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Kalle Lasn |||| Culture Jamming |||||||| Das Manifest der Anti-Werbung


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Kalle Lasn: Culture Jamming – Das Manifest der Anti-Werbung Deutsche Erstausgabe. Gemeinsam von Autor und Verlag aktualisierte und erweiterte Übersetzung der englischsprachigen Originalausgabe: Culture Jam, © 1999 by Kalle Lasn, all rights reserved.

© derdeutschen Ausgabe 2005 bei orange-press GmbH, alle Rechte vorbehalten. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Tin Man. Dritte, korrigierte Auflage 2008. Covergestaltung Annette Schneider unter Verwendung einer Grafik von Lukas Meier und des Adbusters Magazine. Mit freundlicher Genehmigung von Lukas Meier, Grafiker und Illustrator aus Zug (CH) und der Adbusters Media Foundation, Vancouver, Canada. Gesamtgestaltung: Annette Schneider (design-bahnhof.de) Druck und Bindung: Europrinting S.p.A., Mailand Die im Text angegebenen URLs verweisen auf Websites im Internet. Der Verlag ist nicht verantwortlich für die dort verfügbaren Inhalte, auch nicht für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität der Informationen. ISBN-13: 978-3-936086-22-2 orange-press.com


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Für meine geliebte Mutter, Leida Lasn, und für Masako Lasn, meine Partnerin im Leben. Für meine Lehrer Kristjan Lasn, Fritz Schumacher, Marshall McLuhan, Guy Debord. Für meine Freunde Ron Coxhead, Bill Schmalz, Geoff Rogers, Hideo Iso, Doug Tompkins, Tadao und Hanae Tominaga. Und für meinen Todfeind Philip Morris Inc., den ich, das schwöre ich, erledigen werde.

An diesem Buch schrieb ich zwei Jahre, in enger Zusammenarbeit mit meinem Freund Bruce Grierson. Ohne seine Ausdauer und seinen magischen Umgang mit Sprache hätte es nie das Licht der Welt erblickt. Gegen Ende mischte James MacKinnon das Ganze mit seinen unzähligen Ideen noch mal kräftig auf. Ingrid Richardson und Katherine Dodds waren meine Philosophie-Gurus. Ryan Bigge und Paul Shoebridge hielten das Projekt in der Spur. Alan Casey, Cat Simril, Charles Dobson, Sid Tafler, Jurgen Hesse, Jonathan Priddle, John Mraz, Kyle Frederiksen, Hilary Keever und Jordan Reeves übten Kritik an den verschiedenen Fassungen. Joann Davis strich alle Schimpfwörter raus.


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Herbst || || ||||| 17 Gefühlsverstimmung ||| |||| 19 Ökologie des Geistes || | || 23 Medienviren | ||| | 43 Der Konsument als Manchurian Candidate Posthuman ||| | | 55

Inhalt

Einleitung: Was ist Culture Jamming? |||| || 9

||| ||| | 50

Winter | ||| ||||| 61 Deine Sekte | || | 63 Das Ende des amerikanischen Traums ||| ||| | 69 Die inoffizielle Geschichte von America TM | || |||| 73 Deine Konzernbindung || ||| ||| 82 Die globale ökonomische Pyramide ||| ||| | 91 Frühling |||| || ||||| 105 Der revolutionäre Impuls ||| || || 107 Neuer Aktivismus (Feuer im Bauch) ||| |||| 118 Krieg der Meme | |||| 129 Mem-Krieger ||| ||| | 132 Sommer || |||| |||| | 141 Wut |||| 143 Die zweite amerikanische Revolution || | || ||| 147 (Ein Workshop in Durchsetzungskraft für Culture Jammer) Ausgangssperre für Konzerne ||| | ||| 158 Demarketing-Loops ||| |||| || 164 Medien-Charta | || |||| 181 Eine neue Definition von Fortschritt ||| |||| 193 Epilog: Der Moment der Wahrheit || | ||| 201 Anmerkungen, Nachweise || | ||| 206 Personenregister ||| |||||| 223


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Einleitung: Was ist Culture Jamming?

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Das Buch, das Sie in der Hand halten, hat eine Mission, der Sie zunächst einmal instinktiv misstrauen werden. Die Botschaft lautet: Wir können die Welt verändern. Ein gewagtes Versprechen in unserer Zeit, denn es klingt wie ein sinnloser Werbeslogan, wie eine Plattitüde aus dem »Weck den Tiger in dir!«-Regal. »Wenn du es träumst, kannst du es auch erreichen.« »Die Tausend-Meilen-Strecke beginnt mit einem einzigen Schritt.« Und so weiter. Aber es ist wahr. Wir meinen es ernst. Wir nennen uns Culture Jammer. Wir sind ein loses globales Netzwerk von Medienaktivisten, und wir verstehen uns als avantgardistische Pioniere der bedeutendsten sozialen Bewegung der kommenden zwanzig Jahre. Unser Ziel ist es, existierende Machtstrukturen zum Einsturz zu bringen und unser Leben im 21. Jahrhundert grundlegend zu verändern. Wir sind überzeugt, dass Culture Jamming für unsere Ära so etwas werden kann wie die Bürgerrechtsbewegung in den USA für die 60er, wie der Feminismus für die 70er und die Umweltbewegung für die 80er Jahre. Culture Jamming wird unser Denken und unsere Lebensgewohnheiten verändern. Es wird die Kanalisierung von Informationen verändern, die Form, wie Institutionen Macht ausüben, wie Fernsehstationen funktionieren, wie Nahrungs-, Mode-, Automobil-, Sport-, Musik- und Kulturindustrien ihre Ziele definieren. Aber vor allem wird Culture Jamming unsere Interaktion mit den Massenmedien verändern und die Prozesse, in denen unsere Gesellschaften Bedeutung produzieren. Wir sind ein bunter Haufen wiedergeborener Linker, grüner Unternehmer, fundamentaler Christen (denen es nicht passt, was das Fernsehen aus ihren Kindern macht), punkiger Anarchos, Profs, Kommunikationswissenschaftler und Werbemanager auf der Suche nach einer neuen Rolle im Leben. Einige von uns blicken auf ein langes politisches Engagement zurück, aber den meisten ging irgendwann der Atem aus. Der Feminismus hatte keinen Schwung mehr, die Umweltbewegung verschwand in der Schublade, und die Jugendrebellion wurde immer mehr zu einer leeren Geste, die sich ihre


