Paraplegie Nr. 139, September 2011

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paraplegie Das Magazin der Gรถnner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung

September 2011 / Nr. 139 / Standard

Mit Wucht und Kรถpfchen Rugby-EM: Cornel Sonderer und die Schweizer haben viel vor IV: Wie weiter? | Hindernisfrei bauen | Ein Tag mit Beate Kellermann


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EDITORIAL

Liebe Gönnerinnen und Gönner

K

örperliche Betätigung hat in der ganzheitlichen Rehabilitation von Menschen mit Querschnittlähmung seit jeher einen festen Platz – und grosse Bedeutung. Deshalb

auch entstand 1980 die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung. Ihre Abteilung «Rollstuhlsport Schweiz» kümmert sich um ein zeitgemässes Angebot für Spitzen- und Breitensport. Unterstützt wird sie dabei von der Schweizer Paraplegiker-Stiftung, die auch Hauptsponsorin von Swiss Paralympic ist und in Nottwil modernste Einrichtungen sowie Dienstleistungen bereitstellt. Zu dem vom Bund anerkannten Sportzentrum gehören Trainings- und Wettkampfanlagen im Freien und unter Dach. Sämtlichen Athleten ist zudem das Angebot der Sportmedizin Nottwil-Luzern zugänglich, die seit 2007 das Gütesiegel «Swiss Olympic Medical Center» trägt und sogar über eine Höhenkammer verfügt.

Die Organisation von internationalen Titelkämpfen ist ebenfalls Teil des vielfältigen Engagements der Schweizer Paraplegiker-Gruppe für den Sport. Nächster Grossanlass ist die am 2. Oktober beginnende Europameisterschaft im Rollstuhl-Rugby in Nottwil, bei der Mannschaften aus 12 Ländern aufeinandertreffen. Wobei «aufeinandertreffen» hier wortwörtlich gemeint ist. Denn Rugby ist auch im Rollstuhl ein hartes, kampfbetontes und spektakuläres Spiel, bei dem man dem Gegner nichts schenkt. Schon gar nicht, wenn es um die wenigen Plätze an den Paralympics 2012 in London geht.

Bei allen Ambitionen, die manche hegen, liegt der tiefere Sinn sportlicher Aktivität jedoch nicht im Streben nach Höchstleistungen bzw. dem Sammeln von Rekorden oder Medaillen. Für das Individuum steht vielmehr die Erfüllung selbst gesetzter Ziele im Vordergrund: Fitness, Motivation durch Fortschritte, Gewinn von Lebensenergie und innerem Gleichgewicht sowie soziale Integration.

Heinz Frei Präsident der Gönner-Vereinigung

IMPRESSUM: Paraplegie. Das Magazin der Gönner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung, www.paraplegie.ch 35. Jahrgang. Ausgabe: September 2011/Nr. 139 Standard | Erscheinungsweise: vierteljährlich in Deutsch, Französisch und Italienisch | Gesamtauflage: 1‘011‘000 Exemplare | Auflage Standard: 210‘000 Exemplare | Copyright: Abdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin und der Redaktion. Herausgeberin: Gönner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung, 6207 Nottwil, sps@paraplegie.ch | Verantwortlich: Schweizer Paraplegiker-Stiftung, Unternehmenskommunikation, 6207 Nottwil | Redaktion: Roland Spengler (Leitung), Christine Zwygart. Bild: Walter Eggenberger, Astrid Zimmermann-Boog, redaktion@paraplegie.ch | Layout: Regina Lips, Karin Distel | Anzeigen: Fachmedien Axel Springer Schweiz AG, 8021 Zürich, info@fachmedien.ch | Vorstufe/Druck: Swissprinters AG, 4800 Zofingen.

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14 HINDERNISFREI BAUEN Ganzheitliche Rehabilitation von querschnittgelähmten Menschen hat zum Ziel, ihnen höchstmögliche Selbstständigkeit und Unabhängigkeit im Alltag zurückzugeben. Das kann allerdings nur dann gelingen, wenn die Betroffenen ungehindert Zugang haben – auch zu öffentlichen Bauten und Einrichtungen. Eine wichtige Rolle dabei spielen scheinbare Nebensächlichkeiten, bei denen es noch Verbesserungspotenzial gibt.

20 YVES ROSSIER Der Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherungen ist beauftragt, die IV zu sanieren. Wie und womit das gelingen soll, erläutert er im Interview.

26 LEBENSBERATUNG FÜR ROLLSTUHLFAHRER Eine Querschnittlähmung verändert alles im Leben. Hilfe und Unterstützung erhalten Frischverletzte bei Lebensberatern der SPV.

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Tanzen im Rollstuhl – geht das? Ja doch! Mit ihren «Roll’n’Go Dancers» übt Beate Kellermann Latein- und Standard-Tänze ein.

34 FINALE Kurt Aeschbacher über Erkenntnisse, die man in alten Gemäuern und Gärten gewinnt.

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NEWS Bild: Franziska Neuhaus

Neuartiges Pflegebett

40 Rollstuhlfahrer aus der ganzen Welt trafen sich bereits zum vierten Mal im Aérodrome in Epagny FR, um ihre Passion zu teilen: das Fliegen – trotz Behinderung. Die Piloten aus Australien, Neuseeland, Amerika, Kanada, Südafrika, Grossbritannien, Belgien, Frankreich, Italien, Deutschland, Schweden und der Schweiz nahmen die Gelegenheit wahr, Erfahrungen auszutauschen und die besonderen Anforderungen für Flüge in den Bergen kennenzulernen. Ehrenvorsitzender der Veranstaltung «Handiflight» war Brian Jones, der 1999 gemeinsam mit Bertrand Piccard als erster Mensch die Erde in einem Ballon umkreiste. Und zu den rund 150 Besuchern gehörten auch die Kandidatinnen der Miss-Handicap-Wahl 2011.

Herzens-Angelegenheit Im Rahmen des 11. Kongresses eHealthCare.ch (21./22. September) im SPZ Nottwil wird am 20. September erstmals eine öffentliche Veranstaltung durchgeführt. Dabei zeigen die Herzklinik des Universitätsspitals Zürich und die Schweizerische Herzstiftung, wie sich Herzinfarkte vermeiden lassen, heute behandelt werden und wie das Leben nach einem erfolgreichen Eingriff lebenswert bleibt. Der Anlass findet unter dem Patronat der Gesundheitsdirektion des Kantons Luzern statt. Im Swiss eHealth Village können Besucher die verschiedenen Stationen bei einem Herzinfarkt hautnah erfahren. Weiter gibt es Vorträge ausgewiesener Fachleute. Das Programm wird doppelt geführt und beginnt um 10 bzw. 14 Uhr. Der Eintritt ist frei. Weitere Informationen: www.ehealthcare.ch.

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Mehr Sicherheit Auf dem Areal des SPZ Nottwil sind seit Kurzem eine Webcam sowie eine Wetterstation in Betrieb. Die neuen Installationen dienen höherer Sicherheit beim Landen und Starten von Rega-Helikoptern, die Patienten in die Spezialklinik für Querschnittgelähmte überführen. Zusätzliche spezifische Informationen über die Lage vor Ort sind den Piloten eine nützliche Hilfe. In näherer Zukunft ist auch der Einsatz von Satelliten-Navigationssystemen denkbar, um den Transport von Verunfallten nach Nottwil auch bei schlechter Witterung jederzeit zu gewährleisten. Für das Inselspital Bern ist dieses Anflugverfahren, nach erfolgreichen Tests der Rega, vom Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) bewilligt worden. Weitere wichtige Versorgungszentren sollen folgen.

Der Schweizer Michael Sauter hat ein bereits mehrfach ausgezeichnetes Pflegebett entwickelt, das die Bewegungen eines gesunden Menschen während des Schlafs imitiert. Dadurch wird das Wundliegen der Patienten verhindert – ein Problem, mit dem nebst älteren Menschen vor allem auch Querschnittgelähmte kämpfen. Für die automatische Umlagerung sorgen eine spezielle Matratze und ein nachgebender Lattenrost; das Pflegepersonal wird dadurch entlastet. Tests des «intelligenten» Bettes haben auch im Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil stattgefunden. Dank Investoren ist es Sauters Unternehmen «compliant concept» nun möglich, Ende 2011 das erste Produkt auf den Markt zu bringen. Auch andernorts wird weiter für das Wohl von Querschnittgelähmten geforscht. Deutsche Wissenschaftler arbeiten daran, dass Rollstühle künftig mit der Ohrmuskulatur gesteuert werden können. Die Helios Klinik in Zihlschlacht TG beteiligt sich am internationalen Projekt «Artic» (Advanced Robotic Therapy Integrated Centers). Ziel ist es, weltweit Institute zusammenzubringen, die computergesteuerte Rehabilitations-Technologien fördern und den klinischen Einsatz optimieren. In Japan wurde ein Roboterskelett entwickelt, das Querschnittgelähmten beim Gehen helfen soll. Und in den USA regen Forscher mit gezielten Stromreizen das Rückenmark an: ein vom Hals abwärts gelähmter Mann konnte daraufhin für wenige Minuten gehen und stehen.

