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Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse und therapeutische Arbeit Herausgeber: Alois Altenweger, Szondi-Institut Zürich Nr. 5, Oktober 2012

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Inhalt Artikel -

Delinquenz und Scham - oder von der Wichtigkeit der Sühnetat Ines Grämiger Wirksamkeit der psychotherapeutischen CBASP-Methode bei chronischer Depression Dr. Annette Tuffs Heilung durch Placebos – die innere Apotheke aktivieren Adrian Ritter

Bücher Depressionen bei Männern «Ohne Ich, kein Wir»….oder empathische Egoisten

Über den Tellerrand hinaus Entresol Newsletter 6/Oktober 2012 «Ökonomien» Tagung vom 3. November 2012 Seminar: Das Ein-Personen-Rollenspiel in Beratung, Coaching und Therapie Seminar ITAP: Gerechtigkeit in der Psychotherapie

Mitteilungen Leben mit Bipolaren (manisch-depressiven) Störungen in der beschleunigten Welt Geistige Retardierung entsteht durch spontane Mutationen Schneller lernen mit neurodegenerativer Krankheit Bei depressiven Frauen kann Bewegung Stress abbauen

Zu guter Letzt Was Hamlet meinte…

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Artikel Delinquenz und Scham – oder von der Wichtigkeit der Sühnetat Ines Grämiger An der Herbsttagung 2011 des Szondi-Institutes berichtete Prof. Dr. Martin Killias, Universität Zürich, in seinem Vortrag «Scham, Schuld und Sühne und die Prävention von Kriminalität» Folgendes: Scham entsteht als Reaktion auf Normverletzung und ist begleitet von dem Gefühl der «Peinlichkeit», falls andere die Tabuverletzung bemerken. Wer sich schämt, delinquiert weniger und hat mehr Selbstkontrolle gegenüber seinen gefährlichen Bedürfnissen. Wir alle haben eine urmenschliche Lust an gewissen Aktionen wie explodierenden und brennenden Autos, am In-die-Luft-Jagen von Häusern etc. Man soll sich deshalb nicht fragen, warum Menschen dies mit dem Eigentum anderer tun, sondern man soll sich fragen, warum wir Viele sowas nicht tun! Die Antwort lautet: Scham und Anpassung verhindern das unkontrollierte Ausleben solcher Impulse. Diese Selbstkontrolle durch Anpassung an die Gruppennorm wird durch Erziehung erworben. Diese Anpassung kann durch folgende Faktoren vermindert werden: zuviel Extraversion, (das bedeutet Impulsivität nach aussen), ADS, Unfall-Typus (der schon in der Kindheit durch Nichtbefolgen der Elternregeln sich verletzt, beispielsweise vom Sims fällt, auf das er nicht steigen sollte). Aufgrund der Auswertung von Prof. Killias‘ Datensammlungen zu Delikten in über 30 Ländern ergab sich, dass neben der familiären Erziehung die Umwelt ein grosser Einfluss-Faktor darstellt, das heisst vor allem das Quartier (oder die Stadt). Die Moral des Quartiers und dessen dort verbreiteter «Lebensmodus» kann vor allem bei Jugendlichen sogar die Moral der Familie dominieren. Es kann daher sein, dass eine Familie das Quartier wechseln muss, um das Kind vor Delinquenz zu schützen (Die Familie muss von der Langstrasse beispielsweise nach Stäfa umziehen – und manche Probleme lösen sich auf!). Vor allem Jugendliche, die viele Stunden draussen «herumhängen», übernehmen die Gruppennorm ihres Quartiers. Wenn das Bild einer Stadt sich verändert – beispielsweise durch Liberalisierungsmassnahmen im Gastgewerbe, durch den Ausbau des öffentlichen Verkehrs -, verändert sich auch die Moral der Stadt. Das heisst unter anderem, dass sich (Jugend-) Kriminalität in einer Stadt sich auf Grund besserer Gelegenheiten auszubreiten vermag. Genauso kann die Aufwertung, Pflege und Gesundung einer Stadt (wie es in Pittsburgh dokumentiert der Fall war) zu einem massiven Rückgang der Jugend-Kriminalität führen. Die von der Gesellschaft gesetzte soziale Moral muss auch bei Sanktionen von Delikten wirksam sein, denn sie soll von den Delinquenten ernst genommen werden. Bedingte Geldstrafen und Verurteilungen ohne Sanktionen bewirken, dass die Normen nicht ernst genommen werden und dass die Botschaft entsteht: man kann ja doch machen, was man will, es hat keine spürbaren Konsequenzen. Seite | 3


ԩ«texte» 1. Oktober 2012 Eine Vorher-Nachher-Studie (Anzahl Delikte vor der Sanktion und danach) bewies: Wenn man irgendwelche Sanktionen verhängt, geht die Anzahl der Delikte massiv zurück, gleich welcher Art diese Strafe auch sein mag. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, das ausgebaute Instrument «Anspruch auf einen bedingten Strafvollzug» zu hinterfragen und zu relativieren.

Die Schweiz ist diesbezüglich ein Ausnahme-Land auf der Welt: sie schickt am wenigsten Verurteilte ins Gefängnis.

Frau Leena Hässig, Psychotherapeutin für Straftäter (Gefängnisse Hindelbank, Torberg u.a.) betonte an derselben Tagung in ihrem Vortrag «Schuld und Scham in der Behandlung von Straftätern»: Wer sich nicht schämt, verändert sich nicht. Nur wer Scham erlebt, hat eine gute Prognose. Wo keine Scham möglich ist, beginnt die Psychopathie. Die Veränderung des Täters beginnt beim SichSchämen. F ü r J F ü r g F ü r g Für gefährdete Jugendliche ist es nötig, aus der GrafittiSzene des Quartiers wegzukommen. (Foto: © Alois Altenweger)

Sogar Schuldeingeständnisse nützen nichts ohne Scham. Das Schuldeingeständnis muss mit Scham gekoppelt sein, damit ein Täter sich nach der abgesessenen Strafe verändert. Die wirksamste Scham ist vor allem dann die vor der eigenen Familie und dem persönlichen Umfeld, weshalb eine klare Information dieses Umfeldes über Art und Umfang des Deliktes notwendig ist.

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Schicksalspsychologischer Kommentar 1. Scham gehört als eines der Gefühle zum Bereich des präautonomen Überichs, das heisst zu dem Teil des Gewissens, welcher die Gruppenanpassung, bei Kindern an erster Stelle die Befolgung der Gebote der Eltern beinhaltet. Diese Gewissensgebote entstammen nicht dem ureigensten Empfinden des Kindes sondern werden ihm von aussen vorgegeben, vorgeschrieben und werden anfangs vor allem durch die Strafangst des Kindes zementiert und verstärkt. Scham und das dazugehörige Peinlichkeitsgefühl (ev. auch begleitet durch starke vegetative KörperReaktionen wie Erröten, Zittern) entstehen zu allererst beim Erwischt werden durch die Autoritätsperson oder die Gruppe. Später kann es auch zu einem Sich-Schämen vor sich selber kommen. 2. Das Sich-Schämen und das präautonome Gewissen werden schicksalspychologisch dem Grundbedürfnis des Menschen nach Sehen und Gesehen-Werden (dem hy-Bedürfnis des Hysteriformen/Histrionischen**) zugeordnet. Das Gesehen-Werden (hy-) von andern bei der Normverletzung ist der traumatische Moment beim Sich-Schämen, nicht ein eigener, interner Gewissenskonflikt. Dieser Teil des Gewissens und der Scham ist mithin äussert beziehungsbezogen. 3. Wegen dieser Beziehungsbezogenheit kann nun aber der Inhalt der «Moral» und der Normen extrem wechseln, je nachdem, in welcher Gruppe man sich gerade aufhält. Immer werden die Gebote, Tabus der momentanen Gruppe eingehalten. Eine permanente, hohe Anpassungsleistung! Somit ist es erklärlich, dass ein Jugendlicher sowohl die Gebote seiner Eltern als braver Junge im Elternhaus einhält, dann aber sein Verhalten genauso rasch in Anpassung an die Norm seiner Quartiergruppe, seiner Freunde ändern kann, um im Wettstreit mit den andern beispielswiese durch waghalsige, kleine Delikte zu brillieren, aufzufallen und damit Bewunderung einzuheimsen. Dass die Moral des Quartiers, der Umgebung, der Stadt, der Freunde bei einem Jugendlichen sogar die Moral der Familie zersetzen kann ist erklärlich, wenn wir die Entwicklungspsychologie hinzuziehen und beachten, dass sich ja der Jugendliche in der Pubertät grad von den Eltern abzusetzen und abzulösen versucht – und bei ihm oft die Anerkennung durch die Gleichaltrigengruppe und die Aussenwelt wichtiger wird als die durch die Eltern. Wir ersehen mithin, dass die Inhalte des präautonomen Gewissens nicht stabil sind, sondern dass sich diese chamäleonartig und innert Minuten der Umgebung anpassen und sich verändern. Dieses rasche Sich-Verändern, mit der Umwelt Harmonisieren oder Sich-Ansteckenlassen durch die Umgebung ist wiederum typisch für sämtliche hysteriforme Mechanismen. Das heisst, diese Form des Gewissens hat etwas «Hysterisches» und ist ein «hysteriformes Chamäleon»*. 4. Dass die Delinquenz mit sogenannten «Unfäller»-Kindern korreliert, welche durch frühe Missachtung der Elternregeln und daraus entstehenden Unfällen auffallen, ist bemerkenswert. Schicksalspsychologisch handelt es sich dabei um folgende Dynamik: Diese Kinder befolgen scheinbar die Elternregeln nur sehr, sehr äusserlich, nehmen den Sinn der Verbote nicht an, machen diese Regeln nicht zum eigenen Gewissensgebot. Die Regel besteht nur im präautonomen Überich, und die Strafangst ist wohl zu wenig stark um die Regeleinhaltung zu gewährleisten. Das heisst, sie haben auch ein sehr schwaches prä-autonomes Überich (ev. hy 0) und sie tun das Verbotene, sobald die Eltern aus dem Raum sind. Die Regel wirkt nicht nachhaltig und sie steigen aufs Fenstersims.