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Inspiration von Nike vorgeben ließ. Wir waren drauf und dran zu verlieren. Aber dann haben wir, all diese unterschiedlichen Aktivisten, uns zusammengetan, um die auseinander fallenden Kräfte wieder zusammenzusetzen zu einer neuen, mächtigen Bewegung, um so wieder auf die Siegerseite zu gelangen. Genau genommen suchten wir gar nicht danach. Vielmehr erlebte jeder sein eigenes politisches Erwachen, eine Reihe sehr persönlicher Momente der Wahrheit in Bezug auf das eigene Leben und das Funktionieren der Welt. Einige meiner Erkenntnisse der letzten Jahre möchte ich kurz erwähnen. Amerika ist kein Land mehr. Es ist eine Multimilliarden-DollarMarke. America TM unterscheidet sich nicht grundlegend von McDonald’s, Marlboro oder General Motors. Amerika ist ein Image, das nicht nur den Bürgern der USA »verkauft« wird, sondern Verbrauchern in der ganzen Welt. Die Marke Amerika ist verbunden mit Schlagworten wie »Demokratie«, »unbegrenzte Möglichkeiten« und »Freiheit«. Aber nicht anders als Zigaretten, die als Symbole von Vitalität und jugendlicher Rebellion angepriesen werden, unterscheidet sich auch die Realität Amerikas ganz erheblich von ihrem Markenimage. America TM ist von Konzernen unterwandert, und die gewählten Vertreter beugen sich ihrer Macht, sonst könnten sie in ihrem Amt nicht überleben. Ein kollektives Gefühl der Machtlosigkeit und der Desillusionierung hat sich breit gemacht. Viele fühlen sich verraten. Amerikanische Kultur wird nicht mehr von Menschen geschaffen. Geschichten, die früher von einer Generation an die nächste weitergegeben wurden, von Eltern, Lehrern oder Nachbarn, werden heute von Konzernen erzählt, die etwas »zu sagen und zu verkaufen haben«. Marken, Produkte, Moden, Stars, Unterhaltung – Spektakel, die entfernt zur Produktion der Kultur gehörten, sind heute unsere Kultur. Unser Part erschöpft sich darin, zuzusehen und zuzuhören – um anschließend richtig shoppen zu gehen. Ein freies und authentisches Leben ist in America TM nicht mehr möglich. Wir werden aufs Heimtückischste manipuliert. Unsere


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Empfindungen, unsere Persönlichkeit und unsere innersten Werte werden von Medien und kulturellen Mächten belagert, die so komplex sind, dass wir sie nicht dekodieren können. Unausgesetzte Produktbotschaften haben sich in die Textur unserer Existenz eingewoben. Die meisten Nordamerikaner leben heute ein programmiertes Leben: Schlafen, Essen, im Auto sitzen, Arbeiten, Einkaufen, Fernsehen, Schlafen. Ich glaube kaum, dass es in diesem Kreislauf mehr als fünf freie, spontane Minuten gibt. Wir sind selbst zu Marken geworden. Der Geist der Widerspenstigkeit und leidenschaftlichen Unabhängigkeit ist irgendwie lahm geworden. Wir haben uns zu einer Kultur der Smile-Buttons entwickelt. Wir tragen modische Klamotten, fahren die dicksten Autos und verbreiten ein Bild des Wohlstands – coole Menschen, die ihr Leben voll und ganz auskosten. Aber hinter dieser glücklichen Fassade verbirgt sich ein Gesicht, das so hässlich ist, dass sich Besucher aus den Entwicklungsländern regelrecht zu Tode erschrecken. Sie freuen sich auf die ausgelassenen Amis, die sie aus dem Fernsehen kennen, und lernen stattdessen ein Gruselkabinett aus Haltlosigkeit und Anomie kennen. Unsere Massenmedien verströmen ein huxleysches Soma. Das stärkste Betäubungsmittel der Welt ist das Verlangen dazuzugehören. Und am einfachsten wird dieses Verlangen gestillt, wenn man sich an das hält, was America TM uns vorschreibt. Eine pervertierte Bedeutung von »cool« beherrscht die Phantasie unserer Kinder, und ein stark manipulatives Konzernethos steuert unsere Kultur. »Coolness« ist unverzichtbar – und wird unausgesetzt verströmt. Man kriegt sie an jeder Ecke – für den entsprechenden Preis, versteht sich. Sie macht stark abhängig und die Wirkung hält nicht lange an. Wenn du heute wegen »Coolness« hier auftauchst, bist du morgen schon wieder da und willst mehr. Amerikanische Coolness ist eine globale Pandemie. Communities, Traditionen, das kulturelle Erbe, Souveränität, ganze historische Epochen werden durch eine unfruchtbare amerikanische Monokultur ersetzt. Ich lebte zu einer Zeit in Japan, als das Land seine stärkste Hinwendung zum westlichen »Way of Life« erlebte. Ich war über-


