Mississippi John Hurt – Story AKUSTIK GITARRE 4-1997

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History

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Das Mississippi-Delta, südlich von Memphis, Tennessee, wird auf seiner westlichen Seite vom Mississippi und auf der östlichen vom Yazoo River begrenzt. Es ist auffällig, wie viele erstklassige Bluesmusiker aus diesem relativ kleinen Gebiet emporkamen. Der typische Delta-Blues, wie er sich im ersten Viertel dieses Jahrhunderts dort entwickelte, ist von rauher Natur. Er charakterisiert sich durch prägnantes Slidespiel, rhythmische Baß-Grooves und kraft­vollen Gesang. Mississippi John Hurt, der im Herzen des Deltas geboren wurde und auch über 70 Jahre seines Lebens dort verbrachte, paßt allerdings nicht so recht ins Klischee des typischen „Deltabluesman“. Im Gegensatz zu den meisten anderen Musikern seiner Zeit war er ein extrem bodenständiger Mensch, der weder umherzog, um in den Camps der Deicharbeiter zu spielen, noch um für sogenannte „Medicine Shows“, die durch das Land tingelten, aufzutreten. John Hurt bevorzugte es hingegen, in seinem Heimatörtchen Avalon (in der Nähe von Greenwood gelegen) in der Nachbarschaft, auf Feiern und sonstigen Tanzveranstaltungen aufzutreten. „Nach einigen Stunden war ich dann oft müde und wollte aufhören zu spielen, doch wenn die Stimmung gut war, sagten die Leute: ,Was ist los, John, wir wollen tanzen’ - und dann ging es manchmal bis in die Morgenstunden, und mir schmerzten fürchterlich die Hände“. Es waren zwei weiße Coun­trymusiker, Gitarrist Shell Smith und Fiddler Willie Narmour, die John Hurt Tommy Rockwell, seines Zeichens Manager beim OKeh Label, empfahlen. Jener organisierte einen Studiotermin für John Hurt am 14. Februar 1928 in Memphis. Dort wurden acht Titel eingespielt, von denen allerdings nur zwei veröffentlicht wurden - „Frankie“ und „Nobody’s Dirty Buisness“. „Es war ein großer Saal, und es waren nur drei Personen anwesend, der Tontechniker, Tommy Rockwell und ich. Sie stellten mir das Mikrofon direkt vor den Mund und sagten, ich dürfe mich auf keinen Fall mehr bewegen, wenn sie die optimale Position herausgefunden hätten. So mußte ich meinen Kopf absolut stillhalten, ich war sehr nervös, und der Hals hat mir noch Tage später wehgetan“. Mississippi John Hurt erinnerte sich auch noch daran, wie viele bekannte Bluesmusiker er damals in Memphis traf: Lonnie Johnson, Blind Lemon Jefferson, Bessie Smith und noch einige andere. Die beiden Titel waren relativ erfolgreich, und Hurt erhielt weitere Studiotermine Ende des Jahres. Am 21. und 28. Dezember 1928 entstanden somit einige der bemerkenswertesten „Prewar Bluesrecordings“ im New Yorker Studio von OKeh Records. Darunter Standards wie „Stack O’Lee“ und „Candy Man Blues“. Seine Spielweise ist von weichen, rollenden Pickings geprägt, von synkopierten Rags bis in den Folk reichend und weit entfernt vom typischen Delta-Blues. Hurt spielte stets ohne Fingerpicks mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger, wobei der Ring- und der kleine Finger an der Decke aufgelegt sind und die Spielhand fest in ihrer Position halten. Der Anschlag der einzelnen Saite ist dennoch äußerst prägnant und druckvoll - Garant für Klarheit und Differenziertheit auch bei schnellen Pickingpassagen. Die tiefe und geschmeidige Stimme strahlt eine besondere Ruhe aus. In der Melodielinie wird sie bei vielen Stücken synchron von der Gitarre untermalt, oder es entstehen wechselweise Konversationen im Frage-Anwort-Stil. Das OKeh-Label war mit dem

Folk-Blues-Gitarristen der ersten Stunde Mississippi John Hurt

(John S. Hurt, 1892-1966)

• Von Ralf Bauer • zurückhaltenden Art das junge, weiße Publikum schnell für sich begeisterte. Aus dieser Zeit gibt es einen herrlichen Mitschnitt vom Newport Festival, wo neben Hurt noch weitere Bluesveteranen seiner Generation, aber auch „Youngsters“ wie John Hammond vertreten sind. Im Rahmen des American Folk Blues Festivals war er schließlich in Europa live zu erleben. In der Roots’n’Blues-Serie (Mississippi John Hurt, „Avalon Blues“, Columbia) erhält man die kompletten 1928er OKeh-Aufnahmen in ordentlicher Qualität, sie sind unbedingt empfehlenswert! Mississippi John Hurt war nach seiner Wiederentdeckung eine der herausragenden Persönlichkeiten des Akustik-Revivals Anfang der 60er Jahre. Er verband nahtlos weißen Folk mit schwarzem Blues und hatte einen bedeutenden Einfluß auf Millionen junger Gitarristen. „Stack O’Lee“ und „Candy Man“ entwickelten sich zu Paradebeispielen der Fingerpickingschulen und sind in unzähligen Lehrbüchern und auf vielen Lehrvideos enthalten. Der freundliche Mann mit dem Stetson-Hat starb am 2. November 1966 im Alter von 74 Jahren. kommerziellen Erfolg sehr zufrieden, und es waren bereits weitere Aufnahme-Sessions zugesagt, als in den 30er Jahren die Depression weiteren Erfolgen einen Riegel vorschob. So wurde es ruhig um Mississippi John Hurt, der nun wieder in Avalon als Landarbeiter oder in verschiedenen anderen Jobs sein Geld verdiente. Aus diesem Dornröschenschlaf wurde er erst 35 Jahre später von einem jungen Bluesfreund aus Washington D.C. gerissen, der Hurt aufgrund des Textes des „Avalon Blues“ dort auch wiederfand: „Ava­ lon ’s my home town, always on my mind“. Sein Name war Tom Hoskins, und er war es, der Hurt mit Dick und Louisa Spottswood bekanntmachte, die 1963 weitere Aufnahmen von ihm ermöglichten. Es war genau die richtige Zeit für die Wiederentdeckung, und im Sog des Folk-Blues-Booms war John Hurt auf vielen bekannten Festivals sowie in Coffee Houses und Clubs zu sehen. Er hatte die warmherzige Ausstrahlung des liebevollen „Granddaddys“, der mit seiner ruhigen,

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