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Grossartig, megacool (Foto © Alois Altenweger)

Interessant ist nun aber, dass sie sich danach verletzen, verunfallen, das heisst, wirklich vom Sims herunterfallen. Es sind scheinbar nicht diejenigen Kinder, welche unbeschadet auf das Sims klettern. Irgendetwas in ihnen betreibt eine Selbstsabotage und verrät sich selbst durch den Unfall. Der zu Unfällen Neigende hat an und für sich die Struktur des Kains, der die Wut gegen sich selbst richtet (s-! e-). Dieser Kain, der gegen sich selbst wütet und sich verletzt, bestraft sich quasi selbst. Diese Konstellation weist auf einen stark epileptiformen Charakter hin, denn Kain und Epilepsie gehören zusammen: hy - schwach wirksam (ev. hy 0 erhöht) = > e- s-! Ein solches Beispiel von mangelndem präautonomem Überich, mangelnder Gruppenanpassung und Scham stellt beispielsweise der Fall der Sektenleiterin Magdalena Kohler im «Hexenprozess» von Zürich dar: in 9 von 10 Szondi-Test-Profilen zeigt sie hy 0 (=Ausfall der Schamzensur). Sie liess in einem exorzistischen Ritual ein 17 jähriges Mädchen solange schlagen, bis es an den Folgen starb. Sie zeigte keine Reue und Scham, machte auch kein Schuldeingeständnis. Auch durch 10 Jahre Gefängnis veränderte sie sich nicht und es kam zum Rückfall: sadistisches Quälen und Exorzismusrituale bei einer alten Frau mit Todesfolgen. Seite | 6


ԩ«texte» 1. Oktober 2012 5. Äusserst informativ ist die Feststellung, dass nur Scham den Delinquenten verändert und nicht ein Schuldeingeständnis. Schuld und Schuldgefühl gehören zum andern Teil des Gewissens, zum autonomen Überich (e +). Diese Gewissensinhalte werden im Laufe des Lebens aufgebaut und bilden eine eher stabile Struktur. Es sind dies die eigensten Überzeugungen und Gerechtigkeitsimpulse, es ist dies der Sinn für Gut und Böse (für Abel und Kain), es ist der eigene Richter in uns. Jeder aber hat nun einen ureigensten eigenen Richter, der im inneren Dialog Recht spricht und Unrecht als solches benennt, der dies als recht und anderes als unrecht empfindet. Gewiss gibt es kollektive, weit gehend allgemeingültige Inhalte des Guten, wie beispielsweise im Christlichen der Inhalt: du sollst nicht töten, du sollst andere nicht unnötig verletzen etc. Dieses Gebot des Gewissens wird aber von derselben christlichen Gesellschaft schon im Kriegsfall wieder abgeändert. In andern Zeiten und in anderen Zusammenhängen können sich hier auch die Inhalte des autonomen Gewissens ändern. Bemerkenswert für die Gewissenforschung und entwicklungpsychologische Überlegungen ist aber die Erkenntnis, dass diese eigene innere Rechtssprechung nicht genügt, um einen Delinquenten zu verändern, sondern dass dieses autonome Überich mit seinem Schuldempfinden unbedingt mit dem präautonomen Überich mit dessen Schamerleben verknüpft und in dieses integriert sein muss, um eine Verhaltensveränderung nach der Strafe zu gewährleisten: e + muss mit hy -gekoppelt sein als Präventive gegen Rückfälle 6. Als Schicksalspsychologen sind wir in der glücklichen Lage, über den Szondi-Test zu verfügen, der eine genaue Gewissensanalyse, das heisst die Analyse des präautonomen und autonomen Überichs erlaubt. Wir können in den 10 Test-Profilen gar die Stärke der beiden Gewissensanteile auszählen; wir können ersehen, wie viel Mal die Scham, wie viel Mal die Schuld wirksam ist, können eine Proportion zwischen den beiden bilden und auch die Ausfälle jeglicher Zensur erkennen. Von daher gesehen kann der Szondi-Test in der Kriminologie einen wichtigen Beitrag leisten. 7. Wird von Prof. Killias betont, dass Sanktionen im Strafrecht für die Verhaltensveränderung und das Ernstnehmen und Einhalten der Gruppennormen und -regeln nötig sind, so kann die Schicksalsanalyse hierbei noch folgenden tiefenpsychologischen Aspekt hinzufügen: Gibt es keine Sanktionen, so wird dadurch auch keine Sühnehandlung angeboten und ein natürlicher affektiver Verarbeitungs-Ablauf nach der Tat wird somit nicht ermöglicht oder nahegelegt durch die Justiz. Jeder asoziale Affekt-Täter ist ein Kain, der die bösen Affekte staute und in der Tat auslebte. In der natürlichen und gesunden (epileptiformen) Dynamik der Affekte durchlaufen wir die Phasen von Kain zu Anfall zu Abel in einer dynamischen Abfolge: a) Wir sind wütend und böse aufgrund irgendeiner Frustration oder Störung, stauen Wut, Hass, Zorn, Neid und Eifersucht bis zu Tötungsimpulsen in uns auf (= Aufstauphase = Kain). b) Dann lassen wir die Wut heraus, verbal oder körperlich. Der Delinquent begeht hier sein Delikt (= Anfallsphase). c) Danach beruhigen wir uns und wollen wieder gut sein, uns versöhnen oder aber Unkorrektes bereuen, sühnen oder uns entschuldigen (= Wiedergutmachungs- oder Reue- und Sühnephase = Abel oder Moses). Nur wenn wir flexibel diese Phasen der Affekte durchlaufen können, bleiben wir gesund. Ebenso sollte ein Täter nach der Tat auch die 3. Phase der Sühne, Reue durchlaufen, um in sich selbst die Tat Seite | 7


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zu verarbeiten oder sich selbst verzeihen zu können. Es ist unbedingt notwendig, dass der Täter sein Böses wieder gutmacht und gegen aussen sühnt; am ehesten durch soziale Aktionen gegenüber

der Gruppe, der Mitwelt, den Mitmenschen, deren Normen er verletzt hat. Man sollte daher in der Rechtsprechung darauf achten, dass nicht nur die verbale Reue, die Entschuldigung erfolgt, sondern diese durch soziale Taten - Handlungen zur Wiedergutmachung – tatkräftig gestützt werden, denn die Tat allein stellt eine echte Sühne da. So können auch Strafen und Sanktionen eine gewisse Sühne bedeuten. Im Text zum I Ging wird beispielsweise berichtet, dass sie damals im alten China Täter kaum bestraften, sie nicht einsperrten, sondern zu grossen sozialen Sühnehandlungen verpflichteten, wo sie Gutes für die Gemeinschaft tun mussten. Ich denke, hier hatte man die Klugheit, dem Täter seine zweite mögliche Wahl «vorzustellen» und erleben zu lassen: wie es sich anfühlt, wenn man den Menschen Gutes statt Schlechtes tut. Scheinbar haben dann Viele mehr Gefallen am Gutes-Tun als am Delinquieren gefunden. Es war eine Umpolung von Kain zu Abel/Moses.

Ent-sorgen durch tätige Sühne - auch wenn dabei das Selbstverständnis Kratzer bekommt - ist eine wesentliche Aufgabe im Aufarbeiten einer Straftat. (Foto:©Alois Altenweger)

Eine solche klassische Umpolung wird unter anderem auch von Szondi in der schicksalspsychologischen Literatur beschrieben, wo sich eine verwahrloste, herum vagabundierende Zechprellerin und Brandstifterin zur reisenden Betschwester und Nonne wandelte. Ohne Sühnehandlung ist ein Täter dadurch gefährdet, dass er die nicht erledigte Spannung und Schuld in erneuten Straftaten auszuagiert. Symbole: => daraus folgt * = Begriffe von I.Grämiger (nicht von L.Szondi) Autorin: lic.phil. Ines Grämiger www.ines-graemiger.ch ines.g@sebil.ch

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**Die histrionische Persönlichkeitsstörung (HPS) (von englisch histrionic „schauspielerisch; theatralisch, affektiert“ zu lateinisch histrio „Schauspieler“) ist gekennzeichnet durch egozentrisches und theatralisches Verhalten. Als Bezeichnung für eine Persönlichkeitsstörung ist die HPS aus dem nur noch von der psychoanalytischen Schule verwendeten Begriff Hysterie herausgelöst und von der Konversionsstörung abgetrennt worden. Diese neue Begrifflichkeit hat sich wegen der sehr abwertenden volkstümlichen Konnotation des Begriffes Hysterie in Verbindung mit einer Bedeutungsverschiebung im Vergleich zur fachlichen Bedeutungsbelegung als notwendig erwiesen. (Quelle: Wikipedia)

Foto©Alois Altenweger

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Wirksamkeit der psychotherapeutischen CBASP-Methode bei chronischer Depression Dr. Annette Tuffs Universitätsklinikum Heidelberg (28.08.2012) Deutsche Multicenter-Studien erforschen die Wirksamkeit der Psychotherapie chronischer Depression und ihre neurobiologischen Wirkmechanismen. Ergebnisse sollen der evidenzbasierten, individualisierten Diagnostik und Therapieplanung in der Behandlung an der Universitätsklinik für Allgemeine Psychiatrie Heidelberg dienen. Mit welchen Behandlungsmethoden kann der chronische Verlauf von Depressionen verhindert oder erfolgreich behandelt werden? Wie wirkt Psychotherapie im menschlichen Gehirn? Lässt sich aufgrund von Funktionszuständen des menschlichen Gehirns die Auswahl der geeigneten Therapiemethoden verbessern? Die Universitätsklinik für Allgemeine Psychiatrie Heidelberg untersucht im Rahmen wissenschaftlicher multizentrischer Studien die Wirksamkeit des kognitiv behavioralen Analysesystems der Psychotherapie, „Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy“ (kurz CBASP), einer Therapiemethode, die der Psychotherapeut und Forscher James McCullough, Professor für Psychologie und Psychiatrie an der Virginia Commonwealth University, USA, entwickelt hat. Gleichzeitig sollen in enger Diskussion mit McCullough die neurofunktionellen Wirkmechanismen der Behandlung beschrieben werden.