Volltreffer für Horner

Bild: André Gegg

Der Traum vom Fliegen

Der Beste in Europa war er bereits – jetzt darf sich Philippe Horner auch Weltmeister nennen: An der Para-WM der Bogenschützen in Turin (Italien) war der Schweizer in der Kategorie «Compound» nicht zu bezwingen. Er gewann die Qualifikation souverän und entschied schliesslich auch das äusserst spannende Finalduell gegen den Briten John Stephen Stubbs mit 6 : 4 für sich.

Agenda 2011 2. – 4. September Schweizer Meisterschaften Rollstuhl-Tennis Wohlen AG 5. – 12. September Weltmeisterschaften Handbike Roskilde (Dänemark) 6. – 18. September Europameisterschaft Rollstuhl-Basketball A-Division Nazareth (Israel) 9. September 3. Swiss Handbike Day SPZ Nottwil 14. September Lesung des Zürcher Schriftstellers Urs Faes Bibliothek GZI Nottwil 17. September Zentralfest Schweizer ParaplegikerVereinigung, SPZ Nottwil 20. – 22. September Kongress eHealthCare Publikums-Tagung «Herz» GZI Nottwil 25. September Internationaler Rollstuhl-Marathon Berlin (Deutschland) 2. – 9. Oktober Europameisterschaft Rollstuhl-Rugby SPZ Nottwil

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NEWS

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Roger Getzmann ist vom International Paralympic Committee (IPC) zum «IPC Athletics STC Head of Competition» ernannt worden. In dieser Funktion wird der Leiter Leistungssport bei Rollstuhlsport Schweiz (RSS) für vier Jahre die technische Verantwortung bei allen bedeutenden LeichtathletikWettkämpfen der Behindertensportler übernehmen. Hans Frei heisst der neue Zentralpräsident der Behindertenorganisation «Procap». Der 56-jährige St. Galler sitzt seit 30 Jahren im Rollstuhl und arbeitet heute als Jurist in Altstätten SG. Er ersetzt Walter Kälin, der den Verband 23 Jahre leitete. Ernst Strähl sitzt neu im Stiftungsrat von Swiss Paralympic. Der frühere Sport-Referent der Alt-Bundesräte Adolf Ogi und Samuel Schmid ersetzt Kannarath Meystre. Åke Björck ist neuer Nationalcoach der Schweizer Rollstuhl-Basketballer. Vom Engagement des erfahrenen und erfolgreichen Schweden erhofft man sich eine optimale Vorbereitung des Teams auf die A-EM im September. Markus Pfisterer, Jurist und Sportmanager im Rollstuhl, amtet seit einigen Monaten als Geschäftsführer von Swiss Cycling. Der 40-jährige Aargauer war vor einer Querschnittlähmung durch Unfall im Jahre 1999 selber Elite-Radrennfahrer.

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Sport, Spass und Spiel für Rollstuhlfahrer OL-Rollerin. Patricia Guerrin nahm am ersten Rollstuhl-OL in Amriswil teil.

Integrieren statt ausgrenzen – Menschen im Rollstuhl können dank hindernisfreiem Bauen immer mehr Anlässe und Begegnungsstätten besuchen und erleben. Beispielsweise fand diesen Sommer in Amriswil TG der schweizweit erste Rollstuhl-Orientierungslauf statt. Auf der Tour durch das Städtchen mussten die Organisatoren einiges beachten: Zu grosse Steigungen lassen sich im Rollstuhl nicht bewältigen, eine Route querfeldein ist unmöglich, und hohe Randsteine bilden ein Hindernis. Auch Schifffahrtsgesellschaften haben aufgerüstet. So verfügt die «Stadt Thun» auf dem Thunersee nun über einen Lift, mit dem Rollstuhlfahrer aufs Oberdeck gelangen können. Das Bild: Daniela Ebinger Schiff «Petersinsel» auf dem Bielersee hat neu einen Treppenlift für das Hauptdeck, und auf dem Vierwaldstättersee gibts ein Informationssystem für Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung. Auch an die Jüngsten wird gedacht. Alt Bundesrat Samuel Schmid weihte in Unterwasser SG den ersten behindertengerechten Spielplatz ein, der den Zugang zu allen Geräten hindernisfrei ermöglicht – obendrein praktisch für Eltern mit Kinderwagen oder gehbehinderte Grosseltern. Und damit Rollstuhlfahrer bei heissem Sommerwetter in die Badi rollen können, testete die Behindertenorganisation «Procap» 300 Freibäder in der ganzen Schweiz. Die Ergebnisse dazu gibts unter www.goswim.ch.

Preisgekrönte Arbeit Gute Nachsorge ist bei Querschnittgelähmten enorm wichtig. Nur wenn gesundheitliche Probleme frühzeitig erkannt und gelöst werden, können sich Betroffene eine bestmögliche Lebensqualität bewahren. Ein Team von Fachspezialisten, darunter auch Mitarbeitende des SPZ Nottwil, hat dafür eine Art Checkliste entworfen. Diese enthält Hinweise und Tipps zu einzelnen Aspekten, auf die bei der jährlichen Kontrolle besonders geachtet werden muss. Als Leiterin des Projekts ist Regula Spreyermann, Fachärztin für Innere Medizin im Rehab Basel, für das erwähnte Werk mit dem Ludwig-GuttmannPreis ausgezeichnet worden. Dieser wird für hervorragende wissenschaftliche Arbeiten von der «Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie» vergeben.

PLZ|Ort Telefon PARA 0811

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PORTRÄT Angriff. Cornel Sonderer (l.) attackiert Nati-Kollege Toni Schillig. Die Rugby-Rollstühle sind Spezialanfertigungen und kosten über 10‘000 Franken.

Der sanfte Draufgänger Er arbeitete mit Leib und Seele auf dem Bau und genoss Ausflüge mit dem Töff – bis ein Unfall Cornel Sonderer zum Paraplegiker machte. Heute lebt er seine Leidenschaft im Rugby-Spielen aus. Und als Stürmer will er an der Europameisterschaft in Nottwil punkten. Text: Christine Zwygart | Bilder: Walter Eggenberger und Astrid Zimmermann-Boog

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Vorbereitung. Zum Schutz bandagiert Cornel vor dem Spiel die Finger ein, zieht Manschetten, Stulpen und am Schluss Gartenhandschuhe an.

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as Spiel ist kraftvoll und taktisch. Unzimperlich und draufgängerisch. Schnell und ganz schön laut, wenn die Rugbyspieler in ihren Rollstühlen losstürmen und ineinander krachen. «Ich mag dieses Grobe und lasse dabei den Bären in mir tanzen», sagt Cornel Sonderer. Er spielt auf der Position eines Stürmers und trainiert zweimal pro Woche mit seinem Team – den «Fighting Snakes» – in der Sporthalle des Schweizer Paraplegiker-Zentrums

(SPZ) Nottwil. Das Markenzeichen des 42-Jährigen: Eine Tätowierung auf dem rechten Oberarm, die einen brennenden Rugby-Ball darstellt. «Genau genommen ist es eine Art Volleyball. Denn mit dem original RugbyEi können wir Rollstuhlfahrer nicht so gut prellen», klärt der Profi auf. Für sein Team holt er die Kohlen aus dem Feuer, jagt über das Spielfeld, Kopf nach vorne gebeugt, Ball im Schoss, vollbringt zur Täuschung 180-GradDrehungen, prescht weiter, immer dem Goal entgegen, umringt von Gegnern, die versuchen, ihn auszubremsen. Der Club besteht zur Hälfte aus Spielern der Schweizer Nationalmannschaft. Bei den «kämpfenden Schlangen» sei das Niveau sehr hoch, erzählt Cornel mit Stolz. Er selber spielt auch für die Nati, ist dort die Nummer 11: «Eine schöne, harmonische Zahl.» Ihr Können zeigen die Draufgänger schon bald vor grossem Publikum: Die Europameisterschaft findet im Oktober in Nottwil statt. Und das Ziel der Schweizer ist klar: Sie wollen mindestens den dritten Platz erreichen und sich damit für die Paralympics 2012 in London qualifizieren. Ballgefühl und Wehmut An seine ersten Versuche im Rugby 1999 während der Rehabilitation kann sich Cornel Sonderer noch gut erinnern. Begeistert sei er nicht gerade gewesen: «Ich interessierte mich mehr für den Rennrollstuhl. Das hätte zu einem passionierten Töff-Fahrer wie mir besser ge-

passt.» Doch seine Physiotherapeutin ermunterte den jungen Mann zum Rugbyspielen, und die Leidenschaft entbrannte schnell: «Anfangs hatte ich enormen Respekt. Und dann plötzlich machte es einfach riesig Spass.» Frontalen Zusammenstössen sei er allerdings lange aus dem Weg gegangen, und Kollegen mit viel höherer Lähmung seien ihm um die Ohren gefahren. «Doch ich lernte schnell dazu.» Ein gutes Ballgefühl hatte der Winterthurer, der heute in Aadorf TG lebt, von klein auf. «In der Schule war ich ein begeisterter Basket- und Handballspieler», erzählt er. Und ein ziemlicher Lausbub. Seine Töffli frisierte Cornel, bis sie 90 Kilometer pro Stunde liefen. «Ich habe alles aufgemotzt, was zwei Räder hatte», sagt er mit einem spitzbübischen Lachen, das erahnen lässt, was für eine Freude ihm die Bastelei damals bereitete. Nach der Maurerlehre bildete sich der junge Mann weiter. Vorarbeiter, Hoch- und Tiefbaupolier, dazu die Sprengprüfung. «Ich stieg die Karriereleiter hinauf.» Noch heute, wenn er die Jungs bei schönem Wetter «oben ohne» auf den Baustellen arbei-

«Ich mag das Grobe am Rugby» 11


PORTRÄT

«Mein Leben stand auf der Kippe» ten sehe, komme Wehmut auf. «Das wäre meine Welt.» Doch das Schicksal wollte es anders.