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rascht, mit welcher Geschwindigkeit und Macht sich die Marke Amerika durchsetzte. In nur zwei Generationen war eine Jahrtausende alte Kultur bezwungen, und Schülerinnen gingen für 150 Dollar auf den Strich, um sich amerikanische Jeans und Handtaschen leisten zu können. Die Erde kann den Lifestyle des nach Coolness jagenden amerikanischen Konsumenten nicht länger verkraften. Wir haben zu viel, zu schnell, zu schamlos gekauft, ausgespuckt und verschlungen. Der ökonomische »Fortschritt« bringt den Planeten um. Bis 1989 war mir das nicht ganz bewusst. Aber plötzlich jagte eine Serie alptraumhafter Umweltkatastrophen durch die Nachrichten: saurer Regen, verendende Seehunde in der Nordsee, medizinischer Sondermüll, der an die Küsten New Yorks gespült wurde, Müllkähne, die kein Hafen mehr einlaufen ließ, ein größer werdendes Ozonloch und die Entdeckung, dass die Milch in den Brüsten amerikanischer Mütter um das Vierfache den DDT-Wert überschritt, der für Kuhmilch zulässig war. Die Vision, dass ein ganzer Planet auf seinen Untergang zusteuert, schien plötzlich real. Für Menschen wie mich, denen die Zeit wie ein konstanter und ewig fahrender Zug erscheint, in den die Menschen ein- und 70 Jahre später wieder aussteigen, bedeutete das das Ende der Unschuld. Die Vorboten des Ökozids, eines planetarischen Todes, waren mit einem Mal greifbar, und es machte mir Angst – bis heute. Hat man solche Momente der Erkenntnis erlebt, schlägt das Leben eine ganz neue Entwicklungsrichtung ein. Es ist toll, auch wenn einem zunächst mulmig zumute ist. Ideen werden zu Obsessionen, und der Drang, anders zu leben, nimmt zu, bis er an die Oberfläche kommt. Mich erwischte es auf dem Parkplatz eines Supermarkts. Ich steckte eine Münze in einen Einkaufswagen, als mir plötzlich klar wurde, was für ein Idiot ich war: Ich stecke einen Vierteldollar in einen Wagen, um Woche für Woche Geld in einem Laden auszugeben, den ich hasse; die sterile Filiale einer Handelskette, in der man kaum regionale Produkte findet, und wo ich regelmäßig an der Kasse warten muss, nur um zu zahlen. Und wenn ich mit dem Einkaufen fertig bin, muss ich den Wagen genau an dem Platz


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abstellen, den die Optimierungsexperten des Konzerns ausfindig gemacht haben, muss ihn in die anderen Wagen schieben, anketten und den roten Knopf drücken, nur um den verdammten Vierteldollar wiederzubekommen. Mir brannte die Sicherung durch. Ich hielt inne und sah mich um. Dann kramte ich ein großes Geldstück hervor, das ich schon lange in der Tasche mit mir herumschleppte, »jammte« es mit Wucht in den Münzschlitz und klopfte es mit dem glücklichen Buddha an meinem Schlüsselbund fest, bis es nicht mehr weiter reinging. Ich dachte nicht darüber nach, ob das richtig war – ich ließ meiner Wut einfach freien Lauf. Dann kehrte ich dem Supermarkt den Rücken und ging in den kleinen Obst- und Gemüseladen am Ende der Straße. Ich fühlte mich so lebendig wie seit Monaten nicht mehr. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass ich auf eines der großen Geheimnisse des modernen Stadtlebens gestoßen war: Folge deinen Instinkten, lass die Wut raus. Wenn es plötzlich aus deinem tiefsten Inneren hervorquillt, dann unterdrück es nicht. Kanalisiere es, hab Vertrauen, mach es dir zunutze. Sei nicht immer so gedankenlos zivilisiert. Wenn das System dich in die Mangel nimmt, zieh den Stecker raus. Hat man einmal angefangen, so zu denken und sich entsprechend zu verhalten, hat man einmal verstanden, dass der Konsumkapitalismus falsch ist, und dass es deshalb nicht falsch ist, ihn zu »jammen«, hat man einmal kapiert, dass ziviler Ungehorsam eine lange und ehrenwerte Tradition hat, die bis zu Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Henry David Thoreau zurückreicht, und hat man einmal angefangen, der Welt gegenüber als starkes menschliches Wesen und nicht als arme Konsumentendrohne aufzutreten – dann geschieht etwas Bemerkenswertes: Der Zynismus löst sich in Nichts auf. Wenn Coolness das huxleysche Soma unserer Zeit ist, dann ist der Zynismus seine giftige, lähmende Nebenwirkung: The Darkside of the Cool, der Grund dafür, warum wir so viel Fernsehen glotzen und nicht wählen gehen, weshalb wir in immer neuen öden Jobs landen, die uns nichts bedeuten, weshalb wir uns so oft langweilen und zu pathologischen Shoppern werden. Einen Weg aus dem Zynis-


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mus zu finden bedeutet, einen Weg aus der Malaise der Postmoderne zu finden. Am anderen Ende wartet die Freiheit. Der Situationismus, die französische Geistesströmung, die die Studentenrevolte im Mai 1968 inspirierte, sagte voraus, was mit einer Gesellschaft geschehen würde, die vom Konsumkapitalismus getrieben wird. Die Situationisten ahnten bereits, wie schwer es werden würde, in einer »Gesellschaft des Spektakels«, einer Welt künstlich erzeugter Begierden und manipulierter Emotionen, an seinem Ich festzuhalten. Von Guy Debord, dem Kopf der situationistischen Bewegung, stammt der Satz: »Die Revolution zeigt den Menschen nicht das Leben, sie macht sie lebendig.« Der Instinkt, frei und nicht eingeschränkt zu sein, ist in jedem von uns angelegt. Es ist ein Bedürfnis, so stark wie Sex oder Hunger, eine unwiderstehliche Kraft, die, einmal in Bewegung gesetzt, kaum noch gestoppt werden kann. Mit dieser unwiderstehlichen Kraft an unserer Seite werden wir zuschlagen. Wir werden das postmoderne Spiegelkabinett zertrümmern und selbst bestimmen, was es heißt zu leben. Wir werden die Schlacht grundsätzlich neu definieren. Die alten politischen Gegensätze, die die Menschheit im 20. Jahrhundert beschäftigt haben – schwarz gegen weiß, links gegen rechts, männlich gegen weiblich –, werden in den Hintergrund treten. Die einzige Schlacht, die es lohnt, geschlagen und gewonnen zu werden, die einzige, die uns befreien kann, ist die Schlacht der Menschen gegen die Coolnessmaschine der Konzerne. Wir schlagen zu, indem wir America TM die Marken madig machen, indem wir einen Widerstand organisieren gegen das Machtmonopol, dem die Marke gehört. Nicht anders als Marlboro und Nike hat auch America TM sein Markenzeichen überall hingekleckst. Aber jetzt beginnt der Widerstand dagegen, in einem bisher nicht gekannten Ausmaß. Wir werden die Moden und die Stars von Brand America TM weniger cool machen, ihre Ikonen, Zeichen und Spektakel. Wir werden die Produktion der Bilder »jammen«, bis es eines Tages zu einem abrupten Stillstand kommt. Dann werden wir auf den Ruinen der alten Konsumkultur eine neue Kultur errichten, mit einer nichtkommerziellen Seele.


