Message in a Bottle: Crimethinc Communiqués 1996-2011

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CrimethInc. Communiques 1996—2011

MESSAGE IN A BOTTLE


Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

MESSAGE IN A BOTTLE CrimethInc. Communiques 1996—2011 Erste Auflage, Juni 2012 ISBN 978-3-89771-519-6 © UNRAST-Verlag und bei den Autor_innen, Münster Postfach 8020 | 48043 Münster | Tel. (0251) 66 62 93 info@unrast-verlag.de | www.unrast-verlag.de Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe) Satz und Gestaltung: gegenfeuer, Domme Druck: Interpress, Budapest


Ein paar Worte vorweg Die BM-Crew ist ein loser Zusammenschluss ohne feste Organisation, ohne Programm und ohne genaue Abgrenzung, wer nun Teil davon ist oder nicht. Zusammengekommen sind wir erst einmal spontan für dieses Projekt, mal sehen, was folgen wird. Die CrimethInc.-Texte werfen uns immer wieder auf wesentliche Fragen unseres täglichen (oder alltäglichen) Lebens zurück, hinterfragen unsere Beziehungsformen und unsere Umgangsweise mit dieser Welt – und stoßen uns dabei immer wieder auf die Frage nach einem revolutionären Umsturz des großen Ganzen, »für die Freiheit der Welt und Straßen aus Zucker«. Eigentlich überflüssig zu erwähnen, aber dennoch: selbstverständlich stehen wir nicht hinter jedem der in den folgenden Texten vertretenen Standpunkte, einige von uns stehen manchen Thesen sogar ablehnend gegenüber. Auch ist es uns wichtig, darauf hinzuweisen, dass in diesem Buch übersetzte Fassungen der Texte stehen und dass wir keine professionellen Übersetzer_innen sind. Alle Originaltexte sind im Internet oder in den entsprechenden Büchern zu finden. Unserer Meinung nach ist es nie möglich, einen Text eins zu eins von einer Sprache in die andere zu übertragen. Unsere eigene Sozialisation und Kulturalisation, unsere Ansichten und Ideen beeinflussen unsere Les- und Interpretationsweise bewusst und unbewusst. Dies soll selbstverständlich nicht heißen, dass wir die Texte wissentlich verfälscht haben, sondern nur, dass Übersetzer_innen keine wertneutralen Maschinen sind. Die Texte werden nach und nach auch auf unserem Blog (http://crimethinc.blogsport.de/) veröffentlicht, dort dann auch mit weiterführenden Links.

Passt auf euch auf – N für BM-Crew


1. PHASE

Die Sicherungen durchbrennen lassen: 1996 — 2001

13  Was dagegen, wenn wir Ihnen ein paar Fragen stellen? 17  Vorwärts! 25  Nimm Teil am Widerstand – verliebe dich! 31  Warum ich Ladendiebstahl liebe 39  Es gibt einen Unterschied zwischen Leben und Überleben 43  Es gibt eine geheime Welt, die in dieser verborgen ist. 47  CrimethInc. Manifest, Teil 72-A

2. PHASE

Herstellung der Flasche 2002 — 2007

57  Vergiss’ Terrorismus – Die Entführung der Realität 63  Für unser Leben kämpfen – Eine Einführung in den Anarchismus 91  Jenseits von Demokratie?


109  Das Ende der Welt und Katastrophen 121  Gruppen­­dynamiken und die Massen­psy­chologie der Möglich­keiten 131  MAXIMUM ULTRAISM

3. PHASE

ALLES EXPLODIERT: 2008 — 2011

139  Die Zukunft 147  Green Scared? 173  Du willst also einen Aufstand? 225  Der Kampf auf dem neuen Terrain 249  Die Mythologie der Arbeit 264  Der Widerstand 292  Literaturliste und Bildnachweis


Vorwort VOn Gabriel Kuhn

Vorwort VOn Gabriel Kuhn Es ist nicht vermessen, das CrimethInc. Ex-Workers’ Collective als das weltweit einflussreichste anarchistische Projekt der letzten fünfzehn Jahre zu bezeichnen. CrimethInc.-Poster hängen in Infoläden in Manila, in Kommunen in Kapstadt und in besetzten Häusern in Amsterdam. CrimethInc.-Texte, erhältlich als Bücher, Zeitschriften und Zines, sind über den gesamten Erdball verteilt und wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt. Die Popularität des Kollektivs beruht auf mehreren Faktoren: dem soliden weltweiten Netzwerk der DIY-Punk-Kultur, in die CrimethInc. stark eingebunden ist; dem Produzieren von kostenlosen oder ausgesprochen preisgünstigen Publikationen und anderem Material (CDs, Poster, Aufkleber usw.) in hohen Auflagen; zugänglichen, verständlichen und anregenden Ausdrucksformen, sprachlich wie visuell; einer innovativen Anwendung alter wie neuer Medien mit einem starken Fokus auf Design und Ästhetik; dem Organisieren von Tauschmärkten, Konzerten, Festivals und anderen öffentlichen Events; einer Mythenbildung um das Kollektiv, dessen einzelne Mitglieder, oft als »CrimethInc.-Agent_innen« bezeichnet, zum größten Teil unbekannt bleiben; und nicht zuletzt einer geschickten Anwendung und Verbreitung des CrimethInc.Labels. Was politische Inhalte und Schwerpunkte betrifft, so hat sich im Laufe der letzten fünfzehn Jahre viel geändert. Auch dies ist zu den Stärken von CrimethInc. zu rechnen. Es gibt wenige Kollektive, die dermaßen offen mit Kritik umgehen und diese zum Anlass nehmen, die eigenen Positionen zu überdenken und gegebenenfalls zu modifizieren. CrimethInc. hat dies immer wieder getan und damit in erfrischender Form bewiesen, dass kontinuierliche politische Arbeit nicht zwangsläufig zu ideologischer Verbohrtheit führt.