Foto©Alois Altenweger

„Noch vor einigen Jahren galt eine chronische Depression therapeutisch als schwer zu beeinflussen“, erklärt Professor Dr. Sabine Herpertz, Ärztliche Direktorin der Klinik. „Mit der Psychotherapie nach Seite | 10


ԩ«texte» 1. Oktober 2012 McCullough erzielen wir in der Praxis gute Erfolge. Wichtig sind jedoch umfassende wissenschaftliche Untersuchungen der Methode, deren Erkenntnisse in unsere evidenzbasierte Patientenversorgung

einfließen“. In mehr als 70 Prozent der Fälle beginnt die chronische Depression bereits vor dem 21. Lebensjahr, verläuft häufig lebenslang und steht in der Regel im Zusammenhang mit frühen ausgeprägten Belastungen in der Kindheit. „Chronische Depressionen führen unter anderem zu ausgeprägter psychosozialer und beruflicher Beeinträchtigung“, sagt Professor Herpertz. „Eine erfolgreiche Therapie bedeutet für diese Patienten, am normalen Leben teilhaben zu können“. Entwicklung sozialer Funktionen bereits in der Kindheit gestört CBASP ist das einzige psychotherapeutische Modell, das speziell für die Behandlung der chronischen Depression entwickelt wurde. Die Theorie der Methode beruht auf der Annahme, dass bei den meisten Betroffenen die Entwicklung sozialer Funktionen bereits in der Kindheit – z.B. durch emotionale Vernachlässigung - gestört wurde und speziell die Entwicklung der Fähigkeit, sich emotional in andere Menschen hinein zu versetzen gehemmt wurde. Auf dieser Basis wird in der CBASP-Therapie speziell die Fähigkeit erlernt, mit anderen Menschen unvoreingenommen und ohne gedankliche Beeinflussung durch traumatische zwischenmenschliche Vorprägungen in Beziehung treten zu können. McCullough überprüfte die Wirksamkeit des Verfahrens zunächst mit Hilfe von Einzelfallreihen und publizierte erste Erfolg versprechende Resultate schon 1980, inzwischen wurde die Wirkung des CBASP in großen randomisierten Studien in den USA überprüft. Die Heidelberger Klinik für Allgemeine Psychiatrie nimmt gegenwärtig an einer Multicenterstudie teil, die die Wirksamkeit von CBASP in der ambulanten Behandlung bei chronisch depressiven Patienten mit einem Beginn vor dem 21. Lebensjahr überprüft. Das Universitätsklinikum Freiburg koordiniert diese Studie (nähere Informationen: http://www.cbasp-multizenterstudie.de/home.php). Wie wirkt sich Therapie auf Hirnfunktionen aus? Die Frage, wie sich CBASP auf die Hirnfunktionen chronisch depressiver Patienten auswirkt ist Fokus einer weiteren deutschen Multicenter-Studie, koordiniert vom Universitätsklinikum Heidelberg unter Leitung von Privatdozent Dr. Knut Schnell, leitender Oberarzt der Klinik für Allgemeine Psychiatrie und Leiter der Arbeitsgruppe Translationale psychiatrische Therapieforschung. Diese Studie wird parallel zur ambulanten CBASP-Psychotherapiestudie durchgeführt. Ein Verbund aus fünf Universitätskliniken untersucht dabei mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie, welche spezifischen Veränderungen der Hirnfunktion unter der Behandlung auftreten und ob die Wirkung der Therapie durch bestimmte Aktivierungsmuster vor Therapiebeginn vorhersagbar ist. Ziel der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Untersuchung sind hierbei die funktionellen Systeme der sozialen Kognition und Emotionsregulation. „Wir möchten herauszufinden, über welche Systeme des Gehirns die Effekte von Psychotherapie grundsätzlich vermittelt werden, aber auch auf welche therapeutische und medikamentöse Behandlungen ein Patient individuell ansprechen wird“, so Professor Herpertz. Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse fließen in der Klinik für Allgemeine Psychiatrie direkt in die Ausrichtung der Patientenversorgung ein. So wird für Patienten mit einer chronischen Depression ein neues stationäres Behandlungsangebot mit der CBASP-Methode aufgebaut. Patienten mit einer akuten Depression werden mit der wissenschaftlich bewiesenermaßen wirksamen kognitiven Verhaltenstherapie der Depression nach Beck und der interpersonellen Gruppen-Psychotherapie depressiver Störungen nach Klerman behandelt. Seite | 11


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Ansprechpartner: PD Dr. Knut Schnell Leitender Oberarzt Klinik für Allgemeine Psychiatrie Tel.: 06221 56-5598 E-Mail: knut.schnell@med.uni-heidelberg.de Internet: http://www.klinikum.uni-heidelberg.de/Klinik-fuer-Allgemeine-Psychiatrie.8791.0.... Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Heidelberg Krankenversorgung, Forschung und Lehre von internationalem Rang Das Universitätsklinikum Heidelberg ist eines der größten und renommiertesten medizinischen Zentren in Deutschland; die Medizinische Fakultät der Universität Heidelberg zählt zu den international bedeutsamen biomedizinischen Forschungseinrichtungen in Europa. Gemeinsames Ziel ist die Entwicklung neuer Therapien und ihre rasche Umsetzung für den Patienten. Klinikum und Fakultät beschäftigen rund 11.000 Mitarbeiter und sind aktiv in Ausbildung und Qualifizierung. In mehr als 50 Departments, Kliniken und Fachabteilungen mit ca. 2.000 Betten werden jährlich rund 550.000 Patienten ambulant und stationär behandelt. Derzeit studieren ca. 3.600 angehende Ärzte in Heidelberg; das Heidelberger Curriculum Medicinale (HeiCuMed) steht an der Spitze der medizinischen Ausbildungsgänge in Deutschland. http://www.klinikum.uni-heidelberg.de

Heilung durch Placebos – die innere Apotheke aktivieren Adrian Ritter Studien zeigen, dass Placebo-Effekte bisweilen erstaunliche Heilungserfolge erzielen. An einer Konferenz im Tessin wurden vergangene Woche ethische Fragen rund um den Placebo-Einsatz diskutiert. Mitorganisatorin Margrit Fässler vom Institut für Biomedizinische Ethik der UZH plädiert dafür, Placebo-Effekte vermehrt für die Behandlung zu nutzen.

Margrit Fässler: «Die Placeboforschung kann dazu beitragen, dass Ärztinnen und Ärzte sich der Signale, die sie aussenden, bewusster werden und diese gezielt einsetzen.» (Bild: zVg) Seite | 12


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UZH News: Inwiefern spielen Placebo-Effekte in der medizinischen Praxis eine Rolle? Fässler: Eine Umfrage unter Hausärztinnen und Hausärzten ergab, dass sie nur sehr selten PlaceboEffekte nutzen, indem sie Scheinmedikamente wie Zuckerpillen oder Infusionen mit Kochsalzlösungen abgeben. Es ist heute allerdings klar, dass Placebo-Effekte existieren und eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die Genesung haben, die es noch besser zu nutzen gilt. Wie kann ein erfolgreicher Einsatz von Placebo aussehen? Ein Pädiater aus den USA berichtete an der Konferenz von einer Studie mit Kindern, die an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung leiden und eine entsprechende Medikation einnehmen. Durch den zeitweisen Ersatz durch eine Zuckertablette konnten die Mediziner die Dosis des Medikaments halbieren, ohne die Wirkung zu schmälern. Die Eltern und Kinder waren informiert, dass das Kind bisweilen ein Placebo erhalten wird, wussten aber nicht, wann. Ob dieses Vorgehen auch bei anderen Krankheitsbildern und Medikamenten möglich ist, muss weiter untersucht werden. Warum werden Placebo-Effekte in der Praxis noch selten eingesetzt? Wahrscheinlich, weil Ärztinnen und Ärzte eine angemessene Aufklärung der Patienten heutzutage als selbstverständlich erachten und davon ausgehen, dass diese sich nicht ernst genommen fühlen, wenn der Arzt ihnen erklärt, ein Scheinmedikament einsetzen zu wollen. Was in der Praxis aber immer, bewusst oder unbewusst, zum Tragen kommt, sind Placebo-Faktoren wie der weisse Kittel und der gute Ruf eines Mediziners, sein wohlwollendes Auftreten oder die Einstellung des Patienten zu einer bestimmten Therapie. All dies sind psychische Stimuli, die sich positiv oder auch negativ auf den Verlauf einer Erkrankung auswirken können. Im Falle von negativen Auswirkungen spricht man von Nocebo-Effekten. Der Körper kann über solche Stimuli Selbstheilungskräfte entwickeln, die neben pharmakologischen oder physikalischen Wirkungen zur Gesundung beitragen. Man muss also nicht zwingend ein Scheinmedikament ohne pharmakologische Wirkung verabreichen, um Placebo-Effekte auszulösen. Inwiefern ist der Einsatz von Scheinmedikamenten überhaupt erlaubt? In der Schweiz existiert keine offizielle Richtlinie der medizinischen Gesellschaften oder eine gesetzliche Regelung. In Deutschland gibt es seit 2010 eine Stellungnahme der Deutschen Ärztekammer, die das Wissen um Placeboeffekte vertiefen und dafür plädiert, diese bewusster zu nutzen. Gemäss der Ärztekammer ist die Anwendung von Behandlungen mit Placebo-Effekten ethisch vertretbar, wenn es sich um geringe gesundheitliche Beschwerden handelt, keine pharmakologisch wirksame andere Therapie verfügbar ist, der Patient eine Behandlung ausdrücklich wünscht und die Aussicht auf Erfolg mit der Behandlung besteht.