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Es wird ein riesiges Culture Jamming werden, ein langwieriger Krieg der Kreativität, der Ideologien und Zukunftsvisionen. Vielleicht wird es eine Generation dauern, vielleicht länger, aber wir werden unser Ziel erreichen. Dieses Buch ist eine Anleitung dazu. Culture Jamming kann man sich als Rebranding denken, als eine Strategie, eine Marke umzukodieren, als eine soziale Kampagne der Entmarkierung. Im ersten Teil, »Herbst«, geht es um eine Bilanz des Schadens. Wir beginnen mit einer Reise durch die geistige und seelische Umwelt, die dieselben Frühwarnsignale aussendet wie die physische oder physikalische Umwelt vor 40 Jahren. Welche Bedeutung hat es, wenn unser Leben und unsere Kultur nicht mehr von der Natur geprägt werden, sondern von einer von uns selbst geschaffenen, elektronischen massenmedialen Umwelt? In Teil zwei, »Winter«, spitzt sich das Problem zu. Amerika und der Großteil der Welt schlummern in einer Konsumententrance. Kommerzielle Künstlichkeit betäubt unsere postmoderne Zeit. Lassen sich Spontaneität und Authentizität wiederherstellen? In Teil drei, »Frühling«, erforschen wir Möglichkeiten für diese Wiederbelebung. Hat sich die wilde amerikanische Mentalität zähmen lassen? Ist eine Kultur der Opposition noch denkbar? Können wir noch eine Revolution starten? In Teil vier, »Sommer«, bekommen wir eine Idee davon, was geschehen kann, wenn der revolutionäre amerikanische Funke wieder zündet. Ich hoffe, dass Ihnen dieses Buch eine Pause schenkt. Wo Sie auch sind, was Sie auch tun, ich hoffe, es bietet Ihnen das, was die Situationisten ein Détournement nannten – einen schrillen Perspektivenwechsel in Ihrem Alltag.


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Der revolutionäre Impuls

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Die meisten Menschen haben noch nie von Culture Jamming gehört, dabei handelt es sich keineswegs um eine neue Bewegung. Wir sind Teil eines revolutionären Kontinuums, zu dem die frühe Punkbewegung, die Hippies in den 60ern, eine Gruppe europäischer Intellektueller, die sich die »Situationistische Internationale« nannten (entstanden aus der »Lettristischen Internationale«), Surrealisten, Dadaisten, Anarchisten und eine Reihe weiterer sozialer Bewegungen gehören. Außer einer streitlustigen Einstellung gegenüber Autoritäten verbindet uns die Bereitschaft, große Risiken einzugehen und die Energie aufzubringen, um spontane Momente der Erkenntnis zu erzeugen. Gelegenheiten, sich so zu verhalten, wie man es reflexartig gerade nicht tun würde, bieten sich täglich. Inmitten all der geheuchelten Korrektheit, auf der die postmoderne Kultur gedeiht, gilt authentisches Verhalten als auffällig. »In einem kleinen Raum, in dem Menschen eine verschworene Ruhe aufrechterhalten, klingt ein Wort der Wahrheit wie ein Pistolenschuss«, meinte der Nobelpreisträger Czeslaw Milosz. In seinem Buch Lipstick Traces stellt der amerikanische Kulturkritiker Greil Marcus den Sex Pistols-Sänger Johnny Rotten in eine Traditionslinie mit den Propheten der Rebellion. Rotten war ein fröhlicher Anarchist, der im Fernsehen das Wort »Fuck« benutzte und dessen Stimme klang, als werde er sofort die Welt verändern und – sollte ihm das nicht gelingen – zumindest den verträumten, sich im Gefolge der Beatles bewegenden Optimismus jener Tage zusammen mit der ganzen Rockmusik in Stücke hauen. Irgendwie schaffte er es, den oberflächlichen Witz, Kommerz und Hype der Pistols zu überwinden und etwas Lebendiges zu produzieren. Es ist nicht ganz klar, ob Rotten damals etwas von der Situationistischen Internationale wusste, aber die SI und die Pistols funkten definitiv auf derselben philosophischen Wellenlänge. »Anarchy in the U.K.« vermittelte die Ideen der Situationisten zugleich plump und poetisch. Die Pistols wollten nicht als »Objekt, sondern als