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CrimethInc.-Agent_innen selbst haben für dieses Buch eine Einteilung in drei Perioden vorgeschlagen: die »romantische« (ca.1996 – 2001), die »praktische« (2002 – 2007) und die »analytische« (2008 – heute). Die entsprechenden Kapitel werden von Texten eingeleitet, die CrimethInc.-Agent_innen speziell für diesen Reader verfasst haben. Zusammen gelesen ergeben sie einen prägnanten Überblick über die Geschichte des Projekts. Die bedeutende Rolle von CrimethInc. in der jüngeren Geschichte des Anarchismus hat nicht bei allen Anarchist_innen Begeisterungsstürme ausgelöst. CrimethInc. ist nicht nur das einflussreichste anarchistische Projekt der letzten fünfzehn Jahre, sondern auch das am umstrittenste. Ein Mitglied des irischen Workers Solidarity Movement bezeichnete das Projekt als einen »subkulturellen Kult« von »verwöhnten Mittelklasse-Amerikaner_innen«, Ramor Ryan nannte das Crimethinc.-Buch Days of War, Nights of Love eine »bunt gemischte Sammlung abgekupferter Ideen« und Ashen Ruins charakterisierte das Kollektiv als »neue Hippie-Bewegung verwöhnter Kinder, die zu sehr darauf fixiert sind, Spaß zu haben, um sich als Revolutionäre ernstzunehmen«. Der Großteil dieser Kritik bezieht sich auf die »romantische« Periode von CrimethInc. Zu dieser schreiben die CrimethInc.Agent_innen in diesem Buch selbst, dass sie »im Nachhinein … als die extremste Manifestation der Lifestyle-Politik jener Zeit« gesehen werden kann. Sie betonen jedoch, dass es gleichzeitig gelang, Leser_innen jenseits des »radikalen subkulturellen Milieus« bzw. deren »Frustrationen und Sehnsüchte« anzusprechen. In jedem Fall muss eine gegenwärtige CrimethInc.-Kritik die Entwicklungen berücksichtigen, zu denen es innerhalb des Kollektivs im letzten Jahrzehnt gekommen ist. Dank der vorliegenden Textsammlung ist es nun auch für deutschsprachige Leser_innen möglich, sich diesbezüglich ein eigenes Bild zu machen. Dass die bm-crew, die bereits für das CrimethInc.-Heft »Reshape« verantwortlich war, nun gemeinsam mit dem Unrast-Verlag

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Vorwort VOn Gabriel Kuhn

ein Buch herausbringt, das die gesamte Schaffensperiode des CrimethInc.-Projekts umfasst, ist für die anarchistische Diskussion und aktivistische Kultur im deutschsprachigen Raum eine enorme Bereicherung. Dass CrimethInc.-Agent_innen an der Textauswahl und der Zusammenstellung des Buches selbst beteiligt waren, verleiht der Veröffentlichung besonderen Wert. Message in a Bottle ist mehr als historische Dokumentation. Es ist eine inspirierende Bestandsaufnahme eines sich konsequent fortsetzenden und weiter entwickelten Projekts. Dies deuten die CrimethInc.-Agent_innen in der Einleitung des Abschlusskapitels an: »Während wir heute Nacht diesen Text beenden, am 2. November 2011, wird die USA grade Zeuge von einer Aktion, die seit 65 Jahren einem Generalstreik am nähesten kommt; Anarchist_innen liefern sich genau in dieser Minute Straßenschlachten mit der Polizei in Oakland.« Der nach Beendigung der Arbeit an diesem Buch veröffentlichte CrimethInc.-Text »Dear Occupiers: A Letter from Anarchists« war einer der am meisten diskutierten Texte in den radikalen Strömungen der US-amerikanischen Occupy-Bewegung. Dies alleine bezeugt die anhaltende Relevanz des CrimethInc.-Projekts. Wir werden ohne jeden Zweifel noch einiges mehr zu hören bekommen.

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1. Phase Die Sicherungen durchbrennen lassen: Mitte 1990er bis 2001

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KOPFZEILE HEadline des Artikels — Eine Einführung in den Anarchismus

Die ursprünglichen CrimethInc.-Netzwerke entstanden am Rande des DIY-Untergrunds des 20. Jahrhunderts, bevor der Internetzugang sie zusammenbrachte. Mensch findet frühes CrimethInc.Material in Zines wie Icarus was right und Inside Front; eine Version von »The contents of your daily life« (Die Inhalte deines täglichen Lebens) tauchte zwischen den Werbe­materialien für die »Unabomber for President«-Kampa­gne 1996 auf. Die ersten Protagonist_innen dieser Ära waren selbsterklärte Außenseiter_ innen, wütende Tellerwäscher_innen und Pizzalieferant_innen, die ihre einzigen Erfahrungen jenseits der erstickenden Routinen Mittelamerikas in jugendlichen Subkulturen und in ihren eigenen persönlichen Rebellionen erlebten. Von diesem bescheidenen Ausgangspunkt aus, erfanden sie neue Verbindungen, entwickelten eine romantische Vision davon, dass »etwas anderes möglich sein muss«, und führten aus, was dies aus ihren unmittelbaren Erfahrungen heraus sein könnte. In einer Zeit, in der Kapitalismus unanfechtbar schien und die Mehrheitsgesellschaft eine feindliche Haltung gegenüber sozialem Wandel vertrat, war diese Vision zwangsläufig individualistisch und anti-gesellschaftlich. Mit nur wenigen Vorgänger_innen oder Beispielen für eine andere Art zu leben, war es schwierig, zwischen Befreiung und Selbstzerstörung zu unterscheiden. Auf Hardcore-Konzerten, die manchmal in Messerstechereien oder Riots endeten, vertraten CrimethInc.-Vertreter_innen eine Philosophie der totalen Verweigerung und des Verbrechertums. Im Nachhinein ist es möglich diese Schriften als die extremste Manifestation der Lifestyle-Politik in dieser Zeit zu sehen: Wo andere Veganismus befürworteten, betonte das CrimethInc.-Material, dass jede Art von Konsum im Kapitalismus destruktiv und unethisch ist, wo andere zivilen Ungehorsam befürworteten, stand das CrimethInc.-Material für absolute Illegalität. Dennoch ist dieses Material im Vergleich zu der Propaganda, die aus manchen radikalen subkulturellen Milieus kommt, zugänglich für einen »normalen« Leser_innenkreis