Was sagen Sie als Ethikerin dazu? Ich erachte diese Kriterien grundsätzlich als sinnvoll. Allerdings lassen sie auch Fragen offen, etwa diejenige, wie die Anwendung nur bei geringen Beschwerden zu rechtfertigen ist. Wenn ein Patient Seite | 13


ԩ«texte» 1. Oktober 2012 darüber aufgeklärt ist, dass er eine Therapie erhalten wird, die höchstwahrscheinlich vor allem über Placebo-Effekte oder die Unterstützung von Selbstheilungskräften wirkt, ist meiner Meinung nach auch bei schwerwiegenderen Beschwerden nichts dagegen einzuwenden. Inakzeptabel ist der Einsatz von Scheinmedikamenten, um fordernde Patienten abzuspeisen, denen der Arzt keine andere Behandlungsmöglichkeit anzubieten weiss. Scheinmedikamente dürfen auch nicht dazu benutzt werden, einem Patienten aufzeigen zu wollen, dass seine Schmerzen nur «psychisch» sind. Dass nur psychisch Kranke auf Placebos mit einer Schmerzlinderung reagieren, stimmt nicht. Zahlreiche Studien zeigen, dass jeder Mensch, in unterschiedlichem Ausmass, auf Placebos reagiert. Inwiefern tritt ein Placebo-Effekt überhaupt auf, wenn ein Patient weiss, dass er ein Placebo erhält? Zwei Studien haben gezeigt, dass Patienten oft auch positiv auf Scheinmedikamente reagieren, wenn sie vorher darüber aufgeklärt wurden. Das zeigt, wie sehr wir durch therapeutische Rituale wie das Einnehmen einer Tablette beeinflusst werden können. Diese Erkenntnis sollte uns dazu führen, bei einfachen medizinischen Problemen auch einfache Mittel auszuprobieren. Wenn einem bei Autofahrten übel wird, kann man versuchen, statt Medikamenten zuerst eine Pfefferminztablette oder ähnliches einzunehmen. Auch eine warme Milch als Einschlafhilfe kann einen Versuch wert sein. Welches sind die offenen Fragen der Placebo-Forschung? Weiterer Forschungsbedarf besteht bei der Frage, welche Rolle kulturelle und soziale Hintergründe beim Erfolg einer Therapie spielen. Wir müssen noch besser verstehen, was die Patientinnen und Patienten über Placebo-Aspekte der Behandlung denken und wie sie damit umgehen: Welche Faktoren bestimmen ihre Haltung? Sind Patienten vielleicht offener gegenüber solchen Behandlungen als wir denken? Nur wenn wir mehr darüber wissen, können wir konkrete Empfehlungen abgeben, inwiefern Placebo-Behandlungen in der medizinischen Praxis angewandt werden können und sollten. Was den Transfer in die Praxis anbelangt, so kann die Placeboforschung dazu beitragen, dass Ärztinnen und Ärzte sich der Signale, die sie aussenden, bewusster werden und diese gezielt einsetzen. Ein gutes therapeutisches Ritual kann die so genannte innere Apotheke der Patienten aktivieren. Das entsprechende Wissen sollte etwa auch in Kommunikationskurse für Ärztinnen und Ärzte noch vermehrt einfliessen. Margrit Fässler ist Ärztin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Biomedizinische Ethik der UZH. Zu den Schwerpunkten ihrer Arbeit gehören Ärztliche Ethik, Forschungsethik und Placebointerventionen. Die internationale Konferenz "Beyond the Placebo: Biomedical, Clinical and Philosophical Aspects of the Placebo Effect" fand vom 22.-25.8.12 auf dem Monte Verita in Ascona statt. Sie brachte 56 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Bereichen Neurowissenschaften, Psychologie und Psychiatrie, Medizin, Medizinethik, Komplementärmedizin und Medizingeschichte zusammen. Organisiert wurde die Konferenz vom Institut für Biomedizinische Ethik der Universität Zürich und vom Centro Stephano Franscini der ETH Zürich. Mitfinanziert war die Veranstaltung vom Universitären Forschungsschwerpunkt «Ethik» der Universität Zürich. Adrian Ritter ist Redaktor von UZH News. Seite | 14


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Des einen Freud, des anderen …Neid Jan Crusius und Thomas Mussweiler Wer hat nicht schon einmal einen neidischen Blick auf das schicke Auto des Nachbarn geworfen? Oder auf die tolle Figur der Kollegin? Hin und wieder Neid zu empfinden, ist völlig normal und kann sogar motivierend wirken. Doch was, wenn die unliebsame Emotion überhandnimmt? Machen wir uns mal einen Moment lang nichts vor: Wir alle kennen das stechende Gefühl, das uns manchmal befällt, wenn jemand etwas besitzt, was wir eigentlich auch gern hätten. Das mag der lukrative Auftrag sein, den eine Kollegin an Land gezogen hat, oder die bewundernswerte Belesenheit eines Freundes, das schicke neue E-Bike des Nachbarn oder das tolle Wetter, das er im Urlaub hatte. Oder sei es auch nur, dass wir dem Sitznachbarn in der Kantine ein besseres Händchen bei der Wahl seines Gerichts zugestehen müssen. Tagtäglich haben wir zahlreiche Gelegenheiten, unsere Besitztümer, Erfahrungen und Eigenschaften mit denen anderer Menschen zu vergleichen. Und wenn wir dabei schlecht abschneiden, ist das mitunter schmerzhaft. Auch wenn wir es nur ungern zugeben: Jene ungeliebte Emotion, die wir in solchen Situationen häufig erleben, ist Neid. Warum können uns teils völlig triviale Vorteile anderer Menschen so in den Bann ziehen? In welcher Form beeinflusst Neid, wie wir denken und wie wir uns verhalten? Und wann tritt er besonders stark zu Tage?

Aus Gehirn&Geist 10/2012

Laut jüngeren Forschungen handelt es sich beim Neid um eine Emotion, die uns dazu treibt, die eigene Unterlegenheit zu bemerken und auszugleichen. Das hat auch Schattenseiten: So können Neidimpulse dazu beitragen, dass wir unser Gegenüber anfeinden und uns unsozial verhalten. Manchmal spornen sie uns aber auch schlicht zu größerer Anstrengung an. Die Evolutionspsychologen Sarah Hill von der Texas Christian University in Fort Worth und David Buss von der University of Texas in Austin interessieren sich dafür, welchen Anpassungsvorteil Neid im Lauf der menschlichen Entwicklungsgeschichte bot. Den Forschern zufolge liefern uns Vergleiche mit anderen Menschen wertvolle Informationen darüber, wie wir uns im Wettbewerb um knappe Ressourcen bewähren. Demnach sollten wir besonders sensibel etwaige Vorteile unserer Mitmenschen aufspüren können. In der Tat haben Experimente von Sozialpsychologen gezeigt, dass der Vergleich mit anderen ein allgegenwärtiger Bestandteil unseres Denkens und Erlebens ist. Wir messen uns permanent an Seite | 15


ԩ«texte» 1. Oktober 2012 unseren Nächsten, spontan und unwillkürlich. So wie andere Emotionen auch kann Neid ganz automatisch entstehen und sich auf unser Verhalten auswirken, manchmal ohne (oder sogar gegen) unseren Willen. Die unangenehmen Empfindungen, die mit Neid oft einhergehen – etwa Frustration und Unterlegenheitsgefühl –, stellen laut Hill und Buss vor allem ein Warnsignal an uns selbst dar: einen emotionalen Alarm, der zunächst die Aufmerksamkeit darauf lenkt, dass wir gegenüber anderen im Nachteil sind. Er soll uns mental dazu in die Lage versetzen, dieses Manko auszugleichen. Emotionale Gedächtnisstütze Wie das genau vonstattengeht, untersuchten Hill und Kollegen im letzten Jahr. Die Psychologen baten Studierende, sich an Situationen zu erinnern, in denen sie Neid gegenüber Freunden oder Bekannten empfunden hatten. Allein der Gedanke daran sollte bei ihnen erneut die leidige Emotion hervorrufen. Anschließend lasen die Teilnehmer in einer scheinbar unabhängigen Untersuchung fiktive Interviews mit gleichaltrigen Studierenden, in denen es unter anderem um deren Karriereziele ging. Eine Kontrollgruppe bekam nur die Interviews zu lesen, ohne zuvor auf Neid gepolt worden zu sein. Das Ergebnis: Die neidischen Probanden beschäftigten sich freiwillig länger mit den Gesprächsprotokollen und konnten sich in einem folgenden Gedächtnistest besser an Details über die Protagonisten erinnern. Offenbar schärft Neid unsere Aufmerksamkeit für unser soziales Umfeld, schlussfolgerten die Forscher: Wir interessieren uns mehr für potenzielle Konkurrenten.

Gefühlte Benachteiligung 1. Neid ist eine weit verbreitete Emotion, die uns auf eigene Nachteile gegenüber anderen aufmerksam macht. 2. Dies kann zu boshaften, ja destruktiven Gedanken verleiten, spornt uns aber auch zu höheren Leistungen an. 3. Wie stark sich Neidgefühle ausprägen, hängt davon ab, wie gut wir uns unter Kontrolle haben. Starke kognitive Belastung, akuter Stress und Alkohol können die Emotion verstärken. Laut Evolutionspsychologen motiviert uns die Emotion vor allem dazu, den Vorsprung der anderen zu verringern. Eine Möglichkeit besteht etwa darin, den Erfolg des anderen zu schmälern – beispielsweise, indem man den Lack von Nachbars schicker Limousine verkratzt. Für diese destruktive Seite des Neids gibt es zahlreiche Belege. Manchmal sind wir sogar dazu bereit, eigene Vorteile aufzugeben, nur damit andere nicht besser sind als wir selbst! Aus diesen Gründen hielten viele Forscher in der Vergangenheit Neid für eine Emotion, deren zentrales Charakteristikum in der Feindseligkeit gegenüber anderen, besser gestellten Menschen bestehe. Doch diese Sichtweise greift zu kurz, wie Niels van de Ven und seine Kollegen von der Universität Tilburg (Niederlande) feststellten. Die Sozialpsychologen baten Menschen verschiedener Nationen, konkrete Situationen zu beschreiben, in denen sie schon einmal Neid empfunden hatten. Alle Erlebnisse waren von hoher Frustration und einem bohrenden Unterlegenheitsgefühl geprägt. Vom guten und vom bösen Neid Sie ließen sich aber verlässlich in zwei qualitativ unterschiedliche Formen unterteilen: "Bösartiger Neid" ging in der Tat mit missgünstigen Gedanken und destruktiven Absichten einher. Zum Beispiel hofften viele der Befragten insgeheim, die beneidete Person würde in irgendeiner anderen Hinsicht scheitern. Es gab aber auch "gutartigen Neid", bei dem Feindseligkeit keine große Rolle spielte. Zwar schwangen auch hier negative Gefühle mit, doch das beschriebene Erlebnis war vor allem von Seite | 16


ԩ«texte» 1. Oktober 2012 Sympathie und Bewunderung für die bessergestellte Person geprägt. Insbesondere hegten die Betroffenen den Wunsch, den Vorsprung durch eigene Anstrengung aufzuholen. Dass uns gutartiger Neid tatsächlich zu höheren Leistungen anspornen kann, zeigten die niederländischen Psychologen im vergangenen Jahr. Sie konfrontierten Studierende zum Beispiel mit der Beschreibung eines im Studium besonders erfolgreichen Kommilitonen. Währenddessen sollten sich die Probanden vorstellen, gutartigen Neid, bösartigen Neid oder Bewunderung zu empfinden. Anschließend bearbeiteten sie eine Denksportaufgabe, die scheinbar gar nichts mit dem Vorangegangenen zu tun hatte.

