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absolute Feminismus absolute Herausgegeben von Klaus Theweleit

Herausgegeben und mit historischen Essays versehen von Gudrun Ankele

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absolute Feminismus absolute Herausgegeben von Klaus Theweleit

Herausgegeben und mit historischen Essays versehen von Gudrun Ankele

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absolute Feminismus Hg. v. Gudrun Ankele Freiburg, orange-press 2010 Copyright für die deutsche Ausgabe © orange-press GmbH, 2010 Alle Rechte vorbehalten Buchgestaltung: Annette Schneider (debusc.de) Korrektorat: Anne Wilcken Die im Text angegebenen URLs verweisen auf Websites im Internet. Der Verlag ist nicht verantwortlich für die dort verfügbaren Inhalte, auch nicht für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität der Informationen. Alle Texte in neuer Rechtschreibung. ISBN 978-3-936086-48-5 orange-press.com

Seite |

Inhalt

7 |

Gespräch Feminismus heute? mit Gudrun Ankele, Sushila Mesquita, Gabriele Michalitsch und Elfriede Hammerl

20 |

Move I

Komplizierte Kollektive Wie gemeinsam handeln?

35 | 47 | 48 | 59 | 62 | 65 |

Olympe de Gouges | Die Rechte der Frau 1791 Sojourner Truth | Bin ich etwa keine Frau? 1851 Emma Goldman | Die Tragödie der Frauenemanzipation 1906 Mina Loy | Feministisches Manifest 1914 Valie Export | Woman’s Art 1972 Pauline Boudry und Renate Lorenz | Charming for the Revolution 2009

68 |

Move II

Exklusive Utopien Der Streit um die wahre Menschlichkeit

81 | 86 | 94 | 98 | 105 | 106 |

Christine de Pizan | Das Buch von der Stadt der Frauen 1405 Helene Druskowitz | Pessimistische Kardinalsätze 1905 Valerie Solanas | SCUM-Manifest 1968 Monique Wittig | Die Verschwörung der Balkis 1969 Guerrilla Girls | Vorteile des Künstlerinnendaseins 1989 Kathleen Hannah/Bikini Kill | Riot-Grrrl-Manifest 1992

110 |

Move III

120 | 124 | 130 | 141 | 142 |

Valentine de Saint-Point | Futuristisches Manifest der Wollust 1913 Audre Lorde | Vom Nutzen der Erotik. Erotik als Macht 1984 Virginie Despentes | King Kong Theorie 2006 Annie Sprinkle und Elizabeth M. Stephens | 25 Möglichkeiten, die Erde zu lieben 2008 Tim Stüttgen | Post Porn Loss 2007

148 |

Move IV

159 | 160 | 172 | 181 | 195 | 210 |

214 | 221 |

Body Moves Körper, Sex und Porno als Politik

Auflösungen und neue Gemeinschaften Wie zusammen leben?

Claude Cahun | Nichtige Bekenntnisse 1930 Joan Riviere | Weiblichkeit als Maskerade 1929 Donna Haraway | Ein Manifest für Cyborgs 1991 Beatriz Preciado | Kontrasexuelles Manifest 2000 Judith Butler | Gemeinsam handeln 2004 Gustav | We shall overcome 2003 Lebensdaten | Bibliografie | Text- und Bildnachweise | Dank Personenregister


absolute Feminismus Hg. v. Gudrun Ankele Freiburg, orange-press 2010 Copyright für die deutsche Ausgabe © orange-press GmbH, 2010 Alle Rechte vorbehalten Buchgestaltung: Annette Schneider (debusc.de) Korrektorat: Anne Wilcken Die im Text angegebenen URLs verweisen auf Websites im Internet. Der Verlag ist nicht verantwortlich für die dort verfügbaren Inhalte, auch nicht für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität der Informationen. Alle Texte in neuer Rechtschreibung. ISBN 978-3-936086-48-5 orange-press.com

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Inhalt

7 |

Gespräch Feminismus heute? mit Gudrun Ankele, Sushila Mesquita, Gabriele Michalitsch und Elfriede Hammerl

20 |

Move I

Komplizierte Kollektive Wie gemeinsam handeln?

35 | 47 | 48 | 59 | 62 | 65 |

Olympe de Gouges | Die Rechte der Frau 1791 Sojourner Truth | Bin ich etwa keine Frau? 1851 Emma Goldman | Die Tragödie der Frauenemanzipation 1906 Mina Loy | Feministisches Manifest 1914 Valie Export | Woman’s Art 1972 Pauline Boudry und Renate Lorenz | Charming for the Revolution 2009

68 |

Move II

Exklusive Utopien Der Streit um die wahre Menschlichkeit

81 | 86 | 94 | 98 | 105 | 106 |

Christine de Pizan | Das Buch von der Stadt der Frauen 1405 Helene Druskowitz | Pessimistische Kardinalsätze 1905 Valerie Solanas | SCUM-Manifest 1968 Monique Wittig | Die Verschwörung der Balkis 1969 Guerrilla Girls | Vorteile des Künstlerinnendaseins 1989 Kathleen Hannah/Bikini Kill | Riot-Grrrl-Manifest 1992

110 |

Move III

120 | 124 | 130 | 141 | 142 |

Valentine de Saint-Point | Futuristisches Manifest der Wollust 1913 Audre Lorde | Vom Nutzen der Erotik. Erotik als Macht 1984 Virginie Despentes | King Kong Theorie 2006 Annie Sprinkle und Elizabeth M. Stephens | 25 Möglichkeiten, die Erde zu lieben 2008 Tim Stüttgen | Post Porn Loss 2007

148 |

Move IV

159 | 160 | 172 | 181 | 195 | 210 |

214 | 221 |

Body Moves Körper, Sex und Porno als Politik

Auflösungen und neue Gemeinschaften Wie zusammen leben?

Claude Cahun | Nichtige Bekenntnisse 1930 Joan Riviere | Weiblichkeit als Maskerade 1929 Donna Haraway | Ein Manifest für Cyborgs 1991 Beatriz Preciado | Kontrasexuelles Manifest 2000 Judith Butler | Gemeinsam handeln 2004 Gustav | We shall overcome 2003 Lebensdaten | Bibliografie | Text- und Bildnachweise | Dank Personenregister


Nun, Kinder, wo so viel Lärm gemacht wird, kann irgendwas nicht stimmen. Ich glaube, dass angesichts der Neger im Süden und der Frauen im Norden, dass wegen all dem Lärm um deren Rechte der weiße Mann bald ganz schön in der Klemme sitzen wird. Aber wovon reden wir hier eigentlich die ganze Zeit? Der Mann sagt, dass man Frauen beim Einsteigen in eine Kutsche helfen müsse und auch beim Überqueren von Gräben, und dass ihnen überall der beste Platz zustehe. Mir hat noch nie jemand in einen Wagen geholfen oder über eine Schlammpfütze oder den besten Platz überlassen! Bin ich etwa keine Frau? Sehen Sie mich an! Sehen Sie sich meinen Arm an! Ich habe gepflügt, gepflanzt und die Ernte eingebracht, und kein Mann hat mir gesagt, was zu tun war! Bin ich etwa keine Frau? Ich konnte so viel arbeiten und so viel essen wie ein Mann – wenn ich genug bekam – und die Peitsche konnte ich genauso gut schwingen! Bin ich etwa keine Frau? Ich habe dreizehn Kinder geboren und erlebt, wie die meisten von ihnen in die Sklaverei verkauft wurden, und wenn ich um sie weinte, hörte mich keiner außer Jesus! Bin ich etwa keine Frau? Dann redeten sie über dieses Ding im Kopf, wie heißt das noch mal? [Aus dem Publikum wird gerufen: »Verstand«.] Ja, das meine ich, Süße. Was hat das mit den Rechten der Frau zu tun oder den Rechten der Neger? Wenn in meine Tasse nur ein halber Liter passt, in deine aber ein ganzer, wäre es dann nicht gemein von dir, wenn du mir keine volle Tasse zugestehst? Da sagt dieser kleine Mann in Schwarz da zu mir, Frauen könnten nicht so viele Rechte haben wie Männer, weil Christus keine Frau war! Wo kam denn ihr Chris­ tus her? Von Gott und von einer Frau! Ein Mann war nicht daran beteiligt. Wenn die erste Frau, die Gott erschuf, stark genug war, um die Welt ganz alleine auf den Kopf zu stellen, sollten all diese Frauen hier zusammen in der Lage sein, sie noch einmal umzudrehen und wieder auf die Füße zu stellen! Und jetzt, da wir danach verlangen, täten die Männer besser daran, sich uns nicht in den Weg zu stellen. Zu Dank verpflichtet, weil Sie mir zuhören mussten, hat die alte Sojourner jetzt nichts weiter zu sagen.

46 | 47 Sojourner Truth. Bin ich etwa keine Frau?

Michelle Obama enthüllt eine Büste von Sojourner Truth im Washingtoner Capitol | 2009

Sojourner Truth | Bin ich etwa keine Frau? Rede auf dem Frauenkongress in Akron, Ohio 1851


Nun, Kinder, wo so viel Lärm gemacht wird, kann irgendwas nicht stimmen. Ich glaube, dass angesichts der Neger im Süden und der Frauen im Norden, dass wegen all dem Lärm um deren Rechte der weiße Mann bald ganz schön in der Klemme sitzen wird. Aber wovon reden wir hier eigentlich die ganze Zeit? Der Mann sagt, dass man Frauen beim Einsteigen in eine Kutsche helfen müsse und auch beim Überqueren von Gräben, und dass ihnen überall der beste Platz zustehe. Mir hat noch nie jemand in einen Wagen geholfen oder über eine Schlammpfütze oder den besten Platz überlassen! Bin ich etwa keine Frau? Sehen Sie mich an! Sehen Sie sich meinen Arm an! Ich habe gepflügt, gepflanzt und die Ernte eingebracht, und kein Mann hat mir gesagt, was zu tun war! Bin ich etwa keine Frau? Ich konnte so viel arbeiten und so viel essen wie ein Mann – wenn ich genug bekam – und die Peitsche konnte ich genauso gut schwingen! Bin ich etwa keine Frau? Ich habe dreizehn Kinder geboren und erlebt, wie die meisten von ihnen in die Sklaverei verkauft wurden, und wenn ich um sie weinte, hörte mich keiner außer Jesus! Bin ich etwa keine Frau? Dann redeten sie über dieses Ding im Kopf, wie heißt das noch mal? [Aus dem Publikum wird gerufen: »Verstand«.] Ja, das meine ich, Süße. Was hat das mit den Rechten der Frau zu tun oder den Rechten der Neger? Wenn in meine Tasse nur ein halber Liter passt, in deine aber ein ganzer, wäre es dann nicht gemein von dir, wenn du mir keine volle Tasse zugestehst? Da sagt dieser kleine Mann in Schwarz da zu mir, Frauen könnten nicht so viele Rechte haben wie Männer, weil Christus keine Frau war! Wo kam denn ihr Chris­ tus her? Von Gott und von einer Frau! Ein Mann war nicht daran beteiligt. Wenn die erste Frau, die Gott erschuf, stark genug war, um die Welt ganz alleine auf den Kopf zu stellen, sollten all diese Frauen hier zusammen in der Lage sein, sie noch einmal umzudrehen und wieder auf die Füße zu stellen! Und jetzt, da wir danach verlangen, täten die Männer besser daran, sich uns nicht in den Weg zu stellen. Zu Dank verpflichtet, weil Sie mir zuhören mussten, hat die alte Sojourner jetzt nichts weiter zu sagen.

46 | 47 Sojourner Truth. Bin ich etwa keine Frau?

Michelle Obama enthüllt eine Büste von Sojourner Truth im Washingtoner Capitol | 2009

Sojourner Truth | Bin ich etwa keine Frau? Rede auf dem Frauenkongress in Akron, Ohio 1851


Ich beginne meinen Artikel mit einem Geständnis: Ungeachtet aller politischen und ökonomischen Theorien, die die fundamentalen Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen der Menschheit behandeln, ungeachtet aller Klassen- und Rassenunterschiede, ungeachtet aller künstlich gezogenen Grenzlinien zwischen den Rechten des Mannes und denen der Frau, bin ich der Meinung, dass es einen Moment gibt, wo sich all diese Differenzierungen begegnen und zu einem einigen Ganzen verschmelzen. Ich will damit keinen Friedensvertrag vorschlagen. Der soziale Antagonismus, der unser ganzes öffentliches Leben gegenwärtig erfüllt, und der eine Folge des Kräftemessens feindlicher und widersprüchlicher Interessen ist, wird ohnedies sofort in Stücke zerfallen, wenn die Reorganisation unseres sozialen Lebens nach den Prinzipien ökonomischer Gerechtigkeit Wirklichkeit geworden ist. Friede und Harmonie zwischen den Geschlechtern und Individuen hängen nicht notwendigerweise von einer oberflächlichen Gleichmachung aller menschlichen Geschöpfe ab. Auch erfordern sie keineswegs die Ausschaltung individueller Charakterzüge oder Eigenheiten. Das Problem, mit dem wir heutzutage kon­frontiert sind und das in naher Zukunft gelöst werden muss, ist die Frage, wie es gelingen kann, man selbst zu sein und doch eins mit seinen Mitmenschen, wie mit allen menschlichen Wesen empfinden und dabei seine eigensten Eigentümlichkeiten bewahren? Dies allein scheint mir die Grundlage zu sein, auf der Masse und Individuum, der wahre Demokrat und die wahre Individualität, Mann und Frau einander ohne Widerstreit und Gegensatz begegnen dürfen. Das beide belebende Motto darf nicht lauten: »Einer verzeihe dem anderen!« Es muss sein: »Einer verstehe den anderen!« Der oft zitierte Satz von Madame de Staël: »Alles verstehen heißt alles verzeihen!« hat niemals großen Eindruck auf mich gemacht. Er hat den Beigeschmack der Beichte, und der Gedanke, einem Mitmenschen etwas zu verzeihen, trägt stets die Empfindung pharisäerhafter Selbstüberhebung in sich. Es genügt, wenn wir unsere Mitmenschen begreifen. Dieses einleitende Geständnis erklärt die Grundansichten meiner Anschauung über die Emanzipation der Frau und deren Wirkung auf das ganze Geschlecht. Die Emanzipation sollte es der Frau ermöglichen, menschlich im wahrsten Sinne des Wortes zu sein. All das, was in ihr sehnsüchtig nach Selbstbehauptung und Aktivität drängt, sollte endlich zum Ausdruck kommen. Künstliche Hindernisse sollten zertrümmert, die Spuren von Jahrhunderten der Unterwerfung und

Sklaverei verwischt werden, um den Pfad zur immer größeren Freiheit begehbar zu machen. Darin bestand die ursprüngliche Aufgabe der Frauenrechtsbewegung. Die bislang erzielten Resultate haben die Frau jedoch isoliert und sie aller Grundquellen des wahren Glückes beraubt, die von größter Wichtigkeit für sie sind. Eine bloß äußerliche Emanzipation hat aus dem modernen Weibe ein künstliches Wesen gemacht, das an die Ergebnisse französischer Gärtnerkunst gemahnt: arabeskes Laubwerk und Gesträuch, Pyramiden, Räder und Kränze – alles, nur nicht diejenigen Formen, welche die Pflanzen und Bäume durch die Entfaltung ihrer eigenen Triebe erreicht hätten. Solche künstlich gewachsene Pflänzlein des weiblichen Geschlechtes können wir in großer Anzahl, besonders in der sogenannten intellektuellen Sphäre unseres Lebens, finden. Freiheit und Gleichheit für die Frau! Welche Hoffnungen und Ausblicke gestatteten diese Worte, als sie zum ersten Mal von den Edelsten und Kühnsten jener Tage geäußert wurden. Die Sonne mit all ihrem strahlenden Licht, ihrer Herrlichkeit sollte einer neuen Welt aufgehen, einer Welt, in welcher die Frau frei ihr eigenes Glück bestimmen würde. Gewiss ein Ziel, das des Enthusiasmus würdig wäre, des Mutes, der Ausdauer und unaufhörlichen Anstrengung der enorm großen Schar von Pionieren beider Geschlechter, welche gegen eine Welt des Vorurteils und der Unwissenheit alles einsetzten. Jenes leuchtende Ziel ist auch meine Hoffnung, aber ich bestehe darauf, dass die Emanzipation der Frau, wie sie augenblicklich dargelegt und praktisch ausgeführt wird, dieses Ziel nicht erreicht hat. Die Frau befindet sich jetzt der Notwendigkeit gegenüber, sich von der Emanzipation emanzipieren zu müssen, wenn sie wirklich danach verlangt, frei zu sein. Dies mag so manchem paradox klingen, es ist aber nur zu wahr. Was hat die Frau durch ihre sogenannte Emanzipation erreicht? In einigen Staaten gleiches Wahlrecht. Hat das unser politisches Leben geläutert, wie viele wohlmeinende Befürworter dieser Reform verkündeten? Ganz gewiss nicht. Im Übrigen ist es wirklich an der Zeit, dass Personen mit klarer und vernünftiger Urteilskraft aufhören, mit erhobenem Zeigefinger über die Korruption in der Politik zu sprechen. Politische Korruption hat nichts mit Moral oder dem Fehlen derselben bei Politikern zu tun. Ihre Ursache ist vielmehr eine materielle. Politik ist die Spiegelung von Wirtschaft und Industrie. Deren Devisen sind: »Neh­ men ist seliger als Geben«; »Günstig einkaufen und teuer verkaufen«; »Eine schmutzige Hand wäscht die andere«. Da bleibt wenig Hoffnung, dass die wahlberechtigte Frau jemals die Politik läutern wird.