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und knüpft an gewöhnliche Frustrationen und Sehnsüchte an. In einer Gesellschaft, in der keine abweichende Meinung legitim ist, kann Antagonismus verlockender sein, als vereinzelte Einwände. Irgendwer klaute dann ein Auto und verkaufte es, um die erste Ausgabe vom Harbinger zu finanzieren, eine kostenfreie Zeitung, die für sich selbst »the propaganda of desire« (die Propaganda der Sehnsucht) beanspruchte und ihre Leser_innen dazu aufforderte, ihr alltägliches Leben zu analysieren. Die Netzwerke wuchsen immer weiter. Als die Anti-Globalisierungsbewegung Ende des 20. Jahrhunderts in den USA zum Vorschein kam und die radikalen Strömungen, die in Punk-, Umwelt- und Aktivist_innenkreisen im vorangegangen Jahrhundert entstanden waren, verband, gab es in den ganzen USA CrimethInc.Zellen. Das erste CrimethInc.-Buch Days of war, Nights of love erschien weniger als ein Jahr nach den historischen Protesten bei dem Gipfeltreffen der WTO in Seattle 1999. Obwohl die Inhalte größtenteils in der vorangegangenen Ära der individuellen Revolte vorbereitet wurden, sprachen sie nun zu einer neuen Generation von Radikalen, die um eigene Wege zur Befreiung rangen. Als diese Explosion der Impulse neue Möglichkeiten eröffnete, verlor das CrimethInc.-Material seine anti-soziale Haltung, wurde optimistischer und hielt alle, die sich persönliche Freiheit und eine bessere Welt wünschten dazu an, ihre Leben der Revolution zu widmen.

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KOPFZEILE HEadline des Artikels — Eine Einführung in den Anarchismus

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Was dagegen, wenn wir Ihnen ein paar Fragen stellen?


1. P h a s e — Wa s d agegen, w enn wir Ih n en ein pa ar Fragen stellen ?

Denk mal über die unmittelbaren körperlichen Erfahrungen in deinem Leben nach. Dabei kann dir niemand was vormachen. Wie sieht dein Alltag aus, von einem Moment auf den anderen? Was sind… die Inhalte Deines täglichen Lebens…? Wie viele Stunden am Tag verbringst Du vor einem Fernsehschirm? Einem Computerbildschirm? Einer Windschutzscheibe? Vor allem zusammen? Von was wirst du abgeschirmt? Wie viele Dinge im Alltag kommen nur imitiert durch einen Bildschirm bei dir an? Ist es genauso aufregend, Dingen zuzusehen, wie sie zu erleben? Hast Du genug Zeit, all die Dinge zu tun, die du tun willst? Hast Du genug Energie dafür? Warum nicht? Wie viele Stunden am Tag schläfst du? Wie sehr wirst du durch die standardisierte Zeit beeinflusst, die einzig und allein dazu erfunden wurde, um dein Handeln mit dem von Millionen anderer zu synchronisieren? Wie oft tust du etwas, ohne zu wissen, wie spät es ist? Wer oder was kontrolliert deine Stunden und Minuten? Die Minuten und Stunden, die sich zu deinem Leben summieren? Hebst du dir Zeit auf? Für was? Kannst du einen wunderschönen Tag wertschätzen, an dem die Vögel singen und die Leute durch die Gegend schlendern? Wie viel muss dir in der Stunde gezahlt werden, damit du in einem Geschäft oder Büro bleibst und Sachen verkaufst oder Akten ordnest? Was bekommst du dafür? Kann das wirklich den verlorenen Tag ersetzen? Wie wirkt eine Menschenmasse auf dich, wie fühlt es sich an, umgeben zu sein von anonymen Leuten? Bemerkst du deine eigene Gefühlskälte? Wer macht Dein Essen? Isst Du jemals allein? Isst Du jemals im Stehen? Wie viel weißt Du über das, was Du isst und wo es herkommt? Wie sehr vertraust Du diesem Essen? Was wird uns entzogen durch arbeitssparende Maschinen? Durch gedankensparende Maschinen? Wie beeinflusst dich das Bedürfnis nach Effizienz, das mehr Wert auf das Produkt als auf den Prozess legt, mehr Wert auf die Zukunft als auf die Gegenwart.

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Der gegenwärtige Moment wird kürzer und kürzer, und wir sprinten schneller und schneller in die Zukunft. Auf was rennen wir zu? Sparen wir Zeit? Zeit für was? Wie beeinflusst es dich, auf vorgeschriebenen Bahnen zu laufen? In Fahrstühlen, Bussen, U- Bahnen, auf Autobahnen und Fußgängerzonen? Dadurch, dass du dich in zwei- und dreidimensionalen Dimensionen bewegst und in ihnen arbeitest? Wie beeinflusst es Dich, an einen Ort gebunden zu sein und lieber verplant zu werden, als umherzuschweifen und dich frei und spontan zu bewegen? Wie viel Bewegungsfreiheit hast du? Freiheit, sich durch den Raum zu bewegen, so weit weg, wie Du willst, und in neue und unentdeckte Richtungen? Wie beeinflusst Dich das Warten? Warten in einer Schlange, warten im Verkehr, warten auf Essen, warten auf den Bus, warten, bis die Toilette frei wird? Zu lernen, spontane Dränge zu unterdrücken und zu ignorieren? Wie beeinflusst es dich, dein Verlangen zurückzuhalten? Durch sexuelle Repression, durch das Verdrängen und Vernichten von Freude, die in der Kindheit beginnt, zeitgleich mit der Unterdrückung von allem in dir, was spontan ist, deiner ursprünglichen Ungebundenheit, deiner Teilhabe am Königreich der Tiere? Sind Freude und Lust gefährlich? Kann Gefahr schön sein? Hast du jemals das Verlangen, den Himmel zu sehen? (Kannst Du die Sterne noch erkennen?) Hast du jemals das Verlangen, Wasser zu sehen, Blätter, Tiere? Glitzern, Schimmern und Bewegung? Brauchst du dazu ein Haustier, ein Aquarium oder Zimmerpflanzen? Oder sind für dich Fernsehen und die Videofilme Glitzern, Schimmern und Bewegung? Wie viele Dinge im Alltag kommen nur verschleiert bei dir an? Wäre dein Leben ein Film, würdest du ihn Dir ansehen? Wie fühlst Du Dich in erzwungener Passivität? Wie wirst Du durch den kontinuierlichen Angriff symbolischer Kommunikation beeinflusst – visuell, gedruckt, per Video, übers Radio, über Roboter-Stimmen – so, als ob du durch einen