Ich auch! Kinder müssen lernen, Neidimpulse zu kontrollieren. Denn nur so ist ein verträgliches Miteinander ohne ständiges "Hauen und Stechen" möglich.

Wie erwartet, strengten sich die Teilnehmer, die sich zuvor eine gutartige Neiderfahrung ausgemalt hatten, stärker an als die "missgünstigen" Probanden. Interessanterweise schnitten sie sogar noch besser ab als die Kandidaten, die ihren Kommilitonen nur bewundert hatten. Das Gefühl des Neids kann uns also in seiner positiven Variante durchaus zu höheren Leistungen beflügeln. Auch wenn wir vermutlich öfter neidisch sind, als wir es uns eingestehen, reagieren wir sicherlich nicht auf jeden für uns nachteiligen Vergleich mit dieser ungeliebten Emotion. Warum eigentlich nicht? Wie aktuelle Studien unserer Arbeitsgruppe an der Universität Köln andeuten, erleben wir zwar häufig Anflüge von Neid – so genannte Neidimpulse –, können diese aber oft im Keim ersticken. Eine Frage der Selbstkontrolle Laut zahlreichen psychologischen Theorien wird Verhalten durch das Zusammenwirken von Impulsen und rationalen Erwägungen gesteuert. Stehen diese im Konflikt miteinander, ist entscheidend, ob die Ratio die Oberhand über das entwicklungsgeschichtlich ältere impulsive System gewinnt. Tatsächlich sind wir oft sehr gut darin, unsere inneren Regungen per Selbstkontrolle in Schach zu halten. Das dürfte ganz besonders auf Neidgefühle zutreffen: Sie sind nicht nur sozial unerwünscht, sondern können, wie gesagt, auch als sehr unangenehm und schmerzhaft empfunden werden. Deshalb setzen Seite | 17


ԩ«texte» 1. Oktober 2012 wir alles daran, stets unseren Neid zu verbergen. Ja sogar die entsprechenden Gedanken und Gefühle versuchen wir zu unterdrücken oder zu verändern. Emotionale Reaktionen lassen sich auf vielfältige Weise willentlich kontrollieren – etwa, indem man sich auf andere Aspekte der auslösenden Situation konzentriert, deren subjektive Bedeutung durch gezieltes Nachdenken verändert oder gar versucht, potenzielle Neidsituationen gänzlich zu vermeiden. Wovon es abhängt, ob das tatsächlich gelingt, ist inzwischen gut erforscht. Zum Beispiel hat sich herausgestellt, dass unsere Willenskraft relativ schnell ermüdet. Bemühen wir uns etwa mit allen Kräften, auf einer Party unsere schlechte Laune zu unterdrücken, ist damit ein guter Teil der Kapazitäten erst einmal erschöpft. Der Pralinenschachtel auf dem Küchentisch können wir danach nicht mehr so leicht widerstehen. Außerdem müssen wir hierzu den Kopf frei haben und geistig auf voller Höhe sein: Eine effektive Selbstkontrolle wird von allen Faktoren behindert, die uns mental einschränken – etwa wenn wir uns komplizierte Dinge merken, unter Zeitdruck stehen oder gestresst sind. Sogar mit einem niedrigen Blutzuckerspiegel und einem Bier zu viel intus können wir uns nicht mehr so gut beherrschen. Ob das auch für die Kontrolle von Neidimpulsen zutrifft, untersuchte unsere Arbeitsgruppe in diesem Jahr. Dazu konfrontierten wir Probanden mit einer anderen Person, die einen eigentlich recht unbedeutenden Vorteil hatte. Sie durfte in einer fiktiven Verkostung ein attraktiveres Lebensmittel probieren als der Proband. So luden wir Passanten während des Kölner Straßenkarnevals zu einem "Kamelletest" ein. Jeweils ein Passant und eine in den Versuch eingeweihte Person sollten Süßigkeiten verkosten. Ob es sich dabei um ein einfaches Bonbon oder edles Schokoladenkonfekt handelte, wurde zuvor ausgelost. Allerdings hatten wir die Verlosung so manipuliert, dass die "echte" Versuchsperson immer mit dem Bonbon vorliebnehmen musste, während unser Assistent die edle Süßigkeit bekam.

Experimente der Autoren ergaben, dass Menschen umso mehr zu Neidgefühlen neigen, je stärker sie – wie beim "Kamelletest" im Kölner Karneval – alkoholisiert sind (linke Grafik). Mentale Erschöpfung hat einen ähnlichen Effekt (rechts).

Der ungewöhnliche Ort für diesen Versuch war mit Bedacht gewählt. Wie beim Karneval üblich waren die meisten Passanten mehr oder weniger alkoholisiert. Wir wollten herausfinden, ob der Alkoholpegel das Ausmaß der Selbstkontrolle und damit die Neidreaktion beeinflusste. Und in der Seite | 18


ԩ«texte» 1. Oktober 2012 Tat: Die Teilnehmer, bei denen das Alkoholmessgerät einen hohen Wert ausspuckte, hatten zuvor angegeben, besonders neidisch auf den anderen Verkoster gewesen zu sein. Neid weckt Begehrlichkeiten In einem Kontrolltest ließen wir ebenfalls Passanten Kamelle testen; auch sie erhielten nach einer vermeintlichen Verlosung das Bonbon. Doch diesmal gab es keine zweite Person, die das Konfekt bekam. Wir sagten den Teilnehmern nur, dass andere Probanden bereits das Glück hatten, die Schokolade verkosten zu dürfen. Interessanterweise feuerte in diesem Fall der Alkohol den Neid nicht an. Man muss offenbar die entsprechende Person direkt vor Augen haben, um sie zu beneiden. Neid bringt noch eine andere Besonderheit mit sich: Er löst ein übersteigertes Begehren nach der Eigenschaft oder dem Objekt aus, um das man den anderen beneidet. Kauft sich der Nachbar etwa einen schicken Sportwagen, spielen wir plötzlich auch mit dem Gedanken – was wir sonst nicht tun würden. Das stellte unsere Arbeitsgruppe in einer weiteren Studie fest. Dafür luden wir wieder Erwachsene zu einem vorgeblichen Geschmackstest ins Labor ein. Diesmal schränkten wir das Selbstkontrollvermögen mancher Teilnehmer ein, indem wir sie während der Verkostung eine komplizierte Gedächtnisaufgabe ausführen ließen. Dann losten wir ihnen entweder einfache Butterkekse oder eine edle Eiskreme zu. Auch hier zeigte sich, dass die Teilnehmer mit wenig Kapazität zur Selbstkontrolle mehr Neid äußerten. Mehr noch: Je größer der Neid, desto stärker war ihr Wunsch, das bessere Produkt des anderen Teilnehmers auch zu haben; sie gaben an, mehr Geld dafür ausgeben zu wollen. Als Versuchspersonen bei einem weiteren Experiment in der gleichen Situation Gelegenheit hatten, das bessere Produkt spontan zu kaufen, taten sie dies auch meist. Das Interessante: Die Tatsache, dass ein anderer das leckere Eis bekam, ließ sie eher den Geldbeutel zücken. Ohne den Neidimpuls hätten sie es sich gar nicht gekauft. Schließlich interessierte uns, ob es sich bei diesem gesteigerten Verlangen nach dem Neidobjekt ebenfalls wie beim Neid selbst um einen Impuls handelt, den wir aktiv kontrollieren können. Dazu führten wir wieder einen Geschmackstest durch – diesmal mit einem Fruchtsmoothie und Sauerkrautsaft. Den Teilnehmern wurde nun immer der strenge Gemüsesud "zugelost", während eingeweihte Scheinprobanden das Erfrischungsgetränk bekamen. Anschließend präsentierten wir den Versuchspersonen auf einem Monitor Bilder entweder von dem Sauerkrautsaft oder von dem Smoothie. Die Fotos konnten in der oberen oder unteren Bildschirmhälfte erscheinen. Die simple Aufgabe der Teilnehmer bestand nun darin, so schnell wie möglich mit einem Joystick anzugeben, ob die Bilder oben oder unten erschienen – unabhängig davon, was gerade abgebildet wurde. Je nachdem, wo das Foto auftauchte, sollten sie den Hebel zu sich heranziehen oder von sich wegdrücken. Hintergrund dieser Übung: Aus der Geschwindigkeit, mit der die Probanden den Joystick bedienten, konnten wir ablesen, wie impulsiv sie das jeweils abgebildete Getränk begehrten. Denn laut psychologischen Studien wirken sich derartige Impulse unwillkürlich auf unser Verhalten aus – in diesem Fall auf die Joystickbewegung. Erschien auf dem Bildschirm ein Objekt, das der Proband unbedingt haben wollte (also der Fruchtsmoothie), sollte es ihm daher leichterfallen, den Joystick zu sich heranzuziehen, als ihn von sich wegzudrücken. Smoothie oder kein Smoothie? Tatsächlich rissen die Betroffenen den Joystick besonders schnell zu sich heran, wenn der Fruchtsmoothie auf der entsprechenden Bildschirmhälfte erschien – und zwar vor allem die Probanden, deren Selbstkontrolle wir währenddessen durch eine eigentlich belanglose kognitive Seite | 19


ԩ«texte» 1. Oktober 2012 Aufgabe einschränkten. Das traf allerdings nur dann zu, wenn neben ihnen ein vermeintlicher zweiter Versuchsteilnehmer saß, der den attraktiven Smoothie bekam. Waren sie allein, war ihr Verlangen nach dem süßen Getränk nicht gesteigert. Was uns verblüffte: Die Kandidaten, die während des Versuchs nicht unter hoher kognitiver Belastung standen und also besser in der Lage waren, ihre emotionale Situation zu kontrollieren, verhielten sich exakt umgekehrt. Saß ein Scheinproband neben ihnen, der mehr Losglück hatte als sie selbst, verringerte sich ihr impulsives Begehren nach dessen Smoothie. Möglicherweise handelt es sich hier um den so genannten "Saure-Trauben-Effekt". Um ihre negativen Emotionen leichter in den Griff zu bekommen, werten die Versuchsteilnehmer das Neidobjekt ab – ähnlich wie der Fuchs in Äsops Fabel, der sich die zu hoch hängenden Trauben schlechtredet. Das emotionale Alarmsignal Neid kann für uns also vielfältige Folgen haben. Haben wir es nicht unter Kontrolle, lechzen wir oft nach den Vorteilen anderer, obwohl sie uns normalerweise gar nicht viel bedeuten würden. Wie wir das vermeiden können und - vielleicht noch wichtiger - wie man bösartigen Neid in die gutartige Form verwandelt, muss weitere Forschung zeigen. © Spektrum.de