48 | 49 Emma Goldman. Die Tragödie der Frauenemanzipation

Emma Goldman | Die Tragödie der Frauenemanzipation 1906


Ich beginne meinen Artikel mit einem Geständnis: Ungeachtet aller politischen und ökonomischen Theorien, die die fundamentalen Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen der Menschheit behandeln, ungeachtet aller Klassen- und Rassenunterschiede, ungeachtet aller künstlich gezogenen Grenzlinien zwischen den Rechten des Mannes und denen der Frau, bin ich der Meinung, dass es einen Moment gibt, wo sich all diese Differenzierungen begegnen und zu einem einigen Ganzen verschmelzen. Ich will damit keinen Friedensvertrag vorschlagen. Der soziale Antagonismus, der unser ganzes öffentliches Leben gegenwärtig erfüllt, und der eine Folge des Kräftemessens feindlicher und widersprüchlicher Interessen ist, wird ohnedies sofort in Stücke zerfallen, wenn die Reorganisation unseres sozialen Lebens nach den Prinzipien ökonomischer Gerechtigkeit Wirklichkeit geworden ist. Friede und Harmonie zwischen den Geschlechtern und Individuen hängen nicht notwendigerweise von einer oberflächlichen Gleichmachung aller menschlichen Geschöpfe ab. Auch erfordern sie keineswegs die Ausschaltung individueller Charakterzüge oder Eigenheiten. Das Problem, mit dem wir heutzutage kon­frontiert sind und das in naher Zukunft gelöst werden muss, ist die Frage, wie es gelingen kann, man selbst zu sein und doch eins mit seinen Mitmenschen, wie mit allen menschlichen Wesen empfinden und dabei seine eigensten Eigentümlichkeiten bewahren? Dies allein scheint mir die Grundlage zu sein, auf der Masse und Individuum, der wahre Demokrat und die wahre Individualität, Mann und Frau einander ohne Widerstreit und Gegensatz begegnen dürfen. Das beide belebende Motto darf nicht lauten: »Einer verzeihe dem anderen!« Es muss sein: »Einer verstehe den anderen!« Der oft zitierte Satz von Madame de Staël: »Alles verstehen heißt alles verzeihen!« hat niemals großen Eindruck auf mich gemacht. Er hat den Beigeschmack der Beichte, und der Gedanke, einem Mitmenschen etwas zu verzeihen, trägt stets die Empfindung pharisäerhafter Selbstüberhebung in sich. Es genügt, wenn wir unsere Mitmenschen begreifen. Dieses einleitende Geständnis erklärt die Grundansichten meiner Anschauung über die Emanzipation der Frau und deren Wirkung auf das ganze Geschlecht. Die Emanzipation sollte es der Frau ermöglichen, menschlich im wahrsten Sinne des Wortes zu sein. All das, was in ihr sehnsüchtig nach Selbstbehauptung und Aktivität drängt, sollte endlich zum Ausdruck kommen. Künstliche Hindernisse sollten zertrümmert, die Spuren von Jahrhunderten der Unterwerfung und

Sklaverei verwischt werden, um den Pfad zur immer größeren Freiheit begehbar zu machen. Darin bestand die ursprüngliche Aufgabe der Frauenrechtsbewegung. Die bislang erzielten Resultate haben die Frau jedoch isoliert und sie aller Grundquellen des wahren Glückes beraubt, die von größter Wichtigkeit für sie sind. Eine bloß äußerliche Emanzipation hat aus dem modernen Weibe ein künstliches Wesen gemacht, das an die Ergebnisse französischer Gärtnerkunst gemahnt: arabeskes Laubwerk und Gesträuch, Pyramiden, Räder und Kränze – alles, nur nicht diejenigen Formen, welche die Pflanzen und Bäume durch die Entfaltung ihrer eigenen Triebe erreicht hätten. Solche künstlich gewachsene Pflänzlein des weiblichen Geschlechtes können wir in großer Anzahl, besonders in der sogenannten intellektuellen Sphäre unseres Lebens, finden. Freiheit und Gleichheit für die Frau! Welche Hoffnungen und Ausblicke gestatteten diese Worte, als sie zum ersten Mal von den Edelsten und Kühnsten jener Tage geäußert wurden. Die Sonne mit all ihrem strahlenden Licht, ihrer Herrlichkeit sollte einer neuen Welt aufgehen, einer Welt, in welcher die Frau frei ihr eigenes Glück bestimmen würde. Gewiss ein Ziel, das des Enthusiasmus würdig wäre, des Mutes, der Ausdauer und unaufhörlichen Anstrengung der enorm großen Schar von Pionieren beider Geschlechter, welche gegen eine Welt des Vorurteils und der Unwissenheit alles einsetzten. Jenes leuchtende Ziel ist auch meine Hoffnung, aber ich bestehe darauf, dass die Emanzipation der Frau, wie sie augenblicklich dargelegt und praktisch ausgeführt wird, dieses Ziel nicht erreicht hat. Die Frau befindet sich jetzt der Notwendigkeit gegenüber, sich von der Emanzipation emanzipieren zu müssen, wenn sie wirklich danach verlangt, frei zu sein. Dies mag so manchem paradox klingen, es ist aber nur zu wahr. Was hat die Frau durch ihre sogenannte Emanzipation erreicht? In einigen Staaten gleiches Wahlrecht. Hat das unser politisches Leben geläutert, wie viele wohlmeinende Befürworter dieser Reform verkündeten? Ganz gewiss nicht. Im Übrigen ist es wirklich an der Zeit, dass Personen mit klarer und vernünftiger Urteilskraft aufhören, mit erhobenem Zeigefinger über die Korruption in der Politik zu sprechen. Politische Korruption hat nichts mit Moral oder dem Fehlen derselben bei Politikern zu tun. Ihre Ursache ist vielmehr eine materielle. Politik ist die Spiegelung von Wirtschaft und Industrie. Deren Devisen sind: »Neh­ men ist seliger als Geben«; »Günstig einkaufen und teuer verkaufen«; »Eine schmutzige Hand wäscht die andere«. Da bleibt wenig Hoffnung, dass die wahlberechtigte Frau jemals die Politik läutern wird.

48 | 49 Emma Goldman. Die Tragödie der Frauenemanzipation

Emma Goldman | Die Tragödie der Frauenemanzipation 1906


Engherzigkeit in der üblichen Auffassung des Begriffs der Unabhängigkeit der Frau und ihrer Emanzipation; die Furcht vor der Liebe zu einem Manne, der ihr sozial nicht gleichgestellt ist; beständige Angst, dass die Liebe ihre Freiheit und Unabhängigkeit vernichten würde; das Entsetzen vor der Erkenntnis, dass die Liebe oder die Wonne der Mütterlichkeit sie in der Ausübung ihrer Berufstätig­ keit behindern könnte – all dies macht aus Frauen Zwangsvestalinnen, vor welchen das Leben mit seinen großen, klärenden Leiden, seinen tiefen, bezaubern­ den Freuden dahinrollt, ohne ihre Seele berührt zu haben. Die Emanzipation, wie sie von der Majorität ihrer Anhänger verstanden wird, ist allzu eng und klein in ihren Zielen, um jene grenzenlose Freude und Eks­tase zu gestatten, die in den tiefen Gefühlen einer wahren Frau, Geliebten und Mutter im Zustand der Freiheit liegen. Das tragische Schicksal einer sich selbst erhaltenden und ökonomisch freien Frau liegt nicht in zu vielen, sondern in zu wenigen Erfahrungserlebnissen. Es ist wohl wahr, sie übertrifft die Generationen der Vergangenheit an weltlichen Kenntnissen und ungezwungenerem Auftreten, aber gerade deshalb fühlt sie umso empfindlicher den Mangel der Lebensessenz, die allein im Stande ist, die menschliche Gefühlswelt belebend zu bereichern, und ohne die die meisten Frauen zu bloßen professionellen Automaten werden. Dass eine solche Sachlage kommen musste, wurde von jenen vorausgese­ hen, die begriffen hatten, dass es im Reich der Ethik noch viele verfallene Rui­nen aus der Zeit unwidersprochener männlicher Oberherrschaft gibt; Ruinen, die noch als nützlich betrachtet werden. Das Traurigste und Wichtigste dabei ist, dass eine hübsche Anzahl sogenannter Emanzipierter tatsächlich unfähig ist, ohne diese Ruinen auszukommen. Jede Bewegung, die die Vernichtung bestehender Institutionen und ihre Substituierung durch solche, die mehr im Einklang mit dem Fortschrittsgeist stehen, zum Ziel hat, hat Anhänger, die in der Theorie für die extremsten radikalen Ideen eintreten, in ihrer alltäglichen Praxis aber ganz dem nächstbesten Philister ähneln, wie dieser Anständigkeit vorspiegeln und die gute Meinung ihrer Gegner beeinflussen. Demselben Philister begegnet man im Lager der Frauenemanzipation. Sensationsjournalisten und geistlose Literaten haben sich beeilt, »das emanzipier­ te Weib« in Bildern darzustellen, welche die Haare des ehrbaren Bürgers und seiner dummen Kumpane zu Berge stehen lassen. Jede Anhängerin der Frauenrechtsbewegung wurde dargestellt wie George Sand, die jegliche Moral verachtete. Nichts war ihr heilig, die emanzipierte Frau besaß in den Augen jener porno­ grafischen Schriftsteller keine Achtung vor den idealen Beziehungen zwischen

50 | 51 Emma Goldman. Die Tragödie der Frauenemanzipation

Neben dem Wahlrecht brachte die Emanzipation der Frau die ökonomi­ sche Gleichheit mit dem Manne, indem man ihr das Recht zustand, ihren eigenen Beruf, ihr Geschäft zu wählen. Doch da weder ihre vergangene noch gegenwärtige physische Erziehung sie mit der nötigen Stärke ausstattete, um mit dem Manne konkurrieren zu können, wird sie sehr oft genötigt, ihre ganze Lebens­ energie zu erschöpfen, jeden Nerv ihres Wesens anzustrengen, um nur wenigs­ tens den durchschnittlichen Marktpreis erringen zu können. Wenige sind erfolgreich, denn es ist eine Tatsache, dass weibliche Ärzte, weibliche Advokaten, weibliche Architekten und weibliche Ingenieure weder das gleiche Vertrauen genießen noch die gleiche Bezahlung empfangen wie ihre männlichen Genossen. Und diejenigen, welche schließlich diese entzückende Gleichheit doch erringen, tun dies im Allgemeinen auf Kosten ihres physischen und psychischen Wohls. Was aber gar die große Masse von Arbeits-Mädchen und -Frauen anbelangt, so frage ich nur, wie viel persönliche Unabhängigkeit gewonnen wird, wenn die Enge und der Mangel an Freiheit im elterlichen oder im eigenen Heim um die Enge und den Mangel an Freiheit in der Fabrik, in der Schwitzbude, im Geschäft oder Büro vertauscht wird? Dazu kommt ein Missgeschick, das für so viele Frauen in Betracht kommt: die Aufsicht über ein »süßes trautes Heim« führen zu müssen – kalt, monoton, ungeordnet, abstoßend –, nachdem sie von der Tagesfrohn nach Hause zurückkehren. Eine herrliche Unabhängigkeit! Es ist natürlich gar kein Wunder, dass so viele Mädchen so schnell willens sind, das erstbeste Heiratsangebot mit beiden Händen zu ergreifen, nur damit sie der ihnen zur Last gewordenen Unabhängigkeit hinter dem Ladenpult oder der Nähmaschine entkommen können. Solche Mädchen sind ebenso begierig zu heiraten wie die Mädchen der Mittelklasse, die den Zeitpunkt kaum erwarten können, da es ihnen möglich sein wird, das Joch ihrer Abhängigkeit von den Eltern abzuwerfen. Diese sogenannte Unabhängigkeit, welche der Frau lediglich gestattet, sich die nötigsten Subsistenzmittel zu erwerben, ist keineswegs ein schönes Ideal, für das es sich lohnte, alles zu opfern. Denn diese so hoch gepriesene Unabhängigkeit ist schließlich nichts anderes als ein langsamer Prozess der Abstumpfung und Ertötung der weiblichen Natur, ihrer Liebestriebe und mütterlichen Gefühle. Dennoch ist die Position einer Arbeiterin bedeutend natürlicher und befrie­ digender als die ihrer scheinbar glücklicheren Schwester in den geistigen Berufs­ sphären des Lebens: Von den Lehrerinnen, Ärztinnen, Rechtsanwältinnen usw. verlangt man, den Schein der Würde, der Zufriedenheit und des Selbstvertrauens aufrechtzuerhalten, während ihr Innenleben immer leerer wird und stirbt.