Trainieren. Sonderer ist topfit. Ein brennender Rugby-Ball verziert seinen Oberarm.

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Vortritt und Nachbarn Auf der Baustelle kommt Cornel Sonderer an jenem Tag im Mai 1999 gut voran. Er geht früher nach Hause, duscht, zieht seine Töff-Klamotten an und will einen Kollegen besuchen. «Um zwanzig nach sechs verliess ich das Haus und schwang mich auf mein Motorrad.» Er erzählt, als wäre dies alles erst gestern passiert. Der Nachbar ist gerade am Rasenmähen. «Normalerweise gehe ich für einen Schwatz vorbei. Diesmal nicht.» Auch am Töff-Geschäft eines Freundes fährt er vorbei. «Normalerweise halte ich dort schnell an. Diesmal nicht.» Kurz darauf knallts. An einer Kreuzung nimmt ihm ein Autofahrer den Vortritt und fährt von links in seine Maschine. «Nur 60 Zentimeter haben gefehlt, dann wäre ich ungeschoren davongekommen.» Cornel wird in die Luft geschleudert, prallt auf ein anderes Auto und verliert das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kommt, liegt er auf dem Rücken und versucht aufzustehen – doch nichts geht mehr. «Ich hob meinen Oberkörper an und sah, dass mein rechtes Bein 90 Grad vom Körper wegstand. Das andere konnte ich auch nicht mehr bewegen.» Zum herangeeilten Polizisten sagt Cornel als Allererstes: «Ich will nach Nottwil.» Dieser meint nur, das komme schon wieder gut. «Und ich konterte: Ich weiss, im Rollstuhl lässt es sich auch gut leben.» Die Verletzungen sind gravierend,

Ausspannen. Cornel daheim in Aadorf TG – mit seinen RugbyAuszeichnungen und beim Lesen.

wie die Ärzte später feststellen werden: Oberschenkelhals und beide Handgelenke sind gebrochen, die Dornfortsätze der Wirbel abgerissen, ganze Wirbel verschoben und zersplittert, diverse Rippen gebrochen, innere Blutungen, Probleme mit der Lunge. «Mein Leben stand auf der Kippe.» Die Rega bringt ihn ins SPZ nach Nottwil. Liebe und Hassgefühle Jahrelang war Cornel Sonderer Töffrennen gefahren, mit über 150 Kilometern pro Stunde über die Piste geflitzt, auch gestürzt – und doch ist nie etwas Gravierendes passiert. «An meine ersten Wochen in Nottwil kann ich mich kaum erinnern.» Er lag im künstlichen Koma und wurde beatmet. Nach und nach holten ihn die Ärzte ins Leben zurück. «Doch ich war völlig hilflos, musste gefüttert, gewaschen und angezogen werden.» Seine Welt brach wenig später zusammen, als endgültig klar war: Er wird nie mehr gehen können. Und die Prognose, noch monatelang im SPZ bleiben zu müssen, machte die Sache nicht besser. «Ich habe meine Wohnung für einen Besuch bei einem Freund verlassen – und bin nie dorthin zurückgekehrt.» Eine grosse Stütze war ihm seine damalige Partnerin. Die beiden standen kurz vor der Heirat. Das Fest war organisiert, die Hochzeitskleider hatten sie gekauft, einzig die Ringe fehlten noch. «Meine grösste Angst war, dass meine Braut nun nichts mehr von mir wissen wollte.» Rauschend war die Party, die das Paar nur ein paar Monate später feierte. Zum Apéro kamen über 100 Gäste. Und obwohl die Beziehung in der Zwischenzeit in die Brüche ging, sagt Cornel: «Dieser Frau habe ich sehr viel zu verdanken. Genauso meinen Freunden und meiner Familie.» Mit seinem Schicksal hadert er heute kaum mehr, auch wenn sein Körper ihn jeden Tag daran erinnere. «Dem Unfallfahrer gegenüber

Rollstuhl-Rugby-EM in Nottwil Die EM: Vom 2. bis 9. Oktober 2011 im Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil. Zuschauer sind herzlich willkommen, der Eintritt ist frei. Die Teams: Die Schweizer Mannschaft wird vom kanadischen Profi-Coach Benoit Labrecque betreut. Weiter nehmen Teams aus Schweden, Belgien, Finnland, Österreich, Dänemark, Holland, England, Polen, Deutschland, Irland und Frankreich teil. Die Briten gelten als Favoriten. Der Sport: Rollstuhl-Rugby wird auf einem Basketballfeld gespielt, das Goal ist ein 8 Meter langes und 1,75 Meter tiefes Rechteck. Die Spieler versuchen, mit dem Ball in diesen Torraum zu gelangen. Pro Mannschaft sind vier Rollstuhlfahrer im Einsatz, die alle auch die Arme und/oder Hände nur beschränkt nutzen können. Da der Grad der Behinderung stark variieren kann, wird jeder Spieler mit einer Punktzahl zwischen 0,5 und 3,5 klassiert. Das Team auf dem Feld darf zusammengezählt höchstens acht Punkte erreichen. Die Spieldauer beträgt vier mal acht Minuten. Mehr Informationen: www.wr2011.com

verspürte ich nie Hass.» Auch dieser trage seine Bürde, und zumindest seien weder Drogen noch Alkohol im Spiel gewesen. Zum Verarbeiten fuhr Cornel ein Jahr nach dem Unfall im Rollstuhl an die schicksalshafte Kreuzung, um mit dem Ganzen abzuschliessen. «Das war nötig, denn ich komme auch heute noch jeden Tag an dieser Stelle vorbei.» Und er wolle dabei kein komisches Gefühl haben. Thriller und Pokale Heute lebt Cornel Sonderer selbstständig in einer ebenerdigen Wohnung in Aadorf. Zu seiner Paraplegie kam ein sogenanntes Kompartmentsyndrom dazu: Die Blut- und Nervenbahnen im linken Unterarm wurden abgedrückt, die Muskulatur zog sich zurück. «Dadurch fehlt die Kraft in der Hand, und ich kann sie nur eingeschränkt nutzen.» Halbtags arbeitet er nun als Sachbearbeiter in einem Ingenieur- und Vermessungsbüro, kümmert sich dort um Kalkulationen und Offerten. Geblieben ist die Begeisterung für Sport; im Winter ist Cornel mit einem Monoskibob auf den Pisten unterwegs («so komme ich an Orte, die mit dem Rollstuhl nicht zugänglich sind – das gibt mir ein Stück Freiheit zurück.») und im Sommer braust er mit dem Handbike durch die Gegend («ich absolvierte auch schon einen Halbmarathon, aber nur in der Kategorie unter

‹ferner liefen›.»). Zum Entspannen liest er Bücher, am liebsten Thriller von John Grisham oder Dan Brown. Und bei Musik der RockGruppe Nightwish hebt er ab. In einem Regal, gleich neben der Eingangstüre, sammelt Cornel Sonderer Medaillen, Pokale und andere Auszeichnungen, die er im Rugby gewonnen hat. An zwei Welt- und vier Europameisterschaften war er, nur ein einziges Mal hat er sich verletzt und dabei das Aussenband des Daumens gerissen. Für seine Leidenschaft zahlt der Sportler pro Jahr rund 15’000 Franken aus dem eigenen Sack, um Kleinmaterial, neue Pneus und Reisekosten zu berappen. Zudem geht fürs Rugby fast die ganze Freizeit drauf, «viele freie Wochenenden hatte ich in diesem Jahr noch nicht». Die Trainings der Nati mit dem kanadischen Coach sind hart, Kondition wird aufgebaut, Spielzüge geübt, Balltechnik verfeinert, Verteidigungs-Strategien ausgetüftelt. Die Schweden und die Finnen sind starke Gegner, die Polen und die Franzosen ebenso. «In Europa sind wir die Nummer 7, weltweit auf Platz 12», klärt Sonderer auf. Geht es nach ihm, klettern die Schweizer die Rangliste hinauf – dafür ist die Nummer 11 des Nationalteams bereit, alles zu geben. Und wer weiss: Vielleicht steht in seinem Regal schon bald ein funkelnagelneuer EM-Pokal.