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Bücher:

Depressionen bei Männern

Foto: © Alois Altenweger

Text: Nicole Bongard, Stiftung «Männergesundheit» Männer, die exzessiv riskante Sportarten betreiben, risikofreudig schnelle Autos fahren oder regelmäßig trinken, gelten landläufig als männlich. Doch kaum jemand weiß, dass dies auch Anzeichen für eine der häufigsten und tödlichsten Krankheiten sein kann: Männerdepression. Experten gehen davon aus, dass drei bis vier Millionen Männer im Laufe ihres Lebens an einer Depression erkranken. Davon versuchen geschätzte 100.000 jährlich sich das Leben zu nehmen. Lange galt Depression als eine Krankheit der Frauen. Man nahm an, dass sie zwei bis drei Mal häufiger daran erkranken. Dies wird heute von Experten bezweifelt. Nur weil Männer seltener die bei Frauen typischen Symptome zeigen und so eine Erkrankung häufiger unerkannt bleibt, bedeutet dies nicht, dass sie nicht auch an Depressionen leiden. Von 10.000 Selbsttötungen jährlich entfallen drei Viertel auf die Männer, die im Allgemeinen seltener zum Arzt gehen und Therapien und Behandlungen gegenüber weniger offen sind. Dennoch wurden Depressionen bei Männern bislang kaum erforscht, sodass es fast keine Therapieformen für Männer gibt. In „Männer weinen nicht. Depressionen bei Männern“ beschreiben Constanze Löffler, Beate Wagner und Prof. Dr. Manfred Wolfersdorf mögliche Ursachen für Depressionen, stellen Kriterien für die Erkennung von Depressionen zusammen und haben einen Depressions-Selbsttest entwickelt, der es Betroffenen oder Außenstehenden erleichtert, die Krankheit besser zu erkennen und einzuordnen. Seite | 21


ԩ«texte» 1. Oktober 2012 Sie stellen unterschiedliche Medikamente und Therapieformen vor und widmen sich der Frage, wie Menschen selbst unter schwierigsten Bedingungen das Leben erfolgreich bewältigen. Denn lange wurde in der Forschung gefragt, was Menschen krankmacht, doch erst seit kurzem beschäftigt man sich in der sogenannten Resilienzforschung auch mit der Frage, was die psychische Gesundheit fördern kann. Autorinnen: Beate Wagner und Constanze Löffler sind Wissenschaftsjournalistinnen mit abgeschlossenem Medizinstudium. Seit Jahren setzen sie sich mit medizinischen, psychologischen und sozialen Themen auseinander. Sie veröffentlichen ihre Texte in Magazinen, überregionalen Tageszeitungen und Online-Medien. Prof. Dr. med. Dr. h.c. Manfred Wolfersdorf ist Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Bayreuth und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des BKH Bayreuth sowie ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Männerdepression und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Stiftung Männergesundheit. Buchangaben: Constanze Löffler/Beate Wagner/Prof. Dr. Manfred Wolfersdorf Männer weinen nicht: Depressionen bei Männern. Anzeichen erkennen – Symptome behandeln – Betroffene unterstützen ISBN: 978-3-442-17320-4 Fr. 13,50 Goldmann Taschenbuch

Buchbesprechung:

«Ohne Ich, kein Wir» ….oder empathische Egoisten Text: Reinhard Meyer Egoistisch, nein, das wollen wir nicht sein! Schließlich gibt es doch genügend Egomanen und Geizhälse auf der Welt. Also achten wir immer schön auf die Gemeinschaft und stellen eigene Bedürfnisse hintan. Gut so? Überhaupt nicht, meint Michael Pauen in seinem neuen Buch. Mitleid und Verzicht seien die falschen Strategien und allenfalls eine Lösung für Notlagen. Egoismus dagegen sei - richtig eingesetzt - nicht schädlich. Wir bräuchten ihn sogar dringend, wenn wir mit anderen klarkommen wollen. Mehr noch: Egoismus, so wie der Autor ihn versteht, stellt eine der wichtigsten Säulen unseres Gemeinwohls dar. Das mag zunächst überraschen, doch der Professor für Philosophie an der Berliner HumboldtUniversität huldigt weder dem Kapitalismus noch plädiert er für Gier und Selbstsucht. Pauen spricht von einem empathischen, einfühlenden Egoismus. Der Mensch sei schließlich ein durch und durch soziales Wesen: Er redet, lacht, streitet und arbeitet mit anderen, er führt Geschäfts- und Liebesbeziehungen. Insofern seien unsere Eigeninteressen in vielfältiger Weise mit denen von anderen verknüpft. Wenn sich jeder Einzelne wohl fühlt, profitiere auch die Gemeinschaft davon; bleiben aber individuelle Wünsche unbefriedigt, könne dies den Mitmenschen schaden.

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ԩ«texte» 1. Oktober 2012 Eigentlich geht es Pauen darum, wie wir am besten mit unserer sozialen Umwelt zurechtkommen. Ausführlich beschreibt der Autor, mit welch ausgefeilten zwischenmenschlichen Fähigkeiten wir ausgestattet sind und warum sie in unserer Evolution eine zentrale Rolle spielten. Was das Verhalten in Gruppen betrifft, hat Pauen allerdings fast nur Negativbeispiele parat, darunter einige berühmte Experimente. Sie zeigen, was passiert, wenn wir uns zu sehr anpassen. Vergleichsweise harmlos wirken da Versuche des Sozialpsychologen Solomon Asch aus den 1950er Jahren: Probanden beurteilten zwei offensichtlich unterschiedlich lange Linien fälschlich als gleich lang, nachdem andere Probanden dies behauptet hatten. Spektakulärer ging es beim berühmten Stanford-Prison-Experiment von Philip Zimbardo zu. Unbescholtene Versuchspersonen wurden zu sadistischen Gefängniswärtern, nachdem sie in einem Rollenspiel zufällig diese Aufgabe zugeteilt bekommen hatten. Die menschliche Neigung, sich kollektivem Druck zu beugen, kann katastrophale Folgen haben – bis hin zu Gewalttaten oder Börsencrashs. Pauens Argumentation leuchtet ein, auch wenn er sein Lieblingskonzept, den «empathischen Egoismus», vielleicht treffender als «umsichtigen Individualismus» hätte bezeichnen sollen. Dass es so etwas wie Altruismus, also Hilfeleistungen abseits von Eigeninteressen gibt, bestreitet der Autor zwar nicht. Er gesteht der uneigennützigen Sorge um andere jedoch nur eine untergeordnete Rolle zu. Eine Stärke des stellenweise etwas trocken formulierten Textes ist, dass der Philosoph nicht moralisch, sondern pragmatisch argumentiert. Wir seien nun mal so, wie wir sind, und "eine Gesellschaft aus lauter Menschenfreunden wäre sterbenslangweilig". Doch der Autor beschreibt die Psyche als äußerst dynamisch und weist immer wieder auf die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Lernerfahrungen und angeborenen Dispositionen hin. Pauen begreift den Menschen eben nicht als rein egoistisch, sondern als grundsätzlich kooperationsfähig und dank seiner sozialen Intelligenz für alle Eventualitäten gerüstet – sofern er dem Druck der Gruppe widerstehen kann. Quelle: Gehirn&Geist, August 2012 Der Rezensent ist Diplompsychologe und freier Journalist in Erkrath bei Düsseldorf. Michael Pauen

Ullstein Taschenbuch 2012, ISBN: 3550088426 «Ohne Ich, kein Wir», Fr. 29.50

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ԩ«texte» 1. Oktober 2012 Buchbesprechung:

Glück beginnt im Kopf Text: Peggy Freede Glück ist wahrscheinlich das schönste Gefühl der Welt – kein Wunder, dass im Grunde jeder auf der Suche danach ist. Denn: Wer möchte nicht glücklich sein? Die gute Nachricht ist, dass Glück machbar ist, und zwar für jeden. Ganze 40 Prozent unseres Glückempfindens gehen nach Schätzungen von Glücksforschern auf unser eigenes Konto. 50 Prozent liegen in der Struktur unseres Gehirns begründet, und nur etwa ein Zehntel hängt von den äußeren Umständen ab. Das heißt, wir haben einen immensen Einfluss auf unsere innere Zufriedenheit. Wir können in unserem Gehirn die strukturellen Voraussetzungen für Glück schaffen und die Ausschüttung von Glücksbotenstoffen ankurbeln – und zwar durch positives Denken und so genannte Flow-Erlebnisse, einer Art Schaffensrausch. Tobias Esch erklärt in seinem Buch "Die Neurobiologie des Glücks" auf Grundlage der Positiven Psychologie, was wir tun müssen, wie dies gelingt. Er erklärt, wie wir lernen können, dankbar zu sein, zu vergeben, wie wir optimistischer werden und Tugenden entwickeln. Dafür gibt er dem Leser eine praktische Meditationsanleitung zur Hand. Und wer tiefer in das Thema einsteigen möchte, findet im Anhang eine ausführliche Literaturangabe und relevante Adressen und Weblinks zur Positiven Psychologie, Neurobiologie und "Mind-Body-Medizin". Das Buch des Neurowissenschaftlers ist aber weit mehr als ein weiteres Glücksbuch, das sich zu den unzähligen bereits existierenden Büchern über Glück gesellt: Der Mediziner gibt dem Leser eine Einführung in die Hirnkunde, und er geht in seinem Werk detailliert der Frage nach, was dieses Gefühl aus der Sicht von Psychologie und Medizin ist. Er erklärt, wo Glück neurobiologisch betrachtet entsteht und wie Glücksempfinden ausgelöst wird.