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1. P h a s e — Wa s d agegen, w enn wir Ih n en ein pa ar Fragen stellen ?

Wald voller unbekannter Zeichen läufst? Was wollen sie von Dir? Brauchst Du manchmal die Einsamkeit, die Stille, das Nachdenken? Erinnerst Du Dich daran, wie es ist, für sich selbst zu denken, anstatt nur stimuliert zu werden, um zu reagieren? Ist es schwierig wegzusehen? Ist Wegsehen das Einzige, was nicht erlaubt ist? Wo findest du Stille und Einsamkeit? Kein Bildschirmflimmern und Ätherrauschen, sondern pure Stille? Keine Einsamkeit, sondern entspannende Ruhe? Hast du aufgehört, Dir Fragen wie diese zu stellen? Fühlst Du Dich manchmal auf eine bestimmte Art einsam, auf eine Art, die Worte nicht richtig beschreiben können? Fühlst Du Dich manchmal bereit, die Kontrolle zu verlieren?

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Vorw채rts!

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1. P h a s e — V ORWÄ RTS !

I. Normalität? Menschen aus dem (schnell zerfallenden) »Mainstream« der Gesellschaften Europas und der Vereinigten Staaten finden seltsamen Gefallen daran, sich im Vergleich zu Straftäter_innen, politisch Radikalen und anderen gesellschaftlichen Außenseiter_innen für »normal« zu halten. Sie sehen diese »Normalität« als Indikator für geistige Gesundheit und moralische Anständigkeit und begegnen den »anderen« mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu. Wenn wir die Geschichte um Rat fragen, sehen wir allerdings, dass sich die Voraussetzungen und Muster des menschlichen Lebens in den letzten zwei Jahrhunderten so sehr verändert haben, dass es unmöglich ist, davon zu sprechen, irgendeine menschliche Lebensweise sei »normal« oder die Lebensweise, an die wir uns über Generationen gewöhnt hätten. Von allen Lebensweisen, aus denen eine junge, im Westen aufgewachsene Frau heute wählen kann, gleicht keine ansatzweise denen, auf die ihre Vorfahren jahrhundertelang im Laufe der Evolution vorbereitet wurden. Wahrscheinlicher ist es, dass die »Normalität«, der diese Menschen einen so hohen Stellenwert einräumen, nur das Gefühl von Normalität ist, welches wiederum aus der Anpassung an einen Standard beruht. Umgeben zu sein von anderen, die auf dieselbe Art handeln, die auf den gleichen Tagesablauf und die gleichen Erwartungen konditioniert sind, wirkt beruhigend, denn es festigt die Idee, dass mensch dem richtigen Weg folgt: Wenn viele Menschen dieselben Entscheidungen treffen und in Übereinstimmung mit denselben Sitten leben, müssen diese Entscheidungen und Sitten die richtigen sein. Nur der bloße Umstand, dass eine Reihe von Leuten in einer gewissen Art und Weise handelt und lebt, macht es noch nicht wahrscheinlicher, dass diese Lebensweise jene ist, die ihnen die größte Freude beschert. Außerdem sind die mit dem amerikanischen und europäischen »Mainstream« (falls so etwas wirklich existiert) verknüpften Lebensweisen nicht bewusst von denen, die 19


diesen folgen, als die besten ausgewählt worden, sondern sie entstanden als Folge technologischer und kultureller Umwälzungen. Sobald die Menschen Europas, der Vereinigten Staaten und der Welt realisieren, dass in ihren »normalen Leben« nichts notwendigerweise »normal« ist, können sie damit beginnen, sich selbst die erste und wichtigste Frage des neuen Jahrhunderts zu stellen: Existieren Wege des Denkens, des Handelns und des Lebens, die zufriedenstellender und aufregender sind als die Wege, auf und nach denen wir heute denken, handeln und leben?

II. Transformation Falls uns das angehäufte Wissen der westlichen Zivilisation an diesem Punkt etwas von Wert bieten kann, dann ist es die Erkenntnis, wie viel möglich ist, wenn menschliches Leben entsteht. Unsere ansonsten närrischen Gelehrten der Geschichte, der Soziologie und der Anthropologie können uns zumindest diese eine Sache zeigen: dass Menschen in Tausenden verschiedenen Gesellschaftsformen mit Zehntausenden anderen Werten, mit Zehntausenden unterschiedlichen Beziehungen zu sich selbst und zu ihrer Umwelt und mit Zehntausenden verschiedenen Vorstellungen des Selbst lebten. Ein wenig zu reisen, kann dir noch genau dies zeigen, zumindest wenn Coca-Cola nicht schneller war. Deshalb kann ich es nicht vermeiden zu spotten, wenn sich eine_r im Zuge einer Entschuldigung für seine_ihre jämmerliche Ergebenheit in das uns erwartende Schicksal auf die »menschliche Natur« beruft. Verstehst du nicht, dass wir gemeinsame Vorfahren mit dem Seeigel teilen? Wenn verschiedene Umweltbedingungen einige unserer Verwandten so sehr von uns entfernen konnten, wie leicht müssen da Veränderungen in uns selbst und in unseren unmittelbaren Beziehungen sein! Falls ein Mangel in unseren Leben existiert (und er existiert auf sehr, sehr schmerzliche Weise; die meisten werden zustimmen), dann brauchen wir all das – alles unnötigerweise Tragische oder Sinnlose im Leben, jeden Winkel 20


