SCHMERZMEDIZIN
Virtuelles Gehen gegen chronische Schmerzen Der Wunsch nach Schmerzlinderung kommt bei Menschen mit Querschnittlähmung oft vor dem Wunsch, wieder gehen zu können. Das interdisziplinäre Forschungsprojekt «Virtual Walking» geht dazu innovative Wege.
Schmerzen diktieren den Alltag von vielen Menschen mit Querschnittlähmung. Drei Viertel erleben sie als einschränkender als die körperliche Behinderung. Da Therapien nur selten zum gewünschten Erfolg führen, werden die andauernden Schmerzen schnell zur Belastung. So auch bei Marc Elmer, den starke Fussschmerzen quälen. Der 32-jährige Glarner ist nach einem Gleitschirmunfall im Mai 2017 querschnittgelähmt. Seine Schmerzen wurden seither immer intensiver. «Es ist einerseits ein dumpfer Dauerschmerz in den Füssen, andererseits sind es spitze Schmerzen, die bis in die Unterschenkel ausstrahlen», erzählt der passionierte Badmintonspieler. Man kann sich das vorstellen wie schlimme Zahnschmerzen: Der Schmerz ist brennend, einschiessend oder elektrisierend – und fast nicht auszuhalten. Oft haben Betroffene einen jahrelangen Leidensweg mit vielen Therapieversuchen und wirkungslosen Medikamenten hinter sich. Marc Elmer haben die Schmerzen gezwungen, seine Umschulung vom gelernten Polier zum Bauführer abzubrechen. Fehlermeldung im Gehirn Bei einer plötzlich eintretenden Querschnittlähmung haben viele Betroffene keine Möglichkeit, ihre Körperwahrnehmung schnell genug auf die neue Situation einzustellen. Das Gehirn erhält dadurch widersprüchliche Informationen: Es sieht zwar die Beine, aber spürt sie nicht. André Ljutow, Chefarzt des Zentrums für Schmerzmedizin in Nottwil, erklärt: «Bei einer Querschnittlähmung verändert sich der Informationsfluss so rasant, dass dem Gehirn kaum Anpassungszeit bleibt. Plötz-
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lich stimmen die erlebten und gefühlten Sinneseindrücke nicht mehr überein.» Informationen schiessen wild durcheinander. Die für die Augen sichtbaren Beine reagieren nicht auf Reize, aus den betroffenen Regionen kommen keine Daten, Schaltstellen in den Nervenbahnen melden ungewohnte Signale. Das Gehirn sucht vergeblich Orientierung, es gerät in eine Schlaufe und reagiert wie ein abgestürzter Computer mit Fehlermeldungen. Der Alarm kann sich als Schmerz äussern – und zwar in Körperbereichen, die der Patient gar nicht mehr spüren kann. Das Gehirn muss also ausgetrickst werden, damit es aus der Schlaufe herausfindet. Die Idee des «Virtual Walking» stützt sich dabei auf die seit rund zwanzig Jahren bei Phantomschmerzen nach Amputationen angewandte «Spiegeltherapie»: Mithilfe eines vorgetäuschten Gehens wird das Gehirn langsam an die neue Realität herangeführt. Die Patientinnen und Patienten sitzen
Dr. med. André Ljutow, Chefarzt Zentrum für Schmerzmedizin
« Bei einer Querschnittlähmung bleibt dem Gehirn kaum Anpassungszeit.» André Ljutow in einem Stuhl, aber sehen sich auf einer Grossleinwand gehen. Ihr Oberkörper wird live gefilmt und täuschend echt auf fremden Beinen in einem Video positioniert. So entsteht im Gehirn die Illusion, sie können wieder gehen. «Unsere Arbeitshypothese ist, dass dieses visuelle Gehen die Nichtübereinstimmung der motorischen Befehle und der sensorischen Rückmeldungen zu korrigieren vermag», so Ljutow.