Engherzigkeit in der üblichen Auffassung des Begriffs der Unabhängigkeit der Frau und ihrer Emanzipation; die Furcht vor der Liebe zu einem Manne, der ihr sozial nicht gleichgestellt ist; beständige Angst, dass die Liebe ihre Freiheit und Unabhängigkeit vernichten würde; das Entsetzen vor der Erkenntnis, dass die Liebe oder die Wonne der Mütterlichkeit sie in der Ausübung ihrer Berufstätig­ keit behindern könnte – all dies macht aus Frauen Zwangsvestalinnen, vor welchen das Leben mit seinen großen, klärenden Leiden, seinen tiefen, bezaubern­ den Freuden dahinrollt, ohne ihre Seele berührt zu haben. Die Emanzipation, wie sie von der Majorität ihrer Anhänger verstanden wird, ist allzu eng und klein in ihren Zielen, um jene grenzenlose Freude und Eks­tase zu gestatten, die in den tiefen Gefühlen einer wahren Frau, Geliebten und Mutter im Zustand der Freiheit liegen. Das tragische Schicksal einer sich selbst erhaltenden und ökonomisch freien Frau liegt nicht in zu vielen, sondern in zu wenigen Erfahrungserlebnissen. Es ist wohl wahr, sie übertrifft die Generationen der Vergangenheit an weltlichen Kenntnissen und ungezwungenerem Auftreten, aber gerade deshalb fühlt sie umso empfindlicher den Mangel der Lebensessenz, die allein im Stande ist, die menschliche Gefühlswelt belebend zu bereichern, und ohne die die meisten Frauen zu bloßen professionellen Automaten werden. Dass eine solche Sachlage kommen musste, wurde von jenen vorausgese­ hen, die begriffen hatten, dass es im Reich der Ethik noch viele verfallene Rui­nen aus der Zeit unwidersprochener männlicher Oberherrschaft gibt; Ruinen, die noch als nützlich betrachtet werden. Das Traurigste und Wichtigste dabei ist, dass eine hübsche Anzahl sogenannter Emanzipierter tatsächlich unfähig ist, ohne diese Ruinen auszukommen. Jede Bewegung, die die Vernichtung bestehender Institutionen und ihre Substituierung durch solche, die mehr im Einklang mit dem Fortschrittsgeist stehen, zum Ziel hat, hat Anhänger, die in der Theorie für die extremsten radikalen Ideen eintreten, in ihrer alltäglichen Praxis aber ganz dem nächstbesten Philister ähneln, wie dieser Anständigkeit vorspiegeln und die gute Meinung ihrer Gegner beeinflussen. Demselben Philister begegnet man im Lager der Frauenemanzipation. Sensationsjournalisten und geistlose Literaten haben sich beeilt, »das emanzipier­ te Weib« in Bildern darzustellen, welche die Haare des ehrbaren Bürgers und seiner dummen Kumpane zu Berge stehen lassen. Jede Anhängerin der Frauenrechtsbewegung wurde dargestellt wie George Sand, die jegliche Moral verachtete. Nichts war ihr heilig, die emanzipierte Frau besaß in den Augen jener porno­ grafischen Schriftsteller keine Achtung vor den idealen Beziehungen zwischen

50 | 51 Emma Goldman. Die Tragödie der Frauenemanzipation

Neben dem Wahlrecht brachte die Emanzipation der Frau die ökonomi­ sche Gleichheit mit dem Manne, indem man ihr das Recht zustand, ihren eigenen Beruf, ihr Geschäft zu wählen. Doch da weder ihre vergangene noch gegenwärtige physische Erziehung sie mit der nötigen Stärke ausstattete, um mit dem Manne konkurrieren zu können, wird sie sehr oft genötigt, ihre ganze Lebens­ energie zu erschöpfen, jeden Nerv ihres Wesens anzustrengen, um nur wenigs­ tens den durchschnittlichen Marktpreis erringen zu können. Wenige sind erfolgreich, denn es ist eine Tatsache, dass weibliche Ärzte, weibliche Advokaten, weibliche Architekten und weibliche Ingenieure weder das gleiche Vertrauen genießen noch die gleiche Bezahlung empfangen wie ihre männlichen Genossen. Und diejenigen, welche schließlich diese entzückende Gleichheit doch erringen, tun dies im Allgemeinen auf Kosten ihres physischen und psychischen Wohls. Was aber gar die große Masse von Arbeits-Mädchen und -Frauen anbelangt, so frage ich nur, wie viel persönliche Unabhängigkeit gewonnen wird, wenn die Enge und der Mangel an Freiheit im elterlichen oder im eigenen Heim um die Enge und den Mangel an Freiheit in der Fabrik, in der Schwitzbude, im Geschäft oder Büro vertauscht wird? Dazu kommt ein Missgeschick, das für so viele Frauen in Betracht kommt: die Aufsicht über ein »süßes trautes Heim« führen zu müssen – kalt, monoton, ungeordnet, abstoßend –, nachdem sie von der Tagesfrohn nach Hause zurückkehren. Eine herrliche Unabhängigkeit! Es ist natürlich gar kein Wunder, dass so viele Mädchen so schnell willens sind, das erstbeste Heiratsangebot mit beiden Händen zu ergreifen, nur damit sie der ihnen zur Last gewordenen Unabhängigkeit hinter dem Ladenpult oder der Nähmaschine entkommen können. Solche Mädchen sind ebenso begierig zu heiraten wie die Mädchen der Mittelklasse, die den Zeitpunkt kaum erwarten können, da es ihnen möglich sein wird, das Joch ihrer Abhängigkeit von den Eltern abzuwerfen. Diese sogenannte Unabhängigkeit, welche der Frau lediglich gestattet, sich die nötigsten Subsistenzmittel zu erwerben, ist keineswegs ein schönes Ideal, für das es sich lohnte, alles zu opfern. Denn diese so hoch gepriesene Unabhängigkeit ist schließlich nichts anderes als ein langsamer Prozess der Abstumpfung und Ertötung der weiblichen Natur, ihrer Liebestriebe und mütterlichen Gefühle. Dennoch ist die Position einer Arbeiterin bedeutend natürlicher und befrie­ digender als die ihrer scheinbar glücklicheren Schwester in den geistigen Berufs­ sphären des Lebens: Von den Lehrerinnen, Ärztinnen, Rechtsanwältinnen usw. verlangt man, den Schein der Würde, der Zufriedenheit und des Selbstvertrauens aufrechtzuerhalten, während ihr Innenleben immer leerer wird und stirbt.


Einsamkeit, die dem Mangel eines solchen entspringt. Diese meisterhaft ausgeführten psychologischen Skizzen machen deutlich, dass es für eine Frau mit zunehmendem Intellekt immer schwieriger wird, einen geistesverwandten Gefährten zu finden, der nicht nur ihr Geschlecht, sondern auch das menschliche Wesen, den Freund und Kameraden wahrnimmt, die starke Individualität, die keinen einzigen Zug ihres Charakters verlieren soll noch darf. Die Frau, die uns Laura Marholm in ihrer Charakterstudie beschreibt, verschmäht den selbstgefälligen Durchschnittsmann in seiner lächerlichen Überheblichkeit und wohlwollenden Patronage dem weiblichen Geschlecht gegenüber. Ebenso verschmäht sie den Mann, der in ihr nichts anderes sieht als ihre Intelligenz und Genialität, und der versäumt, in ihr die Natur der Frau zu wecken. Ein reicher Intellekt und eine feine Seele gelten gemeinhin als unentbehrlich für eine schöne und tiefe Persönlichkeit. Im Fall der modernen Frau sind diese Eigenschaften jedoch einer freien Selbstbehauptung ihres Wesens hinderlich. Schon vor über hundert Jahren wurde die alte Form der Ehe, die auf der Bibel gründet – »bis der Tod uns scheidet« –, als eine Institution verurteilt, die für die Oberherrschaft des Mannes über die Frau, ihre vollständige Unterwerfung unter seine Launen und Befehle, für ihre absolute Abhängigkeit von seinem Namen und seiner Unterstützung eintritt. Immer wieder wurde der Beweis geführt, dass die alten Eheformen die Frau ausschließlich auf die Dienstmagd ihres Mannes und die Gebärerin seiner Kinder reduzieren. Dennoch finden wir viele emanzipierte Frauen, die die Ehe mit all ihren augenscheinlichen Unzulänglichkeiten der bedrückenden Enge der unverheirateten Existenz vorziehen. Eng und unerträglich ist diese, weil die Fesseln der Moral und des sozialen Vorurteils sie einschüchtern und ihre Natur umklammert und gebunden halten. Die Ursache einer solchen Inkonsequenz seitens vieler fortgeschritten gesinnter Frauen liegt in dem Umstand, dass sie niemals die wahre Bedeutung des Begriffs Emanzipation verstanden haben. Sie dachten, alles, was ihnen fehlte, sei die Unabhängigkeit von äußerlichen Tyranneien. Die innerlichen Tyrannen aber, die in Form von ethischen und gesellschaftlichen Konventionen auftreten, sind weit gefährlicher für das Leben und die Entwicklung als die Tyrannen der Außenwelt – diese innerlichen Tyrannen überließ man sich selbst. Sie haben gut auf sich achtgegeben – sie sind in den Köpfen und Herzen der aktivsten Vertreter der Frauenbewegung wie auch in den Köpfen und Herzen unserer Großmütter. Diese innerlichen Tyrannen stecken in der Furcht vor der öffentlichen Mei­ nung oder davor, was die Mutter, der Bruder, der Vater oder sonst eine bekannte

52 | 53 Emma Goldman. Die Tragödie der Frauenemanzipation

Mann und Frau. Kurz, die Emanzipation war das Synonym für ein sorgloses Leben in Wollust und Sünde, ungeachtet der Gesellschaft, Religion und Moral. Natürlich waren die Vertreter der Frauenrechte ihrerseits höchst erbittert angesichts solcher Entstellungen, und da es ihnen an Humor fehlte, gebrauchten sie all ihre Energie, um zu beweisen, dass sie keineswegs so schlecht seien wie das von ihnen gezeichnete Bild, im Gegenteil! Gewiss, solange die Frau die Sklavin des Mannes war, konnte sie nicht gut und tugendhaft sein. Doch nun, da sie frei und unabhängig war, würde sie schon zeigen, von welchem Nutzen sie sein könne, und welch eine läuternde Wirkung ihr Einfluss auf alle Gesellschaftseinrichtungen haben müsse. Es ist wahr, dass die Frauenrechtsbewegung viele alte Fesseln gesprengt hat, sie hat aber auch neue geschmiedet. Diese große Bewegung der WAHREN Emanzipation traf unglücklicherweise nicht auf eine große Gattung von Frauen, die kühn und konsequent genug gewesen wären, um der Freiheit ins Antlitz zu blicken. Stattdessen verbannten die kleinlichen, puritanisch frömmelnden Visionen den Mann als Störenfried und zweifelhaften Charak­ ter aus ihrem Gemütsleben. Der Mann durfte nicht geduldet werden, höchstens als Vater eines Kindes, da es ohne diesen schlechterdings nicht möglich ist, einem Kind das Leben zu schenken. Es ist ein Glück, dass selbst der strengste Puritanismus niemals stark genug sein wird, um das angeborene Gefühl der Mutterschaft zu töten. Doch die Freiheit der Frau ist eng verbunden mit der Freiheit des Mannes, und viele meiner sogenannten emanzipierten Schwestern scheinen gänzlich zu vergessen, dass ein in Freiheit geborenes Kind der Liebe und Zuwendung eines jeden menschlichen Wesens bedarf, sowohl des Mannes als auch der Frau. Leider herrscht in dieser Beziehung aber die entgegengesetzte, kleingeistige Auffassung vor, und sie ist es, die das Tragische in das Leben des modernen Mannes und der Frau gebracht hat. Vor ungefähr fünfzehn Jahren entstand aus der Feder der brillanten norwegischen Schriftstellerin Laura Marholm ein Buch mit dem Titel: Die Frau. Eine Charakterstudie. Sie war eine der Ersten, die auf die Leere und Begrenztheit der vorherrschenden Emanzipationsauffassung und auf deren tragische Auswirkungen auf das Innenleben der Frau aufmerksam machte. In ihrem Buch erzählt sie vom Schicksal einiger Frauen, deren besondere Begabungen sie internatio­ nal bekannt machte: von Eleonore Duses Genie, der großen Mathematikerin und Schriftstellerin Sonja Kowalewskaja und der großen Künstlerin und Poetin Marie Bashkirtseff, die viel zu jung starb. Jede Beschreibung dieser Frauen, die eine ungewöhnliche Geisteshaltung auszeichnet, macht die unbefriedigte Sehnsucht nach einem ganzen, erfüllten und harmonischen Leben spürbar, die Unruhe und


Einsamkeit, die dem Mangel eines solchen entspringt. Diese meisterhaft ausgeführten psychologischen Skizzen machen deutlich, dass es für eine Frau mit zunehmendem Intellekt immer schwieriger wird, einen geistesverwandten Gefährten zu finden, der nicht nur ihr Geschlecht, sondern auch das menschliche Wesen, den Freund und Kameraden wahrnimmt, die starke Individualität, die keinen einzigen Zug ihres Charakters verlieren soll noch darf. Die Frau, die uns Laura Marholm in ihrer Charakterstudie beschreibt, verschmäht den selbstgefälligen Durchschnittsmann in seiner lächerlichen Überheblichkeit und wohlwollenden Patronage dem weiblichen Geschlecht gegenüber. Ebenso verschmäht sie den Mann, der in ihr nichts anderes sieht als ihre Intelligenz und Genialität, und der versäumt, in ihr die Natur der Frau zu wecken. Ein reicher Intellekt und eine feine Seele gelten gemeinhin als unentbehrlich für eine schöne und tiefe Persönlichkeit. Im Fall der modernen Frau sind diese Eigenschaften jedoch einer freien Selbstbehauptung ihres Wesens hinderlich. Schon vor über hundert Jahren wurde die alte Form der Ehe, die auf der Bibel gründet – »bis der Tod uns scheidet« –, als eine Institution verurteilt, die für die Oberherrschaft des Mannes über die Frau, ihre vollständige Unterwerfung unter seine Launen und Befehle, für ihre absolute Abhängigkeit von seinem Namen und seiner Unterstützung eintritt. Immer wieder wurde der Beweis geführt, dass die alten Eheformen die Frau ausschließlich auf die Dienstmagd ihres Mannes und die Gebärerin seiner Kinder reduzieren. Dennoch finden wir viele emanzipierte Frauen, die die Ehe mit all ihren augenscheinlichen Unzulänglichkeiten der bedrückenden Enge der unverheirateten Existenz vorziehen. Eng und unerträglich ist diese, weil die Fesseln der Moral und des sozialen Vorurteils sie einschüchtern und ihre Natur umklammert und gebunden halten. Die Ursache einer solchen Inkonsequenz seitens vieler fortgeschritten gesinnter Frauen liegt in dem Umstand, dass sie niemals die wahre Bedeutung des Begriffs Emanzipation verstanden haben. Sie dachten, alles, was ihnen fehlte, sei die Unabhängigkeit von äußerlichen Tyranneien. Die innerlichen Tyrannen aber, die in Form von ethischen und gesellschaftlichen Konventionen auftreten, sind weit gefährlicher für das Leben und die Entwicklung als die Tyrannen der Außenwelt – diese innerlichen Tyrannen überließ man sich selbst. Sie haben gut auf sich achtgegeben – sie sind in den Köpfen und Herzen der aktivsten Vertreter der Frauenbewegung wie auch in den Köpfen und Herzen unserer Großmütter. Diese innerlichen Tyrannen stecken in der Furcht vor der öffentlichen Mei­ nung oder davor, was die Mutter, der Bruder, der Vater oder sonst eine bekannte

52 | 53 Emma Goldman. Die Tragödie der Frauenemanzipation

Mann und Frau. Kurz, die Emanzipation war das Synonym für ein sorgloses Leben in Wollust und Sünde, ungeachtet der Gesellschaft, Religion und Moral. Natürlich waren die Vertreter der Frauenrechte ihrerseits höchst erbittert angesichts solcher Entstellungen, und da es ihnen an Humor fehlte, gebrauchten sie all ihre Energie, um zu beweisen, dass sie keineswegs so schlecht seien wie das von ihnen gezeichnete Bild, im Gegenteil! Gewiss, solange die Frau die Sklavin des Mannes war, konnte sie nicht gut und tugendhaft sein. Doch nun, da sie frei und unabhängig war, würde sie schon zeigen, von welchem Nutzen sie sein könne, und welch eine läuternde Wirkung ihr Einfluss auf alle Gesellschaftseinrichtungen haben müsse. Es ist wahr, dass die Frauenrechtsbewegung viele alte Fesseln gesprengt hat, sie hat aber auch neue geschmiedet. Diese große Bewegung der WAHREN Emanzipation traf unglücklicherweise nicht auf eine große Gattung von Frauen, die kühn und konsequent genug gewesen wären, um der Freiheit ins Antlitz zu blicken. Stattdessen verbannten die kleinlichen, puritanisch frömmelnden Visionen den Mann als Störenfried und zweifelhaften Charak­ ter aus ihrem Gemütsleben. Der Mann durfte nicht geduldet werden, höchstens als Vater eines Kindes, da es ohne diesen schlechterdings nicht möglich ist, einem Kind das Leben zu schenken. Es ist ein Glück, dass selbst der strengste Puritanismus niemals stark genug sein wird, um das angeborene Gefühl der Mutterschaft zu töten. Doch die Freiheit der Frau ist eng verbunden mit der Freiheit des Mannes, und viele meiner sogenannten emanzipierten Schwestern scheinen gänzlich zu vergessen, dass ein in Freiheit geborenes Kind der Liebe und Zuwendung eines jeden menschlichen Wesens bedarf, sowohl des Mannes als auch der Frau. Leider herrscht in dieser Beziehung aber die entgegengesetzte, kleingeistige Auffassung vor, und sie ist es, die das Tragische in das Leben des modernen Mannes und der Frau gebracht hat. Vor ungefähr fünfzehn Jahren entstand aus der Feder der brillanten norwegischen Schriftstellerin Laura Marholm ein Buch mit dem Titel: Die Frau. Eine Charakterstudie. Sie war eine der Ersten, die auf die Leere und Begrenztheit der vorherrschenden Emanzipationsauffassung und auf deren tragische Auswirkungen auf das Innenleben der Frau aufmerksam machte. In ihrem Buch erzählt sie vom Schicksal einiger Frauen, deren besondere Begabungen sie internatio­ nal bekannt machte: von Eleonore Duses Genie, der großen Mathematikerin und Schriftstellerin Sonja Kowalewskaja und der großen Künstlerin und Poetin Marie Bashkirtseff, die viel zu jung starb. Jede Beschreibung dieser Frauen, die eine ungewöhnliche Geisteshaltung auszeichnet, macht die unbefriedigte Sehnsucht nach einem ganzen, erfüllten und harmonischen Leben spürbar, die Unruhe und