1. P h a s e — V ORWÄ RTS !

der Freude, den wir noch nicht vollständig erkundet haben –, um unsere Umweltbedingungen dementsprechend umzugestalten. Es heißt: »Wenn du die Welt verändern willst, fange bei dir selbst an.« Wir haben gelernt, dass das Gegenteil wahr ist. Und es gibt noch eine wertvolle Entdeckung, die unsere Spezies gemacht hat, wenngleich auf die harte Weise: Wir sind in der Lage, unsere Umweltbedingungen komplett zu verändern. Der Ort, an dem du liegst, sitzt oder stehst und das hier liest, war vor hundert Jahren womöglich vollkommen anders, ganz zu schweigen von seinem Zustand vor zweitausend Jahren; und nahezu all diese Veränderungen wurden von Menschen vorgenommen. Wir haben unsere gesamte Welt in den letzten Jahrhunderten umgewälzt und das Leben für fast alle Tier- und Pflanzenarten verändert – für uns selbst am meisten. Was uns bleibt, ist, damit zu experimentieren, Veränderungen entsprechend unserer Bedürfnisse und unserer Sehnsüchte selbst vorsätzlich vorzunehmen (oder ebennicht vorzunehmen), anstatt sie unmenschlichen Kräften wie Wettbewerb, Aberglaube oder Routine zu überlassen. Sobald wir dies verinnerlicht haben, können wir – individuell wie kollektiv – einen neuen Weg wählen. Wir werden nie mehr von Einflüssen außerhalb unserer Kontrolle durchgeschüttelt; stattdessen werden wir durch das Schaffen neuer Umgebungen uns selbst erkunden und lernen, was wir alles sein können. Dieser Pfad wird uns aus der Welt, wie wir sie kennen, hinaustragen – bis weit hinter die entferntesten Horizonte, die wir von hier erkennen können. Wir werden Künstler_innen werden – bedeutende Künstler_innen –, und Begierde wird unser Medium sein. Wir werden uns selbst willentlich erschaffen und neu gestalten – werden zu unserem Selbst, zu unserem Meisterwerk. Um dies zu erreichen, werden wir lernen müssen, erfolgreich zusammen zu leben und zusammen zu arbeiten: um zu erkennen, wie verknüpft unsere Existenzen sind und sie dementsprechend zu gestalten. Bis dies möglich wird, wird nicht nur jedem

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Nichts w채re tragischer und l채cherlicher als ein ganzes Leben in Reichweite des Himmels zu verbringen ohne auch nur einmal die Arme danach auszustrecken.

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1. P h a s e — V ORWÄ RTS !

von uns das enorme Potenzial unserer Gefährt_innen verborgen bleiben, sondern ebenso unser eigenes; bis wir alle zusammen die Welt erschaffen, in der jede_r leben muss und von der jede_r beeinflusst wird. Die andere Sache, an der es uns mangelt, ist das Bewusstsein unserer eigenen Wünsche. Das Begehren ist eine schlüpfrige Sache, einer Amöbe ähnlich, schwierig zu fassen: und wir sind damit auf uns allein gestellt. Wenn wir auf dem Weg in eine andere Zukunft, unser Begehren erforschen und verändern, so müssen wir auch die gegenwärtigen Formen der Liebe und der Lust erforschen und verändern. Erfahrung und Risikobereitschaft alleine werden dafür nicht ausreichen. Die Schöpfer_innen der neuen Welt müssen sowohl selbstloser als auch gieriger sein als alles zuvor: selbstloser untereinander und gieriger nach dem Leben!

III. Utopia Bereits jetzt kann ich die Frage auf deinen Lippen lesen: Ist das nicht utopisch? — Selbstverständlich ist es das. Weißt du, wovor jede_r am meisten Angst hat? Davor, dass all die Träume, die wir haben, all die verrückten Ideen und Hoffnungen, all die unmöglichen romantischen Sehnsüchte und utopischen Visionen wahr werden können. Davor, dass diese Welt unsere Wünsche erfüllen kann. Menschen verbringen ihr Leben damit, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um diese Möglichkeit abzuwehren: Sie machen sich aufgrund ihrer Unsicherheit selbst fertig, sabotieren ihre eigenen Anstrengungen, untergraben Liebesverhältnisse und nörgeln über saure Trauben, ohne diese gekostet zu haben…, denn keine Last könnte schwerer wiegen als die der Möglichkeit, dass alles, was wir wollen, möglich ist. Wenn dies der Wahrheit entspricht, dann steht in diesem Leben wirklich etwas auf dem Spiel: Dinge, die wirklich gewonnen oder verloren werden können. Nichts ist schmerzlicher, als zu scheitern, wenn der Erfolg im Bereich des Möglichen ist; daher setzten wir alles daran, nicht als Erste_r einen 23