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Subjekt der Geschichte« leben, so Greil Marcus. Und das könnte wörtlich das Motto der Culture Jammer sein. Marcus beschreibt, wie Rotten, den Lärm der Gitarren übertönend, vor der Berliner Mauer herumschrie. Plötzlich verstand er, dass es Rottens »Ziel war, seine gesamte Wut, Intelligenz und Kraft in sich zusammenzuballen, um sie der Welt entgegenzuschleudern. Damit die Welt etwas spürte. Damit die Welt etwas von ihren geliebten und nicht hinterfragten Glaubenssätzen aufgab.« Ich denke, Culture Jammer können eine Menge von den ersten Punks lernen. Sie spürten den Nihilismus und wüteten gegen eine Welt, die keine Zukunft bot. Und für ein paar Jahre war ihre Wut auf der ganzen Welt zu hören. Punks, aber auch Hippies, Yippies, Beatniks, Anarchisten, Dadaisten, Surrealisten, Automatisten, Fluxisten und viele andere Visionäre außerhalb des Mainstreams stehen in einer sehr alten Tradition der spontanen Missachtung etablierter Ordnungen. Die Situationisten waren jedoch die Ersten, die diesen anarchistischen Geist auf die moderne Medienkultur übertrugen. Sie erkannten schon früh, dass das Medienspektakel nach und nach die menschliche Psyche zerfrisst, und waren damit in gewisser Weise die ersten postmodernen Revolutionäre. Zu Beginn waren die Situationisten nur acht Künstler und Schriftsteller aus Europa, die sich eines schönen Tages im Juli 1957 in dem kleinen ligurischen Ort Cosio d’Arroscia trafen, um sich mit Gauloises und Absinth die Zeit zu vertreiben. Obwohl die Gruppe nicht lange bestand – in den 70ern war so gut wie alles vergessen –, erzeugte sie einen Drive, der von einer ganzen Generation von Studenten, Künstlern und Radikalen als »das einzig Wahre« empfunden wurde. Die Situationisten verschrieben sich einem Leben permanenter Erneuerung, ihr Interesse galt ausschließlich der Freiheit, und fast alle Mittel und Wege waren erlaubt, um sie durchzusetzen. Die Kreativität der Durchschnittsmenschen, von Konsumkapitalismus und Kommunismus geschwächt, aber nicht ganz ausgelöscht, brauchte dringend neue Ausdrucksmöglichkeiten. Bürokratie, Hierarchie und Ideologie, alles, was die Spontaneität und den freien Willen erstickte, musste beseitigt werden. Um das spontane Leben zu fördern, schlugen sie vor, Kirchen abzureißen und die frei gewordenen


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Plätze den Kindern zum Spielen zu überlassen, oder an Straßenlaternen Schalter anzubringen und so die Helligkeit in den Städten nach Bedarf von den Bürgern regulieren zu lassen. Für die Situationisten ist jeder Mensch ein Schöpfer von Situationen, ein Perfomancekünstler, und die Performance selbst identisch mit dem eigenen Leben. In ihrer Vorstellung kann jeder Mensch im Verlauf eines Tages mehrmals entscheiden, sich so zu verhalten, wie wir das normalerweise tun, nämlich reflexartig und konform, oder etwas Wildes oder gar Gefährliches zu tun. Wir haben es selbst in der Hand, das Leben als »moralische, poetische, erotische und fast spirituelle Verweigerung« gegenüber den Erwartungen der Konsumkultur zu leben. Das moderne Leben bezeichneten die Situationisten als »Spektakel«, ein Begriff, der alles abdeckt, vom Werbeplakat bis zur Kunstausstellung, vom Fußballspiel bis zu Radio und Fernsehen. Ihrem Verständnis nach hat die moderne Gesellschaft in den Bereichen Warenkonsum und Hype ein »spektakuläres« Niveau erreicht. Alles, was Menschen einmal direkt erfahren konnten, hat sich in eine Show verwandelt, die irgendjemand anders aufführt. Das echte Leben wurde durch fix und fertig abgepackte Erfahrungen und von den Medien geschaffene Ereignisse ersetzt. Jetzt gibt es nur noch das Leben als Medienschöpfung, ein Vorgang, den die Situationisten als »Kidnappen« bezeichneten. Ich denke, »Kidnappen« erfasst die starke körperliche Reaktion vieler Menschen darauf, dass Nike den Beatles-Song »Revolution« verwendete, dass Apple sich Bob Dylan aneignete und dass Gap sich posthum Jack Kerouac unter den Nagel riss. Nach einem nostalgischen Halt suchende Yuppies waren vielleicht nicht in der Lage, die richtigen Worte dafür zu finden, aber sie wussten trotzdem, dass man sie eines fundamentalen Teils ihres Lebens beraubt hatte. In Richard Linklaters Film Before Sunrise durchlebt der junge, von Ethan Hawke dargestellte Held eine Existenzkrise. Seine eigene Gesellschaft macht ihn krank. Geht er auf eine Party, ist er schon da. Steigt er in einen Bus, besucht er einen Kurs, immer ist er schon da – er selbst. Seine eigene Identität ist zum Spektakel gewor-


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den. Linklater starrt in den situationistischen Abgrund und schrickt zurück. In Anlehnung an den Situationisten Guy Debord könnte man sagen, dass das Ich, wenn es nur noch ein Stellvertreter ist, gar nicht existiert. Und genau das machen sich die Konzerne zunutze, indem sie die Zielgruppe der »Emulatoren« heftig umwerben. Emulatoren suchen nach Produkten, mit denen sie sich wie jemand anders fühlen können, wie jemand, der wichtiger ist als sie. Da es aber kein Produkt gibt, mit dem man die alte Identität abstreifen kann, wächst die Frustration mit jedem Kauf. Jeder Griff zur Kreditkarte ist eine weitere Umdrehung in der Spirale der Entfremdung. Die Situationisten würden die Emulatoren vielleicht als Beweis für die »Devolution« der Lebensqualität anführen: vom »Sein« zum »Haben« und weiter vom »Haben« zum »scheinbaren Haben«. Debord blieb ein weitgehend unentdeckter Visionär. In jungen Jahren verlacht, gehörte er im Frankreich der 60er fast zum Literaturkanon, geriet dann aber schnell wieder in Vergessenheit. 1994 nahm er sich das Leben. Heute genießt er vor allem in Frankreich einen gewissen Ruhm, hauptsächlich durch die so genannten »Perpendiculaires«, die sich als geistige Erben der Situationisten verstehen. Sie sind der Meinung, dass sich Kultur horizontal (durch salonartige Diskussionen) verbreiten muss und nicht vertikal (durch Internet und Fernsehen). Im Unterschied zu seinem berühmten Zeitgenossen Marshall McLuhan, der den Trancezustand der Massenkultur nur beschrieb, entwickelte Debord effektive Methoden, sich daraus zu befreien. So zum Beispiel die Dérive, was soviel heißt wie Verschiebung, eine Idee, die er sich bei den Dadaisten ausgeborgt hatte. Die Situationisten verstanden darunter ein »zielloses Fortbewegen«. Die Dérivistes ließen sich durch die Stadt treiben, offen für alles, was ihnen begegnete, um sich bewusst dem gesamten Spektrum der Gefühle auszusetzen. Sie übernahmen, was ihnen gefiel, und sie entdeckten dabei, was sie hassten. Die Situationisten glaubten, dass die Dérive die alte Zwillingsbeschäftigung aus Arbeit und Ablenkung größtenteils ersetzen und zu einem Modell für die »spielerische Erzeugung« eines


