik vermittelt sich eine mitreißend unbedenkliche Lust an der Genre-Überschreitung. Die Idee des Filmischen ging bei uns auch mit der Entwicklung von


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Stefan Heynes Bühnenbild einher – diesem zylindrisch abgerundeten, in sich abgeschlossenen Zauberobjekt, das erst verschlossen ist und sich dann öffnet, um etwas von dem Innen preiszugeben. Nun werden gleichzeitig auch von außen filmische Bilder darauf projiziert. Es geht in dieser Geschichte ja wesentlich um den Gegensatz ›innen – außen‹ und um den Zauber, der sich im Inneren entwickelt und nach außen sichtbar wird. Das reflektiert sich dann auch wieder auf dem ›Außen‹.

GK   Die Oper »Die tote Stadt« hat, wie man auch jetzt in der Vorbereitungsphase immer wieder vermittelt bekommt, auffallend viele Fans und gilt als eine Art Geheimtipp des Opern-Repertoires. Wie erklären Sie sich das?

TG  In Korngolds »Die tote Stadt« verbindet sich doch alles, was Oper im besten Sinne ›kann‹: Wir haben es mit einer überaus spannenden Geschichte zu tun, die etwas über menschliche Seelenzustände erzählt. Gleichzeitig ist es opulent orchestriert, stellt große, aber lohnende Herausforderungen an die Sängerinnen und Sänger, und darüber hinaus haben wir den Chor und den Kinderchor und die Kirchenglocken – nichts wird ausgelassen. Gleichzeitig aber, und das ist das besonders Beeindruckende daran, ist es wie ein psychologisches Kammerspiel – und dabei ganz intensiv und genau auf die Beziehung dieser beiden Hauptfiguren konzentriert. Und während man das verfolgt, merkt man plötzlich: Dieses Brügge, das zunächst so fremd und fern und wie ein Bild aus einer exotischen Geschichte wirkt, ist doch eigentlich schon immer in uns drin.

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Elisabeth Bronfen

NUR ÜBER IHRE LEICHE – Auszug – Damit die zweite Frau eine Vorgängerin wiederholen oder verdoppeln kann, muss sie in mehr als einem Sinn als Wiedergängerin fungieren. Sie repräsentiert eine tote Frau; ihr Körper beherbergt und re-materialisiert eine Verstorbene, die ein Trauernder unter den Lebenden zu halten versucht. (…) Ihr eigener Körper ist ihr verwehrt, ist nur Sinnbild für eine ihr fremde Bedeutung, verfrüht in einen Geist verwandelt, in einen Körper ohne die ihr einzigartige Seele oder Persönlichkeit, in eine lebende Chiffre für das verlorene Objekt des Begehrens ihres Liebhabers. (…) Diese Trauernden begehren die Geliebte als Geist, in einer unheimlichen Position verortet, die klare Unterscheidungen zwischen den Lebenden und den Toten untergräbt. (…) Wiederholung der toten Geliebten macht die zweite Frau zum Ort für ein unheimliches Verwischen der Unterschiede zwischen belebtem und unbelebtem Körper, zwischen realem Liebesobjekt (dem mütterlichen Körper, der tatsächlichen Geliebten) und dem Bild des Liebenden. Ihr Körper verursacht intellektuelle Ungewissheit, ob sie nun Zeichen für den Triumph des Lebens über den Tod oder für das Vorhandensein des Todes im Leben ist; ob ihre Gegenwart bedeutet, dass eine Leiche wiederbelebt oder dass ein lebender Körper zur Leiche verwandelt wurde; ob die erste Geliebte lebendig oder die lebende Frau durch Wiederholung tot ist. Ihre doppeldeutige Präsenz verursacht Ungewissheit, ob sie wirklich dieselbe ist wie die Verstorbene oder eine andere – ein wunderbarer Fall von Wiederkehr der Toten oder nur eine perfekte Imitation. (…) Die Aporie ist derart, dass die zwei Frauen identisch sein können, jegliche Differenz ausgelöscht, nur wenn die zweite tot ist. Sobald aber tot, ist auch sie völlig verloren, gänzlich


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anders, und widerspricht dem Glauben an ein Wiederfinden verlorener Einheit. Die zweite Tötung eliminiert genau die Geste des Schwankens, die den betrachtenden Trauernden zwischen Glückseligkeit und Nachäffen befangen hält. Die zweite Geliebte wird getötet, weil sie unabhängig ist vom Selbstbild ihres Geliebten, das sie garantieren soll; weil sie die Tatsache inszeniert, dass Verkennung und Differenz stets der Illusion, eine »verlorene« Ganzheit in und durch eine andere zu finden, eingeschrieben sind. (…) Obwohl der Tod die zweite Frau außerhalb der Kontrolle des überlebenden Liebhabers stellt, bestätigt er auch die Allmacht seiner Gedanken, denn jener kann sie mental wiederbeleben, sie wiederfinden und wieder-töten in der Folge weiterer Ersatz-Körper.

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DAS ORCHESTER der »Toten Stadt« umfasst volle Streicherbesetzung, dreifaches Holz, vier Hörner, drei Trompeten, Basstrompete, drei Posaunen, Tuba, Pauken, fünf Schlaginstrumente im Orchestergraben sowie, am Ende des 1. Aktes, fünf weitere auf der Bühne, zwei Harfen, Klavier, Celesta, Orgel, Harmonium, Kirchenglocken (gestimmt und ungestimmt), Mandoline, zwei Bühnenorchester, Windmaschine; dazu kommen ein großer Chor, ein Kinderchor, ein Kammerchor von 16 Stimmen und 8 Soprane hinter Bühne. Dieser ganze Apparat wird in wahrhaft virtuosem Stil behandelt. Zur Klangverstärkung wird das Klavier eingesetzt, das in strategisch wichtigen Handlungsmomenten das Orchestergewebe durchdringt. Das Harmonium gibt einen düsteren, todesartigen, hohlen Klang. Es kommt im 1. Akt zu besonderer Wirkung, wenn Marietta das Portrait von Pauls verstorbener Frau entdeckt. Das Einfügen »katholischer«, mystischer Elemente stellt abermals die Verbindung zur Welt Gustav Mahlers her, und wie dieser hatte auch Korngold starkes Interesse am Okkulten. Sein Tod kam der Komposition einer sechsten Oper zuvor, die auf einem Spuk- und Gespenster-Thriller beruhte, Grillparzers »Das Kloster bei Sendomir«, einer Vorlage, die Korngolds Stil und Vorstellungskraft vollkommen entsprach. Die musikalische Struktur der »Toten Stadt« ist sehr reich in ihrer harmonischen Sprache und doch verhältnismäßig schlicht in ihrem Grundriss. Der Musik liegen vier Hauptmotive zugrunde. Die allerersten Klänge, drei steil abfallende dissonante Akkorde, bestehen aus Quarten und Quinten; sie bilden das »Auferstehungsmotiv«. Das »Haarmotiv« (das sich auf Maries Haarzopf bezieht, den Paul in einem Schrein aufbewahrt) setzt sich aus absteigenden Quarten zusammen und endet in einer ansteigenden Quint. Das Brügge-Motiv zeigt eine fallende Quart, und das weitgespannte Thema der Marietta bezieht seinen Impuls aus einem herabstoßenden Quintfall. Korngold hat alle Aspekte seiner Handlung wesentlich in einer geschlossenen Einheit konzentriert. Das ist nicht überraschend. In seinem ganzen Schaffen sind die melodischen Eingebungen immer wieder von Quarten und Quinten beherrscht. So beruht auch sein Leitthema, das »Motiv des fröhlichen Herzens«,


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vollständig auf ansteigenden Quarten. Es erscheint bereits in den Skizzen seiner Kindheit und war das Hauptthema seiner »Sinfonietta« op. 5. Er brachte es gern in all seinen Werken irgendwo unter, und in der »Toten Stadt« wird in erweiterter und variierter Form daraus Brigittas Arie »Was das Leben ist, weiß ich nicht, Herr Frank« – eine schöne und anrührende Charakterstudie in E-Dur. Korngolds harmonische Sprache ist äußerst vielschichtig. Sie führt über die neoromantische Chromatik eines Richard Strauss noch hinaus. Die vielen pointillistischen Vorhaltsspannungen mit den bitonalen Fortschreitungen, die das Ohr oft genug der Grundtonart entfremden, aber ebenso häufig zu den Wurzeln der Tonalität zurückkehren, statten den Klangkosmos Korngolds mit rauschhafter Üppigkeit aus. Dazu entwickelt Korngold eine Rhythmik von außerordentlicher Elastizität, die die Musik in ständig gärender Bewegung hält. Beim Auftritt Pauls im 1. Akt wird die Spannung in wiederholten Anläufen zu einem kaum noch erträglichen Gipfel hochgetrieben, bis zum stürmischen Eintritt der Marietta. Paul äußert seine Gefühle in einer langen, leidenschaftlichen Deklamation; Korngold hat sie in einem Brief an Egon Pollak als der »zwielichtsmatten Sonne Strahlenweiß!!!!« bezeichnet, eine deutliche Anspielung auf den Hans Sachs der »Meistersinger«, der das Preislied auf »Die heilige Morgentraum-Deutweise« tauft. Die Singstimmen sind extrem schwierig geschrieben; die beiden Hauptpartien müssen Passagen von unbarmherzig hoher Tessitura bewältigen. Doch bei aller Vielseitigkeit der musikalischen Schreibweise war Korngold vor allem ein Komponist der Melodien. Er konnte reiche, erinnerungsträchtige Themen erfinden, »Die tote Stadt« ist voll davon. Außer Marietta mit ihrem Lautenlied ist es der Pierrot im Commedia dell’Arte-Scherzo des zweiten Aktes, der ein bezauberndes nostalgisches Walzerlied zu singen hat. »Mein Sehnen, mein Wähnen«, gesungen von Richard Mayr, erhielt bei der Wiener Premiere 1921 Beifall auf offener Bühne. In derselben Szene singt Victorin zum Preise Mariettas eine weitere köstliche Ballade, »Ja, bei Fest und Tanz«; Korngold hatte sie bereits einige Jahre vorher als Geburtstagsgeschenk für seine Mutter komponiert. Brandon G. Carroll

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ERICH WOLFGANG KORNGOLD


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ERICH WOLFGANG KORNGOLD Geboren am 29. MAI 1897 in Brünn (heute Brno) als Sohn des späteren Wiener Musikkritikers Julius Korngold (1860 – 1945). Bereits ab dem Alter von sechs Jahren wird Erich Wolfgang Korngold, als hoch begabt erkannt und in seinem Elternhaus sorgsam gefördert, am Klavier und in Musiktheorie unterwiesen.