Versuch wagen zu müssen, daher vermeiden wir es, überhaupt einen Versuch zu wagen. Für den Fall, dass auch nur die geringste Möglichkeit besteht, unsere tiefsten Sehnsüchte zu erfüllen, ist die einzige logische Konsequenz, uns vollends auf diese Jagd zu begeben und diesen Schmerz zu riskieren. Hoffnungslosigkeit und Nihilismus scheinen sicherer: Wir senden unsere Verzweiflung in den Kosmos, um uns dafür zu entschuldigen, dass wir den Versuch nicht wagen. So bleiben wir zurück: uns an unsere Resignation klammernd, so sicher wie eine Leiche im Sarg…, und dennoch bleibt diese furchtbare Möglichkeit bestehen. In unserem hoffnungslosen Flug aus der wahren Tragödie der Welt bauen wir so unsere eigene, falsche und zugleich unnötige Tragödie auf. Vielleicht wird diese Welt niemals all unseren Bedürfnissen gerecht – Menschen werden sterben, bevor sie dazu bereit sind, perfekte Beziehungen werden in Trümmerhaufen und Abenteuer in Katastrophen enden, und schöne Augenblicke werden in Vergessenheit geraten. Aber was mein Herz zerbrechen lässt, ist die Art und Weise, auf die wir vor der unausweichlichen Wahrheit in die Arme von schrecklicheren Dingen fliehen. Es mag wahr sein, dass ein jeder Mensch in einem Universum verloren ist, wenn sich dieses fundamental von ihm unterscheidet – aber es darf nicht wahr sein, dass Menschen verhungern, während andere Nahrung zerstören oder fruchtbare Böden unbestellt lassen. Es darf nicht wahr sein, dass Männer und Frauen durch Arbeit ihr Leben wegschmeißen, nur um selbst über die Runden zu kommen und gleichzeitig die dumpfe Gier von ein paar reichen Männern zu stillen. Es darf nicht sein, dass wir es nicht wagen, von unseren Träumen zu erzählen, dass wir uns nicht aneinander teilhaben lassen, dass wir unsere Talente und Möglichkeiten nicht nutzen, um das Leben leichter zu machen. Das ist die unnötige Tragödie, eine dumme Tragödie, armselig und sinnlos. Es ist nicht mal utopisch zu fordern, dass wir so einer Farce ein Ende setzen.

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1. P h a s e — V ORWÄ RTS !

Wenn wir uns selbst dazu bringen könnten, an die Möglichkeit zu glauben, ja, sie zu fühlen, dass wir unbesiegbar sind und dass wir alles, was wir von der Welt erwarten, auch bewerkstelligen können, dann schiene es nicht mehr unerreichbar, diese Absurditäten zu beenden. Worum ich euch bitte, ist nicht, an das Unmögliche zu glauben, sondern den Mut aufzubringen, euch dieser Möglichkeit zu stellen, die unser Leben in unsere eigenen Hände legt, und dementsprechend zu handeln: sich nicht mit jedem Elend zufrieden zu geben, das uns das Schicksal und die Menschheit eingebrockt haben, sondern zurückzuschlagen und zu sehen, welches Elend sich abschütteln lässt.. Nichts wäre tragischer und lächerlicher, als ein ganzes Leben in Reichweite des Himmels zu verbringen, ohne auch nur einmal die Arme danach auszustrecken.

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Nimm Teil am Widerstand – verliebe dich!

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1. P h a s e — Nim m Teil a m Wid erstan d – verliebe dich !

Sich zu verlieben, ist ein Akt der Revolte – ein Akt des Widerstands gegen eine langweilige, in sozialer und kultureller Hinsicht repressive und für die Menschen immer bedeutungsloser werdende Gesellschaft. Liebe verändert das Gesicht der Welt. Empfanden die Liebenden vorher Langeweile, erfüllt sie nun Leidenschaft. Haben die Liebenden vorher nur auf sich selbst bezogen gelebt, so bemerken sie auf einmal ihre wahre Stärke darin, sich auch aufeinander zu beziehen. Die Welt, die einst so leer, sinnlos und zerstörerisch erschien, bekommt jetzt Bedeutung und bietet Risiken, Belohnungen, Schätze und Gefahren. Für die Liebenden ist das Leben nun ein Geschenk, die Belohnung für das größte aller Abenteuer. Jeder Moment wird unvergesslich und so unglaublich wunderbar, dass sie nur noch staunen können. Die Verliebten, die sich zuvor orientierungslos, entfremdet und verwirrt fühlten, werden auf einmal genau wissen, was sie wollen. Ihr Dasein wird auf einmal einen Sinn erhalten. Alles wird mit einem Mal wertvoll, ja sogar glorreich und herausragend für sie werden. Brennende Leidenschaft ist das Gegenmittel für die schlimmsten Fälle von Verzweiflung und resignierendem Gehorsam. Liebe macht es den Einzelnen möglich, sich miteinander auf eine bedeutungsvolle Art und Weise zu verbinden. Sie führt dazu, dass sie es wagen, ihre Schneckenhäuser zu verlassen, gemeinsam ein unmittelbares und spontanes Leben zu führen und sich tiefgehend kennen zu lernen. Die Liebe reißt die Liebenden aus den Routinen des Alltags heraus und lässt sie aus der Masse der anderen um sie herum herausragen. Die Liebenden werden sich fühlen, als ob sie in einer völlig anderen Welt lebten. Daher ist Liebe auch subversiv. Sie stellt einen Angriff auf die herrschende Ordnung unseres modernen Lebens dar. Die langweiligen Rituale des Arbeitslebens, Verwertung und Moral, bedeuten nichts für Menschen, die sich verliebt haben, denn es gibt größere und mächtigere Kräfte, die sie nun vorwärtstreiben, als die Disziplinierung und der Gehorsam gegenüber den Gesetzen, den Sitten und den Traditionen. Marketingstrategien, die auf die Unsicherheit und Apathie der

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Menschen abzielen, um Produkte zu verkaufen, haben keinen Einfluss mehr auf die Liebenden. Unterhaltung als passiver Konsum, der auf die Leere und den Zynismus der ZuschauerInnen ausgelegt ist, wird sie nicht mehr interessieren.