Tobias Esch «Die Neurobiologie des Glücks» Thieme, Stuttgart, 2012 ISBN: 3131661119

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Über den Tellerrand hinaus:

Herbsttagung 2012 am Szondi-Institut Zürich Samstag, 3. November 2012 zum Thema

Burnout und Stress – was läuft schief in unserer Arbeitskultur? Programm der Tagung

Moderation: Frau lic.phil. Annamarie Reich Ab 9.00 Uhr Kaffee und Gipfeli 9.30 h 9.40 h

Begrüssung Erstes Referat: Carolin Alexia Kriening, lic. phil. / MAS Business Psychology «Die Genese von Burnout und Stress – eine Forschungsreise durch unsere Arbeitswelt»

10.40 h

Fragen, kurze Pause

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11.00 h

Zweites Referat: Dr. oec. HSG Michael Kreis «Was tun? Der Beschleunigungsfalle entkommen»

12.00 h

Fragen, Diskussion zum Verständnis der vorangegangenen Referate

12.30 h

Mittagessen, Lunch am Institut

13.45 h Drittes Referat: Prof. Dr. Thorsten Scherf «Die psychophysischen Auswirkungen von Burnout und Stress» 14.45h

Fragen, kurze Kaffeepause

15.00 h

Viertes Referat: Dr.med. Tabea Apfel «Burnout - Wie kann die Behandlung gelingen?»

16.00 h

Diskussion

Ca. 16.30 h

Schluss der Tagung

Apéro zum Ausklang

Referentinnen/Referenten Carolin Alexia Kriening, lic. phil. MAS Business Psychology, Projektleitung, Beratung, Training, Betriebliche Gesundheitsförderung,Institut für Arbeitsmedizin, Zürich carolin.kriening@arbeitsmedizin.ch www.arbeitsmedizin.ch Titel des Referats: «Die Genese von Burnout und Stress – eine Forschungsreise durch unsere Arbeitswelt» Inhalt des Referats: Die Teilnehmenden verstehen Veränderungen in der Arbeitswelt und die daraus resultierenden Folgen, lernen die Definition und Bedeutung von Stress und Burnout kennen, Seite | 26


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sind auf mögliche Frühanzeichen bei Stress sensibilisiert und reflektieren gesundheitliche Folgen von Stress.

Dr. oec. HSG Michael Kres Partner ProMove TM GmbH, Partner ProMove TM Employability Consulting AG, Executive Leadership Coach AoEC. Professional Certified Coach ICF. Vorstandsmitglied www.employability.ch. Michael.Kres@promovetm.com

Titel des Referats: «Was tun? Der Beschleunigungsfalle entkommen» Inhalt des Referats: -

Die Beschleunigungsfalle Eine positive Assoziation zum Begriff «Entschleunigung» Die wichtigsten Bestandteile von Entschleunigung Kleiner Input – grosser Output Ein bottom-up Ansatz Tools und Methoden Fallbeispiele

Prof. Dr. Thorsten Scherf Leitung Athemia Institut für Führung und Beziehungsmanagement Kalaidos Fachhochschule Wirtschaft AG

thorsten.scherf@kalaidos-fh.ch www.athemia.com www.athemia.com Titel des Referats: «Die psychophysischen Auswirkungen von Burnout und Stress» Inhalt des Referats: Fast täglich sehen wir uns neuen beruflichen und privaten Herausforderungen gegenüber, nicht immer gelingt uns ein angemessener Umgang mit solchen Anforderungen. Häufig versuchen wir diese neuen Situationen mit einem verstärkten Einsatz zu bewältigen. Leider bewegen wir uns damit selber häufig am Rande der eigenen Belastbarkeit. Der Raubbau an den eigenen Ressourcen zeigt sich langfristig durch nicht ideale Lösungen. Oft kommt es auch zu psychischen und physischen Folgen wie Konzentrationsstörungen, Magenbeschwerden und Seite | 27


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mangelnder Schlafqualität. Ein angemessener Umgang mit den eigenen Ressourcen lässt sich erlernen und trainieren. Somit bleibt man langfristig leistungsfähig.

Frau Dr.med. Tabea Apfel Privatklinik Hohenegg Leitung Burnout-Beratungsstelle Zürich tabea.apfel@hohenegg.ch Titel des Referats: «Burnout – Wie kann die Behandlung gelingen? » Inhalt des Referats: In der Burnout-Beratungsstelle Zürich der Privatklinik Hohenegg meldeten sich im letzten Jahr über 150 Personen, die eine Beratung oder eine Therapie wegen einer Burnout-Symptomatik wünschten. Anhand von Fallbeispielen werden verschiedene Verläufe beschrieben, und es wird aufgezeigt, welche Faktoren eine erfolgreiche Behandlung ermöglichen. Dazu zählen neben der Bereitschaft, sich mit der Situation und mit sich selbst auseinanderzusetzen, und neben Veränderungswünschen auch äussere Umstände wie z. B. soziale Unterstützung, Entlastung, genügend Zeit und ein wohlwollendes Arbeitsumfeld.

Organisatorisches: Tagungsgebühr 150.-- (inkl. Getränke, Lunch und Apéro) Für SGST-Mitglieder und Absolvent/innen des Instituts: Fr. 125.-Partner/Partnerin: Fr. 125.-Nach Eingang der Tagungsgebühr erhalten Sie eine Bestätigung. Anmeldung: per E-Mail: info@szondi.ch oder schriftlich mit Anmeldeschein Tel. 044 252 46 55 info@szondi.ch Sekretariat: Frau Manuela Eccher

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«Ökonomien» Arbeitstagung zum Begriff des Ökonomischen in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen Samstag, 3. November 2012

Die Wirtschaftskrise der letzten Jahre hat das Rationalitätsdogma der Ökonomie, wonach Menschen im Markt rational handeln, gründlich in Frage gestellt. Doch was kann mit dem Begriff des Ökonomischen gemeint sein, wenn er nicht das rationale Verhältnis von Menschen und Dingen bezeichnet? Mit dem Begriff des Ökonomischen werden unterschiedlichste Zusammenhänge beschrieben, zum Beispiel ist von Ökonomie der Macht, Ökonomie der Natur, Ökonomie der Aufmerksamkeit oder Ökonomie des Begehrens die Rede. Und ihm werden verschiedene Bedeutungen zugeordnet, so gilt Ökonomie beispielsweise als System von Bewertungen, als Gesetzmässigkeit gesellschaftlicher Zirkulation, als soziale Sphäre der Produktion oder als Anthropologie menschlichen Verhaltens (Lustprinzip). Jenseits tagesaktueller Debatten wollen wir uns an der Tagung „Ökonomien“ dem Begriff des Ökonomischen aus der Perspektive verschiedener Wissenschaften nähern. Denn nur auf dieser Grundlage lässt sich ein besseres Verständnis der aktuellen Situation gewinnen.

Programm 08.30 Uhr: Türöffnung (Kaffee, Gipfeli) 09.00-10.15 Uhr Der Markt als Spiel 10.30-11.15 Uhr UhrLuxus und Aufschub. Die Ökonomie des 18. Jahrhunderts Daniel Strassberg (Zürich)

11.15-12.00 Uhr Die Rückkehr der «Animal Spirits» in die Ökonomie: Das Menschenbild von John Maynard Keynes und wie es vergessen ging Markus Diem Meier (Zürich)

Mittagspause

13.30-14.15 Uhr Geld und Sprache ‒ Zum Problem der Deckung Peter Schneider (Zürich) und Josef Zwi Guggenheim (Zürich)

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14.15-15.00 Uhr Wachstum und subjektives Wohlbefinden Mathias Binswanger (Olten)

15.15-16.00 Uhr Ist die Ökonomie des Unbewussten das Unbewusste der Ökonomie? Round Table mit den Referenten Moderation: Andreas Cremonini (Philosoph, Basel)

Organisation

Veranstaltungsort ETH Zürich, Hauptgebäude (HG D3.2), Rämistrasse 101, 8092 Zürich

Kosten (inkl. Kaffee, Gipfeli) Studierende: kostenlos / Mitglieder Entresol und PSZ: 70 CHF / andere: CHF 100 Tageskasse Zuschlag: +CHF 20

Anmeldung (bis 22. Oktober) Netzwerk Entresol, Konradstrasse 68, 8005 Zürich, info@entresol.ch, +41 (0)79 598 85 60

Einzahlung PC-Konto: 85-606326-1 IBAN: CH65 0900 0000 8560 6326 1 BIC: POFICHBEXXX Entresol – Netzwerk für Philosophie, Psychoanalyse und Wissenschaften der Psyche 8006 Zürich Mit der Zahlung der Gebühren ist die Anmeldung definitiv.

Veranstalter Die Tagung wird vom Netzwerk Entresol in Zusammenarbeit mit dem Collegium Helveticum der Universität und der ETH Zürich sowie dem Psychoanalytischen Seminar Zürich (PSZ) veranstaltet.

Hinweis Begleitend zur Tagung veranstalten Entresol und das mit dem Psychoanalytischen Seminar Zürich (PSZ) im Wintersemester 2012/2013 ein Seminar unter dem Titel 'Ökonomien' unter der Leitung von Daniel Strassberg und Andreas Cremonini

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Seminar: Das Ein-Personen-Rollenspiel in Beratung, Coaching und Therapie 29./30. November 2012 in Basel Weitere Informationen und Ameldung: www.ipda.ch

Kurzbeschrieb: Rollenspiel ist auch im Einzelsetting ein kreatives Instrument für die Praxis. Anhand von Fallbeispielen mit einzelnen Klienten werden die Rahmenbedingungen, Instrumente und Grundtechniken des explorativen Rollenspiels dargestellt.