1906  Der 9-Jährige erhält die Gelegenheit, Gustav Mahler seine Märchenkantate »Gold« vorzustellen. Von Mahler als ›Genie‹ eingestuft, wird er als Schüler an Alexander von Zemlinsky vermittelt. 1909  Julius Korngold betreibt die Förderung seines ›Wunderkind‹-Sohns offensiv weiter, indem er Privatdrucke der ersten Klaviersonate und der Klavierstücke »Don Quixote« und »Der Schneemann« herstellen lässt. 1910  Am 4. Oktober kommt an der Wiener Hofoper ein zwei Jahre zuvor entstandenes Werk Erich Wolfgang Korngolds zur Uraufführung: die Ballettpantomime »Der Schneemann«, in der Orchestrierung von Alexander von Zemlinsky. Das Werk erregt Aufsehen, und der 13-jährige Komponist erfährt von nun an das Wohlwollen und die Förderung aus den Kreisen der österrei­ chischen Hocharistokratie. Die Universal-Edition Wien druckt das Klaviertrio als op. 1. 1911 / 12  Die symphonische Ouvertüre »Sursum corda« op. 13 entsteht. 1912 / 1913  Die »Sinfonietta« in B-Dur, op. 5, ein Werk für großes Orchester, entsteht und wird im November 1913 sehr erfolgreich uraufgeführt. 1916  Am Hoftheater München werden am 28. März die beiden Opern-Einakter »Violanta« und »Der Ring des Polykrates« unter dem Dirigat von Bruno Walter mit großem Erfolg uraufgeführt. Zwei Wochen später, bei der ebenfalls erfolgreichen Premiere an

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der Wiener Hofoper, stellt sich lediglich Karl Kraus, der bereits in den Jahren zuvor das Jung-Genie Korngold in zahlreichen Glossen kommentiert hatte, mit kritischen Worten gegen die Werke. Durch den österreichischen Dramatiker Siegfried Trebitsch auf Georges Rodenbachs Roman »Bruges-la-morte« (1892) aufmerksam gemacht, erstellen Vater und Sohn Korngold unter dem Pseudonym Paul Schott das Libretto zur Oper »Die tote Stadt.« Als Vorlage dienen ihnen Georges Rodenbachs von Siegfried Trebitsch 1902 ins Deutsche übersetztes Drama »Le mirage« (»Die stille Stadt«) aus dem Jahr 1897 und der diesem Schauspiel zugrunde liegende Roman »Bruges-la-morte« (»Das tote Brügge«).

1917  Erster Weltkrieg: Korngold dient als Rekrut in der Musik­ kapelle eines Infanterieregiments. 1920  Am 4. Dezember wird – zeitgleich am Opernhaus Köln und am Stadttheater Hamburg – die Oper »Die tote Stadt« uraufgeführt. Die musikalische Leitung in Köln hat Otto Klemperer, in Hamburg dirigiert Egon Pollak. Mit diesem Werk, das nun einen Siegeszug auf allen europäischen Bühnen antritt, verbindet sich der – auch im Nachhinein besehen – größte Erfolg von Korngolds Laufbahn. Zu den im Verlaufe der nächsten Jahre am meisten gefeierten Interpreten der beiden Hauptpartien werden, auch bei der Erstaufführung an der Metropolitan Opera in New York, Maria Jeritza und Richard Tauber. Die beispiellose Erfolgsserie währt bis zum Ende der 1920er-Jahre. 1921 »Lieder des Abschieds« für Alt und Orchester. 1923 Es entstehen zahlreiche Operettenbearbeitungen, unter anderem von Werken der Komponisten Johann Strauß, Leo Fall und Jacques Offenbach. 1924 Korngold heiratet Luise von Sonnenthal (1900 – 1962), die Enkelin des ehemaligen österreichischen Burgschauspielers Adolf von Sonnenthal (1834 – 1909). Im Verlaufe der Ehe, die zeitlebens hält, werden zwei Söhne geboren.


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Bei der Berliner Erstaufführung von »Die tote Stadt« unter dem Dirigat von George Szell reüssieren Lotte Lehmann und Richard Tauber.

1927  In Hamburg wird am 7. Oktober »Das Wunder der Heliane« uraufgeführt – eine Oper, deren Erfolg – obwohl Korngold sie für sein bedeutendstes Werk hält – nicht an den der »Toten Stadt« heranreicht. Korngolds musikalischer Stil gerät zunehmend außer Mode. Er wird als Professor an die Staatliche Hochschule für Musik in Wien berufen.

1929  Beginn der Zusammenarbeit mit dem österreichischen Regisseur Max Reinhardt in Berlin. 1932  Eine Neuaufführung der Oper »Die tote Stadt« an der Wiener Staatsoper – unter dem Dirigat von Egon Pollak, erneut mit Maria Jeritza – erregt nur noch mäßiges Interesse. Korngold beginnt die Arbeit an der Oper »Die Kathrin«. Seine »Baby-Serenade« (entstanden 1928 anlässlich der Geburt seines zweiten Sohnes Georg), in der er auch Jazzelemente verarbeitet hat, wird im Konzerthaus Wien uraufgeführt. 1933 – 1945  Die Werke Korngolds sind in Deutschland aufgrund der jüdischen Herkunft des Komponisten mit einem Aufführungsverbot belegt. 1934 / 35  Im Rahmen seines ersten Amerika-Aufenthalts bearbeitet er Mendelssohn Bartholdys Sommernachtstraum-Musik für Max Reinhardts viel gerühmte Shakespeare-Verfilmung »A Midsummer Night’s Dream« (»Ein Sommernachtstraum«) im Auftrag der ›Warner Brothers‹. 1935 / 36  Korngold schreibt Filmmusiken für die Filmfirmen ›Paramount‹ und ›Warner Brothers‹. Für seine Musik zu »Anthony Adverse« (»Ein rastloses Leben«), unter der Regie von Mervin LeRoy, mit Olivia de Havilland und Fredric March in den Haupt­ rollen, erhält Korngold seinen ersten Oscar.

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1937 Uraufführung des Liederzyklus »Unvergänglichkeit«. Das Wiener Publikumsinteresse an Korngold reicht nicht mehr an frühere Zeiten heran, außerdem setzen sich auch in Österreich zunehmend antisemitische Tendenzen durch. 1938 Der nationalsozialistische »Anschluss« Österreichs, der sich während eines USA-Aufenthalts Korngolds ereignet, führt den Komponisten zu dem Entschluss, von nun an vorrangig Filmmusiken zu schreiben. Für die Musik zu »The Adventures of Robin Hood« (Regie: Michael Curtiz, mit Errol Flynn und Olivia de Havilland in den Hauptrollen) erhält er seinen zweiten Oscar. Weitere Oscar-Nominierungen Korngolds: 1936 für »Captain Blood« (»Unter Piratenflagge«), 1940 für »The Private Lifes of Elizabeth and Essex« (»Günstling einer Königin«) und 1941 für »The Sea Hawk« (»Der Herr der sieben Meere«). 1939 Uraufführung der Oper »Die Kathrin« an der Königlichen Oper in Stockholm. BIS 1946 ist Korngold, finanziell für ihn sehr einträglich, ausschließlich als Filmkomponist tätig. Seine Musik für die Leinwand wird zu einem essentiellen dramaturgischen Element aller Filme, an denen er beteiligt ist. Mit einem Teil seiner Einkünfte unterstützt er andere, finanziell schlechter gestellte Immigranten aus Europa. AB 1945  Korngold ist zunehmend bestrebt, zur klassischen Orchestermusik zurückzufinden. Das Streichquartett Nr. 3 D-Dur op. 34 entsteht. Er widmet es dem Dirigenten Bruno Walter. 1946  Uraufführung des Konzerts für Cello und Orchester op. 37. 1947  Uraufführung des Violinkonzerts D-Dur op. 35. 1949  Rückkehr nach Wien. 1950 Erfolgreiche Uraufführung der drei Jahre zuvor entstandenen »Sinfonischen Serenade« op. 39 unter Wilhelm Furtwängler. Dieses Ereignis markiert einen der wenigen Erfolge Korngolds in dieser Phase. Aufführungen anderer Werke erfahren wenig Aufmerksamkeit und erhalten, ganz überwiegend, kühle Kritiken.