Es gibt keinen Platz für die romantischen, leidenschaftlichen Liebenden in dieser Welt, weder in der Arbeitszeit noch in der Freizeit. Sie werden erkennen, dass es lohnenswerter ist, gemeinsam durch die Welt zu reisen oder einfach nur im Park zu sitzen und die Wolken zu zählen, als alleine für die Mathematikprüfung zu lernen oder Immobilien zu verkaufen. Und wenn sie das gemerkt haben, werden sie auch den Mut haben, diesen Weg zu gehen, anstatt sich von ihrem unbefriedigten Begehren quälen zu lassen. Sie werden wissen, dass die Nacht unvergesslicher wird, wenn sie in einen Friedhof einbrechen und sich unter den Sternen lieben, als wenn sie die Nacht vor der Glotze verbringen. Die Liebe führt einen Angriff auf unsere konsumorientierte Wirtschaft aus, die auf dem Verbrauch von (hauptsächlich nutzlosen) Dingen und der Arbeit beruht, die das Konsumverhalten erforderlich macht. Die Liebe stellt damit auch einen Angriff auf unser politisches System dar. Es ist schwierig, einen Menschen, der wirklich enge persönliche Beziehungen pflegt, davon zu überzeugen, für etwas Abstraktes wie für einen Staat zu kämpfen und zu sterben. Es wird sogar schwierig sein, einen solchen Menschen davon zu überzeugen, Steuern zu zahlen. Die Liebe stellt einen Angriff auf Traditionen jeglicher Art dar. Sobald die Liebe Menschen mit Weisheit und Mut ausgestattet hat, sind ihre Gefühle nicht mehr in den Zwängen der Tradition und Sitten gefangen. Letzten Endes stellt die Liebe damit einen Angriff auf die Gesellschaft als solche dar. Leidenschaftliche Liebe wird von der Bourgeoisie ignoriert und gefürchtet, weil sie eine große Gefahr für bürgerliche Werte und Sicherheit darstellt. Liebe erlaubt keine Lügen und Falschheiten, ja nicht einmal höfliche Halbwahrheiten. Sie legt alle Emotionen frei und enthüllt unsere tiefsten Geheimnisse. Du kannst deine

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1. P h a s e — Nim m Teil a m Wid erstan d – verliebe dich !

Gefühle und deine Sexualität nicht verleugnen. Bestimmte Situationen oder Ideen werden dich erregen und andere werden dich abstoßen, ganz gleich ob dir das gefällt oder nicht, ganz gleich ob es moralisch ist oder nicht, ob es sich so gehört oder nicht. Mensch kann nicht zugleich Liebende_r und ein durch und durch verantwortungsvolles und moralisch aufrechtes Mitglied dieser Gesellschaft sein. Denn die Liebe wird dich Dinge tun lassen, die verantwortungslos und unmoralisch sind. Wahre Liebe schert sich einen Dreck um Verantwortung. Sie ist unerschütterlich, rebellisch, verächtlich gegenüber der Feigheit, gefährlich für die Liebenden und alle um sie herum, weil sie nur einem Herrn dient: der Leidenschaft, die das menschliche Herz schneller schlagen lässt. Sie verachtet alles andere, sei es Selbsterhaltung, Gehorsam oder Scham. Liebe macht aus Menschen Held_innen und Anti-Held_innen. Die Liebenden sprechen eine andere ethische und emotionale Sprache, als es der bürgerliche Mensch tut. Die typischen Bürger_innen besitzen kein überwältigendes flammendes Begehren. Alles, was sie kennen, ist stille Verzweiflung. Verzweiflung, die das Resultat eines Lebens ist, in dem sie den Zielen nachjagen, die ihnen von ihrer Familie, ihren Erzieher_innen, ihren Arbeitgeber_innen, ihrer Nation und ihrer Kultur vorgegeben werden. Ohne jemals fähig zu sein, darüber nachzudenken, was sie selbst wollen und brauchen. Wenn sie kein brennendes Begehren in sich selbst spüren, haben sie keine Voraussetzungen zu entscheiden, was richtig oder falsch für sie ist. Sie sind gezwungen, sich ständig irgendeinem Dogma oder einer Doktrin zu unterwerfen, um durch das Leben zu kommen. Es gibt eine große Auswahl an Moralvorstellungen auf dem Markt der Meinungen. Aber für welche sie sich auch immer entscheiden, es ist unwesentlich, solange sie sich dieser Moralvorstellung nur unterwerfen, weil sie nicht wissen, was sie sonst mit ihrem Leben anfangen sollen. Wie viele Menschen gibt es, die niemals daran gedacht haben, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen? Menschen, die wie in einem Nebel durchs Leben wandern,

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nach dem Takt der Gesetze und Normen, die Ihnen beigebracht und gelehrt wurden, einzig und allein aus dem Grund, weil sie keine Ahnung haben, was sie sonst tun könnten. Im Gegensatz dazu brauchen die Liebenden kein vorgefertigtes Regelwerk, das sie durch das Leben führt. Ihre Lüste entscheiden, was richtig und was falsch ist, und ihr Herz führt sie durch das Leben. Sie sehen Schönheit und einen Sinn in der Welt, weil ihre Lüste die Welt in diesen Farben malen. Sie brauchen keine Dogmen, Moralvorstellungen, Befehle oder Anordnungen, denn sie wissen selbst, was sie tun müssen, ohne irgendeine Anleitung. So ist der Angriff der Liebe auf unsere Gesellschaftsform zu verstehen. Was wäre, wenn alle für sich entscheiden würden, was richtig und falsch für sie ist, ohne Hinblick auf die konventionelle Moral? Was wäre, wenn alle machen, was sie wollen, und sich voller Mut auch den Konsequenzen stellen, die daraus folgen? Was wäre, wenn alle die lieblose und leblose Monotonie des Alltags mehr fürchten würden als Risiken, mehr als den Hunger und die Kälte? Was wäre, wenn alle ihr Verantwortungsbewusstsein und ihren sogenannten »gesunden« Menschenverstand einmal ablegen würden und den Mut hätten, ihren wildesten Träumen zu folgen, nach den größten Schätzen der Welt zu greifen und jeden Tag wie ihren letzten zu leben. Was für ein Ort wäre die Erde dann! Auf jeden Fall wäre sie anders als heute. Und wir sollten uns nichts vormachen: Die größte Angst der bürgerlichen Menschen ist die Angst vor der Veränderung. Wir werden von der wirklichen leidenschaftlichen Liebe abgehalten aufgrund unserer Kultur. Lediglich ihre klischeehaften Abbilder haben wir verinnerlicht, die von den Medien benutzt werden, um damit Zahncremes und Flitterwochen-Suites zu verkaufen. Uns von den Gefühlen leiten zu lassen, erzeugt unter uns nur Stirnrunzeln. Stattdessen werden wir dazu erzogen, immer Herr unserer Gefühle zu sein; würden wir auf unsere Herzen hören, kämen wir angeblich vom rechten Weg ab. Anstatt ermutigt zu