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DOSSIER

Kleingeist überwinden Menschen mit einer Behinderung müssen und wollen am Sozialleben teilhaben können. Das setzt auch freien Zugang zum öffentlichen Raum und passende Einrichtungen voraus. In der Schweiz bleiben auf dem Weg dahin noch einige Hindernisse zu überwinden – auch in den Köpfen jener, die sich berufsmässig mit Bauen beschäftigen.

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Andere Perspektiven. Menschen im Rollstuhl (hier Albert Marti im Swiss Miniatur, Melide) wünschen sich mehr Beachtung für Details, die ihnen Bewegungsfreiheit und ungehinderten Zugang ermöglichen.

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DOSSIER

Text: Roland Spengler | Bilder: Walter Eggenberger, Astrid Zimmermann-Boog

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lbert Marti schüttelt den Kopf und grummelt: «Wie kann man nur auf diese Idee kommen?» Der 40-jährige PolitikWissenschaftler im Rollstuhl will zu einem Vortrag, der in einem umgebauten Hotel in Luzern stattfindet. Nach längerem Suchen hat er endlich den Seiteneingang gefunden, wo es einen Treppenlift gibt. Dieser lässt sich aber nur mit einem speziellen Schlüssel in Gang setzen – der im Innern des Gebäudes deponiert ist! Selber holen geht nicht, jemanden anrufen auch nicht, da Hinweise zu Abholort oder eine Telefon-Nummer fehlen. Derlei Umtriebe nerven Marti. «Ich staune immer wieder, wie wenig Beachtung die einfachsten Bedürfnisse finden. Man bemüht sich zwar. Doch in der Umsetzung hapert es oft», sagt der Querschnittgelähmte. Wissenslücken bei Fachleuten Im Vergleich zu früher sind schwere Sünden in Sachen «Zugänglichkeit» heute die Ausnahme. Hingegen gibt es vielerlei kleine, lästige Probleme, mit denen sich Behinderte im Alltag herumschlagen (siehe auch Seiten 18/19). Erschwernisse hier und dort haben diverse, teils handfeste Ursachen. Manchmal ist jedoch nur blosse Unachtsamkeit schuld, die ihren tieferen Grund auch in Defiziten im Kopf von Fachleuten hat. Gemäss Studien von 2004, im Rahmen des NationalfondsProjektes 45* durchgeführt, wussten damals vier von zehn Architekten nicht, dass hindernisfreies Bauen in der Schweiz gesetzlich vorgeschrieben ist. Dabei waren entsprechende Verordnungen schon länger in Kraft. Überdies wurden die entsprechenden Kosten von rund der Hälfte der Befragten als zu hoch eingeschätzt. Inzwischen hat, unter anderem, das 2004 eingeführte BehindertenGleichstellungsgesetz etwas Abhilfe im Sinne von höherer Aufmerksamkeit geschaffen. Dennoch wird der Abbau bzw. das Vermei-

den von Barrieren von einigen noch immer mehr als eine Art freiwillige Zugabe und weniger als eigentlicher Auftrag verstanden. Hochschulen unter Zugzwang Das rührt auch daher, dass das Thema «Hindernisfreies Bauen» an einschlägigen Ausbildungsstätten nicht gleichgewichtig behandelt wird und spezielle Lehrstühle fehlen. «Anders als in angelsächsischen Ländern, wo man eher die Spezialisierung fördert, wird im deutschsprachigen Raum der integrale Ansatz bevorzugt. Dabei bilden Anliegen behinderter Menschen im öffentlichen Raum einen von vielen wichtigen Aspekten», sagt Fritz Schumacher, Kantonsbaumeister Basel Stadt und Lehrbeauftragter an der ETH Zürich. Man riskiere so, dass weniger Erkenntnisse einflössen, die auf Forschungsergebnissen beruhten. Jedoch führe möglichst breites Verständnis für unterschiedlichste Ansprüche eher zum Ziel als tendenziell isolierte Betrachtungsweise. Ohnehin glaubt Schumacher, dass Hochschulen in der Schweiz vermehrt unter Druck geraten, die Ausbildung in diesem Fach zu verbessern: «Die nachrückende Generation von Architekten und Planern wird bestimmt über ein höher entwickeltes Verständnis für nutzerorientierte Lösungen in Belangen des hindernisfreien Bauens verfügen.» Keine Rechtssicherheit Hinderlich in der Praxis kann auch die Gesetzgebung selber sein. Der Bund einerseits hat Mindestanforderungen für behinder-

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– Reservierte Plätze (PostFinanceArena, Bern)

Kaum ereichbare Theke (PostFinanceArena, Bern)

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– Moderner Kassenautomat (Stücki Shopping, Basel)

Tückische Türschwelle (Landesmuseum Zürich)

+ Rollstuhlgängige Toilette (Landesmuseum Zürich)

Massive Eingangstüre (Olma Messen, St.Gallen)

tengerechtes Bauen formuliert. Die Kantone oder auch Gemeinden anderseits sind aber frei, die Latte höher zu legen. Wo das geschieht, sind strengere Vorschriften verbindlich. Absolute Rechtssicherheit gibt es allerdings nicht, weil die Bundesverfassung und bestimmte Reglemente sowohl die Ansprüche von Behinderten, als auch jene staatlicher Stellen, zB. der Denkmalpflege, schützen. Exemplarisch dafür sind Interessen-Konflikte im Rahmen von Bauvorhaben, die Bild und Substanz historischer Gebäude oder Anlagen bedrohen. Manchmal müssen entsprechende Auseinandersetzungen sogar von einem Gericht entschieden werden. Vermeiden lassen sie sich, wenn überhaupt, am besten durch frühzeitigen Dialog und Kompromissbereitschaft. Nachhaltigkeit ist günstiger Klarere Verhältnisse herrschen bei den Kosten. In Einzelfällen ist für Anpassungen im Nachhinein beträchtlicher Zusatzaufwand nötig. Ansonsten jedoch sind die Mehrkosten für behindertengerechtes Bauen sehr viel geringer als gemeinhin angenommen. Wird die Zugänglichkeit eines Gebäudes für alle Menschen schon bei Planungsbeginn berücksichtigt, fallen dafür, im Durchschnitt, nur 1,8 Prozent der Bausumme an. Und je höher die Bausumme, desto weniger schlagen Massnahmen für Hindernisfreiheit zu Buche. Bei 5 Mio. Franken belaufen sich die Mehrausgaben auf höchstens ein halbes Prozent, bei 15 Mio. fallen sie sogar unter 0,15 Prozent des

Totals – so viel wie normalerweise die Baureinigung kostet.* Anhand dieser Zahlen leuchtet ein, dass hindernisfreies Bauen oder zumindest ein flexibles Konzept eindeutig günstiger und nachhaltiger ist. Zumal Abstriche in technisch-ästhetischer Hinsicht nur äusserst selten gemacht werden müssen. Verpasstes nachzuholen, kommt hingegen teuer zu stehen. Der Wandel hat begonnen Das Bewusstsein für den Mehr-Wert von hindernisfreiem Bauen zu stärken, gehört zu den wichtigsten Aufgaben von spezialisierten Fachstellen im ganzen Land. Dabei setzen sie auf Kursangebote, kontinuierliche Information sowie auf die neue SIA Norm 500 «Hindernisfreie Bauten». Auf der Gegenseite mehren sich gleichzeitig Anzeichen eines Wandels. So steigt die Beteiligung am europaweiten Wettbewerb um den «Schindler Award»** laufend. Zuletzt war erstmals ein Team aus der Schweiz, von der Fachhochschule für Architektur, Holz und Bau, Burgdorf (BE), in der Endausscheidung – und bekam den ersten Preis zugesprochen. Den Rest, so schätzen Experten, wird die demografische Entwicklung erledigen. Menschen, die unfall- oder krankheitsbedingt auf einen Rollstuhl angewiesen sind, bilden heute noch eine Randgruppe. Übermorgen aber dürften sie infolge höherer Lebenserwartung eine volkswirtschaftlich weit grössere Bedeutung haben.

*Quelle: «Behindertengerechtes Bauen – Vollzugsprobleme im Planungsprozess». Interdisziplinäre Studie. Teilprojekt A: «Technische und finanzielle Machbarkeit.» Teilprojekt B: «Psychische Ursachen der Missachtung baulicher Bedürfnisse behinderter Menschen. Beteiligte: ETH Zürich, Universität Zürich, Schweizerische Fachstelle für behindertengerechtes Bauen. ** Architektur-Projekte mit Schwerpunkt «Zugang für alle».

Volle Teilhabe. Bauen nach der Devise «Zugang für alle» erleichtert die Integration von behinderten Menschen.