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1951  Nachdem sich ihre Erwartungen an ein ›europäisches Comeback‹ nicht eingelöst haben, kehren die Korngolds nach Amerika zurück. 1947 – 1952  Als letztes großes Werk entsteht die ›Sinfonie in Fis‹ op. 40. 1954  Korngold reist zu den Uraufführungen seiner ›Sinfonie in Fis‹ und der Komödie mit Musik »Die stumme Serenade« (UA konzertant: 1951, Wien) nach Europa. Außerdem wirkt er in München bei den Dreharbeiten zum Spielfilm »Magic Fire« (»Frauen um Richard Wagner«) mit. Bei dieser internationalen Produktion handelt es sich um einen spekulativen Kostümschinken, für den Korngold die Musik Richard Wagners arrangiert und in dem er selbst die kleine Nebenrolle des Dirigenten Hans Richter übernimmt.

1957  Korngolds Absicht, eine zweite Sinfonie sowie eine Oper basierend auf Franz Grillparzers Novelle »Das Kloster bei Sendomir« zu komponieren, lässt sich nicht mehr verwirklichen. AM 29. NOVEMBER  erliegt er an seinem Wohnort Los Angeles den Folgen einer Hirnthrombose. Korngolds Musikwerke, denen bei der Fachwelt der Nachkriegszeit der Ruf des Antiquierten und musikalisch Halbseidenen anhaftete, wurden nach seinem Tod zunächst nicht mehr gespielt und gerieten weitgehend in Vergessenheit. Einzelne Versuche, »Die tote Stadt« wiederzubeleben (München 1955, Volksoper Wien 1967) blieben folgenlos.

1975  Erst ab Mitte der 1970er-Jahre ereignet sich, ausgelöst durch eine Neuproduktion an der New York City Opera, die eigentliche Wiederentdeckung und ›Rehabilitierung‹ des Werks, zu der in der Folge auch Neuproduktionen in Darmstadt (1978), an der Deutschen Oper Berlin (1983), der Wiener Staatsoper (1985) und der Deutschen Oper am Rhein (1986) beitragen.

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1998  An der Oper Köln kommt »Die tote Stadt« am 23. Dezember, also 78 Jahre nach der Uraufführung, unter der musikalischen Leitung von Philippe Auguin, in einer Inszenierung von Günter Krämer (Bühne: Martin Warth, Kostüme: Falk Bauer), mit Hubert Delamboye und Nina Warren in den Hauptpartien, wieder auf die Bühne. 2020  Anlässlich des 100. Jahrestags der Uraufführung der Oper »Die tote Stadt«, auf den Tag genau am 4. Dezember, kommt an der Oper Köln im StaatenHaus erneut eine Neuproduktion dieses für die Historie dieses Opernhauses wesentlichen Werks zur Premiere*. Aufgrund der behördlich verhängten Auflagen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie ist bei dieser Premiere von »Die tote Stadt« im Zuschauerraum kein Publikum zugelassen. Aus diesem Grund verbindet sich mit dieser Neuproduktion ein in der Geschichte der Oper Köln bisher noch nie da gewesener Vorgang: Die Aufführung wird der interessierten Öffentlichkeit als Live-Stream zugänglich gemacht. **


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* Besetzung der Neuproduktion »Die tote Stadt« – Oper Köln, Saison 2020.21: Musikalische Leitung Gabriel Feltz, Inszenierung Tatjana Gürbaca, Bühne Stefan Heyne, Kostüme Silke Willrett, Licht Andreas Grüter, Video Sandra Van Slooten & Volker Maria Engel (schnittmenge.de), Chor Rustam Samedov, Dramaturgie Georg Kehren Mit Burkhard Fritz / Stefan Vinke (Paul), Ausrine Stundyte / Kristiane Kaiser (Marietta), Wolfgang Stefan Schwaiger / Miljenko Turk (Frank / Fritz, der Pierrot), Dalia Schaechter (Brigitta), Regina Richter (Lucienne), John Heuzenroeder (Victorin), Anna Malesza-Kutny (Juliette), Martin Koch (Graf Albert) Chor der Oper Köln Mädchen und Knaben des Kölner Domchores Statisterie der Oper Köln Gürzenich-Orchester Köln ** Das Streaming wurde mit freundlicher Unterstützung der Freunde der Kölner Oper e.V. und des Kuratoriums der Oper Köln ermöglicht.

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Georges Rodenbach

DAS TOTE BRÜGGE Auszug aus dem 11. Kapitel, das die Wirkung der Stadt Brügge auf die Hauptgestalt des Romans, den Witwer Hugo (= in Korngolds Oper »Die tote Stadt« ist sein Name Paul), beschreibt. Aber die Stadt trägt vor allem das Antlitz des Glaubens. Eine Mahnung zur Frömmigkeit und Entsagung geht von ihr aus, von den Mauern ihrer Spitäler und Klöster, von ihren zahlreichen Kirchen, die in steinernen Chorhemden niederknien. Sie begann Hugo wieder zu beherrschen und seinen Gehorsam zu erzwingen. Sie wurde wieder zur Hauptperson seines Lebens, mit der er die meiste Zwiesprache gepflogen, die ihren Einfluss geltend gemacht, abgeraten und befohlen hatte, nach der er sich am meisten gerichtet und der er die Gründe zu allen seinen Handlungen entlehnt hatte. Er geriet jetzt wieder mehr in den Bann ihres mystischen Antlitzes, je mehr er den Lockungen des Fleisches und der Lüge des Weibsgesichtes widerstand. Er hörte nicht mehr soviel auf die Worte aus ihrem Munde, und in gleichem Maße ward er wieder empfänglich für den Glockenklang. O diese vielen, nimmermüden Glockenklänge, wenn er in solchen Rückfällen von Trübsal seine abendlichen Spaziergänge wieder aufnahm und planlos an den Grachten entlangstreifte! Sie taten ihm weh, diese vielen Glockenklänge, wenn er in solchen Rückfällen von Trübsal seine abendlichen Spaziergänge wieder aufnahm und planlos an den Grachten entlangstreifte! Sie taten ihm weh, diese vielen Glocken mit ihrem Sterbegeläut, ihren Seelenmessen und Dreißigschlägen, ihrem Mett- und Vesperläuten. Den ganzen Tag über schwangen ihre schwarzen, unsichtbaren Weihrauchfässer auf und ab und ließen einen Rauch von Klängen in die Luft aufsteigen.


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O dieses ewige Glockenläuten von Brügge, diese ununterbrochen in die Luft gesandten Klagepsalmen großer Totenmessen! War es nicht wie eine Absage an das Leben, wie der klare Sinn der Eitelkeit aller Dinge, wie ein Einläuten des nahenden Todes? ... Auf den leeren Straßen verbreitete hin und wieder eine Laterne einen flackernden Schein des Lebens. Vereinzelte Schattengestalten huschten vorüber, Weiber aus dem Volk in langen, dunklen Tuchmänteln, die wie schwarze Bronzeglocken aussahen und wie Glocken schwangen. Und Glocken, wie Mäntel schienen nach den Kirchen zu wandeln, in einem und demselben Wege begriffen. Hugo folgte unbewusst ihrem Rat und ihrer Spur. Die frömmelnde Umgebung gewann ihre alte Macht über ihn. Die Propaganda des Vorbilds, der verborgene Wille der Dinge zog auch ihn nach den alten Gotteshäusern zur inneren Sammlung. (…) Es war ein voller, mächtiger Klang, der von den Orgelpfeifen herab auf die Fliesen strömte; es war, als überschwemmte und verwischte er die staubigen Inschriften auf den Leichensteinen und Kupferplatten, mit denen die alte Kirche wie besät war. Wahrlich, hier schritt man auf dem Tode!

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Marcel Proust

TRAUER UM ALBERTINE Der Ich-Erzähler Marcel in Marcel Prousts großem Romanwerk »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« verliert seine Geliebte Albertine durch einen Reitunfall. Seine bisherige qualvolle Eifersucht, durch die seine Beziehung zu ihr wesentlich geprägt war, wandelt sich nun in Trauer um die Tote. Bei einem Venedig-Aufenthalt trifft er auf eine österreichische Touristin, an der er Züge Albertines wahrzunehmen meint. Damit der Tod Albertines meine Leiden hätte beenden können, hätte der Unfall sie nicht nur in der Touraine, sondern auch in mir selbst ums Leben bringen müssen, niemals aber war sie da lebendiger gewesen. Um in uns einzugehen, muß ein Wesen die Form der Zeit annehmen und sich in ihren Rahmen fügen; da es uns nur im Ablauf der Minuten erscheint, kann es uns von sich selbst immer nur einen Aspekt auf einmal zur Verfügung stellen, nur eine einzige Photographie von sich überlassen. Die große Schwäche, die es für ein Wesen bedeutet, aus einer bloßen Sammlung von Momentaufnahmen zu bestehen, ist auch eine große Stärke; es ist abhängig vom Gedächtnis, das Gedächtnis eines Augenblicks aber hat nicht von allem Kunde, was seither geschehen ist; der Augenblick, den das Gedächtnis registriert hat, lebt weiter, dauert noch immer an, damit jedoch auch das Wesen, das sich darin abgezeichnet hat. Diese Bruchstücke aber erwecken die Tote nicht nur wieder zum Leben, sondern vervielfältigen sie sogar. Um mich zu trösten, hätte ich nicht eine, sondern unzählige Albertines vergessen müssen. … Als ich ins Hotel zurückkehrte, fand ich junge Frauen vornehmlich aus Österreich vor, die in Venedig die ersten schönen Tage des dortigen blütenlosen Frühlings zu verleben gedachten. Es gab darunter eine, deren Züge zwar nicht denen Albertines glichen, die mir aber durch die gleiche frische Gesichtsfarbe, den gleichen lachenden