Das größte Hemmnis der gegenwärtigen Emanzipation der Frau liegt in der künstlichen Steife und der kleinlichen Anständigkeit, die in der Seele der Frau eine Leere erzeugen, die es ihr verwehrt, vom Brunnen des Lebens zu trinken. Ich bemerkte einst, dass zwischen der unzeitgemäßen biederen Mutter und Gastgeberin, die danach trachtet, ihre Kleinen glücklich zu sehen und die, die sie liebt, zu trösten, und der wahrhaft neuen Frau eine tiefe Verbindung zu bestehen scheint. Tiefer als die zwischen Letzterer und deren durchschnittlich emanzipierten Schwestern. Die Anhängerinnen der Emanzipation nannten mich unverhohlen schlicht einen Heiden, der an das Kreuz gehöre. Wegen ihres blinden Eifers sahen sie nicht, dass mein Vergleich zwischen alt und neu lediglich beweisen sollte, dass eine stattliche Zahl unserer Großmütter mehr Blut in ihren Venen, einen weit größeren Geist und Sinn für Humor und eine Natürlichkeit, Gutherzigkeit und Einfachheit besaß als die Mehrheit unserer emanzipierten qualifizierten Frauen, die Hochschulen, Lehrsäle und Büros bevölkern. Das bedeutet nicht, dass ich die Vergangenheit zurückholen möchte, noch, dass ich die Frauen dazu verurteile, in ihre alten Wirkungsbereiche – Küche und Kinderhort – zurückzukehren. Die Rettung liegt in einem tatkräftigen Marsch in Richtung einer helleren und klareren Zukunft! Wir müssen ungehemmt über die alten Traditionen und Gewohnheiten hinauswachsen. Nur einen einzigen Schritt hat die Bewegung der Frauenemanzipation bislang in diese Richtung getan. Es ist zu hoffen, dass sie die Kraft zu einem weiteren sammeln wird. Das Stimmrecht oder gleiche bürgerliche Rechte mögen gute Forderungen sein, doch die wahre Emanzipation be­ ginnt weder bei der Urne noch in den Gerichtssälen. Sie beginnt in der Seele der Frau. Die Geschichte lehrt uns, dass jede unterdrückte Klasse die wahre Befreiung von ihren Herrschern durch eigene Anstrengungen zu erkämpfen hatte. Es ist notwendig, dass die Frau diese Aufgabe begreift, dass sie erkennt, dass ihre Freiheit so weit reichen wird wie ihre Kraft, diese Freiheit zu erringen. Daher ist es für sie sehr viel wichtiger, bei ihrer inneren Regeneration zu beginnen und sich von der drückenden Last der Vorurteile, Traditionen und Gebräuche loszumachen. Der Wunsch nach gleichen Rechten in allen Lebensbereichen ist angemessen und richtig; wir sollten aber über all dem nicht vergessen, dass das höchste Lebensrecht ist, zu lieben und geliebt zu werden. Wenn unsere Teilemanzipation jemals eine vollständige und wahre Emanzipation werden soll, dann müssen wir Schluss machen mit der lächerlichen Vorstellung, dass die Tatsache, Geliebte und Mutter zu sein und als solche geliebt zu werden, gleichbedeutend damit ist, Sklavin oder Untergebene zu sein. Wir müssen Schluss machen mit der absurden

54 | 55 Emma Goldman. Die Tragödie der Frauenemanzipation

Person sagen wird. All die Moralwächter und Gefangenenhüter des menschli­chen Geistes, was würden sie sagen? Bis die Frau gelernt hat, ihnen allen die Stirn zu bieten, entschlossen ihren eigenen Standpunkt zu vertreten, auf ihre unbeschränkte Freiheit zu bestehen und der Stimme ihrer eigenen Natur zu lauschen – mag diese nach den großen Kostbarkeiten des Lebens, der Liebe zu einem Mann oder nach dem ruhmvollsten Privileg, einem Kinde das Leben zu schenken, verlangen – nicht eher darf sie sich als emanzipiert betrachten. Wie viele emanzi­ pierte Frauen sind mutig genug, die Stimme der Liebe zuzulassen, die nach ihnen ruft, die unbändig in ihrer Brust schlägt und befriedigt sein will. Der französische Schriftsteller Jean Reibrach versucht in einem seiner Romane, Die neue Schönheit, sein Ideal einer schönen, emanzipierten Frau darzustellen. Dieses Ideal zeigt sich uns in Gestalt eines jungen Mädchens, einer Ärztin. Sie spricht klug und vernünftig darüber, wie kleine Kinder zu ernähren sind; sie ist gütig und gibt Medikamente umsonst an arme Mütter. Sie unterhält sich mit einem Bekannten, einem jungen Mann, über die zukünftigen sanitären Verhältnisse, auf welche Weise Bazillen und schädliche Keime durch Steinwände und -fußböden und die Beseitigung von Teppichen und Vorhängen vernichtet werden sollen. Es versteht sich, dass die Ärztin sehr einfach und praktisch geklei­ det ist, vornehmlich in Schwarz. Der junge Mann, den die Klugheit seiner emanzi­ pierten Freundin beim ersten Zusammentreffen einschüchtert, lernt bald, sie zu ver­stehen, und erkennt eines Tages seine Liebe für sie. Beide sind jung, sie ist gütig und schön, und ihre strenge Erscheinung wird durch den tadellosen weißen Kragen und die zierlichen Manschetten gemildert. Man würde nun erwarten, dass er ihr seine Liebe gesteht; aber er gehört nicht zu denen, die sich auf romanti­sche Absurditäten einlassen. Poesie und Liebesentzücken verschließen sein erröten­des Gesicht vor der reinen Schönheit der Dame. Er bringt die Stimme seiner Natur zum Schweigen und verhält sich, wie es die Moral gebietet. Auch sie ist immer ohne Fehler, vernünftig und anständig. Ich fürchte, der junge Mann wäre zu Stein erstarrt, wenn beide sich gebunden hätten. Ich muss gestehen, dass ich nichts Schönes in dieser neuen Schönheit erkennen kann, die so kalt ist wie die Steinwände und -fußböden, von denen sie träumt. Lieber sind mir die Liebeslie­der der Romantik, Don Juan und die Venus, lieber ist mir die Flucht mit Leiter und Seil in einer mondhellen Nacht, verfolgt von den Flüchen des Vaters, den Klagen der Mutter und den moralischen Kommentaren der lieben Nachbarn als diese ganze Korrektheit und mit Ellen gemessene Anständigkeit. Wenn Liebe nicht das Geben und Nehmen ohne Einschränkung kennt, ist es keine Liebe, sondern ein Geschäft, das niemals Additionen und Subtraktionen beiseitelassen kann.


Das größte Hemmnis der gegenwärtigen Emanzipation der Frau liegt in der künstlichen Steife und der kleinlichen Anständigkeit, die in der Seele der Frau eine Leere erzeugen, die es ihr verwehrt, vom Brunnen des Lebens zu trinken. Ich bemerkte einst, dass zwischen der unzeitgemäßen biederen Mutter und Gastgeberin, die danach trachtet, ihre Kleinen glücklich zu sehen und die, die sie liebt, zu trösten, und der wahrhaft neuen Frau eine tiefe Verbindung zu bestehen scheint. Tiefer als die zwischen Letzterer und deren durchschnittlich emanzipierten Schwestern. Die Anhängerinnen der Emanzipation nannten mich unverhohlen schlicht einen Heiden, der an das Kreuz gehöre. Wegen ihres blinden Eifers sahen sie nicht, dass mein Vergleich zwischen alt und neu lediglich beweisen sollte, dass eine stattliche Zahl unserer Großmütter mehr Blut in ihren Venen, einen weit größeren Geist und Sinn für Humor und eine Natürlichkeit, Gutherzigkeit und Einfachheit besaß als die Mehrheit unserer emanzipierten qualifizierten Frauen, die Hochschulen, Lehrsäle und Büros bevölkern. Das bedeutet nicht, dass ich die Vergangenheit zurückholen möchte, noch, dass ich die Frauen dazu verurteile, in ihre alten Wirkungsbereiche – Küche und Kinderhort – zurückzukehren. Die Rettung liegt in einem tatkräftigen Marsch in Richtung einer helleren und klareren Zukunft! Wir müssen ungehemmt über die alten Traditionen und Gewohnheiten hinauswachsen. Nur einen einzigen Schritt hat die Bewegung der Frauenemanzipation bislang in diese Richtung getan. Es ist zu hoffen, dass sie die Kraft zu einem weiteren sammeln wird. Das Stimmrecht oder gleiche bürgerliche Rechte mögen gute Forderungen sein, doch die wahre Emanzipation be­ ginnt weder bei der Urne noch in den Gerichtssälen. Sie beginnt in der Seele der Frau. Die Geschichte lehrt uns, dass jede unterdrückte Klasse die wahre Befreiung von ihren Herrschern durch eigene Anstrengungen zu erkämpfen hatte. Es ist notwendig, dass die Frau diese Aufgabe begreift, dass sie erkennt, dass ihre Freiheit so weit reichen wird wie ihre Kraft, diese Freiheit zu erringen. Daher ist es für sie sehr viel wichtiger, bei ihrer inneren Regeneration zu beginnen und sich von der drückenden Last der Vorurteile, Traditionen und Gebräuche loszumachen. Der Wunsch nach gleichen Rechten in allen Lebensbereichen ist angemessen und richtig; wir sollten aber über all dem nicht vergessen, dass das höchste Lebensrecht ist, zu lieben und geliebt zu werden. Wenn unsere Teilemanzipation jemals eine vollständige und wahre Emanzipation werden soll, dann müssen wir Schluss machen mit der lächerlichen Vorstellung, dass die Tatsache, Geliebte und Mutter zu sein und als solche geliebt zu werden, gleichbedeutend damit ist, Sklavin oder Untergebene zu sein. Wir müssen Schluss machen mit der absurden

54 | 55 Emma Goldman. Die Tragödie der Frauenemanzipation

Person sagen wird. All die Moralwächter und Gefangenenhüter des menschli­chen Geistes, was würden sie sagen? Bis die Frau gelernt hat, ihnen allen die Stirn zu bieten, entschlossen ihren eigenen Standpunkt zu vertreten, auf ihre unbeschränkte Freiheit zu bestehen und der Stimme ihrer eigenen Natur zu lauschen – mag diese nach den großen Kostbarkeiten des Lebens, der Liebe zu einem Mann oder nach dem ruhmvollsten Privileg, einem Kinde das Leben zu schenken, verlangen – nicht eher darf sie sich als emanzipiert betrachten. Wie viele emanzi­ pierte Frauen sind mutig genug, die Stimme der Liebe zuzulassen, die nach ihnen ruft, die unbändig in ihrer Brust schlägt und befriedigt sein will. Der französische Schriftsteller Jean Reibrach versucht in einem seiner Romane, Die neue Schönheit, sein Ideal einer schönen, emanzipierten Frau darzustellen. Dieses Ideal zeigt sich uns in Gestalt eines jungen Mädchens, einer Ärztin. Sie spricht klug und vernünftig darüber, wie kleine Kinder zu ernähren sind; sie ist gütig und gibt Medikamente umsonst an arme Mütter. Sie unterhält sich mit einem Bekannten, einem jungen Mann, über die zukünftigen sanitären Verhältnisse, auf welche Weise Bazillen und schädliche Keime durch Steinwände und -fußböden und die Beseitigung von Teppichen und Vorhängen vernichtet werden sollen. Es versteht sich, dass die Ärztin sehr einfach und praktisch geklei­ det ist, vornehmlich in Schwarz. Der junge Mann, den die Klugheit seiner emanzi­ pierten Freundin beim ersten Zusammentreffen einschüchtert, lernt bald, sie zu ver­stehen, und erkennt eines Tages seine Liebe für sie. Beide sind jung, sie ist gütig und schön, und ihre strenge Erscheinung wird durch den tadellosen weißen Kragen und die zierlichen Manschetten gemildert. Man würde nun erwarten, dass er ihr seine Liebe gesteht; aber er gehört nicht zu denen, die sich auf romanti­sche Absurditäten einlassen. Poesie und Liebesentzücken verschließen sein erröten­des Gesicht vor der reinen Schönheit der Dame. Er bringt die Stimme seiner Natur zum Schweigen und verhält sich, wie es die Moral gebietet. Auch sie ist immer ohne Fehler, vernünftig und anständig. Ich fürchte, der junge Mann wäre zu Stein erstarrt, wenn beide sich gebunden hätten. Ich muss gestehen, dass ich nichts Schönes in dieser neuen Schönheit erkennen kann, die so kalt ist wie die Steinwände und -fußböden, von denen sie träumt. Lieber sind mir die Liebeslie­der der Romantik, Don Juan und die Venus, lieber ist mir die Flucht mit Leiter und Seil in einer mondhellen Nacht, verfolgt von den Flüchen des Vaters, den Klagen der Mutter und den moralischen Kommentaren der lieben Nachbarn als diese ganze Korrektheit und mit Ellen gemessene Anständigkeit. Wenn Liebe nicht das Geben und Nehmen ohne Einschränkung kennt, ist es keine Liebe, sondern ein Geschäft, das niemals Additionen und Subtraktionen beiseitelassen kann.