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DOSSIER

Je neuer, desto besser Baujahr und Bauweise sind mitentscheidende Faktoren für Zugänglichkeit und behindertengerechte Ausstattung* von öffentlichen Gebäuden. Diese Erkenntnis unter anderen resultierte bei Stichproben in fünf unterschiedlichen Einrichtungen. So erhielt das 2009 eröffnete Einkaufszentrum «Stücki» in Basel die insgesamt beste Note, während das mehr als 100 Jahre früher fertiggestellte Landesmuseum in Zürich am meisten Schwachstellen aufwies. Auffallend waren danebst das häufig magere Angebot spezifischer Informationen auf den Internet-Seiten der Betreiber sowie - vereinzelt - Lücken in der Signalisation. Mit wenigen Ausnahmen genügend waren: Beschriftung, Anzahl Parkplätze, Anzahl Toiletten. Anzahl/ Ausrüstung Lifte, Anzahl Hilfsmittel, Zugang zu Kassen, Bancomat und Bedienung derselben. *Die nebenstehend aufgeführten Einrichtungen wurden auf Anforderungen von körperlich behinderten Menschen getestet, die einen Rollstuhl benötigen. Stand: Januar 2011.

ROLLSTÜHLE

Stücki Shopping Basel

Swiss Miniatur Melide

Olma Messen St. Gallen

PostFinance-Arena Bern

Landesmuseum Zürich

Einkaufszentrum, 2009 eröffnet

Freiluft-Museum/-Park, 1959 eröffnet

Mehrzweck-Anlage, 1970 eröffnet, mehrfach erweitert

MZH/Eissport-Stadion, 1967 eröffnet, Umbau 2007–2009

Museumsanlage, 1898 eröffnet, Teilsanierung 2009

+ Durchgehend rollstuhlgängig, einfacher Zugang zu Parkhaus, Läden. Grosszügiges Platzangebot (Ladenstrassen, Geschäfte). Moderne Toiletten und Lifte. Sehr breite Türen, von denen viele automatisch öffnen/ schliessen. Umfassende Signalisation mittels Piktogrammen. Einzelbestuhlung in Restaurants mit Bedienung. Tram- und Bushaltestelle sowie Parking (reservierte Plätze) in geringer Entfernung. ParkingKassen und Bancomat vorzüglich gestaltet; separate Kassen in Migros. – Toiletten ohne Alarmknopf, Garderobenhänger zu weit oben montiert. Einkaufswagen ziemlich massiv und schwer (für Rollstuhlfahrer nicht geeignet). Schnellimbiss-Theken vereinzelt hoch. Keine spezifischen Informationen auf der Homepage.

+ Durchgehend rollstuhlgängig (ebenerdig), einfacher Zugang. Separater Ein-/Ausgang. Einzelbestuhlung im Restaurant. Bahnhof, Schiffstation sowie Parking (gratis, reservierte Plätze) in geringer Entfernung. Gratis-Eintritt für Rollstuhlfahrer und Begleitperson. – Nur eine Toilette auf dem Gelände, stark abgewinkelter Eingang, Türe eher schwer zu öffnen, kein Spiegel, kein Alarmknopf. Rundweg teilweise rau und holprig, einige eher steile Auffahrten (Brücken). Hohe Theken im Restaurant. Wenig spezifische Informationen auf der Homepage.

+ Durchgehend rollstuhlgängig, einfacher Zugang. Breite Wege in- und ausserhalb Hallen. Zeitgemässe Toiletten und Lifte. Alle Restaurants mit Bedienung und Einzelbestuhlung. Bushaltestelle sowie Parking (reservierte Plätze) in geringer Entfernung. Ermässigter Eintritt für Rollstuhlfahrer, Gratiseintritt für Begleitperson. – Einigenorts auf dem Gelände steile Rampen, bzw. Auf- oder Abfahrten, sowie schwere Türen, die nicht automatisch öffnen. Verpflegungsstände mit hohen Theken, zahlreiche Verkaufsstände nicht zugänglich (hohe Aufsätze). Spezifische Informationen auf der Homepage verstreut/versteckt und dürftig.

Von Profis für Profis Eine Fülle von Informationen und Tipps für Profis enthält das Buch «Hindernisfreies Bauen». Herausgeberin: Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Preis: CHF 50.–. Erhältlich in Deutsch und Französisch. Online-Bezugsquelle: www.paraplegie.ch/parashop (Rubrik Bücher).

+ Durchgehend rollstuhlgängig, einfacher Zugang. Separater Ein-/Ausgang. Zeitgemässe Toiletten und Lifte. Alle Restaurants mit Bedienung und Einzelbestuhlung. 54 reservierte Plätze im Zuschauersektor (ebenerdig), der Grossteil davon in einer Reihe. Tram-, Bus- und S-Bahn-Haltestellen sowie Parking (reservierte Plätze) in geringer Entfernung. Bei Spielen des SC Bern: Ermässigter Eintritt für Rollstuhlfahrer, Gratiseintritt für Begleitperson. – Toiletten ohne Alarmknopf, Türen teilweise schwer zu öffnen. Bars mit hohen Theken. Einzel-Plätze im Zuschauersektor nicht sehr günstig. Zugang zu oberen Stockwerken nur via Warenlift und in Begleitung möglich. Keine spezifischen Informationen auf der Homepage des SC Bern. Knapper (versteckter) Hinweis auf Homepage der postfinancearena.

+ Rollstuhlgängig auf allen Stockwerken (ausser Waffenturm). Grosszügig gestaltete Räume. Zeitgemässe Toiletten und Lifte. SelbstbedienungsRestaurant mit Einzelbestuhlung. Bahnhof und Tramhaltestelle in geringer Entfernung. Gratisparking im Innenhof (nur auf Anmeldung). Gratiseintritt für Begleitperson. – Besucherführung mangelhaft, Beschriftung/Signalisation fehlt weitgehend. Zugang teilweise sehr kompliziert (Umwege, Hilfe erforderlich) oder unmöglich (mobile Rampen untauglich). Toiletten ohne Alarmknopf. Einzelne Exponate kaum einsehbar, da Kästen hoch oben platziert. Keine reservierten Parkplätze. Keine spezifischen Informationen auf der Homepage.

«Zugang für alle ist machbar»

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elix Schärer ist Architekt FH. Er leitet das seit 1995 bestehende Zentrum für Hindernisfreies Bauen (ZHB) in Muhen AG. Die eidgenössisch anerkannte Fachstelle mit acht Mitarbeitenden gehört zur Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV). Wie viele Bauprojekte bearbeitet das ZHB jährlich? Wir nehmen jährlich rund 250 neue Projekte in Angriff. Bei ca. 50% dieser decken wir alles ab, d.h. kostenlose Beratung, kostenpflichtige Planung, kostenpflichtige Bauleitung. Mehr als vier Fünftel der Arbeiten entfallen auf Umbauten, der Rest auf Neubauten. Objektspezifisch handelt es sich hauptsächlich um privaten Wohnraum, während Arbeitsplätze und öffentliche Einrichtungen einen geringen Anteil (15%) einnehmen. Gelten bei Querschnittlähmung besondere Anforderungen? Für Menschen mit Querschnittlähmung sind drei Faktoren absolut zentral: Keine Stufen, genügende Durchgangsbreiten, ausreichende Bewegungsflächen. Behinderungsgrad, persönliche Ansprüche sowie die Realisierung innert nützlicher Frist sind weitere wichtige Kriterien. Welche externen Spezialisten werden häufig beigezogen? Ständige Partner sind Fachleute (Ergotherapie, Sozialberatung) in allen bedeutenden Rehabilitations-Kliniken der Schweiz, Hilfsmittel-Beratungsstellen sowie Behinderten-Organisationen und Kostenträger. Zudem stehen wir regelmässig in Kontakt mit Behörden, Bauherrschaften, Handwerkern, Wohnungsvermietern, Generalunternehmern usw. Wo stossen Sie häufig auf grössere Probleme? Zum einen ist es oft sehr schwierig, Finanzierungslösungen für Menschen mit Behinderung im AHV-Alter zu finden. Zum anderen fehlt vielen Bau-Konzepten die Flexibilität, um spätere Anpassungen schnell und einfach vornehmen zu können. Wird aber die Selbstständigkeit von Betroffenen erhalten und damit die Verlegung in eine Pflegeinstitution vermieden, hat sich der Aufwand bereits gelohnt. «Zugang für alle» ist machbar und sollte selbstverständlich sein, wie etwa der Brandschutz! In welcher Höhe bewegen sich die Kosten? Und wer bezahlt diese? Die Kosten für individuelle Anpassungen sind sehr unterschiedlich. Die Spannweite reicht von tiefen vierstelligen bis zu hohen sechsstelligen Beträgen. Es gilt, Haus- oder Wohnungstyp, Objektlage, Bausubstanz und Bauqualität sowie persönliche Bedürfnisse der Benutzer zu berücksichtigen. Die Finanzierung erfolgt fallweise durch Versicherungen (IV und sonstige), Beiträge von Behinderten-Organisationen, Eigenmittel und auch gemischte Trägerschaften.