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und leichtlebigen Blick gefiel. Bald merkte ich, daß ich anfing, ihr die gleichen Dinge zu sagen, die ich in der ersten Zeit Albertine gegenüber geäußert hatte, und daß ich ihr nicht nur den gleichen Schmerz verbarg, als sie mir sagte, sie werde mich am folgenden Tag nicht wiedersehen, da sie nach Verona ging, sondern gleichzeitig auch meine Lust, ebenfalls nach Verona zu fahren. Aus: Marcel Proust, »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« (»À la recherche du temps perdu«), Band 6 – »Die Flüchtige« (»Albertine disparue«, im Original erstmals, postum, 1925 erschienen) – aus dem Französischen übersetzt von Eva Rechel-Mertens; revidiert von Luzius Keller und Sibylla Laemmel

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Marcel Proust

BRIEF AN REYNALDO HAHN In einem Brief an den mit ihm befreundeten Komponisten Reynaldo Hahn reflektiert Marcel Proust die Stadien seiner Trauer um seinen früheren Chauffeur und Sekretär Albert Agostinelli, der am 30. Mai 1914 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Albert Agostinelli gilt gemeinhin als Vorlage für die Figur der Albertine in Marcel Prousts Romanwerk »À la recherche du temps perdu« (»Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«). » (…) Es ist wirklich zu nett von Ihnen, daran gedacht zu haben, das Cabourg mir wegen Agostinelli verleidet sein müsste. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es das nicht in dem Maße war, wie ich geglaubt hatte, und dass diese Reise eher eine erste Etappe der Loslösung von meinem Kummer ausgemacht hat, eine Etappe, nach der ich glücklicherweise, sobald ich wieder hier war, rück­f ällig geworden bin und die früheren Schmerzen wieder empfunden habe. (…) Ich habe Alfred wirklich geliebt. Nein, mehr noch, ich habe ihn angebetet. Und ich weiß nicht, warum ich das in die Vergangenheitsform setze, denn ich liebe ihn immer noch. Aber trotz allem beruht Trauer zum Teil auf unwillkürlichen Empfindungen und zum Teil auf einer Pflicht, die das Unwillkürliche festigt und ihm Dauer verleiht. Diese Pflicht besteht aber nicht gegenüber Alfred, der mir gegenüber sehr schlecht gehandelt hatte, ich trauere um ihn, soweit ich nicht anders kann, ich fühle mich an ihn nicht durch eine Pflicht gebunden wie die, die mich an Sie bindet, die mich an Sie binden würde, selbst wenn ich Ihnen tausendmal weniger verdanken, wenn ich Sie tausendmal weniger lieben würde. Wenn ich also in Cabourg einige Wochen lang relativ unbeständig war, halten Sie mich bitte nicht für unbeständig und legen Sie es nur dem zur Last, der keine Treue verdient hat. Übrigens bereitete es mir eine tiefe Freude festzustellen, dass meine Leiden wiedergekehrt waren;


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aber zeitweise sind sie so heftig, dass ich mich nach der Linderung vor einem Monat ein wenig zurücksehne. Aber betrübt empfinde ich auch, dass sie, selbst wenn sie heftig sind, mich doch vielleicht weniger in Beschlag nehmen als vor anderthalb oder zwei Monaten. Nicht weil die anderen sterben, lässt der Kummer nach, sondern weil man selber stirbt. Und man muss über sehr viel Lebenskraft verfügen, will man das »Ich« von vor einigen Wochen unbeschädigt am Leben erhalten.

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NACH MEINEN BEIDEN EINAKTIGEN OPERN stürzte eine wahre Flut von Opernbüchern über mich herein. Eines Tages, im Sommer 1916, machte mich Siegfried Trebitsch, der bekannte Schriftsteller und Shaw-Übersetzer, auf das Schauspiel »Das Trugbild« aufmerksam, das Georges Rodenbach nach seinem berühmten Roman »Bruges-la-Morte« gedichtet und Trebitsch für die deutsche Bühne bearbeitet hatte. Ich las das Stück und entwarf noch an demselben Abend das Szenarium einer Oper. Bei diesem, meinem Szenarium ist es natürlich in der Folge nicht geblieben, wohl aber an meinem Interesse für den Stoff. Die eigentümliche Brügge-Stimmung, der schwermütige Grundton, die beiden Hauptgestalten mit ihren fesselnden seelischen Konflikten, der Kampf der erotischen Macht der lebenden Frau gegen die nachwirkende seelische Macht der Toten, die tiefere Grundidee des Kampfes zwischen Leben und Tod überhaupt, insbesondere der schöne Gedanke notwendiger Eindämmung der Trauer um teure Tote durch die Rechte des Lebens, dabei überall eine Fülle musikalischer Gestaltungsmöglichkeiten, all das zog mich an. Und dies erst recht, als die letzte Umgestaltung des Stoffes durch Paul Schott* alles Geschehen nur Ausfluss einer Vision des aus dem seelischen Gleichgewicht gebrachten Helden werden ließ, eine poetische Ausdeutung, zu der durch Rodenbach der Anstoß gegeben war, indem er schon die tote Frau den erregten Sinnen des trauernden Gatten erscheinen lässt. Die traumhaft fantastische Sphäre, in die der Stoff damit gerückt war, schien dessen eminente Musikfähigkeit zu vollenden … Von der Musik möchte ich in geziemender Zurückhaltung nur so viel sagen dürfen, dass ich gerade des traumhaft-fantastischen Charakters der Handlung wegen das Streben auf äußerste dramatische Knappheit richtete. An der bereits in meinen einaktigen Opern beobachteten Zusammenfassung der einzelnen Szenen oder mindestens wichtigsten Szenenteile habe ich auch diesmal


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festgehalten. Und noch mehr als zuvor war ich bei aller Wahrung der dramatischen Funktionen eines im Dienste von Stimmung, Schilderung und psychologisch-dramatischer Charakteristik farbig und thematisch geführten Orchesters auf Hervortreten des singenden Menschen, auf Gefühl und Affekt widerspiegelnde dramatische Gesangs­melodie bedacht. Dies alles unbeschadet moderner Diktion, in der ich höre und fühle. Erich Wolfgang Korngold

* Anmerkung: Bei dem Namen des Librettisten handelt es sich um

ein Pseudonym von Julius Korngold, dem Vater Erich Wolfgang Korngolds.

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»DIE TOTE STADT«, KÖLN 1920 JOHANNA KLEMPERER ALS MARIETTA IM 2. AKT, DER PIERROT-SZENE


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4. DEZEMBER 1920 URAUFFÜHRUNG »DIE TOTE STADT« IN KÖLN

DAS STOLZE GEBÄUDE DES KÖLNER OPERNHAUSES AM HABSBURGERRING (RUDOLFPLATZ) WURDE 1902 ERÖFFNET, NACHDEM DAS THEATERHAUS IN DER GLOCKENGASSE FÜR DIE STETIG GEWACHSENE KÖLNER OPERNGEMEINDE ZU KLEIN GEWORDEN WAR. MIT 1800 SITZPLÄTZEN ZÄHLTE DAS VON ARCHITEKT CARL MORITZ ENTWORFENE HAUS IM NEOBAROCK-STIL SEINERZEIT ZU DEN GRÖSSTEN THEATERN DEUTSCHLANDS. 1943 WURDE ES BEI BOMBARDEMENTS SCHWER BESCHÄDIGT UND EINIGE JAHRE SPÄTER, NACHDEM DIE DISKUSSION DARÜBER, OB MAN ES WIEDERHERSTELLEN SOLLE, ZUGUNSTEN EINES BÜHNENNEUBAUS AM HEUTIGEN OFFENBACHPLATZ ABSCHLÄGIG BESCHIEDEN WORDEN WAR, SCHLIESSLICH ABGERISSEN.