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1. P h a s e — Nim m Teil a m Wid erstan d – verliebe dich !

werden, die Konsequenzen dafür ohne Ängste selbst zu tragen, werden wir dazu gebracht, keinerlei Risiko einzugehen und verantwortungsbewusst zu bleiben. So wird die Liebe reguliert. Männer dürfen sich nicht in andere Männer verlieben, Frauen nicht in andere Frauen, und Menschen unterschiedlicher Ethnizität nicht ineinander. Und wenn sie es doch tun, dann verteidigen die alten Moralist_innen die moderne westliche Kultur gegen das sich nicht beugen wollende Individuum. Menschen, die bereits in einem legalen/religiösen Vertrag gebunden sind, dürfen sich nicht in andere Menschen verlieben, selbst wenn es in ihren Verhältnissen keine Leidenschaft mehr gibt. Liebe, wie die meisten von uns sie kennen, ist ein genau vorgefertigtes und vorherbestimmtes Ritual. Etwas, das an Freitagabenden in teuren Kinos, Theatern und Restaurants stattfindet, also den Profit der Unterhaltungsindustrie erhöht und die Arbeiter_innen am nächsten Arbeitstag wieder pünktlich im Büro erscheinen lässt, um dann den ganzen Tag wieder perfekte Lohnsklav_innen zu sein. Diese geregelte und wirtschaftliche Liebe ist anders als die lustvolle und leidenschaftliche Liebe, die von den wirklich Liebenden Besitz ergreift. Die Begrenzungen, Erwartungen und Regulierungen ersticken die wirkliche Liebe, die eine wilde Blume ist, die niemals in dem für sie vorgefertigten Beet blühen kann, sondern gerade dort den Alltag durchbricht, wo man es am wenigsten erwartet. Wir müssen gegen diese kulturelle Beherrschung kämpfen, die unsere tatsächlichen Leidenschaften erstickt und verkrüppelt. Denn die Liebe ist es erst, die dem Leben einen Sinn gibt, und die Lüste sind es, die uns dazu bringen, unserer Existenz diesen Sinn zu verleihen. Ohne sie bleibt es für uns unmöglich, selbst zu bestimmen, wie wir unser Leben leben wollen. Ohne sie, bleibt nur noch eins: uns einer Autorität zu unterwerfen, einem Gott, einem Herrn, einer Sache oder einer Doktrin, die uns sagt, was zu tun ist, ohne jemals den süßen und bitteren Geschmack der Selbstbestimmung gekostet zu haben. Also nutze deine Zeit im Hier und Jetzt. Verliebe dich noch heute… In Männer, in Frauen, in die Musik, in deinen Ehrgeiz, in dich selbst… in das Leben!

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»Anarchismus liegt als Potential in jedem  Menschen. Dies hat nichts mit dem Werfen von  Bomben oder dem Tragen schwarzer Masken zu  tun, auch wenn ihr das im Fernsehen vielleicht gesehen habt.«

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BILDNACHWEIS — Literaturliste

BildnachweisE CrimethInc Archiv, (crimethinc.com); Seiten 17, 42, 76—77, 104, 109, 147, 173, 178—179, 257, 278—279, 291 Gegenfeuer Gestaltungskollektiv, (gegenfeuer.info); Seiten 21, 52, 68—69, 116—117, 131, 128—129, 132, 269 Max Smycek, (max-smycek.de); Seite 121 Medien Ag der Anarchistische Gruppe Freiburg (flickr.com/people/agfreiburg); Seiten 25, 47, 86, 188—189, 240—241, 248 .marqs (photocase.com) »Anarcho« Seite 63

LITERATURLISTE Ein Drittel Heizöl, zwei Drittel Benzin – und ein bisschen davon: CrimethInc. : Days of War, Nights of Love (2001), Recipes for Disaster. an anarchist cookbook (2005), Expect Resistance (2008), Work. Capitalism. Economics. Resistance (2011) — crimethinc.com Interface. Schnittstelle zum neuen Jahrtausend (Flatline Imperium, 2001 Curious George Brigade, Crimethinc, Co-Conspirators: DIY. Von Anarchie und Dinosauriern (Unrast Verlag, 2007), Gabriel Kuhn: »Neuer Anarchismus« in den USA. Seattle und die Folgen (Unrast Verlag, 2008), Gabriel Kuhn: Vielfalt Bewegung Widerstand. Texte zum Anarchismus (Unrast Verlag, 2009), Reshape. CrimethInc. für Quereinsteiger_innen (2010) crimethinc.blogsport.de Greg Jackson: Tötet den Bullen in eurem Kopf! Zur US-amerikanischen Linken, White Supremacy und Black Autonomy



Message in a Bottle versteht sich als Einladung, eine gegenwärtige und lebendige anarchistische Praxis zu entwickeln. Individuelle Ausbrüche aus der Verwertungslogik, Ladendiebstahl, Massenproteste, sowie direkte Aktionen, aufständische Perspektiven und eine anarchistische Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen sind die Grundlage dieser Einladung. Basierend auf Texten des CrimethInc.-Kollektivs (aus den USA) wird hier eine aktuelle und anschlussfähige widerständige anarchistische Praxis und Theorie aufgezeigt. Dabei durchläuft die Textsammlung die verschiedenen Phasen des Kollektives – vom romantischen, individualistischen Anarchismus hin zu einer reflektierten und analytischen Perspektive auf einen revolutionären Umsturz.

ISBN 978-3-89771-519-6

16 €


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