Weitere Informationen: www.paraplegie.ch www.spv.ch

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INTERVIE INTERVIEW W

«Wir haben einen Sparauftrag zu erfüllen»

Priorität. Die Re-Integration von Rentenbezügern in die Berufswelt ist eines der wichtigsten Anliegen der IV.

Die Invalidenversicherung (IV) ist in Schieflage. Bis zum Jahr 2025 müssen 15 Mia. Franken Schulden getilgt werden. Diverse Sparmassnahmen sind schon umgesetzt, weitere sollen mit der IV-Revision 6b dazukommen. Teilweise heftiger Widerstand, auch von Behindertenorganisationen, ist dabei programmiert. BSV-Direktor Yves Rossier erklärt, wie er sich die Lösung eines komplexen Problems vorstellt.

Berufsgruppen sowie die Wirtschaft im Allgemeinen haben von einer grosszügigen Auslegung der IV-Bestimmungen lange profitiert. Es war offensichtlich, dass durch Mengenausweitung irgendwann grössere Probleme entstehen könnten. Aber es wurde lange nichts dagegen unternommen – bis der Leidensdruck gross genug war.

Interview: Roland Spengler | Bilder: Yoshiko Kusano

D

ie IV hat gewaltige finanzielle Probleme. Worin liegen die Ursachen dafür? Für die Fehlentwicklung gibt es hauptsächlich zwei Gründe, die in direktem Zusammenhang stehen. Erstens wurde der Begriff Gesundheit in den vergangenen Jahren immer weiter gefasst. Neben rein körperlichen

Schwierige Aufgabe. Yves Rossier, Direktor BSV, muss die Invalidenversicherung finanziell wieder ins Lot bringen.

wurden vermehrt auch psychische und soziale Faktoren zur Beurteilung des GesamtWohlbefindens miteinbezogen. Im Zuge dessen tauchten zahlreiche neue Krankheitsbilder auf. Dabei handelte es sich vor allem um Schädigungen oder Störungen psychischer Natur. Davon betroffene Personen konnten ohne grössere Probleme eine IV-

Rente beantragen und bekommen. Zweitens entwickelte sich, parallel dazu, eine Tendenz, möglichst viele Probleme in der Arbeitswelt auf Kosten der IV zu lösen. In den 90erJahren setzte diesbezüglich ein richtiger Schub ein, gestärkt durch eine weitverbreitete Haltung, dass der Staat für den Bürger immer und überall da sein müsse.

Weshalb hat man denn so lange zugeschaut und das Anwachsen der Kosten nicht früher verhindert? Ja sagen ist immer einfacher als Nein sagen. Insbesondere dann, wenn die eigenen Interessen auch bedient werden. Das war hier nicht anders. Arbeitgeber, Sozialinstitutionen, Ärzte, Anwälte, Psychologen und andere

Nun steht eine Art Radikalkur bevor. Von welchen Massnahmen versprechen Sie sich am meisten Wirkung? Wir stehen noch am Anfang eines langen Prozesses. Es geht um das Schicksal der Invalidenversicherung schlechthin. Um ihr Weiterbestehen zu sichern, ist es notwendig, die Ausgaben als solche schrittweise zu reduzieren sowie effektive Einsparungen zu erzielen. Vorschläge dafür sind zuhauf vorhanden und zum Teil schon umgesetzt. Über andere, wie die Einführung eines neuen Rentensystems im Rahmen der IV-Revision 6b, ist noch nicht abschliessend entschieden. Wir sind darauf bedacht, dass die Massnahmen im Einzelnen nicht nur die IV-Bezüger, sondern auch beteiligte Wirtschaftssektoren belasten. Ein gewisses Potenzial dafür besteht, beispiels-

weise, im Bereich Hilfsmittel. Priorität hat, wegen ihrer Nachhaltigkeit, jedoch die ReIntegration von IV-Rentnern in die Arbeitswelt. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, innert sechs Jahren etwa 17’000 Personen ganz oder teilweise in eine Erwerbstätigkeit zurückzuführen. Das ist ambitiös. Hilft die Wirtschaft dabei in erwünschtem Umfang? Arbeitgeber haben heute ein höheres Bewusstsein für negative Auswirkungen des Abschiebens von Beschäftigten in die IV. Sie haben begriffen, dass Invalidität viel kostet und am Ende auch einem Unternehmen ziemlich schaden kann. Bei der Wiedereingliederung von Bereits-Bezügern einer IVRente stösst man in der Wirtschaft aber immer noch auf gewisse Bedenken. Wir begegnen diesen mit spezifischen Anreizen (z.B. befristeter Arbeitsversuch, Übernahme finanzieller Risiken durch den Staat) und anderen Begleitmassnahmen. Das funktioniert soweit ganz gut. Immerhin konnten 2010 rund 2000 IV-Rentner wieder in den Arbeitsprozess eingegliedert werden – noch bevor die neuen eingliederungsorientierten Instrumente zur Verfügung standen, die mit der IV-Revision 6a bewilligt wurden.

Persönlich Yves Rossier (51) ist seit Februar 2004 Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) im Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) und in dieser Funktion auch für die Invalidenversicherung zuständig. Das BSV beschäftigt rund 300 Personen. Yves Rossier wuchs in Basel und später in Fribourg auf, wo er auch ein Studium der Rechte absolvierte. Weitere Ausbildungsstationen waren das Europa College in Brügge (Belgien) und die McGille Universität in Montreal (Kanada). 1990 trat der Westschweizer in die Bundesverwaltung ein. Sein Weg ins heutige Amt führte über verschiedene Tätigkeiten und Funktionen innerhalb mehrerer Departemente. Unter anderem war er im Generalsekretariat des Volkswirtschaftsdepartementes für die Bundesratsgeschäfte verantwortlich und zuletzt, von 2000 – 2004, Direktor des Sekretariates der Eidgenössischen Spielbankenkommission. Yves Rossier wohnt mit seiner Frau und fünf Kindern in Fribourg.

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Welche Bedeutung hat das in der Vorlage für die IV-Revision 6b aufgeführte neue Rentensystem für die Gesundung der IV? Die Umstellung auf ein stufenloses System spielt für die Zukunft eine wichtige Rolle. Heute kennt die IV Abstufungen, die an den Haaren herbeigezogen sind. Wie etwa ist es zu rechtfertigen, dass jemand mit einem Invaliditätsgrad von 71% eine ganze Rente erhält, bei einem Grad von 69% hingegen nur eine Dreiviertelrente? So erhalten wir häufig Anrufe von IV-Bezügern, die fragen, wie viel sie arbeiten dürfen, ohne dass ihre Rente

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Zuversicht. Yves Rossier glaubt an ein gutes, vernünftiges Ergebnis der politischen Auseinandersetzung.

gekürzt wird. Ein stufenloses System ist da fraglos besser: Wer mehr arbeitet, erhält mehr Lohn, dafür weniger Rente – und umgekehrt. Leider können wir es uns nicht leisten, das stufenlose Rentensystem nur für neue Renten einzuführen. Es müssen teilweise auch bestehende Renten gekürzt werden. Eben diese Kürzungen stossen weitherum auf Ablehnung. Ist man da nicht zu weit gegangen? Wir glauben, dass unser Vorschlag gut durchdacht und, übers Ganze betrachtet, ausgewogen ist. Das bedeutet immer auch: Die einen ärgern sich über Kürzungen; die anderen freuen sich über Erhöhungen. Ohnehin liegt es nun nicht mehr an uns, was aus den mit der IV-Revision 6b verknüpften Plänen tatsächlich einmal wird. Wer unseren Ideen nichts Positives abgewinnen kann, soll und darf Alternativen vorschlagen oder muss bereit sein, mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Wann ist mit einem endgültigen Beschluss des Parlamentes zu rechnen? Das lässt sich nicht voraussagen. Aus heutiger Sicht wird die Vorlage frühestens in der Wintersession 2011 in den Ständerat kommen. Dannzumal, nach den Wahlen im Herbst, werden – das zeigt die Erfahrung – rund 30% der Parlamentarier neu sein, und die politischen Kräfteverhältnisse werden sich vielleicht auch geändert haben. Ich rechne darum nicht damit, dass es im Schnellzugstempo weitergeht und die Vorlage von National- und Ständerat unverändert durchgewinkt wird. Befürchten Sie in wichtigen Punkten auch Konzessionen an Behindertenorganisationen, um ein Referendum zu verhindern? Das Parlament hat einen Sparauftrag formuliert, Volk und Stände haben diesen bestätigt, und der Bundesrat hat Vorschläge gemacht,