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neuen Lebensstils werden könnte. Der Dériviste ist ein Drifter im besten Sinne des Wortes, nicht jemand unten oder am Rande, sondern oben und jenseits, jemand, der außerhalb der stickigen Rollen lebt, die die Gesellschaft für uns vorgesehen hat. Gut zu leben ist nach Debord gleichbedeutend mit »der systematischen Hinterfragung aller Zerstreuungen und Arbeiten einer Gesellschaft, mit einer totalen Kritik ihrer Vorstellung vom Glück«. Eine andere Methode der Situationisten war das Détournement, in dem Debord die Möglichkeit erkannte, sich das Spektakel zurückzuerobern, das das Leben gekidnappt hatte. Wörtlich bedeutet Détournement »Umdrehen«, konkret bedeutet es, spektakulären Bildern, Umwelten, Milieus und Events neue Bedeutungen zu geben oder die alten umzukehren und zu unterlaufen – und sie damit zurückzuerobern. Mit ihrem endlosen Repertoire an Ideen – vom Neuschreiben der Sprechblasen in Comics über die Veränderung von Straßenbreiten, Gebäudehöhen, von Formen und Farben von Türen und Fenstern bis zur radikalen Neuinterpretation von Weltereignissen wie den Watts-Unruhen 1965 in Los Angeles – war die Internationale Situationniste, die von 1958 bis 1969 erschienene Zeitschrift der Bewegung, ein teils tief schürfendes, teils absurdes Laboratorium für Provokationen und Détournements. Einmal veränderte Debord eine berühmte Zeichnung von Lenin, indem er ihm eine nackte Frau auf die Stirn montierte und dies mit »Das Universum dreht sich auf spitzen Brüsten« betitelte. Sein Buch Mémoires ließ er in grobem Schmirgelpapier binden, damit es beim Herausnehmen und Wiedereinstellen in den Regalen der öffentlichen Bibliotheken andere Bücher beschädigte. Eine bis heute berühmte Aktion fand am Ostersonntag 1950 in der Kathedrale von Notre Dame statt. Vor Tausenden von Menschen stieg ein als Dominikaner verkleideter lettristischer Provokateur auf die Kanzel und hielt eine Rede, in der er die katholische Kirche bezichtigte, »uns unserer Lebenskraft zu berauben und uns im Gegenzug einen leeren Himmel anzubieten«. Dann fügte er feierlich hinzu, »Gott ist tot«. Mit diesen und anderen Détournements fielen die Situationisten ins Feindesland ein und versuchten, »die Währung des Spek-


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takels zu entwerten«. Und mit dieser Aufsässigkeit planten sie eine Kulturrevolution, »eine gigantische Umwälzung der existierenden sozialen Ordnung«. Die Situationisten vertraten Ansichten, die auf den ersten Blick radikal erscheinen, bei genauerer Betrachtung jedoch Sinn machen. Sie glaubten, dass Ferien – heiß und innig geliebt von der Masse der Bevölkerung, weil sie die geistige Gesundheit erhalten – nur den »Kreislauf von Entfremdung und Herrschaft« stärken und ein Symbol für »die falschen Versprechen des modernen Lebens« sind. Wieso sollte man einem erfüllten Leben entkommen wollen? Neben der Gesellschaft des Spektakels ist das Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen das ergiebigste Werk der situationistischen Bewegung. Darin behauptet Raoul Vaneigem, dass das Alltagsleben der Maßstab aller Dinge ist und die Grundlage jeder Revolution. Aber, so Vaneigem weiter, ein unglückliches, entfremdendes Selbstbewusstsein hat sich in unser Leben eingeschlichen. »Selbst die kleinste Geste wie das Öffnen einer Tür, das Halten einer Tasse Tee, ein Gesichtsausdruck oder die privatesten und individuellsten Dinge wie nach Hause zu kommen, Tee zu machen oder sich mit dem Partner zu streiten, wurden alle schon innerhalb des Spektakels verkörpert und uns dargeboten.« Aus unseren intimsten Gesten sind Stereotypen und aus unseren Leben Klischees geworden. Aber Vaneigem war überzeugt, dass das Spektakel schon bald einen Sättigungsgrad erreichen würde, eine Krise, aus der »eine neue Poesie echter Erfahrung und eine Neuerfindung des Lebens« hervorgehen würden. Heute hat die lähmende Passivität und Entfremdung des Spektakels Ausmaße erreicht, die sich Vaneigem und Debord nicht hätten träumen lassen. Die heimtückische Macht des Spektakels liegt darin begründet, dass es sich um eine Form geistiger Sklaverei handelt, der wir uns widersetzen können – nur dass uns nie der Gedanke kommt, es zu tun. Unsere mediengesättigte postmoderne Welt, in der alle Kommunikation in eine Richtung fließt, von den Mächtigen zu den Ohnmächtigen, bringt eine Bevölkerung von »Lumpenzuschauern« hervor, »moderne Männer und Frauen, Bürger der