Guerrilla Girls | Vorteile des Künstlerinnendaseins 1989

Nicht zusammen mit Männern ausstellen müssen Schneller Abstand zur Kunstwelt durch deine vier Nebenjobs Die Aussicht auf einen Karriereschub, wenn du über achtzig bist Garantierter »weiblich«-Stempel, egal, welche Art von Kunst du machst Keine Einengung durch einen Professorenjob auf Lebenszeit Fortleben deiner Ideen in den Werken anderer Wahlmöglichkeit zwischen Karriere und Mutterschaft Nicht an langen Zigarren ersticken oder in italienischen Anzügen malen müssen Mehr Zeit zum Arbeiten, wenn dein Freund dich für eine Jüngere verlässt Aufnahme in neu überarbeitete Kunstgeschichtsbände Nicht der Peinlichkeit ausgesetzt sein, als Genie bezeichnet zu werden In den Kunstmagazinen im Gorillakostüm abgebildet werden

104 | 105 Guerrilla Girls. Vorteile des Künstlerinnendaseins

Arbeiten ohne Erfolgsdruck


Guerrilla Girls | Vorteile des Künstlerinnendaseins 1989

Nicht zusammen mit Männern ausstellen müssen Schneller Abstand zur Kunstwelt durch deine vier Nebenjobs Die Aussicht auf einen Karriereschub, wenn du über achtzig bist Garantierter »weiblich«-Stempel, egal, welche Art von Kunst du machst Keine Einengung durch einen Professorenjob auf Lebenszeit Fortleben deiner Ideen in den Werken anderer Wahlmöglichkeit zwischen Karriere und Mutterschaft Nicht an langen Zigarren ersticken oder in italienischen Anzügen malen müssen Mehr Zeit zum Arbeiten, wenn dein Freund dich für eine Jüngere verlässt Aufnahme in neu überarbeitete Kunstgeschichtsbände Nicht der Peinlichkeit ausgesetzt sein, als Genie bezeichnet zu werden In den Kunstmagazinen im Gorillakostüm abgebildet werden

104 | 105 Guerrilla Girls. Vorteile des Künstlerinnendaseins

Arbeiten ohne Erfolgsdruck


WEIL wir mädchen uns nach platten, büchern und fanzines sehnen, die UNS ansprechen, in denen WIR uns mit eingeschlossen und verstanden fühlen. WEIL es für uns mädchen einfacher werden soll, unsere arbeiten zu hören/se­ hen, damit wir unsere strategien teilen und uns gegenseitig kritisieren/applaudieren können. WEIL wir die produktionsmittel übernehmen müssen, um unsere eigenen bedeutungen zu kreieren. WEIL es wichtig ist, unsere arbeit mit dem alltag unserer freundinnen verbunden zu sehen, wenn wir herausfinden wollen, wie wir dinge angehen, reflektieren, verfestigen oder dem status quo verändern können. WEIL wir die fantasien einer »instant macho gun revolution« als unpraktische lügen entlarvt haben, die uns zum träumen anhalten, anstatt aus unseren träumen realität zu machen. UND WIR DAHER in einer revolution unseres eigenen alltäglichen lebens nach alternativen suchen zu der scheiß christlichen, kapitalistischen lebensweise. WEIL wir andere ermutigen und selbst ermutigt werden wollen, angesichts all der unsicherheiten und des männer-sauf-rocks, der uns vermittelt, dass wir keine instrumente spielen können. WEIL wir uns nicht an die standards anderer (die der jungs) anpassen wollen, an deren definitionen, was »gute« musik, punkrock oder »gutes« schreiben ist, UND DAHER orte schaffen wollen, an denen wir unsere eigenen vorstellungen entwickeln, zerstören und definieren können. WEIL wir nicht mehr länger zurückschrecken vor dem vorwurf, wir seien reaktionäre, »umgekehrte sexistinnen« oder gar »punkrock-kreuzigerinnen«, die wir ja tatsächlich sind.

WEIL wir wissen, dass leben mehr sein kann, als bloß physisch zu existieren und uns bewusst ist, dass die idee des do-it-yourself im punkrock zentral für die kom­ mende wütende grrrl-rock-revolution ist, die die psychischen und kulturellen welten von mädchen und frauen in ihren eigenen begriffen zu retten versucht. WEIL wir wege finden wollen, wie wir antihierarchisch sein und musik machen, freundschaften und szenen entwickeln können, die auf kommunikation und verständ­ nis basieren und nicht auf konkurrenz und kategorisierungen von gut und böse. WEIL das machen/lesen/hören von coolen, uns selbst wertschätzenden und herausfordernden dingen uns helfen kann, die stärke und den gemeinschaftssinn zu entwickeln, die wir brauchen, um herauszufinden, was scheiße wie rassismus, sexismus, antisemitismus, diskriminierung auf grund des alters, der spezies, der sexualität, des gewichts, der klasse oder körperlicher behinderungen in unserem leben anrichten. WEIL wir die unterstützung und stärkung von mädchenszenen und künstlerisch aktiven mädchen als integralen bestandteil dieses prozesses sehen. WEIL wir kapitalismus in all seinen formen hassen, und weil es unser zentrales ziel ist, informationen zu teilen, und wir nicht den herrschenden standards entsprechend nur geld machen oder cool sein wollen. WEIL wir wütend sind auf eine gesellschaft, die uns sagt, mädchen = blöd, mädchen = böse, mädchen = schwach. WEIL wir es nicht zulassen, dass unsere echte und berechtigte wut verpufft und/ oder über die internalisierung von sexismus, wie wir sie in der rivalisierung von mäd­ chen oder in ihrem selbstzerstörerischen verhalten sehen, gegen uns gerichtet wird. WEIL selbstzerstörerisches verhalten (jungs ohne kondom vögeln, bis zum exzess saufen, freundinnen fallen lassen, sich selbst und andere mädchen klein machen etc.) nicht so einfach wäre, wenn wir in einer gemeinschaft leben würden, in der wir uns geliebt, erwünscht und geschätzt fühlten. WEIL ich absolut 100%ig überzeugt bin, dass mädchen eine revolutionäre kraft haben, die die welt wirklich verändern kann und wird.

106 | 107 Kathleen Hannah/Bikini Kill. Riot-Grrrl-Manifest

Kathleen Hannah / Bikini Kill | Riot-Grrrl-Manifest 1992 Riot Grrrl ist …


WEIL wir mädchen uns nach platten, büchern und fanzines sehnen, die UNS ansprechen, in denen WIR uns mit eingeschlossen und verstanden fühlen. WEIL es für uns mädchen einfacher werden soll, unsere arbeiten zu hören/se­ hen, damit wir unsere strategien teilen und uns gegenseitig kritisieren/applaudieren können. WEIL wir die produktionsmittel übernehmen müssen, um unsere eigenen bedeutungen zu kreieren. WEIL es wichtig ist, unsere arbeit mit dem alltag unserer freundinnen verbunden zu sehen, wenn wir herausfinden wollen, wie wir dinge angehen, reflektieren, verfestigen oder dem status quo verändern können. WEIL wir die fantasien einer »instant macho gun revolution« als unpraktische lügen entlarvt haben, die uns zum träumen anhalten, anstatt aus unseren träumen realität zu machen. UND WIR DAHER in einer revolution unseres eigenen alltäglichen lebens nach alternativen suchen zu der scheiß christlichen, kapitalistischen lebensweise. WEIL wir andere ermutigen und selbst ermutigt werden wollen, angesichts all der unsicherheiten und des männer-sauf-rocks, der uns vermittelt, dass wir keine instrumente spielen können. WEIL wir uns nicht an die standards anderer (die der jungs) anpassen wollen, an deren definitionen, was »gute« musik, punkrock oder »gutes« schreiben ist, UND DAHER orte schaffen wollen, an denen wir unsere eigenen vorstellungen entwickeln, zerstören und definieren können. WEIL wir nicht mehr länger zurückschrecken vor dem vorwurf, wir seien reaktionäre, »umgekehrte sexistinnen« oder gar »punkrock-kreuzigerinnen«, die wir ja tatsächlich sind.

WEIL wir wissen, dass leben mehr sein kann, als bloß physisch zu existieren und uns bewusst ist, dass die idee des do-it-yourself im punkrock zentral für die kom­ mende wütende grrrl-rock-revolution ist, die die psychischen und kulturellen welten von mädchen und frauen in ihren eigenen begriffen zu retten versucht. WEIL wir wege finden wollen, wie wir antihierarchisch sein und musik machen, freundschaften und szenen entwickeln können, die auf kommunikation und verständ­ nis basieren und nicht auf konkurrenz und kategorisierungen von gut und böse. WEIL das machen/lesen/hören von coolen, uns selbst wertschätzenden und herausfordernden dingen uns helfen kann, die stärke und den gemeinschaftssinn zu entwickeln, die wir brauchen, um herauszufinden, was scheiße wie rassismus, sexismus, antisemitismus, diskriminierung auf grund des alters, der spezies, der sexualität, des gewichts, der klasse oder körperlicher behinderungen in unserem leben anrichten. WEIL wir die unterstützung und stärkung von mädchenszenen und künstlerisch aktiven mädchen als integralen bestandteil dieses prozesses sehen. WEIL wir kapitalismus in all seinen formen hassen, und weil es unser zentrales ziel ist, informationen zu teilen, und wir nicht den herrschenden standards entsprechend nur geld machen oder cool sein wollen. WEIL wir wütend sind auf eine gesellschaft, die uns sagt, mädchen = blöd, mädchen = böse, mädchen = schwach. WEIL wir es nicht zulassen, dass unsere echte und berechtigte wut verpufft und/ oder über die internalisierung von sexismus, wie wir sie in der rivalisierung von mäd­ chen oder in ihrem selbstzerstörerischen verhalten sehen, gegen uns gerichtet wird. WEIL selbstzerstörerisches verhalten (jungs ohne kondom vögeln, bis zum exzess saufen, freundinnen fallen lassen, sich selbst und andere mädchen klein machen etc.) nicht so einfach wäre, wenn wir in einer gemeinschaft leben würden, in der wir uns geliebt, erwünscht und geschätzt fühlten. WEIL ich absolut 100%ig überzeugt bin, dass mädchen eine revolutionäre kraft haben, die die welt wirklich verändern kann und wird.

106 | 107 Kathleen Hannah/Bikini Kill. Riot-Grrrl-Manifest

Kathleen Hannah / Bikini Kill | Riot-Grrrl-Manifest 1992 Riot Grrrl ist …


Titelblatt eines Fanzines der Band Bikini Kill


Titelblatt eines Fanzines der Band Bikini Kill


Betrachtet man die Geschichte des Feminismus, so wird deutlich, dass im Laufe der Jahrhunderte der Körper der Frau und damit verbunden körperliche und sexu­ elle Selbstbestimmung immer stärker in den Vordergrund rücken. Wie aber kommt der Körper ins Spiel feministischer Forderungen, wie wird er thema­ti­ siert und welche Rolle spielt er für die Emanzipation der Frau? Mit der Aufklärung und der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft rückt der Kör­­ per verstärkt ins Blickfeld der sich neu etablierenden Wissenschaften: Medizin, Biologie und Psychologie lösen Theologie und Philosophie in der Be­schreibung und Definition des Körpers, seiner Beschaffenheit und seiner Krankheiten ab.1 Sich auf wissenschaftliche Objektivität berufend, formen die neuen Diskurse jedoch ein spezifisches Bild des Menschen, für das die grund­legende Unterscheidung von Mann und Frau auf geistiger und körperlicher Ebene zentral wird. In den medizinischen Praktiken, in Familienstrukturen und pädagogi­ schen Maßnahmen entsteht ein Wissen über Sexualität, eine »dis­kur­sive Explosion« 2, so Foucault – bei gleichzeitigen verschärften Regelungen, wer wann wie mit wem über welche Aspekte der Sexualität sprechen darf. Sexualität wird zunehmend als eine Ressource der Bevölkerung betrachtet, die im öffentlichen Interesse gebraucht werden soll und nicht mehr Privatsache bleiben kann. Diese Auffassung legitimiert zum einen die wissenschaftliche Erforschung, zum anderen die staatliche Regulierung sexueller Verhaltens­weisen. Michel Foucault untersucht in seiner umfassenden Studie Sexualität und Wahrheit die Wirkungsweise von Machtstrukturen auf den Körper und zeigt dabei, wie seit dem Mittelalter und verstärkt in den modernen Gesell­schaften permanent »Redeanreize« geboten werden, sei es in Beichtkatalo­gen oder in der Psychoanalyse, die eine sich überall verbergende und lauern­de Sexualität zur Sprache und unter Kontrolle bringen sollen. Ein Beispiel dafür ist der Kampf gegen die Masturbation, der im 18. und 19. Jahrhundert absurdeste Formen annimmt: von Korsetts und Keuschheitsgürteln, die das Onanieren verhindern sollen, bis zur medizinisch indizierten Beschneidung von Jungen und Mädchen. Dieses dezidierte Vorgehen gegen die »Selbstliebe« als Ver­ schwendung körperlicher Energie verlangt zwar nach einer angemessenen Sprache, es bedeutet aber gleichzeitig auch eine Regulierung körperlicher Praktiken. Foucault zeigt in seiner Kritik an der Repressionshypothese, die von einer zunehmenden Unterdrückung von Sexualität im Bürgertum aus-

geht, dass die Normierung und Tabuisierung von Sexualität und Körperlichkeit paradoxerweise auf dem Sprechen über Sexualität basiert. Dieses Sprechen über den eigenen Körper wird vorrangig durch die Gesundheitslehre vorangetrieben, die die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft begleitet und dazu anleiten soll, wie man mit dem eigenen Körper umgehen und sein Sexualleben gestalten soll. Das hygienische Programm wird über diverse Medien wie Bücher und Zeitschriften sowie durch Praxisformen und Ins­trumente der Hygiene verbreitet. Es geht darum, die eigene Geschlechtlichkeit wahrzunehmen und seinen Körper zu genießen – nicht ohne ihn gleichzeitig zu beherrschen. Letzteres ermöglicht es, ihn vor Gefahren und vor Verausgabung zu schützen.3 Individuelle Selbstregulation und die Sorge um sich sollen ge­ währleisten, dass der Körper im Gleichgewicht und gesund bleibt. Exzess, mit dem im Hygienediskurs vor allem die sexuelle Überschreitung gemeint ist, wird zu einer »Bedrohung des Körpers und damit des Subjekts schlechthin: In der sexuellen Verausgabung erst verliert dieses die Herrschaft über sich selbst« 4. Dieses Wissen und die damit verknüpften Praktiken richten sich vor­rangig an das männliche Bürgertum. Diesem traut man zu, den Verlust des Lebens­kraft verheißenden Spermas, der das Gehirn schädigen könne, zu kon­trollieren. Mä­ ßi­gung wird als alleiniges Vermögen der Bürger betrachtet, durch das diese sich von den Aristokraten und Proletariern unterscheiden, und zugleich verweist »sie unmittelbar auf die Form der Geschlechterdifferenz, wie sie in der Aufklärung konzipiert wurde: Selbstbeherrschung galt als Kontrolle des ›männlichen‹ Gehirns über die ›weiblichen‹ Nerven« 5. Mit dem Erfolg dieses Diskurses, der akademisches und populärkulturelles Wissen durchmengt, wird auch die geschlechtliche Kodierung der Körper propagiert. Der Mann bzw. der männliche Körper wird als »Normalfall« des Menschen definiert und die Frau im Vergleich dazu als biologische Sonderform, als Mangelwesen abgewertet, das über ein »schwächeres Nervenkostüm« verfügt und dieses noch dazu weniger gut selbst kontrollieren kann. Der Frau wird die Sphäre des unbeherrschbar Körperlichen – der Nerven und der Sexualität – zugeschrieben. Parallel dazu verbannt man sie in ihr Heim und wirft sie auf das rein Private zurück. Es scheint fast, als könne sich die männlich dominierte Gesellschaft der Moderne weder der Frage der Sexualität noch der »Frauenfrage« auf eine Weise stellen, die mit den Werten der bürgerlichen Gesellschaft (Gleichheit, Freiheit, Vernunft) zu vereinbaren ist. Aus diesem Grund müssen beide stigmatisiert werden und entwickeln so als kulturelle Phantasmen eine unheimliche Macht.