SPS/SPV wollen Rentenabbau verhindern Die 1960 eingeführte Invalidenversicherung (IV) gehört zu den wichtigsten Sozialwerken der Schweiz. Sie dient dazu, finanzielle Lücken zu schliessen, die durch dauerhafte Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit – infolge Unfall, Krankheit, Geburtsgebrechen – eines Menschen entstehen. 2010 haben insgesamt 450‘000 Personen – 40‘000 weniger als 2009 – eine Leistung der IV erhalten, verteilt auf 250‘000 Männer und 200‘000 Frauen. 2010 wurden 280‘000 Invalidenrenten ausbezahlt, davon 73% ganze Renten. 240‘000 oder 86% der Rentenbezüger lebten in der Schweiz. Die Ausgaben der IV beliefen sich 2010 auf insgesamt 9,2 Mia. Franken, davon 5,4 Mia. für Renten. Dem standen Einnahmen von 8,2 Mia. Franken gegenüber.* Sanierung seit 2004 im Gange Die längere Zeit praktizierte Ausweitung von IV-Leistungen hat dazu geführt, dass die IV über Jahrzehnte defizitär war und heute gegenüber dem AHV-Fonds mit rund 15 Mia. Franken verschuldet ist. Bis 2025, so ist geplant, soll die IV schuldenfrei sein. Die etappenweise Sanierung durch Einsparungen sowie Mehreinnahmen aus der 2009 beschlossenen Zusatzfinanzierung (läuft bis Ende 2017) ist seit 2004 im Gange. Tiefgreifende Reformen wurden mit mehreren auf-

einanderfolgenden Revisionen des entsprechenden Gesetzes eingeleitet. Zuletzt, in der Frühjahr-Session 2011, hat das BundesParlament den ersten Teil der 6. IV-Revision (6a) angenommen. Ein zentrales Element dieser ist die Re-Integration von IV-Rentenbezügern in die Arbeitswelt. Überdies wichtig sind: Überprüfung von Renten bei medizinisch nicht erklärbaren Leiden; Einführung des Assistenzbeitrages; Reduktion der Kosten für Hilfsmittel; Neuregelung des Bundesbeitrages. Unterstützung bei Referendum In einem nächsten Paket (IV-Revision 6b) ist, unter anderem, die Einführung eines neuen, stufenlosen Rentensystems vorgesehen. Dieses brächte teils massive Kürzungen auch bestehender Renten mit sich. Zahlreiche Menschen im Rollstuhl wären davon ebenfalls – und in sehr hohem Masse betroffen. Daher lehnen die Schweizer ParaplegikerStiftung (SPS) und die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV), zusammen mit anderen Behindertenorganisationen, einen Rentenabbau ab. SPS und SPV wehren sich prinzipiell gegen Schuldenreduktion zu Lasten von Menschen mit Behinderung, die auf IVLeistungen angewiesen sind, und würden ein allfälliges Referendum unterstützen.

*Quelle: Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)

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«Schmerzhafte Eingriffe sind unvermeidlich» wie der Auftrag umgesetzt werden kann. Die politische Auseinandersetzung, in der um Mehrheiten und Kompromisse gerungen wird, hat erst begonnen. Dass dabei auch mit dem Referendum gedroht wird, ist legitim und auch kein Grund zur Sorge. Es ist an der Politik, zu beurteilen, ob es möglich ist, ein Referendum zu verhindern und den Sparauftrag trotzdem zu erfüllen. Und wenn das Referendum trotzdem ergriffen würde – und zustande käme? Natürlich würden die Arbeiten durch ein Referendum und eine eventuelle Volksabstimmung um einiges verzögert. Aber dieses Risiko existiert in einer Demokratie. So mühsam das manchmal ist, lohnen sich im Grunde genommen die Geduld und die Arbeit, die damit verbunden sind. Deshalb auch steht die Schweiz, was die Sozialversicherungen betrifft, finanziell immer noch besser da als andere Staaten in Europa, in denen solche Reformen innert weniger Wochen verabschiedet werden, dafür aber weniger ausgereift und tragfähig sind. Glauben Sie bei allen Unwägbarkeiten daran, dass die IV-Schulden bis 2025 vollständig abgetragen sind?

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Vorrangig ist, dass die IV ab Klare Vorgaben. 2018 keine ZusatzfinanzieOhne diverse rung mehr benötigt. Dafür Sparmassnahmen müssen wir uns – miteinanist eine Sanierung der – einsetzen. Ob der Plan der IV nicht zu machen. darüber hinaus schliesslich aufgeht, wird auch durch Entwicklungen bestimmt, die wir nicht oder nur bedingt beeinflussen können; beispielsweise durch Konjunktureinbrüche mit Wegfall von Arbeitsplätzen und weniger Einnahmen aus der Mehrwertsteuer oder Ähnliches. Wir verfolgen aufmerksam, was im Umfeld passiert, und wollen, je nach Lage der Dinge, fallweise das Gefühl haben, sie kämen zu schnell reagieren können. Das verlangt aller- kurz, oder sie müssten für früher, von anderen, begangene Fehler büssen. Nur: Wir komdings auch Flexibilität in der Politik. men um teils schmerzhafte Eingriffe nicht Ohne Rentenkürzungen lässt sich das aber herum, wenn wir unseren Sparauftrag erfüllen wollen. nicht machen … Nach unseren Berechnungen führt nichts daran vorbei. Ein modifiziertes Rentensystem ist, wie erwähnt, elementarer Bestandteil der IV-Reform. Bei allem ist mir schon auch bewusst, dass bestimmte Interessengruppen

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PRAXIS

Treffen. Robert Ramseyer (l.) berät Kunde Roman Eggel im SPV-Büro in Sion VS.

PRAXIS

Betroffene beraten Betroffene Ist jemand plötzlich querschnittgelähmt, tauchen Fragen und Ängste auf. Mitarbeitende der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung helfen weiter – mit eigenen Erfahrungen. Text: Christine Zwygart | Bilder: Beatrice Felder

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ie sitzen beide im Rollstuhl. Robert Ramseyer seit 23 Jahren, Roman Eggel seit vergangenem September. Hier der routinierte Tetraplegiker, der mittlerweile viele Tipps und Tricks kennt. Da der frische Paraplegiker, bei dem immer wieder Fragen auftauchen. «Robert kann sich dank seiner Erfahrung schnell in meine Situation versetzen. Dadurch, dass er auch im Rollstuhl sitzt, wird das Eis sofort gebrochen», erzählt Eggel, 39. Und genau das ist Sinn und Zweck der Lebensberatung der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV): Betroffene begleiten Betroffene. «Ich bin einst den gleichen Weg gegangen. Deshalb kann ich Roman auch besser verstehen und ihn glaubwürdig beraten», sagt Ramseyer, der seit Juli 2010 in einem 40-ProzentPensum für die SPV in Sion VS arbeitet. Mit einem Kollegen betreut der 41-Jährige von hier aus rund 1500 Rollstuhlfahrer in der Romandie. Der erste Kontakt zwischen dem Berater und dem Frischverletzten findet bereits während der Rehabilitation statt. Deshalb sei es sehr wichtig, einen guten Kontakt zu allen vier Zentren für Querschnittgelähmte in Basel, Sion, Zürich und Nottwil zu pflegen, sagt Erwin Zemp, Bereichsleiter Lebensberatung SPV: «Gerade in den ersten Wochen fühlen sich die Betroffenen in der neuen Situation oft hoffnungslos.» Hier leisten die Berater im Rollstuhl wertvolle Dienste, zeigen neue Pers-

pektiven auf und motivieren. Acht Personen – Frauen und Männer, Para- und Tetraplegiker – arbeiten in Teilzeitstellen schweizweit als Aussendienstler der SPV. Rund 40000 Beratungsstunden haben sie während 4600 Sitzungen im vergangenen Jahr geleistet. Austausch via Internet Roman Eggel holte sich Rat für den Umbau seines Hauses in Aven, oberhalb von Sion. «Robert stand mir ausserdem bei Fragen zur Invalidenversicherung bei. Und er zeigte mir seine Tricks gegen Muskelkrämpfe.» Berater Ramseyer hilft seinen Kunden, den Alltag wieder selber in die Hand zu nehmen. Egal obs um die finanzielle Existenz, Integration in die Arbeitswelt, Beziehung und veränderte Sexualität, Mobilität oder Hilfsmittel geht – er

weiss bei Problemen Rat, kann erzählen, wie andere die gleiche Situation meisterten. Und wenn selbst Ramseyer einmal nicht weiterweiss, kann er auf Experten innerhalb und ausserhalb der SPV zurückgreifen. Die Beratung findet oft in persönlichen Gesprächen statt, kann aber auch telefonisch oder per E-Mail erfolgen. «Der persönliche Kontakt ist wichtig, damit wir die Ängste, Sorgen und Bedürfnisse der Betroffenen kennen und daraus die notwendigen Dienstleistungen ermitteln können», sagt Bereichsleiter Erwin Zemp. In der Zukunft möchte die Lebensberatung der SPV in den Randregionen und der Westschweiz noch präsenter sein. Geplant ist zudem ein Ausbau der Austausch- und Informationsplattform im Internet.