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modernsten Gesellschaften der Erde, die begeistert alles anschauen, was ihnen zum Anschauen vorgesetzt wird.« Greil Marcus nennt das die »Demokratie der falschen Wünsche«. Das Spektakel ist ein Instrument der sozialen Kontrolle, das einem die Illusion unendlicher Auswahl vorgaukelt, in Wirklichkeit aber das Spielfeld auf eine Auswahl vorselektierter Erfahrungen reduziert: Abenteuerfilme, Naturberichte, Promi-Klatsch, politische Skandale, Sport, das Surfen durchs Netz … Langeweile ist das größte Feindbild der Situationisten. Ihnen zufolge wird die Welt an vergeudetem Potenzial zugrunde gehen. Die Mechanisierung der Arbeit hätte eigentlich mehr Freizeit ermöglichen sollen, in der die Menschen ihr Leben frei und phantasievoll gestalten können. Stattdessen lassen sie ihre Freizeit von programmierter Unterhaltung verschlingen. Daher lautet der Lösungsvorschlag der Situationisten: Hol dir die Show zurück. Schaffe deine eigenen Atmosphären, Stimmungen und »Situationen«. Schaffe etwas »Provisorisches und Gelebtes«. Mache aus einer berechenbaren Stadt eine Ansammlung emotionaler Bezirke und Quartiere, »bizarre Viertel«, »düstere Viertel«, »tragische«, »glückliche« oder »nützliche Viertel«, in denen sich die Menschen frei bewegen können. Ganz gleich, was man von Guy Debord halten mag – manchen ist er sicher zu idealistisch und radikal –, er lebte das, was er forderte. Er schuf sich ein Leben ohne Spektakel (nur am Ende, krank und von Schmerzen geplagt, inszenierte er sorgfältig seinen Freitod mit einem Schuss ins Herz). Er hatte nie eine feste Arbeit. Er verbrachte seine Zeit in Kneipen mit philosophischen Gesprächen, mit Trinken und Schreiben. Interviews lehnte er konsequent ab, sein Werk besteht nur aus sechs dünnen Bändchen. »Ich habe viel weniger geschrieben als die meisten Autoren, aber mehr getrunken als die meisten Trinker«, soll er einmal gesagt haben. Sein Leben war tatsächlich ein ewiges Fest. Er glaubte fest an seinen Plan und den seiner Freunde, und er prahlte damit: »Wir sind die Ersten, die einen Weg in ein neues Leben bahnen.« Die Situationisten waren zügellos und anarchistisch, Kantonisten des poetischen Ausdrucks, und standen irgendwie außer-


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halb der Zeit. Sie waren ein Gegenpol zu den Workaholics, den ehrgeizig und in Konkurrenzen denkenden Menschen, die heute als vorbildlich gelten. Der walisische Historiker L.T.C. Rolt schrieb in seinem Klassiker High Horse Riderless über die Workaholics: »Sie glauben an schnellere Züge und mehr Verkehr, sie vernichten die Landschaft, während sie vorgeben, sie zu schützen, sie zerrütten die Familie, während sie behaupten, dass sie das Wichtigste sei, sie sprechen die Arbeit heilig, während sie die Arbeitslosigkeit vergrößern. Und alles nur, weil sie den Glauben an die wahre spirituelle Natur des Menschen über Bord geworfen haben und nicht den Mut aufbringen, sie selbst zu sein, sondern immer danach streben, besser zu sein als ihre Konkurrenten.« Der Kognitionspsychologe Abraham Maslow betont die Bedeutung von herausragenden Erfahrungen für die »Selbstverwirklichung«. Gewisse starke Erlebnisse seien in einem bestimmten Moment, beim Ausführen einer bestimmten Handlung, so fesselnd für die Sinne, dass die Menschen das Gefühl hätten, außerhalb der Zeit zu sein. Andere Fachrichtungen haben andere Bezeichnungen dafür. ZenBuddhisten nennen herausragende Erfahrungen »Satori«. Ganze Generationen von Dichtern, Propheten, Revolutionären, Verliebten, Drogenkonsumenten und all jenen, die irgendwie die Zeit gefunden haben, innezuhalten und zu schauen, haben sich nach diesem ekstatischen Gefühl des Einsseins mit der Welt gesehnt, und aus demselben Grund nehmen viele Culture Jammer täglich Auszeiten oder stellen sich kleinen Mutproben. Sie tun etwas Ungewöhnliches, um ihren eintönigen Alltag zu unterbrechen und wieder auf den Geschmack des richtigen Lebens zu kommen. Für den Augenblick leben, nach einer überzeugenden Geste suchen, am Abgrund, auf der Überholspur – nenn es, wie du willst, wenn es authentisch ist, gibt es dir die Kraft, die das Leben lebenswert macht. Und das genau ist es, was uns der Konsumkapitalismus jedes Mal wegnimmt, wenn er uns etwas als »cool« oder als die rebellische Geste des Monats verkauft. Als ich in Japan den Film Satori in the Right Cortex drehte, bat ich den obersten Mönch eines Zen-Klosters in Kamakura, seine Schüler beim Meditieren filmen zu dürfen. »Ja, aber zuerst


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müssen Sie meditieren«, sagte er. Und dabei dachte er nicht an ein kurzes Namaste oder ein paar gemurmelte Koans. Ich sollte zwei volle Tage ruhig dasitzen. Ich nahm die Herausforderung an. Ich saß auf dem Boden und meditierte, bis mein Rücken steif wurde, die Gelenke schmerzten und ich Muskelkrämpfe bekam. Es war physische und psychische Folter, eine Hölle, die ich nie vergessen werde. Aber am Ende des zweiten Tages hatte sich etwas verändert. Die Meditation hatte meine Routine, in der ich mich so bequem eingerichtet hatte, schmerzhaft unterbrochen, und ich ging demütig, dankbar und für ein paar Stunden euphorisch daraus hervor. Vielleicht muss man zu einem neuen Verhaltensmuster gezwungen werden und sich darauf einlassen, um einen realen Gewinn zu erzielen. Wird die Trance unterbrochen, kann man einen kurzen Blick auf ein verheißungsvolles Leben werfen. Aber was hat das alles mit Culture Jamming zu tun? Jede Menge. Die bequemen und abstumpfenden Muster zu durchbrechen, in die wir verfallen sind, ist weder angenehm noch leicht. Man kriecht ja im Dezember auch nicht gerne um fünf Uhr morgens aus dem warmen Bett, um in ein Eisbecken zu springen. Auf solche Aktionen reagiert der Körper mit Schock, und dennoch ist es genau das, was unser System gelegentlich braucht. Und es ist mit Sicherheit das, was unser aufgeschwemmtes, von sich selbst besessenes Konsumsystem braucht. Culture Jamming ist im Grunde nur eine Metapher dafür, den Strom des Spektakels so lange anzuhalten, bis man sein System neu eingestellt hat. Man kann diesen Strom nur mit einem Überraschungsmoment anhalten, und deshalb wirft einem der Zen-Meister bisweilen kryptische, unpassende oder obszöne Antworten an den Kopf. Kann sein, dass er eine harmlose Frage beantwortet, indem er einen Schuh auszieht und nach einem wirft. Vielleicht sagt er auch, dass man Buddha killen muss, wenn man ihm auf der Straße begegnet. Der Zen-Meister versucht die Trance zu beenden. Er zeigt einem einen neuen Weg zum Wasserfall. Debord nannte das »die alte Syntax zerbrechen« und sie durch eine neue ersetzen. Stellen Sie sich einen am Boden zerstörten Menschen vor, der plötzlich Gott findet. Und jetzt stellen Sie sich den umgekehr-