110 | 111 Move III

Move III Body Moves Körper, Sex und Porno als Politik


Betrachtet man die Geschichte des Feminismus, so wird deutlich, dass im Laufe der Jahrhunderte der Körper der Frau und damit verbunden körperliche und sexu­ elle Selbstbestimmung immer stärker in den Vordergrund rücken. Wie aber kommt der Körper ins Spiel feministischer Forderungen, wie wird er thema­ti­ siert und welche Rolle spielt er für die Emanzipation der Frau? Mit der Aufklärung und der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft rückt der Kör­­ per verstärkt ins Blickfeld der sich neu etablierenden Wissenschaften: Medizin, Biologie und Psychologie lösen Theologie und Philosophie in der Be­schreibung und Definition des Körpers, seiner Beschaffenheit und seiner Krankheiten ab.1 Sich auf wissenschaftliche Objektivität berufend, formen die neuen Diskurse jedoch ein spezifisches Bild des Menschen, für das die grund­legende Unterscheidung von Mann und Frau auf geistiger und körperlicher Ebene zentral wird. In den medizinischen Praktiken, in Familienstrukturen und pädagogi­ schen Maßnahmen entsteht ein Wissen über Sexualität, eine »dis­kur­sive Explosion« 2, so Foucault – bei gleichzeitigen verschärften Regelungen, wer wann wie mit wem über welche Aspekte der Sexualität sprechen darf. Sexualität wird zunehmend als eine Ressource der Bevölkerung betrachtet, die im öffentlichen Interesse gebraucht werden soll und nicht mehr Privatsache bleiben kann. Diese Auffassung legitimiert zum einen die wissenschaftliche Erforschung, zum anderen die staatliche Regulierung sexueller Verhaltens­weisen. Michel Foucault untersucht in seiner umfassenden Studie Sexualität und Wahrheit die Wirkungsweise von Machtstrukturen auf den Körper und zeigt dabei, wie seit dem Mittelalter und verstärkt in den modernen Gesell­schaften permanent »Redeanreize« geboten werden, sei es in Beichtkatalo­gen oder in der Psychoanalyse, die eine sich überall verbergende und lauern­de Sexualität zur Sprache und unter Kontrolle bringen sollen. Ein Beispiel dafür ist der Kampf gegen die Masturbation, der im 18. und 19. Jahrhundert absurdeste Formen annimmt: von Korsetts und Keuschheitsgürteln, die das Onanieren verhindern sollen, bis zur medizinisch indizierten Beschneidung von Jungen und Mädchen. Dieses dezidierte Vorgehen gegen die »Selbstliebe« als Ver­ schwendung körperlicher Energie verlangt zwar nach einer angemessenen Sprache, es bedeutet aber gleichzeitig auch eine Regulierung körperlicher Praktiken. Foucault zeigt in seiner Kritik an der Repressionshypothese, die von einer zunehmenden Unterdrückung von Sexualität im Bürgertum aus-

geht, dass die Normierung und Tabuisierung von Sexualität und Körperlichkeit paradoxerweise auf dem Sprechen über Sexualität basiert. Dieses Sprechen über den eigenen Körper wird vorrangig durch die Gesundheitslehre vorangetrieben, die die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft begleitet und dazu anleiten soll, wie man mit dem eigenen Körper umgehen und sein Sexualleben gestalten soll. Das hygienische Programm wird über diverse Medien wie Bücher und Zeitschriften sowie durch Praxisformen und Ins­trumente der Hygiene verbreitet. Es geht darum, die eigene Geschlechtlichkeit wahrzunehmen und seinen Körper zu genießen – nicht ohne ihn gleichzeitig zu beherrschen. Letzteres ermöglicht es, ihn vor Gefahren und vor Verausgabung zu schützen.3 Individuelle Selbstregulation und die Sorge um sich sollen ge­ währleisten, dass der Körper im Gleichgewicht und gesund bleibt. Exzess, mit dem im Hygienediskurs vor allem die sexuelle Überschreitung gemeint ist, wird zu einer »Bedrohung des Körpers und damit des Subjekts schlechthin: In der sexuellen Verausgabung erst verliert dieses die Herrschaft über sich selbst« 4. Dieses Wissen und die damit verknüpften Praktiken richten sich vor­rangig an das männliche Bürgertum. Diesem traut man zu, den Verlust des Lebens­kraft verheißenden Spermas, der das Gehirn schädigen könne, zu kon­trollieren. Mä­ ßi­gung wird als alleiniges Vermögen der Bürger betrachtet, durch das diese sich von den Aristokraten und Proletariern unterscheiden, und zugleich verweist »sie unmittelbar auf die Form der Geschlechterdifferenz, wie sie in der Aufklärung konzipiert wurde: Selbstbeherrschung galt als Kontrolle des ›männlichen‹ Gehirns über die ›weiblichen‹ Nerven« 5. Mit dem Erfolg dieses Diskurses, der akademisches und populärkulturelles Wissen durchmengt, wird auch die geschlechtliche Kodierung der Körper propagiert. Der Mann bzw. der männliche Körper wird als »Normalfall« des Menschen definiert und die Frau im Vergleich dazu als biologische Sonderform, als Mangelwesen abgewertet, das über ein »schwächeres Nervenkostüm« verfügt und dieses noch dazu weniger gut selbst kontrollieren kann. Der Frau wird die Sphäre des unbeherrschbar Körperlichen – der Nerven und der Sexualität – zugeschrieben. Parallel dazu verbannt man sie in ihr Heim und wirft sie auf das rein Private zurück. Es scheint fast, als könne sich die männlich dominierte Gesellschaft der Moderne weder der Frage der Sexualität noch der »Frauenfrage« auf eine Weise stellen, die mit den Werten der bürgerlichen Gesellschaft (Gleichheit, Freiheit, Vernunft) zu vereinbaren ist. Aus diesem Grund müssen beide stigmatisiert werden und entwickeln so als kulturelle Phantasmen eine unheimliche Macht.

110 | 111 Move III

Move III Body Moves Körper, Sex und Porno als Politik


Ich erinnere mich, es war Karneval. Ich hatte meine einsamen Stunden damit verbracht, meine Seele zu verkleiden. Die Masken waren so vollkommen, dass sie sich nicht wiedererkannten, als sie sich zufällig auf dem Marktplatz meines Bewusstseins begegneten. Durch ihre komische Hässlichkeit in Versuchung geführt, probierte ich die schlechtesten Instinkte; ich nahm junge Monster an und züchtete sie in mir heran. Doch die Schminke, die ich aufgetragen hatte, schien unauslöschlich. Um mich zu reinigen, rieb ich so sehr, dass ich die Haut wegriss. Und meine Seele – gleich einem lebendig gehäuteten Gesicht – hatte keine menschliche Gestalt mehr. Wie ein unruhiger Hund an einer zu kurzen Leine, den danach hungert, sich frei in der Sonne zu bewegen, der heimlich die Schnur zerkaut und aufs Land flieht; wie sein schwerer Zwinger, der feucht ist vom schmutzigen Stroh, und der Geruch und Spur des Tieres bewahrt; während die Reste des Breis, den es gefressen hat, schon verrotten, bleibt dem Käfig nur das Warten, verloren und zu sehr von der Gegenwart des Tieres durchdrungen, um für irgendeinen anderen Gebrauch erträglich zu sein; gut genug, um ins Feuer geworfen zu werden – so war mein Körper, so war meine Seele. So war meine kranke Seele, verloren – oh, ohne Zurück! – eine viel zu leichte Beute. So war mein Körper, nicht der reine Körper einer Nixe, deren Seele nie befleckt wurde, sondern verletzt durch das Tier, seine Marke, seinen Geruch, seine zufälligen Mahlzeiten und die Spuren davon – verworfene Deutungen, oh, bereits verwesende Erinnerungen!

158 | 159 Claude Cahun. Nichtige Bekenntnisse

Claude Cahun: I.O.U. (Self-Pride) | 1920 – 1930

Claude Cahun | Nichtige Bekenntnisse 1930


Ich erinnere mich, es war Karneval. Ich hatte meine einsamen Stunden damit verbracht, meine Seele zu verkleiden. Die Masken waren so vollkommen, dass sie sich nicht wiedererkannten, als sie sich zufällig auf dem Marktplatz meines Bewusstseins begegneten. Durch ihre komische Hässlichkeit in Versuchung geführt, probierte ich die schlechtesten Instinkte; ich nahm junge Monster an und züchtete sie in mir heran. Doch die Schminke, die ich aufgetragen hatte, schien unauslöschlich. Um mich zu reinigen, rieb ich so sehr, dass ich die Haut wegriss. Und meine Seele – gleich einem lebendig gehäuteten Gesicht – hatte keine menschliche Gestalt mehr. Wie ein unruhiger Hund an einer zu kurzen Leine, den danach hungert, sich frei in der Sonne zu bewegen, der heimlich die Schnur zerkaut und aufs Land flieht; wie sein schwerer Zwinger, der feucht ist vom schmutzigen Stroh, und der Geruch und Spur des Tieres bewahrt; während die Reste des Breis, den es gefressen hat, schon verrotten, bleibt dem Käfig nur das Warten, verloren und zu sehr von der Gegenwart des Tieres durchdrungen, um für irgendeinen anderen Gebrauch erträglich zu sein; gut genug, um ins Feuer geworfen zu werden – so war mein Körper, so war meine Seele. So war meine kranke Seele, verloren – oh, ohne Zurück! – eine viel zu leichte Beute. So war mein Körper, nicht der reine Körper einer Nixe, deren Seele nie befleckt wurde, sondern verletzt durch das Tier, seine Marke, seinen Geruch, seine zufälligen Mahlzeiten und die Spuren davon – verworfene Deutungen, oh, bereits verwesende Erinnerungen!

158 | 159 Claude Cahun. Nichtige Bekenntnisse

Claude Cahun: I.O.U. (Self-Pride) | 1920 – 1930

Claude Cahun | Nichtige Bekenntnisse 1930


Jede Richtung, die die psychoanalytische Forschung eingenommen hat, scheint bereits das Interesse von Ernest Jones auf sich gezogen zu haben, und jetzt, da sich die Untersuchungen der letzten Jahre langsam auf die Entwicklung des Sexuallebens von Frauen ausgedehnt haben, entdecken wir erwartungsgemäß, dass er auch zu diesem Thema einen der wichtigsten Beiträge geleistet hat. Mit der ihm eigenen Gabe, bereits Bekanntes zu verdeutlichen und dabei eigene Beobachtungen hinzuzufügen, wirft er auch hier neues Licht auf seinen Untersuchungsgegenstand. In seinem Aufsatz »The early development of female sexuality« 1 skizziert Jones ein grobes Schema der verschiedenen Typen der weiblichen Entwicklung, die er zuerst in eine heterosexuelle und eine homosexuelle Gruppe unterteilt, wobei er dann für Letztere zwei Untergruppen unterscheidet. In Anbetracht der groben Schematisierung seiner Einteilung postuliert er noch mehrere Zwischentypen. Und mit einem dieser Zwischentypen beschäftige ich mich heute. Im Alltagsleben trifft man ständig auf Männer und Frauen, die eindeutig Züge des anderen Geschlechts aufweisen, obwohl sie in ihrer Entwicklung überwiegend heterosexuell sind. Man hat dies als einen Ausdruck des Bisexuellen, das uns allen innewohnt, angesehen, und die Psychoanalyse hat gezeigt, dass die sexuelle Ausprägung eines Menschen das Endergebnis des Zusammenspiels von Konflikten ist und nicht unbedingt der Beweis einer verwurzelten oder grundlegenden Neigung. Der Unterschied zwischen homosexueller und heterosexueller Orientierung resultiert aus dem unterschiedlichen Ausmaß von Ängsten und deren Auswirkung auf die Entwicklung. Ferenczi hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass homosexuelle Männer ihre Heterosexualität zum »Schutz« ihrer Homosexualität übertreiben.2 Ich werde versuchen zu zeigen, dass Frauen, die nach Männlichkeit streben, zuweilen eine Maske der Weiblichkeit aufsetzen, um die Angst und die Vergeltung, die sie von Männern befürchten, abzuwenden. Meine Aufmerksamkeit gilt hier vor allem einem besonderen Typ von intellektueller Frau. Vor noch nicht allzu langer Zeit wurden geistig auspruchsvolle Frauenberufe fast immer mit einem offenkundig maskulinen Typ von Frau in Verbindung gebracht, die in besonders ausgeprägten Fällen kein Geheimnis aus ihrem Wunsch oder Anspruch, ein Mann zu sein, machten. Dies hat sich jetzt geändert. Es wäre bei all den Frauen, die heute einen Beruf ausüben, schwer zu sagen, ob die Mehrzahl eher weiblich als männlich in punkto Lebensweise und Charakter ist. An der Universität, in wissenschaftlichen Berufen und im Geschäftsleben trifft man beständig auf

Frauen, die alle Kriterien einer vollendeten weiblichen Entwicklung zu erfüllen scheinen. Sie sind ausgezeichnete Ehefrauen und Mütter und fähige Hausfrauen; sie pflegen ihr Gesellschaftsleben und nehmen am kulturellen Leben teil; es fehlt ihnen nicht an weiblichen Interessen, zum Beispiel in Bezug auf ihre Erscheinung, und wenn es darauf ankommt, können sie noch die Zeit finden, die Rolle des treusorgenden und selbstlosen Mutterersatzes in einem großen Kreis von Verwandten und Freunden zu übernehmen. Gleichzeitig kommen sie ihren beruflichen Pflichten mindestens ebenso gut nach wie der Durchschnittsmann. Es ist rätselhaft, wie man diesen Typ psychologisch einordnen soll. Vor einiger Zeit habe ich im Verlauf der Ana­ lyse einer solchen Frau ein paar interessante Entdeckungen gemacht. Die Frau stimmte fast in jeder Einzelheit mit der eben gegebenen Beschreibung überein. Ihre ausgezeichnete Beziehung zu ihrem Mann zeigte sich in der sehr innigen Zuneigung zwischen den beiden und dem vollkommenen und häufigen Erleben sexueller Lust. Sie war stolz auf ihre hausfraulichen Fähigkeiten; sie war ihrem Beruf ihr ganzes Leben lang mit ausgesprochenem Erfolg nachgegangen; sie hatte einen hohen Grad an Realitätsanpassung, und es gelang ihr, mit fast jedem, mit dem sie in Kontakt kam, gute und angemessene Beziehungen aufrechtzuerhalten. Gewisse Reaktionen in ihrem Leben zeigten jedoch, dass ihre Stabilität nicht so vollkommen war, wie es den Anschein hatte; eine dieser Reaktionen wird zur Veranschaulichung meines Themas dienen. Sie war Amerikanerin und ging einer Art propagandistischer Arbeit nach, die hauptsächlich darin bestand, zu schreiben und Vorträge zu halten. Ihr ganzes Leben lang litt sie nach jedem öffentlichen Auftritt wie etwa einer Rede vor einem Publikum unter einer Angst, die manchmal sehr heftig sein konnte. Trotz des Erfolges, den sie unzweifelhaft hatte, und ihrer sowohl geis­ tigen als auch praktischen Befähigung und ihres Talents, mit einer Zuhörerschaft umzugehen und mit Diskussionen zurechtzukommen war sie hinterher immer die ganze Nacht aufgeregt und besorgt, hatte Bedenken, etwas Unangebrachtes getan zu haben, und war besessen von einem Verlangen nach Bestätigung. Dieses Verlangen nach Bestätigung ließ sie jedesmal am Ende der Veranstaltung, an der sie teilgenommen hatte oder bei der sie die Hauptperson gewesen war, zwanghaft um Aufmerksamkeit oder ein Kompliment vonseiten eines oder mehrerer Männer heischen. Und es stellte sich bald heraus, dass die Männer, die sie für diesen Zweck auswählte, immer eindeutig Vaterfiguren waren. Häufig waren es auch Männer, deren Urteil über ihren Vortrag kaum Gewicht hatte. Es war deutlich, dass sie zwei Arten von Bestätigung bei diesen Vaterfiguren suchte: zum einen direkte Bestätigung in Form von Komplimenten für ihre Leistung; zum anderen, und dies ist wichtiger, indirekte Bestätigung in Form von sexueller Beachtung seitens dieser Männer. Grob gesagt,