Veranstaltungsbeschreibung: Rollenspiel ist eine erlebnisorientierte Lernform, die in zahlreichen Verfahren zur Anwendung kommt. Dieses „Lernen in Situationen“ wird vor allem in Gruppen eingesetzt. In der Einzelsituation erscheint es nicht immer einfach, geeignete Situationen für ein Rollenspiel zu erfinden. Ausgehend von Fallbeispielen der Workshop-Teilnehmenden werden wir verschiedene kreative Rollenspielformen für das Einzelsetting ausprobieren. Hierbei wird der Focus auf das explorative Rollenspiel gelegt: ein wirksames Instrument, um mehr Klarheit über Befindlichkeit, Bedürfnisse und Ziele zu erlangen. Im explorativen Ein-Personen-Rollenspiel können die Klienten die eigene Wahrnehmung und Beurteilung von Ereignissen, Gefühlen, Beziehungen und Einstellungen überprüfen und eigene Handlungsmotive kritisch hinterfragen. Weiter werden auch die Möglichkeiten und Wirksamkeit von Rollenspiel als Rollentraining, Ritual und diagnostisches Instrument dargestellt. Oft sind es kleine aber entscheidende Anleitungen, die aus einem mittelmässigen Rollenspiel eine nachhaltige Lernerfahrung machen. Daher wird ein besonderes Gewicht auf die Rahmenbedingungen gelegt: Braucht es so etwas wie eine Bühne? Wie führe ich ein Rollenspiel ein? Wie wird eine Rolle übernommen? Welche Rolle spiele ich als Therapeut? Welche Fehler sollte ich nicht machen? Die Workshop-Teilnehmenden können Fallbeispiele aus der eigenen Praxis einbringen und sie werden erleben, dass spielerisches Handeln im „So-tun-als-ob“ manchmal wirksamer ist als ein Gespräch. Literatur zum Workshop: Schaller, R. (2009). Stellen Sie sich vor, Sie sind...Das Ein-Personen-Rollenspiel in Beratung, Coaching und Therapie. Bern: Huber Seminarleitung: Roger Schaller ist Fachpsychologe für Psychotherapie und Verkehrspsychologie und Psychodrama-Therapeut. Nach dem Studium der Psychologie an der Universität Bern und der Weiterbildung in Psychodrama am Moreno Institut Überlingen arbeitete er viele Jahre Seite | 32


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als Therapeut in der Suchtprävention und später als Kursleiter in der Bildungsarbeit mit arbeitslosen Menschen. Heute ist er zu 50% als Psychologe im Sonderpädagogischen Zentrum Bachtelen/Grenchen tätig. Hier arbeitet er als Psychologe und Psychotherapeut mit verhaltensauffälligen Kindern/Jugendlichen und deren Familien. Freiberuflich ist er in eigener Praxis als verkehrspychologischer Therapeut, Seminarleiter, Psychodrama-Ausbilder und Supervisor tätig. Er ist Autor von drei Fachbüchern zu Rollenspiel und Psychodrama. Er lebt mit seiner Frau und seinem jüngsten Sohn im Magglingen/Schweiz.

Veröffentlichungen: Schaller, R. (2005). Wege, an sie ranzukommen. Selbstmanagement- und Psychodrama-Training mit gewaltbereiten Kindern und Jugendlichen. Weinheim: Juventa Schaller, R.(2006). Das grosse Rollenspiel-Buch. Grundtechniken, Anwendungsformen, Praxisbeispiele. 2. Aufl. Weinheim: Beltz Schaller, R. (2007). Das Hier-und-Jetzt der Gruppe als psychodramatische Bühne. Selbstmanagement-Training mit aggressiv-antisozialen Jugendlichen. Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, 1, S. 83-98. Schaller, R. & Sturm, I. (2009). Zur Anerkennung des Psychodramas als Psychotherapieverfahren in der Schweiz. Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, 1, S. 109-119. Schaller, R. (2009). Stellen Sie sich vor, Sie sind...Das Ein-Personen-Rollenspiel in Beratung, Coaching und Therapie. Bern: Huber

Fortbildungsseminar am Institut für Transaktionsanalytische Psychologie ITAP, Zürich mit Barbara Classen, Esther Fischer-Homberger, Hansruedi Hunter 23. – 25. November 2012

Gerechtigkeit in der Psychotherapie Als Individuen sind wir eingebettet in die Gemeinschaft, die Gemeinde, die Familie und andere soziale Einheiten und stehen mit diesen in ständigem Austausch. Jede Psychotherapie hat daher ebenso mit dem Einzelnen wie mit seiner Einbettung in die Gesellschaft zu tun. In diesem Seminar wollen wir uns speziell mit dem Thema der Gerechtigkeit auseinandersetzen. Bei diesem Thema ist die individuelle Psyche in besonders unlösbarer Weise mit den Normen und Werten der Gemeinschaft verbunden, welche sie umgibt. Wo individuelles und kollektives Gerechtigkeitsempfinden übereinstimmen, ergeben sich keine psychotherapeutischen Probleme. Wo sie differieren, erleben wir Ungerechtigkeit. Anmeldung: www.transaktionsanalyse.ch Seite | 33


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Mitteilungen:

Leben mit Bipolaren (manisch-depressiven) Störungen in der beschleunigten Welt Stiftung Deutsche Depressionshilfe Neue Leitlinie gibt Hilfestellung bei Behandlung der Bipolaren Störung Link: http://idw-online.de/de/news498386

Geistige Retardierung entsteht durch spontane Mutationen Wissenschaftler der Universität Zürich haben in Zusammenarbeit mit Forschern aus Deutschland 51 Patienten untersucht, die von Geburt an unter einer Entwicklungsstörung leiden. Schwere geistige Behinderung scheint demnach häufig auf Grund von spontanen Gen-Mutationen aufzutreten, also nicht geerbt zu sein.

Schwere geistige Behinderung ab Geburt wird vermutlich häufig nicht von den Eltern vererbt, sondern durch Neumutationen ausgelöst. Dies beschreiben Wissenschaftler der Universität Zürich gemeinsam mit Kollegen an den Universitäten Erlangen, Essen und vom Helmholtz Zentrum München in der aktuellen Ausgabe des Fachjournals «The Lancet». Dies bedeutet für viele Eltern, dass bei weiteren Schwangerschaften nur ein geringes Wiederholungsrisiko besteht. Anita Rauch, Professorin am Institut für Medizinische Genetik der Universität Zürich, hat mit Kollegen des Instituts für Humangenetik des Helmholtz Zentrums München für die Mutationsuntersuchungen eine Exom-Sequenzierung durchgeführt. Die Forschenden haben also diejenige Erbsubstanz analysiert, aus der Proteine oder andere funktionelle Produkte gebildet werden. Auffällig war, dass nur drei Gene bei mehreren Patienten betroffen waren, hingegen die meisten Gene jeweils nur bei einem Patienten mutiert waren. Somit könnten Mutationen wahrscheinlich in vielen verschiedenen Genen eine geistige Behinderung auslösen. «Deshalb war es bisher auch so schwierig, bei diesen Patienten eine Diagnose zu stellen», erklärt Anita Rauch, Erstautorin der Studie. Und Tim Strom vom Institut für Humangenetik des Helmholtz Zentrums München ergänzt: «Mit Hilfe der ExomSequenzierung kann geistige Retardierung in Zukunft deutlich früher diagnostiziert werden, und zwar mit überschaubarem Aufwand. Wir gehen davon aus, dass die Methode zum Standard wird.» Literatur: Rauch A. et al. Range of genetic mutations associated with severe non-syndromic sporadic intellectual disability.an exome sequencing study. The Lancet. 27 September, 2012. doi: 10.1016/S0140-6736(12)61480-9

Schneller lernen mit neurodegenerativer Krankheit Dr. Josef König Ruhr-Universität Bochum Menschen, die die genetische Mutation für die Huntington-Krankheit in sich tragen, lernen schneller als gesunde Personen. Das berichten Forscher der Ruhr-Universität Bochum und aus Dortmund in der Zeitschrift Current Biology. Je stärker die Mutation ausgeprägt war, desto schneller lernten die Seite | 34


ԩ«texte» 1. Oktober 2012 Probanden. Damit zeigte das Team erstmals, dass neurodegenerative Krankheiten mit einer gesteigerten Lernleistung einhergehen können. Menschen, die die genetische Mutation für die Huntington-Krankheit in sich tragen, lernen schneller als gesunde Personen. Das berichten Forscher der Ruhr-Universität Bochum und aus Dortmund in der Zeitschrift Current Biology. Je stärker die Mutation ausgeprägt war, desto schneller lernten die Probanden. Damit zeigte das Team erstmals, dass neurodegenerative Krankheiten mit einer gesteigerten Lernleistung einhergehen können. „Es könnte sein, dass die gleichen Mechanismen, die zu den degenerativen Veränderungen im zentralen Nervensystem führen, auch die wesentlich bessere Lernleistung bewirken“, sagt Dr. Christian Beste, Leiter der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe „Neuronal Mechanisms of Action Control“ an der RUB. *

Bei depressiven Frauen kann Bewegung Stress abbauen lic. phil. Christoph Dieffenbacher Universität Basel Durch körperliche Bewegung sind Frauen mit früheren Depressionen in der Lage, neue Stressfaktoren besser zu bewältigen. Bereits leichte körperliche Aktivitäten könnten gegen weitere depressive Episoden vorbeugend wirken. Zu diesem Resultat kommt eine Studie von Psychologen der Universität Basel und Kollegen, die in der Fachzeitschrift «Journal of Abnormal Psychology» online veröffentlicht wurde. Von Depression, der verbreitetsten psychischen Erkrankung, sind Frauen etwa doppelt so häufig betroffen. Sie wird oft auch als «Stresskrankheit» beschrieben: Erkrankte erleben mehr Stressfaktoren und reagieren gleichzeitig stärker auf sie. Angenommen wird, dass Menschen mit früheren Depressionen auf jeden weiteren Stress stärker reagieren, also eine sogenannte Sensibilisierung erfahren; dies macht sie wiederum anfälliger für depressive Episoden. Mehr als 80% jener, die einmal eine depressive Episode erlebt haben, machen noch mindestens eine weitere durch.

Weitere Auskünfte: Dr. Jutta Mata, Fakultät für Psychologie der Universität Basel, Tel. z.Z. +49 (0)30 780 960 11, E-Mail: jutta.mata@unibas.ch

..und hier geht’s weiter… Seite | 35


ԩ«texte» 1. Oktober 2012

Zu guter Letzt:

Was Hamlet meinte… «Man schimpft uns Säufer und klebt unseren Namen Ein Schweineschmutzwort auf; und wirklich nimmt’s Von unsern Taten, gleich wie gut vollbracht, Das Mark und Herzstück unserer Leistung fort. So kommt‘s auch häufig vor bei Einzelmenschen, Dass sie durch ein Naturschandmal im Wesen, Wie von Geburt an, dran sie gar nicht schuld sind (Weil’s Wesen sich nicht die Natur kann wählen), Durchs Überquellen eines innren Saftes, Der Wall und Damm der klaren Vernunft oft sprengt, Durch irgendein Gehabe, das zu sehr Zersetzt die Form genehmer Sitten – dass diese Menschen, Die, sag ich, eines Fehlers Stempel tragen, Sei’s Erbmal der Natur, sei’s Schicksalsstern, Seien ihre Tugenden sonst rein wie Gnade, Zahllos, wie sie ein Mensch nur haben kann: Sie werden im Gesamturteil veseucht Von jenem einen Fehl. Das Quentchen Böses Zerrt alles noble Wesen oft herab In seinen eignen Pfuhl». Hamlet, 1. Akt, 4. Szene

Redaktion: Alois Altenweger, Stiftung Szondi-Institut a.altenweger@zapp.ch Seite | 36


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