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Der Tenor mit der ernsten Miene

KARL SCHRÖDER (1886 – 1923) – DER ›PAUL‹ DER KÖLNER URAUFFÜHRUNG VON »DIE TOTE STADT« Nach Stationen an der Bühne seiner Heimatstadt und in Bremen kam der gebürtige Elberfelder 1913 als ›Erster lyrischer Tenor‹ an die Kölner Oper, wo er gleich zu Beginn seines Engagements bei der Uraufführung von Julius Bittners »Der Abenteurer« (3. Oktober 1913) mitwirkte. Bereits in den Jahren 1911 und 1912 hatte er – in kleineren Partien – auf dem Grünen Hügel von Bayreuth debütiert, im Festspielsommer 1914 folgte dort dann sein Auftritt in der Partie des jungen Steuermanns in »Der fliegende Holländer«. Im Verlaufe der zehn weiteren Jahre seiner Karriere sollten die zahlreichen Partien, die er als Ensemblemitglied der Kölner Oper sang, schnell deutlich dramatischer werden und ihn zu Rollenaufgaben wie dem »Freischütz«-Max, dem Loge, dem Walther von Stolzing in »Die Meistersinger von Nürnberg«, zu Lohengrin, Parsifal, Bacchus (»Ariadne auf Naxos«) und zum Kaiser in »Die Frau ohne Schatten« führen. Wenn man die Fotos – sowohl die Künstlerporträts als auch die Rollenfotos – betrachtet, fällt der gleichbleibend melancholische Blick des Künstlers auf, der ihm einen Ausdruck verleiht, als wolle er sich auf diesem Weg nochmals für die Partie des trauernden Paul in Erich Wolfgang Korngolds »Die tote Stadt« empfehlen. Daneben besticht seine schöne, sorgfältige Handschrift, die – fein ziseliert mit schwarzer Tinte – der Nachwelt zusätzlich nahelegt, in ihm eine gleichermaßen schöngeistige wie gewissenhafte Natur zu vermuten. Sicherlich wäre es auch interessant gewesen, ihn abwechslungsweise mal bei einem seiner eher lustspielhaften Auftritte zu erleben, zum Beispiel als Gesangslehrer und Bonvivant Alfred in der Johann-Strauß-Operette »Die Fledermaus«, in der er noch wenige Tage vor der Uraufführung der »Toten Stadt«, unter dem Dirigat



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des 25-jährigen Solorepetitors und Kapellmeisters Paul Dessau, auf der Bühne des Opernhauses am Habsburgerring stand. Es wird berichtet, dass Karl Schröder ein ganz besonderer Liebling des Kölner Publikums gewesen sei. Kurz vor dem Ende seines kurzen Lebens hat er sich noch mit der Titelrolle in der Uraufführung der Oper »Der Zwerg« von Alexander von Zemlinsky (Uraufführung: 28.5.1922) in das ewige Geschichtsbuch der Oper eingetragen. Der Umstand, dass die Uraufführungsrechte nach Köln gingen, soll nicht unwesentlich mit dem Umstand verknüpft gewesen sein, dass in der Domstadt in seiner Person ein Tenor von großem Format für die Titelpartie zur Verfügung stand. Dafür spricht auch, dass der Uraufführungstermin der Zemlinsky-Oper sich nach Schröders Terminplan gerichtet haben soll. Ursprünglich für Ende 1921 geplant, verschob man die Premiere auf das Frühjahr 1922, da Karl Schröder im Herbst 1921 kurzfristig anderweitig gebunden war: an der Metropolitan Opera in New York war er als Paul in »Die tote Stadt« verpflichtet – ein Hinweis auf den großen Ruf des Sängers in dieser Korngold-Partie, denn ein Engagement an der ehrwürdigen Met, das – nicht zu vergessen – zu jener Zeit für Europäer noch eine mehrtägige Schiffsreise erforderlich machte, ergab sich damals nur für die ›Crème de la Crème‹ der europäischen Sänger. Stichwort ›Kirche des Gewesenen‹: Es mag wie eine Reminiszenz an die in Korngolds »Die tote Stadt« vermittelte Geschichte erinnern, wenn man sich vergegenwärtigt, wie die zahlreichen signierten Porträt- und Rollenaufnahmen Karl Schröders, die wir hier abbilden, in den Besitz der Oper Köln kamen: Vor etwa 30 Jahren fanden sich diese historischen Bilddokumente im Nachlass einer Verehrerin oder eines Verehrers, die oder der hochbetagt verstorben war. Der Umsicht der Hinterbliebenen ist es zu verdanken, dass der offenbar jahrzehntelang als besonderer Schatz gehütete Fotosatz seinen Weg an die Oper Köln fand und nun für die Jubiläumsaufführung von Korngolds »Die tote Stadt« ein Erinnerungsmaterial liefert, mit dem der Paul der Kölner Uraufführung uns – mit Melancholie im Blick und ernster Haltung – direkt und ganz ›lebendig‹ anspricht. Georg Kehren



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DER DIRIGENT UND DIE HAUPTDARSTELLERIN DER KÖLNER URAUFFÜHRUNG »DIE TOTE STADT«: OTTO KLEMPERER, VON 1917 BIS 1924 GENERALMUSIKDIREKTOR DER OPER KÖLN, UND SEINE EHEFRAU JOHANNA KLEMPERER

Johanna Klemperer war seit 1916 – zunächst als Johanna Geisler – an der Kölner Oper engagiert. Eine ihrer ersten Kölner Partien war die Laura in Erich Wolfgang Korngolds »Der Ring des Polykrates«.

Aus Eva Weissweiler, »Otto Klemperer – Ein deutsch-jüdisches Künstlerleben«: Schon wenige Monate nach der Geburt ihres Sohnes Werner steht Johanna Klemperer als Zerlina in »Don Giovanni« und Adele in der »Fledermaus« wieder auf der Bühne. Im Dezember 1920 übernimmt sie die extrem schwierige Partie der Marietta in Erich Wolfgang Korngolds »Die tote Stadt«. Alle Fachleute sind der Meinung, dass dieser Part die stimmliche Kraft einer (…) Salome verlange. Aber Johanna stellt sich


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dieser Herausforderung und nimmt sogar wieder Gesangsstunden, um ihre hohen Tonlagen zu verbessern. (…) Johanna singt die Rolle der verführerischen Tänzerin Marietta in Korngolds »Die tote Stadt« mit großer Bravour. »Sie entfaltete Glanz und dramatische Tonfülle«, schreibt die Kölnische Zeitung, »so dass das Soubrettenhafte ihres Stimmklangs völlig verschwand.« Doch als sie wieder und wieder vor den Vorhang gerufen wird, weigert sich ihr Mann, neben ihr zu erscheinen. Nicht, weil er ihr diesen Triumph nicht gönnt, sondern weil er mit dem Stück völlig zerfallen ist, einem Stück, das wie ein »Potpourri aus Puccini, Strauss und Wiener Operette« klingt, nach »Pfefferkuchenharmonik« und »üblem romantischem Brei« (Urteile der Kölner Presse).

ZUSCHAUERRAUM DES KÖLNER OPERNHAUSES AM HABSBURGERRING (RUDOLFPLATZ)

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Olaf Kiener

DER TRIUMPH DES LEBENS Auf den ersten Blick scheint es seltsam widersprüchlich, dass ein unangekränkelter, wunderkindlich begabter 19-jähriger Wiener Komponist eine Affinität entwickelt zur todesmatten décadence des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach, zum nekrophilen Bruges-la-morte der Jahrhundertwende. Bei näherer Betrachtung aber lagen Brügge und Wien damals nicht so weit voneinander entfernt, wie es die Geographie ausweist. Brügge hat mit seinem morbiden Reiz auf viele Wiener Literaten des Fin-de-siècle eine stille Faszination ausgeübt und deren Prosa und Dichtung befruchtet. Stefan Zweig und Rainer Maria Rilke erlagen den grauen morendo-Stimmungen und der müden Melancholie dieser oft auch »Venedig des Nordens« genannten Stadt. Bereits im April 1900, nach Lektüre der späteren Originalvorlage zu Korngolds »Toter Stadt«, schrieb Rilke in sein Berliner Tagebuch: »Im Café Bauer Georges Rodenbachs Roman ›Le Mirage‹ gelesen mit tiefer Bewegung, wie in atemlosem Lauschen.« Das verfallene Brügge wurde verstanden als Synonym für die beginnende Auflösung des großen Habsburgerreiches, die in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs enden sollte. Wien war hier ein überaus hellhöriger Resonanzboden kommender Erschütterungen. Um die gleiche Zeit, als Korngold in Wien seine Konzeption der »Toten Stadt« in Musik setzte, machte sein Altersgenosse Carl Zuckmayer im Sommer 1917 während eines Fronturlaubs von der Flandernschlacht als 20-jähriger Soldat am Originalschauplatz von Korngolds Oper Station. Bei einer gespenstisch-unwirklichen Bootsfahrt durch die toten Grachten des nächtlichen Brügge erlebte er die halluzinogene Atmosphäre des Ortes und empfand sie als alptraumhaft-beklemmendes Symbol des Untergangs der alten Vorkriegswelt. Das in Zuckmayers Autobiographie »Als