160 | 161 Joan Riviere. Weiblichkeit als Maskerade

Joan Riviere | Weiblichkeit als Maskerade 1929


Jede Richtung, die die psychoanalytische Forschung eingenommen hat, scheint bereits das Interesse von Ernest Jones auf sich gezogen zu haben, und jetzt, da sich die Untersuchungen der letzten Jahre langsam auf die Entwicklung des Sexuallebens von Frauen ausgedehnt haben, entdecken wir erwartungsgemäß, dass er auch zu diesem Thema einen der wichtigsten Beiträge geleistet hat. Mit der ihm eigenen Gabe, bereits Bekanntes zu verdeutlichen und dabei eigene Beobachtungen hinzuzufügen, wirft er auch hier neues Licht auf seinen Untersuchungsgegenstand. In seinem Aufsatz »The early development of female sexuality« 1 skizziert Jones ein grobes Schema der verschiedenen Typen der weiblichen Entwicklung, die er zuerst in eine heterosexuelle und eine homosexuelle Gruppe unterteilt, wobei er dann für Letztere zwei Untergruppen unterscheidet. In Anbetracht der groben Schematisierung seiner Einteilung postuliert er noch mehrere Zwischentypen. Und mit einem dieser Zwischentypen beschäftige ich mich heute. Im Alltagsleben trifft man ständig auf Männer und Frauen, die eindeutig Züge des anderen Geschlechts aufweisen, obwohl sie in ihrer Entwicklung überwiegend heterosexuell sind. Man hat dies als einen Ausdruck des Bisexuellen, das uns allen innewohnt, angesehen, und die Psychoanalyse hat gezeigt, dass die sexuelle Ausprägung eines Menschen das Endergebnis des Zusammenspiels von Konflikten ist und nicht unbedingt der Beweis einer verwurzelten oder grundlegenden Neigung. Der Unterschied zwischen homosexueller und heterosexueller Orientierung resultiert aus dem unterschiedlichen Ausmaß von Ängsten und deren Auswirkung auf die Entwicklung. Ferenczi hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass homosexuelle Männer ihre Heterosexualität zum »Schutz« ihrer Homosexualität übertreiben.2 Ich werde versuchen zu zeigen, dass Frauen, die nach Männlichkeit streben, zuweilen eine Maske der Weiblichkeit aufsetzen, um die Angst und die Vergeltung, die sie von Männern befürchten, abzuwenden. Meine Aufmerksamkeit gilt hier vor allem einem besonderen Typ von intellektueller Frau. Vor noch nicht allzu langer Zeit wurden geistig auspruchsvolle Frauenberufe fast immer mit einem offenkundig maskulinen Typ von Frau in Verbindung gebracht, die in besonders ausgeprägten Fällen kein Geheimnis aus ihrem Wunsch oder Anspruch, ein Mann zu sein, machten. Dies hat sich jetzt geändert. Es wäre bei all den Frauen, die heute einen Beruf ausüben, schwer zu sagen, ob die Mehrzahl eher weiblich als männlich in punkto Lebensweise und Charakter ist. An der Universität, in wissenschaftlichen Berufen und im Geschäftsleben trifft man beständig auf

Frauen, die alle Kriterien einer vollendeten weiblichen Entwicklung zu erfüllen scheinen. Sie sind ausgezeichnete Ehefrauen und Mütter und fähige Hausfrauen; sie pflegen ihr Gesellschaftsleben und nehmen am kulturellen Leben teil; es fehlt ihnen nicht an weiblichen Interessen, zum Beispiel in Bezug auf ihre Erscheinung, und wenn es darauf ankommt, können sie noch die Zeit finden, die Rolle des treusorgenden und selbstlosen Mutterersatzes in einem großen Kreis von Verwandten und Freunden zu übernehmen. Gleichzeitig kommen sie ihren beruflichen Pflichten mindestens ebenso gut nach wie der Durchschnittsmann. Es ist rätselhaft, wie man diesen Typ psychologisch einordnen soll. Vor einiger Zeit habe ich im Verlauf der Ana­ lyse einer solchen Frau ein paar interessante Entdeckungen gemacht. Die Frau stimmte fast in jeder Einzelheit mit der eben gegebenen Beschreibung überein. Ihre ausgezeichnete Beziehung zu ihrem Mann zeigte sich in der sehr innigen Zuneigung zwischen den beiden und dem vollkommenen und häufigen Erleben sexueller Lust. Sie war stolz auf ihre hausfraulichen Fähigkeiten; sie war ihrem Beruf ihr ganzes Leben lang mit ausgesprochenem Erfolg nachgegangen; sie hatte einen hohen Grad an Realitätsanpassung, und es gelang ihr, mit fast jedem, mit dem sie in Kontakt kam, gute und angemessene Beziehungen aufrechtzuerhalten. Gewisse Reaktionen in ihrem Leben zeigten jedoch, dass ihre Stabilität nicht so vollkommen war, wie es den Anschein hatte; eine dieser Reaktionen wird zur Veranschaulichung meines Themas dienen. Sie war Amerikanerin und ging einer Art propagandistischer Arbeit nach, die hauptsächlich darin bestand, zu schreiben und Vorträge zu halten. Ihr ganzes Leben lang litt sie nach jedem öffentlichen Auftritt wie etwa einer Rede vor einem Publikum unter einer Angst, die manchmal sehr heftig sein konnte. Trotz des Erfolges, den sie unzweifelhaft hatte, und ihrer sowohl geis­ tigen als auch praktischen Befähigung und ihres Talents, mit einer Zuhörerschaft umzugehen und mit Diskussionen zurechtzukommen war sie hinterher immer die ganze Nacht aufgeregt und besorgt, hatte Bedenken, etwas Unangebrachtes getan zu haben, und war besessen von einem Verlangen nach Bestätigung. Dieses Verlangen nach Bestätigung ließ sie jedesmal am Ende der Veranstaltung, an der sie teilgenommen hatte oder bei der sie die Hauptperson gewesen war, zwanghaft um Aufmerksamkeit oder ein Kompliment vonseiten eines oder mehrerer Männer heischen. Und es stellte sich bald heraus, dass die Männer, die sie für diesen Zweck auswählte, immer eindeutig Vaterfiguren waren. Häufig waren es auch Männer, deren Urteil über ihren Vortrag kaum Gewicht hatte. Es war deutlich, dass sie zwei Arten von Bestätigung bei diesen Vaterfiguren suchte: zum einen direkte Bestätigung in Form von Komplimenten für ihre Leistung; zum anderen, und dies ist wichtiger, indirekte Bestätigung in Form von sexueller Beachtung seitens dieser Männer. Grob gesagt,

160 | 161 Joan Riviere. Weiblichkeit als Maskerade

Joan Riviere | Weiblichkeit als Maskerade 1929


so plante sie, sich zu verteidigen, indem sie ihn dazu brachte, sie zu küssen und mit ihr zu schlafen (um ihn dann der Justiz zu übergeben). Aber es gab keine weiteren Anzeichen ihres obsessiven Verhaltens: In einem Traum, dessen Inhalt dieser Kindheitsphantasie ähnelte, war sie allein zu Hause und hatte panische Angst. Dann kam ein Schwarzer herein und fand sie, wie sie dabei war, mit hochgerollten Ärmeln und entblößten Armen Wäsche zu waschen. Sie wehrte sich gegen ihn mit der geheimen Absicht, ihn sexuell zu erregen, und er begann, ihre Arme zu bewundern, ihre Arme und Brüste zu streicheln. Dies bedeutete, dass sie Vater und Mutter getötet hatte und alles für sich hatte (sie war allein zu Hause); dass sie sich vor deren Vergeltung fürchtete (sie erwartete Schüsse durch das Fenster) und sich verteidigte, indem sie eine niedere Tätigkeit ausübte (Wäschewaschen) und sich von Schmutz und Schweiß, Schuld und Blut, von allem, was die Tat ihr eingebracht hatte, reinwusch, indem sie sich »verstellte« und die nunmehr kastrierte Frau spielte. Durch diese Vorstellung fand der Mann kein gestohlenes Gut bei ihr, für dessen Wiedererlangung er sie hätte angreifen müssen, und darüber hinaus fand er sie als Liebesobjekt attraktiv. So zielte ihr zwanghaftes Verhalten nicht allein darauf ab, Bestätigung zu erlangen, indem sie in dem Mann freundliche Gefühle ihr gegenüber weckte; Ziel war hauptsächlich, ihre Sicherheit zu gewährleisten, indem sie sich als schuldlos und rein ausgab. Es war die zwanghafte Umkehrung ihrer intellektuellen Leistung im Vortrag, und beides zusammen formte die »Doppelaktion« einer Zwanghandlung, genau wie sich ihr Leben insgesamt abwechselnd aus männlichen und weiblichen Aktivitäten zusammensetzte. Vor diesem Traum hatte sie von Leuten geträumt, die sich Masken vor das Gesicht zogen, um Unheil abzuwenden. In einem dieser Träume wurde ein hoher Turm auf einem Hügel umgestoßen und fiel auf die Bewohner eines darunterliegenden Dorfes. Aber die Leute zogen Masken über und blieben unverletzt! Weiblichkeit war daher etwas, das sie vortäuschen und wie eine Maske tragen konnte, sowohl um den Besitz von Männlichkeit zu verbergen, als auch um der Vergeltung zu entgehen, die sie nach der Entdeckung erwartete – ähnlich wie ein Dieb, der seine Taschen nach außen kehrt und durchsucht zu werden verlangt, um zu beweisen, dass er die gestohlenen Dinge nicht hat. Der Leser mag sich nun fragen, wie ich Weiblichkeit definiere, und wo ich die Grenze zwischen echter Weiblichkeit und der »Maskerade« ziehe. Ich behaupte gar nicht, dass es diesen Unterschied gibt; ob natürlich oder aufgesetzt, eigentlich handelt es sich um ein und dasselbe. Diese Frau hatte weibliche Eigenschaften – und man könnte sogar sagen, dass diese auch in einer durch und durch homosexuellen Frau vorhanden sind –, aber aufgrund bestimmter Konflikte verlief ihre Entwicklung anders, und die ursprünglichen Anlagen wurden stärker als Mittel der Angstvermeidung genutzt denn als Hauptform sexueller Lust.

162 | 163 Joan Riviere. Weiblichkeit als Maskerade

zeigt die Analyse ihres Verhaltens nach ihren Vorträgen, dass sie versuchte, sexuelle Annäherungsversuche dieses speziellen Typs von Männern herauszufordern, indem sie mit ihnen mehr oder weniger unverhohlen flirtete und kokettierte. Der erstaunliche Gegensatz, den dieses Verhalten zu der höchst unpersönlichen und sachlichen Haltung während ihres Vortrages darstellte, auf den es zeitlich so schnell folgte, war ein Problem. Die Analyse zeigte, dass die ödipale Rivalität mit der Mutter äußerst ausgeprägt war und nie zufriedenstellend gelöst worden war. Ich werde später darauf zurückkommen. Aber neben dem Konflikt mit der Mutter war auch die Rivalität mit dem Vater sehr groß. Ihre intellektuelle Arbeit basierte auf einer offenkundigen Identifikation mit dem Vater, der erst Romane verfasst und sich später dem politischen Leben zugewandt hatte. Ihre Jugend war von der bewussten Revolte gegen ihn, verbunden mit Rivalität und Verachtung, geprägt. Träume und Phantasien dieser Art, in denen der Ehemann kastriert wurde, wurden häufig durch die Analyse aufgedeckt. Sie empfand bewusste Rivalitäts- und Überlegenheitsgefühle gegenüber vielen der »Vaterfiguren«, um deren Gunst sie dann nach ihren Vorträgen warb! Jegliche Anspielung darauf, dass sie ihnen nicht ebenbürtig sein könnte, ärgerte sie furchtbar, und sie wies den Gedanken von sich, ihrem Urteil oder ihrer Kritik unterworfen zu sein. Hierin entsprach sie eindeutig einem Typus, den Ernest Jones skizziert hat: seiner ersten Gruppe homosexueller Frauen, die sich wünschen – auch wenn sie sich nicht für andere Frauen interessieren –, dass ihre Männlichkeit von Männern »anerkannt« wird, und die den Anspruch haben, den Männern gleich zu sein, oder, anders ausgedrückt, selbst Männer zu sein. Sie äußerte ihren Ärger jedoch nicht offen; in der Öffentlichkeit bekannte sie sich zu ihrem Frausein. Durch die Analyse stellte sich dann heraus, dass sich ihr zwanghaftes Flirten und Kokettieren – dessen sie sich tatsächlich kaum bewusst war, bevor es die Analyse offenlegte – folgendermaßen erklärte: Es war der unbewusste Versuch, sich gegen die Angst zur Wehr zu setzen, die sich einstellte, weil sie nach der intellektuellen Leistung ihres Vortrags Vergeltungsmaßnahmen vonseiten der Vaterfigur befürchtete. Die öffentliche Zurschaustellung ihrer geistigen Fähigkeiten, die sie an sich erfolgreich durchführte, bedeutete, dass sie sich selbst als im Besitz des Penis ihres Vaters zur Schau stellte, nachdem sie ihn kastriert hatte. Sobald die Vorführung vorüber war, wurde sie von einer furchtbaren Angst vor der Vergeltung, die ihr Vater üben würde, erfasst. Offensichtlich war das Bestreben, sich ihm sexuell hinzugeben, ein Versuch, den Rachesuchenden zu besänftigen. Diese Phantasie, so stellte sich heraus, hatte sie in ihrer Kindheit und Jugend, die sie in den amerikanischen Südstaaten verbracht hatte, sehr häufig heimgesucht. Wenn ein Schwarzer sie angreifen sollte,


so plante sie, sich zu verteidigen, indem sie ihn dazu brachte, sie zu küssen und mit ihr zu schlafen (um ihn dann der Justiz zu übergeben). Aber es gab keine weiteren Anzeichen ihres obsessiven Verhaltens: In einem Traum, dessen Inhalt dieser Kindheitsphantasie ähnelte, war sie allein zu Hause und hatte panische Angst. Dann kam ein Schwarzer herein und fand sie, wie sie dabei war, mit hochgerollten Ärmeln und entblößten Armen Wäsche zu waschen. Sie wehrte sich gegen ihn mit der geheimen Absicht, ihn sexuell zu erregen, und er begann, ihre Arme zu bewundern, ihre Arme und Brüste zu streicheln. Dies bedeutete, dass sie Vater und Mutter getötet hatte und alles für sich hatte (sie war allein zu Hause); dass sie sich vor deren Vergeltung fürchtete (sie erwartete Schüsse durch das Fenster) und sich verteidigte, indem sie eine niedere Tätigkeit ausübte (Wäschewaschen) und sich von Schmutz und Schweiß, Schuld und Blut, von allem, was die Tat ihr eingebracht hatte, reinwusch, indem sie sich »verstellte« und die nunmehr kastrierte Frau spielte. Durch diese Vorstellung fand der Mann kein gestohlenes Gut bei ihr, für dessen Wiedererlangung er sie hätte angreifen müssen, und darüber hinaus fand er sie als Liebesobjekt attraktiv. So zielte ihr zwanghaftes Verhalten nicht allein darauf ab, Bestätigung zu erlangen, indem sie in dem Mann freundliche Gefühle ihr gegenüber weckte; Ziel war hauptsächlich, ihre Sicherheit zu gewährleisten, indem sie sich als schuldlos und rein ausgab. Es war die zwanghafte Umkehrung ihrer intellektuellen Leistung im Vortrag, und beides zusammen formte die »Doppelaktion« einer Zwanghandlung, genau wie sich ihr Leben insgesamt abwechselnd aus männlichen und weiblichen Aktivitäten zusammensetzte. Vor diesem Traum hatte sie von Leuten geträumt, die sich Masken vor das Gesicht zogen, um Unheil abzuwenden. In einem dieser Träume wurde ein hoher Turm auf einem Hügel umgestoßen und fiel auf die Bewohner eines darunterliegenden Dorfes. Aber die Leute zogen Masken über und blieben unverletzt! Weiblichkeit war daher etwas, das sie vortäuschen und wie eine Maske tragen konnte, sowohl um den Besitz von Männlichkeit zu verbergen, als auch um der Vergeltung zu entgehen, die sie nach der Entdeckung erwartete – ähnlich wie ein Dieb, der seine Taschen nach außen kehrt und durchsucht zu werden verlangt, um zu beweisen, dass er die gestohlenen Dinge nicht hat. Der Leser mag sich nun fragen, wie ich Weiblichkeit definiere, und wo ich die Grenze zwischen echter Weiblichkeit und der »Maskerade« ziehe. Ich behaupte gar nicht, dass es diesen Unterschied gibt; ob natürlich oder aufgesetzt, eigentlich handelt es sich um ein und dasselbe. Diese Frau hatte weibliche Eigenschaften – und man könnte sogar sagen, dass diese auch in einer durch und durch homosexuellen Frau vorhanden sind –, aber aufgrund bestimmter Konflikte verlief ihre Entwicklung anders, und die ursprünglichen Anlagen wurden stärker als Mittel der Angstvermeidung genutzt denn als Hauptform sexueller Lust.