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Allen, Woody 37, 64 Ayres, Robert 93 Banks, Ferdinand 97 Baudrillard, Jean 52 Beatles 107, 109 Beattie, Ann 56 Beatty, Jennifer 77 Bellow, Saul 24 Bentley, David 35 Berisha, Sali 98 Black, Conrad 40 Blanton, Brad 146 Bradbury, Ray 168 Brando, Marlon 143 Brennan, William 161 Brown, Willie 177 Brynner, Yul 131 Brzezinski, Zbigniew 204 Byrne, David 64 Cameron, Ewen 33 Cameron, Mike 77, 78 Carnegie, Andrew 73 Carpenter, Edmund 56 Carson, Rachel 41, 42 Christie, Linford 34 Clinton, Bill 146, 185 Cobain, Kurt 64 Cobb, John 96 Coleman, Ronald 96 Condon, Richard 53 Costanza, Robert 197 Crawford, Cindy 64 Cruise, Tom 50 Dalai Lama 165 Daly, Herman 96, 197 Debord, Guy 14, 110 – 113, 115, 204 Denver, John 48, 49 Descartes, René 123 Dominguez, Joe 168 Douglas, William O. 76 Dunn, Seth 177 Dylan, Bob 109 Eisner, Michael 144 Elgin, Duane 168

Feldstein, Martin 199 Frank, Tom 121 Freud, Sigmund 201 Gablik, Suzi 126 Galbraith, John Kenneth 127, 202 Gandhi, Mahatma 13, 154 Garfield, Bob 38, 174 Gibson, William 39 Ginsberg, Allen 126 Greenspan, Alan 100, 199 Grierson, John 30 Grossman, David 183, 184 Grossman, Richard 147 Haraway, Donna 126 Hasselhoff, David 144 Hawke, Ethan 109 Hawken, Paul 155, 197 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 123 Heilbroner, Robert L. 127, 197 Hoffman, Abbie 124 Holtz Kay, Jane 89 Huxley, Aldous 190, 191 Irving, John 58 Jackson, Andrew 75 Jackson, Michael 67 John, Elton 52 Jordan, Michael 67 Kael, Pauline 53 Keaton, Buster 50 Kennedy, Peter 198 Kerouac, Jack 109 King, Martin Luther 13 Klensch, Elsa 176 Klite, Paul 187, 188 Kneen, Brewster 171 Kübler-Ross, Elisabeth 19 Kubrick, Stanley 26 Kuhn, Thomas 196 Lady Diana 52, 53 Lapham, Lewis 127 Lappé, Frances M. 170 Lasch, Christopher 127 Leary, Timothy 58 Lefebvre, Henri 72

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Personenregister


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Lenin, Wladímir Iljítsch Uljánow 111 Leontief, Wassily 196 Letterman, David 64, 120 Lincoln, Abraham 75, 76 Linklater, Richard 109, 110 Loy, David 158 Lucci, Susan 20 Lungren, Dan 162 Maher, Bill 120 Mandela, Nelson 201 Mander, Jerry 29 Marcus, Greil 107, 108, 113, 117 Marshall, Thurgood 161 Marx, Karl 123 Maslow, Abraham 114 McLuhan, Marshall 16, 110, 129, 151 McPherson, Elle 82 Meadows, Donella 133 Mencken, Henry Louis 22 Milosz, Czeslaw 107 Morgan, John Pierpont 75 Murdoch, Rupert 40, 182 Mutter Teresa 165 Nader, Ralph 127, 165 Niedzviecki, Hal 121 Nietzsche, Friedrich 123 Orwell, George 191 Parks, Rosa 201 Pascal, Blaise 123 Pawlow, Iwan 30 Plant, Sadie 126 Platon 123 Popcorn, Faith 168 Postman, Neil 39 Presley, Elvis 72 Reagan, Ronald 199

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Rees, William 93 Robin, Vicki 168 Rockefeller, John D. und William 73 Rolt, Lionel Thomas Caswell 114 Roosevelt, Franklin D. 77 Roszak, Theodore 21 Rotten, Johnny 107, 108 Routh, Guy 197 Schiffer, Claudia 38 Schmalz, Bill 44 Schnabel, Julian 165 Schor, Juliet 121, 169 Schumacher, Ernst Friedrich 170 Simon, Julian 93 Sokrates 123 Solow, Robert 93 Solschenizyn, Alexander 169 Spelling, Aaron 144 Stern, Howard 64 Stringfield, Sherry 168 Summers, Lawrence 92 Thoreau, Henry David 13, 165 Turkle, Sherry 55 – 57 Twombly, Cy 165 Tyson, Mike 20 Vacco, Dennis 162 Vaneigem, Raoul 112 Weldon, Fay 57 White, Byron 161 Whitman, Walt 56 Windolf, Jim 23 Winfrey, Oprah 20 Wittgenstein, Ludwig 123 Wynn, William 162 Zemin, Jiang 185


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