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wär’s ein Stück von mir« geschilderte surreale Brügge-Erlebnis des Autors gleicht auf frappante Weise den kathartischen Traumerfahrungen des Protagonisten Paul in Korngolds »Toter Stadt«: »Da entschwand mir das Gefühl des Daseins, des Diesseits, der Wirklichkeit, bis zu einem Grad von Bewusstlosigkeit. Ich sah zwei Schwäne vorübertreiben. Totenschwäne. Dann ertrank ich im Styx. Ich glaubte nicht mehr zu leben, gefallen zu sein. Ich weiß nicht, ob ich einschlief oder die Besinnung verlor. Als ich zu mir kam, dämmerte es bereits. Die Morgenkühle weckte mich auf, ich merkte, dass ich noch lebte und mit der hereinkommenden Flut zu dem Ausgangspunkt meiner Fahrt zurückgetrieben war. In dieselbe Zeit fiel das Erwachen. Mein Kopf wurde hell und klar. Ich begann zu denken, scharf, logisch, nüchtern, ohne Illusion, ohne Hoffnung, ohne Selbstbetrug. Das ganze Kriegserlebnis, einschließlich der Tage von 1914, erschien mir wie ein dunkler, verworrener Traum.« Nicht nur die Literatur, auch das junge Medium Film inspirierte sich an der düsteren Aura der Vergänglichkeit des flandrischen Städtchens. Der angehende Regisseur Fritz Lang gewann dort nach eigenem Bekunden visuelle Schlüsseleindrücke: »1909 in Brügge mein erstes entscheidendes Zusammentreffen mit dem Film. In der Einsamkeit dieser Stadt haftete ein Filmbild in mir. Das lässt mich nicht wieder los. Ich ahne neue Möglichkeiten. Wieder in Paris, bin ich schon ganz im Banne des Films.« Tatsächlich hat Korngolds »Tote Stadt« ein cineastisches Gegenstück in Fritz Langs Stummfilm »Der müde Tod« (1921). Der Wiener Fritz Lang gestaltete hier wie Korngold den »schmerzlichen Zwiespalt des Gefühls« zwischen überirdisch fortdauernder Liebe und der Unwiderruflichkeit des Todes: das Liebespaar, vom Tod auseinandergerissen, und die Frau, die verzweifelt das Leben des Geliebten zurückfordert und den Kampf mit dem Tod aufnimmt, um ihn zu besiegen durch die Liebe. Wenn ihr darauf der Tod entgegnet: »Ich bin der Unbesiegbare. Geh zurück zu den Lebenden – und lebe!«, wird die Parallele zur Marie der »Toten Stadt« offenbar, und die Vermutung liegt nahe, dass Langs Filmkunstwerk mit seiner visionären Friedhofsprozession in dem verträumten »flämischen Dorf« (als solches


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erschien es Luis Buñuel) von Korngolds Oper nicht unbeeinflusst sein könnte. Dass zwischen dem deutschen expressionistischen Film und der »Toten Stadt« durchaus Verbindungslinien bestehen, zeigt auch der ebenfalls 1920 uraufgeführte Stummfilm-Klassiker »Das Cabinet des Dr. Caligari«, dessen verwirrendes Vexierspiel zwischen wahnhafter Zerrissenheit und Zukunftsangst das Gefühlsklima einer durch die Schrecken des Weltkriegs aus den Fugen geratenen Nachkriegsgesellschaft eindrucksvoll widerspiegelte. Der »Toten Stadt« und dem »Cabinet des Dr. Caligari« gemeinsam ist dabei die an E. T. A. Hoffmann gemahnende alptraumhafte Phantastik, beide besitzen eine »versöhnende« Rahmenhandlung (deren Idee bei »Caligari« von Fritz Lang stammt), der Paul der »Toten Stadt« ist, ähnlich dem »Somnambulen« in »Caligari«, ein von Phantasmagorien getriebener Traumwandler, und Film wie Oper enden mit der angedeuteten Perspektive der Heilung des Helden. Nicht zufällig spielte eine der frühesten Inszenierungen der »Toten Stadt« 1921 in Frankfurt / Main in einer stark von »Caligari« inspirierten, schief-bizarren Kulissenwelt, die den Stil des »caligarisme« (so der in Frankreich geprägte Begriff) vom expressionistischen Film auf die deutsche Opernbühne übertrug. Die große Publikumsresonanz der »Toten Stadt« in den frühen 1920er-Jahren gründet nicht zuletzt in ihrer Sensibilität und wachen Aufnahme politischer Grundströmungen. Mariettas populär gewordenes Lautenlied (bereits 1916 entstanden) »weckte mir bedrückende Ahnungen«, schreibt Julius Korngold in seinen Erinnerungen. »Ich glaubte so etwas wie den Schwanengesang des von den Gefahren des Krieges Bedrohten herauszuhören.« Dem Begeisterungstaumel der ersten Kriegsjahre war 1918 die Ernüchterung gefolgt, und die »Tote Stadt« verlieh der demoralisierten Stimmungslage von Millionen Menschen beredten Ausdruck, die im Schmerz um ihre vom Krieg entrissenen Angehörigen Trost und zugleich neuen Lebensmut suchten (und womöglich auch der alten politischen Ordnung nachtrauerten). Vom ehemaligen k.u.k. Weltreich blieb 1919 nur noch ein österreichischer Rumpfstaat übrig und

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dessen Zentrum Wien »war plötzlich von allem abgeschnitten, es war eine tote Stadt«, so Bruno Kreisky in seinen Memoiren. Zweifellos besaß Korngolds Oper bei ihrem Erscheinen eine aktuelle Bedeutungsebene, hatte doch Julius Korngold selbst, neben Erich immerhin der Hauptlibrettist des Werkes, im Vorwort zu einer Kritikensammlung vom Oktober 1920 es als die »besondere Sendung« des deutschen Opernschaffens der Gegenwart bezeichnet, »zur Stärkung der Lebensenergien beizutragen, deren diese schwere, verdüsterte Zeit bedarf.« Korngolds Oper ist so, vergleichbar Alban Bergs »Wozzeck«, auch ein (Kriegs-)Zeitdokument. Die bis heute ungeklärte Frage, ob Erich Wolfgang Korngold – wie von Vater Julius überliefert – schon im Jahre 1913 Brügge persönlich besuchte, oder ob er die Stadt – wie seine Gattin Luzi berichtet – zum ersten Mal im Jahr seines letzten Europa-Aufenthalts 1955 gesehen hat, ist vor diesem Hintergrund müßig: denn Korngolds Brügge, das lag in Wien. Der wie Korngold aus Brünn gebürtige Wiener Schriftsteller Hans Müller (1882 – 1950), Textbuch-Autor von Korngolds Opern »Violanta« und »Das Wunder der Heliane« (von ihm stammt auch ein erster Libretto-Entwurf zur »Toten Stadt«) schreibt in seinen Wien-Erinnerungen: »Wien lebt vom Kontrast. Wien lebt vom Übergang. (…) Ernst, ja Trauer tritt ohne hieratische, starre Würde in den Hof der Heiterkeit hinaus, (…) an der Vergänglichkeit und ihren sakralen Feiern rank sich, schon in den Säulen, Bäumen, Türmen und strahlenden Kirchenfenstern, die Lust der Gegenwart empor. Wer jenes alte Wien (…) betrat, empfing als ersten, halb ergreifenden, halb beseligenden Eindruck diese geschwisterliche, durchaus gebieterische Unzertrennbarkeit von Sein und Tod.« Aus diesen »wienerischen« Kontrasten und Übergängen zwischen dem grauen Nebel der sterbenden Stadt, ihren »schwarzen Wassern« und den prall-bunten Farben der übermütig-vitalen TheaterTruppe, dem Wechselspiel von Eros und Frömmigkeit, von Traum und Wirklichkeit bezieht auch die »Tote Stadt« ihre Wirkung. Wiens Katholizismus, von den spanischen Wurzeln Habsburgs

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herrührend, seine Liebe zum fromm-prozessionalen Prunk und Schaugeprägen, sein Hang zur »schönen Leich«, seine Atmosphäre des Kirchenkults lieferten Korngold in überreichem Maße alle Ingredienzien, um seine »Tote Stadt« lebendig werden zu lassen. Die Glocken der »Toten Stadt« (ihre »Beichtiger aus Erz«) brauchte Korngold nicht im Belfried von Brügge suchen, er konnte sie daheim in der Donaumetropole finden: »Über uns schwangen die Mittagsglocken der Stephanskirche. Unwillkürlich hemmten wir eine Minute unseren Weg. Und hörten zu. In Wien wandert, um diese Stunde, der dunkle oder hellere Schall unendlich vieler Glocken von Stadtteil zu Stadtteil, von Turm zu Turm. Man kann die einzelnen Stimmen, wenn man das Ohr nur recht in die Luft hält, unterscheiden.« (Hans Müller) Nur in Wien, der Stadt der »Sinnlichwerdung alles Inwendigen« (noch einmal Hans Müller), dem Ort, »darin die dunklen, frommen Bilder leben« und »gnädige Standarten über hohen Prozessionen schweben« (so der österreichische Dichter Hans Kaltneker in seinem »Sonett für Wien«, von Korngold 1952 erinnerungsschwer als letztes Liedopus vertont) konnte diese »Tote Stadt« entstehen. Korngold hätte nicht einmal zwingend des Rodenbachschen Romanvorwurfs bedurft, denn auch Arthur Schnitzler behandelte, ein Jahr nach Rodenbachs Tod, das Thema des trauernden Witwers, der Wiederkehr der geliebten toten Gattin in Gestalt der lebenden Doppelgängerin (bis zur Namensgleichheit beider) und schließlich deren als Katharsis gedachte Tötung. Es ist dies Schnitzlers Erzählung »Die Nächste« (bereits 1899 geschrieben, doch erst postum 1932 in der »Neuen Freien Presse« veröffentlicht), Schauplatz der Handlung ist Wien zwischen Volksgarten, Stadtpark und Ringstraße, und das Ganze wirkt mit frappierender Ähnlichkeit wie das österreichische Spiegelbild von Rodenbachs »Bruges-la-morte«. Nicht überraschend daher, dass Schnitzler und Korngold auch privat Kontakt hielten und der Dichter noch vor der Uraufführung der »Toten Stadt« Musik daraus kennenlernte. Am 2. Oktober 1920 notierte er in sein Tagebuch: »In Hietzing bei Trebitsch. Korngold spielte aus seiner neuen Oper