162 | 163 Joan Riviere. Weiblichkeit als Maskerade

zeigt die Analyse ihres Verhaltens nach ihren Vorträgen, dass sie versuchte, sexuelle Annäherungsversuche dieses speziellen Typs von Männern herauszufordern, indem sie mit ihnen mehr oder weniger unverhohlen flirtete und kokettierte. Der erstaunliche Gegensatz, den dieses Verhalten zu der höchst unpersönlichen und sachlichen Haltung während ihres Vortrages darstellte, auf den es zeitlich so schnell folgte, war ein Problem. Die Analyse zeigte, dass die ödipale Rivalität mit der Mutter äußerst ausgeprägt war und nie zufriedenstellend gelöst worden war. Ich werde später darauf zurückkommen. Aber neben dem Konflikt mit der Mutter war auch die Rivalität mit dem Vater sehr groß. Ihre intellektuelle Arbeit basierte auf einer offenkundigen Identifikation mit dem Vater, der erst Romane verfasst und sich später dem politischen Leben zugewandt hatte. Ihre Jugend war von der bewussten Revolte gegen ihn, verbunden mit Rivalität und Verachtung, geprägt. Träume und Phantasien dieser Art, in denen der Ehemann kastriert wurde, wurden häufig durch die Analyse aufgedeckt. Sie empfand bewusste Rivalitäts- und Überlegenheitsgefühle gegenüber vielen der »Vaterfiguren«, um deren Gunst sie dann nach ihren Vorträgen warb! Jegliche Anspielung darauf, dass sie ihnen nicht ebenbürtig sein könnte, ärgerte sie furchtbar, und sie wies den Gedanken von sich, ihrem Urteil oder ihrer Kritik unterworfen zu sein. Hierin entsprach sie eindeutig einem Typus, den Ernest Jones skizziert hat: seiner ersten Gruppe homosexueller Frauen, die sich wünschen – auch wenn sie sich nicht für andere Frauen interessieren –, dass ihre Männlichkeit von Männern »anerkannt« wird, und die den Anspruch haben, den Männern gleich zu sein, oder, anders ausgedrückt, selbst Männer zu sein. Sie äußerte ihren Ärger jedoch nicht offen; in der Öffentlichkeit bekannte sie sich zu ihrem Frausein. Durch die Analyse stellte sich dann heraus, dass sich ihr zwanghaftes Flirten und Kokettieren – dessen sie sich tatsächlich kaum bewusst war, bevor es die Analyse offenlegte – folgendermaßen erklärte: Es war der unbewusste Versuch, sich gegen die Angst zur Wehr zu setzen, die sich einstellte, weil sie nach der intellektuellen Leistung ihres Vortrags Vergeltungsmaßnahmen vonseiten der Vaterfigur befürchtete. Die öffentliche Zurschaustellung ihrer geistigen Fähigkeiten, die sie an sich erfolgreich durchführte, bedeutete, dass sie sich selbst als im Besitz des Penis ihres Vaters zur Schau stellte, nachdem sie ihn kastriert hatte. Sobald die Vorführung vorüber war, wurde sie von einer furchtbaren Angst vor der Vergeltung, die ihr Vater üben würde, erfasst. Offensichtlich war das Bestreben, sich ihm sexuell hinzugeben, ein Versuch, den Rachesuchenden zu besänftigen. Diese Phantasie, so stellte sich heraus, hatte sie in ihrer Kindheit und Jugend, die sie in den amerikanischen Südstaaten verbracht hatte, sehr häufig heimgesucht. Wenn ein Schwarzer sie angreifen sollte,


Dank

Personenregister

Ferenczi, Sándor 160

Die Herausgeberin dankt dem Team von orange-press, vor allem Undine Löhfelm und Jelena Kleißler für ihre groß­

Abramovic , ´ Marina 115

Foucault, Michel 110, 173, 179, 181f, 216

artige Unterstützung in allen Phasen des Projekts. Allerbesten Dank für die gute Zeit und den Spaß in Berlin an

Agamben, Giorgio 145

Fourier, Charles 69

meine Berliner_innen Doris Sprengel mit Peter, Rosi und Eliza, Katharina Wallisch, Nina Dick, Sandra Wrampel­

Angerer, Marie-Louise 152

Francueil, Lucile Dupin de 148

mayer sowie an Tim Stüttgen für seine inspirierende Motivation und an Josephine Pryde und Sabeth Buchmann

Annunzio, Gabriele d‘ 216

Freud, Sigmund 149f, 216

für die Möglichkeit, ein Berlin-Semester einzulegen. Ein spezieller Dank geht an die Schwestern Brüll und die

Araujo, Gwen 197, 208

Goldman, Emma 27f, 57, 214

liebe Familie: Gerda, Hubert, Moni, Karin, Raumschiff Fredl Engelmayr, Keke, Bruna und ganz besonders an

Athey, Ron 189

Gouges, Olympe de 21f, 32, 214

Andreas Skatman Rumpfhuber. Das Buch ist für Keke.

Bacon, Francis 69

Guerrilla Girls 30f, 214

Barthes, Roland 78

Gustav 215

Bashkirtseff, Marie 52

Hammerl, Elfriede 7, 215

Beauvoir, Simone de 21, 32, 76, 214

Hannah, Kathleen 215

Benglis, Lynda 115

Haraway, Donna 77, 153f, 183, 191, 215

Benjamin, Walter 144

Hardt, Michael 143

Bikini Kill 77, 106, 215

Harper Cooley, Winnifred 28

Boudry, Pauline 32, 65, 215

Höch, Hannah 151

Bradley Lane, Mary. E. 70

Horney, Karen 165

Braidotti, Rosi 213, 214

Houellebecq, Michel 136

Brontë, Charlotte 148

Huan, Zhang 189

Burgoyne Corbet, Elizabeth 70

Huxley, Aldous 69

Butler, Judith 13, 143f, 152, 182f, 195, 214, 216

Jackson, Peter 130

Cahun, Claude 148f, 159, 214

Jameson, Frederic 179

Die Herausgeberin Gudrun Ankele, Jahrgang 1973, ist Kunsthistorikerin und arbeitet als Kuratorin sowie als Dozentin für Gender Studies (Akademie der Bildenden Künste Wien, Universität der Künste in Berlin, Karl-Franzens-Universität in Graz). Sie promovierte über radikale feministische Manifeste als Provokation des Politischen. Mit ihren beiden Schwestern startete sie 2001 die Künstlerinnengruppe »Schwestern Brüll«, mit der sie diverse selbstermächtigte Kunst-, Musikund Medienprojekte realisierte (www.schwesternbruell.org).

Cixous, Hélène 74f

Jones, Ernest 160, 162, 168f, 216

Cravan, Arthur 215

King Kong 130f

Darrieussecq, Marie 135

Klein, Hilary 174

Darwin, Charles 150

Klein, Melanie 166, 216

Davis, Emily 33, 71

Kowalewskaja, Sonja 52

Denton Cridge, Annie 70

Krafft-Ebing, Richard von 112

Derrida, Jacques 144, 182, 184, 216

Lafargue, Paul 25, 27

Descartes, René 23

Lauretis, Teresa de 142

Despentes, Virginie 132, 215. 219

Lincoln, Abraham 26

Deutsch, Helene 169

Lorde, Audre 115f, 215

Dodge, Mabel 28, 215

Lorenz, Renate 32, 215

Dohnal, Johanna 7

Loy, Mina 28f, 113, 215

Druskowitz, Helene 70ff, 148, 214

Lyon, Janet 78

Duse, Eleonore 52

Mach, Ernst 150

Dwork, Andrea 116

MacKinnon, Catherine 116

Einstein, Albert 150

Madeleine, Bubu De La 142

Export, Valie 29ff, 214

Malherbe, Suzanne 148, 214

Fanon, Frantz 204f

Marholm, Laura 52f

220 | 221 Dank, Herausgeberin, Personenregister

Flanagan, Bob 189


Dank

Personenregister

Ferenczi, Sándor 160

Die Herausgeberin dankt dem Team von orange-press, vor allem Undine Löhfelm und Jelena Kleißler für ihre groß­

Abramovic , ´ Marina 115

Foucault, Michel 110, 173, 179, 181f, 216

artige Unterstützung in allen Phasen des Projekts. Allerbesten Dank für die gute Zeit und den Spaß in Berlin an

Agamben, Giorgio 145

Fourier, Charles 69

meine Berliner_innen Doris Sprengel mit Peter, Rosi und Eliza, Katharina Wallisch, Nina Dick, Sandra Wrampel­

Angerer, Marie-Louise 152

Francueil, Lucile Dupin de 148

mayer sowie an Tim Stüttgen für seine inspirierende Motivation und an Josephine Pryde und Sabeth Buchmann

Annunzio, Gabriele d‘ 216

Freud, Sigmund 149f, 216

für die Möglichkeit, ein Berlin-Semester einzulegen. Ein spezieller Dank geht an die Schwestern Brüll und die

Araujo, Gwen 197, 208

Goldman, Emma 27f, 57, 214

liebe Familie: Gerda, Hubert, Moni, Karin, Raumschiff Fredl Engelmayr, Keke, Bruna und ganz besonders an

Athey, Ron 189

Gouges, Olympe de 21f, 32, 214

Andreas Skatman Rumpfhuber. Das Buch ist für Keke.

Bacon, Francis 69

Guerrilla Girls 30f, 214

Barthes, Roland 78

Gustav 215

Bashkirtseff, Marie 52

Hammerl, Elfriede 7, 215

Beauvoir, Simone de 21, 32, 76, 214

Hannah, Kathleen 215

Benglis, Lynda 115

Haraway, Donna 77, 153f, 183, 191, 215

Benjamin, Walter 144

Hardt, Michael 143

Bikini Kill 77, 106, 215

Harper Cooley, Winnifred 28

Boudry, Pauline 32, 65, 215

Höch, Hannah 151

Bradley Lane, Mary. E. 70

Horney, Karen 165

Braidotti, Rosi 213, 214

Houellebecq, Michel 136

Brontë, Charlotte 148

Huan, Zhang 189

Burgoyne Corbet, Elizabeth 70

Huxley, Aldous 69

Butler, Judith 13, 143f, 152, 182f, 195, 214, 216

Jackson, Peter 130

Cahun, Claude 148f, 159, 214

Jameson, Frederic 179

Die Herausgeberin Gudrun Ankele, Jahrgang 1973, ist Kunsthistorikerin und arbeitet als Kuratorin sowie als Dozentin für Gender Studies (Akademie der Bildenden Künste Wien, Universität der Künste in Berlin, Karl-Franzens-Universität in Graz). Sie promovierte über radikale feministische Manifeste als Provokation des Politischen. Mit ihren beiden Schwestern startete sie 2001 die Künstlerinnengruppe »Schwestern Brüll«, mit der sie diverse selbstermächtigte Kunst-, Musikund Medienprojekte realisierte (www.schwesternbruell.org).

Cixous, Hélène 74f

Jones, Ernest 160, 162, 168f, 216

Cravan, Arthur 215

King Kong 130f

Darrieussecq, Marie 135

Klein, Hilary 174

Darwin, Charles 150

Klein, Melanie 166, 216

Davis, Emily 33, 71

Kowalewskaja, Sonja 52

Denton Cridge, Annie 70

Krafft-Ebing, Richard von 112

Derrida, Jacques 144, 182, 184, 216

Lafargue, Paul 25, 27

Descartes, René 23

Lauretis, Teresa de 142

Despentes, Virginie 132, 215. 219

Lincoln, Abraham 26

Deutsch, Helene 169

Lorde, Audre 115f, 215

Dodge, Mabel 28, 215

Lorenz, Renate 32, 215

Dohnal, Johanna 7

Loy, Mina 28f, 113, 215

Druskowitz, Helene 70ff, 148, 214

Lyon, Janet 78

Duse, Eleonore 52

Mach, Ernst 150

Dwork, Andrea 116

MacKinnon, Catherine 116

Einstein, Albert 150

Madeleine, Bubu De La 142

Export, Valie 29ff, 214

Malherbe, Suzanne 148, 214

Fanon, Frantz 204f

Marholm, Laura 52f

220 | 221 Dank, Herausgeberin, Personenregister

Flanagan, Bob 189


Marinetti, Filippo Tommaso 113

Schwob, Lucy 148, 214

Mayreder, Rosa 148

Scott, Joan Wallach 152

Merville, M. de 44

Sedgwick, Eve 144

Mesquita, Sushila 7, 215

Shephard, Mathew 197

Michalitsch, Gabriele 7, 215

Solanas, Valerie 32, 73f, 216

Mitscherlich, Margarete 156

Sprinkle, Annie 116f, 216

Money, John 151

Staël, Madame de 48

Monroe, Marilyn 137

Stein, Gertrude 214, 215

Montand, Yves 137

Stephens, Elizabeth M. 216

Moore, Marcel 148, 214

Stüttgen, Tim 116f, 216

Morus, Thomas 69

Suttner, Bertha von 148

Musil, Robert 150

Swift, Jonathan 69

Mustafa, Fakir 189

Teena, Brandon 197

Negri, Toni 143

Truth, Sojourner 26f, 216

Nietzsche, Friedrich 92

Tzara, Tristan 151

Nobécourt, Lorette 135

Verloo, Mieke 153

Nothomb, Amélie 135

Virno, Paolo 143

Obama, Michelle 26

Voltaire 24

Orwell, George 69

Warhol, Andy 74, 216

Pane, Gina 115

Waters, John 152

Pankhurst, Emmeline 71f

Weininger, Otto 112f

Perkins Gilman, Charlotte 70

Wells, H. G. 69

Pizan, Christine de 68f, 216

Wilke, Hannah 115

Plato 91

Wittig, Monique 74f, 182, 217

Preciado, Beatriz 117f, 144, 154, 216

Wynter, Sylvia 205

Radó 170

Zetkin, Clara 72

Reibrach, Jean 54 Renoir, Auguste 136 Riviere, Joan 149, 216 Roche, Charlotte 10 Roten, Iris von 17 Rubin, Gayle 151 Saint-Point, Valentine de 113, 216 Sand, George 51, 148 Sappho 68 Sarachild, Kathie 73 Schmidt-Gleim, Meike 154 Schneemann, Carolee 115 Schopenhauer, Arthur 91 Schwarzer, Alice 10, 17, 114ff, 162f, 204f

Bisher erschienen


Marinetti, Filippo Tommaso 113

Schwob, Lucy 148, 214

Mayreder, Rosa 148

Scott, Joan Wallach 152

Merville, M. de 44

Sedgwick, Eve 144

Mesquita, Sushila 7, 215

Shephard, Mathew 197

Michalitsch, Gabriele 7, 215

Solanas, Valerie 32, 73f, 216

Mitscherlich, Margarete 156

Sprinkle, Annie 116f, 216

Money, John 151

Staël, Madame de 48

Monroe, Marilyn 137

Stein, Gertrude 214, 215

Montand, Yves 137

Stephens, Elizabeth M. 216

Moore, Marcel 148, 214

Stüttgen, Tim 116f, 216

Morus, Thomas 69

Suttner, Bertha von 148

Musil, Robert 150

Swift, Jonathan 69

Mustafa, Fakir 189

Teena, Brandon 197

Negri, Toni 143

Truth, Sojourner 26f, 216

Nietzsche, Friedrich 92

Tzara, Tristan 151

Nobécourt, Lorette 135

Verloo, Mieke 153

Nothomb, Amélie 135

Virno, Paolo 143

Obama, Michelle 26

Voltaire 24

Orwell, George 69

Warhol, Andy 74, 216

Pane, Gina 115

Waters, John 152

Pankhurst, Emmeline 71f

Weininger, Otto 112f

Perkins Gilman, Charlotte 70

Wells, H. G. 69

Pizan, Christine de 68f, 216

Wilke, Hannah 115

Plato 91

Wittig, Monique 74f, 182, 217

Preciado, Beatriz 117f, 144, 154, 216

Wynter, Sylvia 205

Radó 170

Zetkin, Clara 72

Reibrach, Jean 54 Renoir, Auguste 136 Riviere, Joan 149, 216 Roche, Charlotte 10 Roten, Iris von 17 Rubin, Gayle 151 Saint-Point, Valentine de 113, 216 Sand, George 51, 148 Sappho 68 Sarachild, Kathie 73 Schmidt-Gleim, Meike 154 Schneemann, Carolee 115 Schopenhauer, Arthur 91 Schwarzer, Alice 10, 17, 114ff, 162f, 204f

Bisher erschienen


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