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vor. Wohllautquellend, nicht ohne Einflüsse von Puccini und Rich. Strauss. (…) K. spielte vorzüglich, war mir persönlich wieder sehr sympathisch.« Als ein Wiener Komponist mit stark affirmativer Dur-Tendenz musste Korngold allerdings die Grabestrübsal und »krankhafte Todesliebe« (S. Trebitsch) in Rodenbachs Original transformieren, und er extrahierte daraus, ohne Rodenbach Gewalt anzutun, über das Hilfskonstrukt einer Traumhandlung, gleichsam als wienerische Essenz, den »Triumph des Lebens«. Bezeichnenderweise war genau dies auch Korngolds ursprünglicher Arbeitstitel für die »Tote Stadt«. In Rodenbachs lyrischer Romanerzählung erscheinen die Figuren passiv und schemenhaft, fast alle Vorgänge sind aus der Innenschau des Witwers Hugues Viane gesehen; im schwarzen Schlagschatten Brügges, der eigentlichen Hauptperson, klingt die »sordinierte Musik verblassender Konturen und bleicher Silhouetten« (Gaston Deschamps). Hugues ist kein Agierender, sondern willenloses Opfer seiner Phantasien. Rodenbachs eigene Stoffdramatisierung unter dem Titel »Le mirage« (dt. »Das Trugbild«) macht die Geschehnisse greifbarer, die Tote (im Roman noch namenlos) erscheint hier, Geneviève genannt, dem Witwer als sichtbare Vision (wie später Marie in der Oper) und mahnt ihn im innigen Zwiegespräch: »Sei nicht so traurig. Erinnere dich an unser Glück. Unsere Liebe ist stärker als der Tod.« Die Doppelgängerin der Toten, Jane Scott, bleibt hingegen im Roman wie im Theaterstück eindimensional, Rodenbach betont durchweg ihren verderbten Charakter, sie wird als »Dirnenseele« gezeichnet, niederträchtig, teuflisch und grausam. Im Unterschied zu beiden Rodenbach-Vorlagen hat Korngold die Rolle der lebenden Kontrahentin bedeutend aufgewertet und seine Marietta bewusst als positive Gegenmacht zur Verstorbenen aufgebaut: »zu bannen das Gespenst für immer«. Korngolds tiefempfundenes Mitleiden gilt Paul, seine unverhohlene Sympathie aber gehört Marietta (im Charakter zwar kokett und leichtfertig, doch stets liebenswürdig), dem lebensbejahenden Prinzip, verkörpert

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in der überschäumenden Vitalität wienerischer Weiblichkeit (»heißatmend Leben gegen Tod« stehen im Libretto als unversöhnliche Antagonisten). »Gehe ins Leben, schau und erkenne«, diese Mahnung der toten Marie, gleichsam ein Fingerzeig aus dem Jenseits, ist Korngolds eigene Zutat und zugleich zentrale »Botschaft«, die sich vollends erschließt in der tödlichen Konfrontation des 3. Akts. »Ich tanz des Lebens siegende Macht« verkündet Marietta triumphierend im orgiastischen Walzerrausch, und Korngold kontrapunktiert ihren Sieg mit der in Fis-Dur aufsteigenden Quarten-Fanfare seines »Motivs des fröhlichen Herzens«, das wie ein unbezwingbarer cantus firmus in Korngolds Gesamtwerk konstant wiederkehrt und als feststehende Klangchiffre »Glück« und »Leben« symbolisieren. Durch die »reinigende Kraft des Traumes« (Julius Korngold) hat sich die gleich schon im 1. Akt aufgestellte Prophezeiung des Freundes Frank schließlich erfüllt: »Das Trugbild weicht, der Nebel wird sich teilen«. Der »Traum der bitteren Wirklichkeit« musste das Phantom der Vergangenheit therapeutisch zerstören, weil es sonst den Trauernden selbst zerstört hätte. Desillusioniert kann Paul aus dem Todesschatten der »Kirche des Gewesenen« heraustreten, mit der Akzeptanz des Unabänderlichen ist die seelische Balance zurückgewonnen, ein Neufanfang möglich; das Ganze war die »lebenstüchtige Wunschphantasie eines unnatürlich Lebenden« (R. St. Hoffmann), womit die »Tote Stadt« über Sigmund Freud nach Wien heimfindet. Dem flüchtigen Betrachter, der in dieser scheinbar apokryph optimistischen, von Paul Bekker als »banale Moral« missverstandenen Konfliktlösung der Oper argwöhnisch eine allzu simple oder gar triviale Psychologie am Werke zu sehen vermeint, dem mag das im 3. Akt »mit innigster Empfindung« vorgetragene Bekenntnis Pauls als ein Schlüssel zum Werk dienen: »Mein Glaube ist die Treu.« Denn im Kern hat Korngold in der »Toten Stadt« allgemeingültig und nachgerade buchstäblich auskomponiert, was Hugo von Hofmannsthal im Juli 1911 in einem erläuternden Brief an Richard Strauss zur »Ariadne auf Naxos« als deren Leitidee formulierte:


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»Es handelt sich um ein simples und ungeheueres Lebensproblem: das der Treue. An dem Verlorenen festhalten, ewig beharren, bis an den Tod – oder aber leben, weiterleben, hinwegkommen, sich verwandeln, die Einheit der Seele preisgeben, und dennoch in der Verwandlung sich bewahren.« Sätze, die gleichsam den »Ariadnefaden« zur »Toten Stadt« knüpfen und die auch Pauls »Lebensproblem«, seinen schmerzlichen Gefühlszwiespalt, nicht treffender und konziser zusammenfassen könnten. So verstanden schließt sich der Kreis im Hofmanntsthalschen Sinne zu dem von Korngold intendierten und seinem Werk als »tiefere Grundidee« eingeschriebenen »Triumph des Lebens«. Ganz offensichtlich hatten nekrophile Dekadenz und resignative Grabessehnsucht in Korngolds Denken keinen Platz. Morbidität war ihm wesensfremd, jene deutsche »Sympathie mit dem Tode«, von der Hans Pfitzner spricht, in dessen »Palestrina« alles dem Vergangenen zuneigt, war nicht Korngolds Sache. Seine gleichwohl im gesamten Œuvre immer wieder anzutreffende Präokkupation mit dem Jenseits, die zahlreichen Abschieds- und Todesstimmungen sind indes bei ihm nie Ausdruck von Defätismus, Korngold unterliegt ihnen nicht, stets wandeln und verdichten sie sich am Ende, den Todesgedanken überwindend, zur Apotheose des Lebens. Der Dichter Erich Fried, ein anderer exilierter jüdischer Wiener, hat den scheinbaren Widerspruch in die prägnante Formel aufgelöst: »Auch was ich gegen das Leben / geschrieben habe / ist für das Leben geschrieben / Auch was ich für den Tod / geschrieben habe / ist gegen den Tod geschrieben.«

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Günter Metken

GEORGES RODENBACH – DER AUTOR DER ROMANVORLAGE »BRUGES-LA-MORTE« Georges Rodenbach verkörpert die spezifisch flämische Seite der Dekadenz. Man kennt den wichtigen Beitrag, den Belgien mit James Ensor, dem Maler grotesker Maskeraden, mit der Gruppe der Vingtisten, mit den Jugendstilkünstlern Khnopff, Victor Horta und Henry van de Velde zur Erneuerung von Kunst und Geschmack am Jahrhundertende geleistet hat. Die Literatur stand hinter diesem schöpferischen Aufbruch nicht zurück. Die Dichter Verhaeren, Max Elskamp, Gilkin, Charles van Leberghe und Maurice Maeterlinck vergeistigten den Symbolismus durch eine Innerlichkeit, die sich von flämischer Mystik und den Bildern der Primitiven herleitete. Aus diesem Herbst des Mittelalters hat auch Georges Rodenbach geschöpft. Wo hätte er seiner unverstellter innewerden können als in Brügge, von dem sich das Meer und der Handel zurückgezogen hatten und das nun, narzisstisch in die eigene melancholische Schönheit versunken, im dämmernden Spiegel seiner Kanäle vor sich hin träumte. Am 16. Juli 1855 in Tournai geboren, hat Georges Rodenbach seine Kindheit und Jugend in Gent verbracht, wo ihm später im Beginenhof ein Denkmal von George Minne gesetzt wurde. Er studierte die Rechte, übte den Advokatenberuf aber nur kurze Zeit aus, um sich dann ganz der Literatur zu widmen. 1888 siedelte er endgültig nach Paris über, mit dessen Schriftstellern ihn mannigfache Sympathien verbanden. Doch verbrachte er regelmäßig einen Teil des Sommers im Seebad Knokke bei Brügge, wo mehrere seiner Bücher entstanden sind. Rodenbach hat in Belgien Lesungen französischer Dichter organisiert, namentlich im Jahr 1887 eine Vortragsreise seines Freundes Villiers de l’Isle-Adam. In Paris, wo er als erster der


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belgischen Symbolisten bekannt wurde, war er sehr geschätzt, wie Pierre Maës in seiner 1926 erschienenen Biographie darlegt. Die hohe, vornehme, mit ausgesuchter Eleganz gekleidete Erscheinung fiel allgemein auf. »Ein feines Gesicht aus dem Norden, melancholisch, wenn er schweigt, lebhaft, beweglich, nervös, mit einer Prise Bosheit, wenn er spricht«, so hat ihn J.-H. Rosny erlebt. »Eines jener Wesen, von denen ein geheimnisvoll anziehendes Fluidum ausstrahlt«, urteilte ein anderer. Als glänzender Causeur war Rodenbach oft im Mittelpunkt der literarischen Zirkel bei Banville, Alphonse Daudet, Edmond de Goncourt und Stéphane Mallarmé. Namentlich mit letzterem verband ihn aufrichtige Freundschaft, von der eine sehr ungezwungene Korrespondenz zeugt. Rodenbach als der zu beider Lebzeiten weitaus Erfolgreichere – »Bruges-la-morte« (»Das tote Brügge«) war eine Art Bestseller – setzte sich im »Figaro« und in Zeitschriften selbstlos für die schwierige Poesie des Meisters ein. Dieser hat seinerseits die Arbeiten des Jüngeren brieflich oft gewürdigt und sein Talent genau umrissen: »Beim Lesen seiner Bücher hat man den Eindruck von festgehaltenen flüchtigen Empfindungen, welche der Satz umhüllend und kristallisierend in die endgültige Form bringt. Er ist vor allem ein Eindrucksmensch. Analogien und Bezüge nimmt er sozusagen mit dem Gehör, dem Tastsinn wahr.« Für Rodenbach, hinter dessen sprühender Lebhaftigkeit sich Melancholie und die Vorahnung eines frühen Todes verbargen – er wurde mit 43 Jahren von der Schwindsucht hinweggerafft –, blieb das Erlebnis der flämischen Städte bestimmend. Er hat sie in Versen voll weicher Musikalität und verfließenden Konturen à la Whistler besungen. »La Jeunesse blanche« (1886), »Règne du Silence« (1891), »Vies encloses« (1896) und »Miroir du Ciel natal« (1898) lauten die sehr symbolistischen Titel seiner wichtigeren Gedichtbände. Die Romane »Bruges-la-morte« (1892; von E. W. Korngold 1920 als Libretto für seine Oper »Die tote Stadt« verwendet) und »Le Carillonneur« (1897), die Prosagedichte und Erzählungen »Le Musée des Béguines« und der dem gleichen Themenkreis entstammende Einakter »Le Voile«, der 1894 an der

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Comédie Française aufgeführt wurde, bezeugen, dass Rodenbach auch als Erzähler ein Lyriker blieb. Wieder war es Mallarmé, der dies, als »Das tote Brügge« erschienen war, in einem Brief an den Dichter sehr genau gesehen hat: »Jene Zauber, Sie haben sie unbestreitbar beschworen: das Schweigen und die todesschattige Klarheit der seltenen Stadt; ich schätze dies Buch als Prosadichtung …«


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Alex Ross

KORNGOLD – DAS EHEMALIGE WIENER ›WUNDERKIND ‹ ALS ERFOLGREICHER FILMKOMPONIST IN HOLLYWOOD Der Kronprinz der Filmmusikgemeinde Hollywoods war Erich Wolfgang Korngold. Der junge Korngold war eines der erstaunlichsten Komponistenwunderkinder überhaupt gewesen, hatte mit elf Jahren sein erstes Ballett komponiert (»Der Schneemann«) und sowohl Mahler als auch Strauss mit seiner Beherrschung des wagnerschen Orchesters verblüfft. 1920 hatte er als 23-Jähriger die Opernhäuser Europas mit »Die tote Stadt« erobert, einer Geschichte von künstlerischer und romantischer Besessenheit nach der Art von Schrekers »Der ferne Klang«. Im weiteren Verlauf der Zwanziger kam der opulente Stil, den Korngold so leichthändig gemeistert hatte, in Europa aus der Mode, doch im Hollywood der Dreißiger war er weiterhin sehr gefragt, vor allem für Gesellschaftsdramen oder Historienfilme. Korngolds erster Hollywood-Auftrag bestand 1934 darin, Mendelssohns Musik zu »Ein Sommernachtstraum« – in Deutschland verboten – für eine Verfilmung des Stücks durch Max Reinhardt zu arrangieren. Korngold übernahm beinahe die Regie: Er sagte den Schauspielern, wie sie ihre Verse zu sprechen hätten, und ließ den Kameramann wissen, wie viel Meter Film nötig sein würden, seine musikalische Untermalung zu bebildern. Bei seinem zweiten Besuch in der Traumfabrik im folgenden Jahr schrieb Korngold die Musik für »Captain Blood« (»Unter Piratenflagge«) mit Errol Flynn, und sein muskulöser, flamboyanter Stil verwandelte einen eher durchschnittlichen Abenteuerfilm in Flynns ersten großen Mantel-und-Degen-Erfolg, dem viele folgen sollten. Alles in allem


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verlieh Korngolds Arbeit der Filmkomposition so viel Ansehen, dass sich bald auch andere internationale Größen anlocken ließen. Korngold war sicher der glanzvollste, aber der originellste Hollywoodkomponist war Bernard Herrmann, dessen Laufbahn , mit Orson Welles »Citizen Kane« begann, ihren Höhepunkt mit Alfred Hitchcocks »Vertigo« erreichte und schließlich mit Martin Scorseses › Taxi Driver‹ endete. (…) Wäre die Nachfrage da gewesen, hätten die Straßenhändler, die in Beverly Hills Stadtpläne mit den dort verzeichneten Villen der Filmstars verkauften, auch Karten mit den Wohnorten europäischer Musikgrößen anbieten können. Schoenberg besaß ein Haus an der North Rockingham Avenue in Brentwood, ein paar Häuser unterhalb von Tyrone Power. Strawinsky wohnte am North Wetherly Drive, oberhalb vom Sunset Strip. Rachmaninows Heim war am North Elm Drive, im Zentrum der Filmkolonie. Bruno Walter wohnte am North Bedford Drive, gleich neben Alma Mahler und Franz Werfel; Theodor W. Adorno an der South Kenter Avenue in Brentwood, in der Nähe des Cellisten Gregor Piatigorsky; Otto Klemperer, der frühere Leiter der Krolloper (Anm. d. Red.: zugleich der ehemalige Chefdirigent der Oper Köln, ehemals wohnhaft in der Mozartstraße in Köln) an der Bel Air Road, nicht weit von den Regisseuren Ernst Lubitsch und Otto Preminger; und Eisler am Amalfi Drive in Pacific Palisades, in der Nachbarschaft von Thomas Mann und Aldous Huxley. Korngold lebte, seiner Stellung im Filmgeschäft angemessen, im elitären Villenviertel am Toluca Lake, wie auch Frank Sinatra, Bing Crosby und Bob Hope.

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SPIELZEIT 2020 . 21 TEXTNACHWEISE Das Interview mit der Regisseurin Tatjana Gürbaca ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft › Interview, Handlung, der Text zu Karl Schröder und die Zeittafel Erich Wolfgang Korngold: Georg Kehren › Georges Rodenbach, »Das tote Brügge«, aus dem Französischen übersetzt von Friedrich von OppelnBronikowski, mit einem Nachwort von Günter Metken, Stuttgart 2000 › Günter Metken, siehe Georges Rodenbach › Elisabeth Bronfen, »Nur über ihre Leiche«, München 1996 › Marcel Proust: »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, (»Die Flüchtige« Bd 6), Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Luzius Keller, aus dem Französischen übersetzt von Eva Rechel-Mertens; revidiert von Luzius Keller und Sibylla Laemmel, Frankfurt / Main 2004 › Marcel Proust, »Briefe 1914 – 1922«, hrsg., ausgewählt und kommentiert von Jürgen Ritte auf der Grundlage der Briefedition von François Leriche, aus dem Französischen von Jürgen Ritte, Achim Russer und Bernd Schwibs, Berlin 2016 › Brandon G. Carroll, »Die tote Stadt« von Erich Wolfgang Korngold, in: Die tote Stadt (Programmheft), Deutsche Oper Berlin, 1983 › Alex Ross, »The Rest is Noise – Das 20. Jahrhundert hören«, aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke, München 2007 › E. W. Korngold, Die tote Stadt, in: Blätter des Operntheaters (Wien), Heft 9, 1921 › Eva Weissweiler, »Otto Klemperer – Ein deutsch-jüdisches Künstlerleben«, Köln 2010 › Der Artikel »Der Triumph des Lebens« von Olaf Kiener, Berlin wurde uns freundlicherweise vom Autor zur Verfügung gestellt.

BILDNACHWEISE › Die Probenfotos von Hans Jörg Michel entstanden auf der Klavierhauptprobe am 25. November 2020. › Abbildungen Kölner Opernhaus am Habsburgerring (2): aus Carl H. Hiller, »Vom Quatermarkt zum Offenbachplatz«, Köln 1986 Fotos Karl Schröder: Archiv Oper Köln › Kaiserpanorama: www.wikipedia.org/wiki/Kaiserpanorama, 30. 11. 2020 › Ehepaar Klemperer: © Terry Ellen (Todd) Ferl › Szenenfoto »Die tote Stadt« 1920 und Porträt E. W. Korngold: Privatsammlung Olaf Kiener › Tatjana Gürbaca: © Martina Pipprich, Mainz

IMPRESSUM HERAUSGEBER Oper Köln INTENDANTIN Dr. Birgit Meyer GESCHÄFTSFÜHRENDER DIREKTOR Patrick Wasserbauer PROBENFOTOS Hans Jörg Michel REDAKTION Georg Kehren SATZ Alice Roch GESTALTUNG formdusche, Berlin DRUCKEREI Köllen Druck + ­Verlag GmbH, Bonn WWW.OPER.KOELN


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