Dachverband der Rollstuhlfahrer Die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV) wurde 1980 gegründet und setzt sich als nationale Selbsthilfeorganisation für die Anliegen von Querschnittgelähmten ein. Heute gehören ihr rund 11‘000 Mitglieder an, die in 27 Rollstuhlclubs organisiert sind. In den Bereichen hindernisfreies Bauen, Kultur und Freizeit, Rollstuhlsport, Lebens- und Rechtsberatung bietet die SPV viele Dienstleistungen an. Finanziell unterstützt wird sie von der Schweizer Paraplegiker-Stiftung.

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Mit einem Sommerfest bedankte sich das Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) bei ehemaligen Patientinnen und Patienten. Seit Eröffnung der Spezialklinik am 1. Oktober 1990 sind hier 15’000 Para- und Tetraplegiker betreut und behandelt worden. Jeder Betroffene brachte seine eigene Geschichte, sein eigenes Schicksal mit nach Nottwil. «Sie alle haben das Zentrum mitgeprägt. Und dafür bedanken wir uns herzlich», sagte SPZ-Direktor Hans Peter Gmünder zur Eröffnung. Rund 120 Gäste aus der ganzen Schweiz genossen den lauen Sommerabend, um alte Freundschaften aufzufrischen und Erinnerungen auszutauschen. Nach einem vorzüglichen Nachtessen lud eine Kaffeelounge zum Verweilen ein. An der Bar wurden exotische Drinks serviert, und in der Aula spielten zu später Stunde zwei Bands Musik aus den 70er-Jahren, Rock, Funk und Pop.

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Während viereinhalb Monaten durfte ich in Ihrer Institution eine sehr wertvolle Zeit erleben. Nach der schwerwiegenden Erkenntnis, nun Paraplegikerin zu sein, wurde ich in der täglichen Therapie ermutigt und liebevoll wie kompetent gepflegt und betreut. Mit Blick auf die Zukunft belasten mich finanzielle Sorgen sehr. Die damit zusammenhängenden Fragen richtete ich an die Sozialarbeiterin, die mein Anliegen an die Stiftung weiterleitete. Zu meiner grossen Überraschung wurde mir mitgeteilt, dass diverse Kosten übernommen werden: so der Rollstuhl und das Sitzkissen sowie der Swiss-Trac. Die Hilfsmittel dienen mir, den Alltag zu bewältigen, und schenken mir nebst einer begrenzten Unabhängigkeit eine nie geahnte Freiheit. Ich richte meinen Dank an alle, die zu diesem grosszügigen Entscheid beigetragen haben.

Soeben haben wir unseren neuen Betten-Lift erhalten. Vielen herzlichen Dank für die Mitfinanzierung. Der Lift ist für meinen Mann eine riesige Erleichterung und für uns beide eine grosse Hilfe.

Ich bin dankbar, auch nach 19 Jahren Tetraplegie auf die Hilfe der Stiftung zählen zu dürfen. Sie haben mich beim Kauf eines Autos finanziell unterstützt. Ich finde keine Worte, um Danke zu sagen.

Seit bald einem Jahr bin ich krank und in der Zwischenzeit querschnittgelähmt. Voller Freude habe ich nun erfahren, dass Ihre Stiftung meinen grossen Wunsch erfüllt und mir den Treppenlift finanziert, auf den ich nun leider angewiesen bin. Ich möchte mich bei Ihnen für diese Grosszügigkeit bedanken. Der Treppenlift wird mir ermöglichen, «mein neues Leben» zu meistern und in den Griff zu bekommen.

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Andrea Petronio, Lugano TI

Carolina Züger, Zürich

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Hiermit möchte ich mich recht herzlich für die finanzielle Unterstützung beim Austausch des Treppenlifts (nach 17 Jahren Gebrauch!) in meiner Wohnung bedanken. Damit bleibt mir meine Unabhängigkeit erhalten. Eddy Jaccard, Rances VD

Heute haben wir unser neues Auto abgeholt. Wir sind sehr dankbar, dass die Stiftung die Finanzierung übernommen hat. Dank Ihren Verbindungen ist es überhaupt erst möglich geworden, dass ich auch künftig ein Auto lenken kann. Für Ihre Bemühungen danke ich herzlich und wünsche alles Gute. Roland Kamber, Hellbühl LU

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DIE BESONDERE SPENDE

Kreative Walliserinnen

Grosszügige Gäste

Mitglieder der Frauen- und Müttergemeinschaft Turtmann VS binden und verzieren jedes Jahr im November rund 40 Adventskränze in Fronarbeit. Diese werden dann am ersten Advents-Wochenende gesegnet und verkauft. Der Erlös aus dieser Aktion kommt jeweils einer wohltätigen Institution zugute. Anlässlich ihres Jahresausflugs übergab die Delegation aus dem Wallis der Schweizer Paraplegiker-Stiftung einen Scheck von CHF 1000.–. Herzlichen Dank.

Das Widenmoos Resort in Reitnau AG sammelt Geld für Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. An fünf Benefiz-Veranstaltungen mit Gala-Dinner und künstlerischen Darbietungen kamen dank grosszügigen Gästen rund 500’000 Franken zusammen. Der Betrag wurde im Rahmen einer kleinen Feier an die EurAsia Stiftung, die Philipp Neri Stiftung und die Schweizer Paraplegiker-Stiftung verteilt. Wir bedanken uns bei Organisator Fredy Bühler herzlich für die grosszügige Spende von 200’000 Franken.

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Übergabe. Organisator Fredy Bühler (2. v. r.) bringt SPS-Stiftungsratspräsident Daniel Joggi (r.), Gründer Guido A. Zäch und dessen Gattin Edith ein Bündel Banknoten mit.

Singende Teenager

Aktive Studenten

Im Rahmen der Tournee-Wochen der Adonia Teens-Chöre gastierte ein Chor mit dem Programm «Josef – De Träumer» in Nottwil. Die Jugendlichen nahmen mit ihren Leitpersonen an einer Führung durch das Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) teil. Die Gruppe war beeindruckt von den diversen Therapien, der Berufsfindung, der Übungswohnung, den verschiedenen Sportarten für Querschnittgelähmte und den Schicksalen dreier Betroffener, die im Imagefilm erzählt werden. Als kleines Dankeschön sang der Chor zum Abschluss in der Begegnungshalle zwei Lieder aus seinem Programm. Zur offiziellen Spende von CHF 200.– kamen durch eine spontane Sammlung der Jugendlichen noch CHF 365.– dazu. Wir bedanken uns herzlich für diese Unterstützung.

Jedes Semester sammelt das Hotel & Tourism Management Institute (HTMi) in Sörenberg LU anlässlich der «Internationalen Nacht» Geld für einen guten Zweck. Organisiert wird dieser Anlass von den Higher Diploma Studenten. Aus verschiedenen Aktionen wie beispielsweise dem Verkauf selber produzierter Schokolade, einer Tombola oder dem «Casual Day», bei dem sich die Studenten von der Uniformpflicht freikaufen konnten, resultierte ein Betrag von CHF 3227.–. Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung bedankt sich für diese Spende.

SIRMED darf diplomieren Das Schweizer Institut für Rettungsmedizin SIRMED in Nottwil ist die landesweit erste Institution, die vom Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) als höhere Fachschule für Rettungssanitäter anerkannt wurde. Das heisst, dass erfolgreiche Absolventen der entsprechenden Ausbildung bei SIRMED berechtigt sind, den eidgenössisch geschützten Titel «Diplomierter Rettungssanitäter HF» zu tragen. Der Entscheid des BBT geht auf einen Antrag der Eidgenössischen Kommission für Höhere Fachschulen (EKHF) zurück. Diese hatte die Anerkennung von SIRMED auf Grund positiver Ergebnisse eines drei Jahre dauernden Prüfverfahrens beantragt. www.sirmed.ch

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« Wir brauchen keinen Mitleidsbonus » Beate Kellermann tüftelt gerne an neuen Formationen herum, die Fussgänger und Rollstuhlfahrer dann gemeinsam tanzen. Die 49-Jährige lebt für ihr Hobby. Und liebt die Auftritte. Aufgezeichnet von Christine Zwygart | Bild: Astrid Zimmermann-Boog

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Am allerliebsten tanze ich Rumba. Die Musik ist romantisch, dazu bewegen wir uns elegant, mal schnell, dann wieder langsamer. Aber auch den Slowfox mag ich, weil man da weich und fliessend über die ganze Fläche tanzt. Daheim läuft bei mir fast immer der CD-Player, so lasse ich mich zu neuen Choreografien für unsere Tanzgruppe inspirieren. Am Morgen früh gehts hingegen nicht musikalisch zu und her: Mein Wecker gibt einen grässlichen Piepston von sich, der mich aus dem Schlaf reisst – alles andere würde bei mir nicht funktionieren. Da ich ursprünglich aus dem deutschen Ruhrgebiet stamme, brauche ich ein ordentliches Frühstück mit Brot, Wurst, Käse und Kaffee. Morgens widme ich mich der Hausarbeit, denn so richtig in Fahrt komme ich erst nach dem Mittag. Von zu Hause aus berate ich Behinderte im Rehabilitationsbereich und helfe ihnen, den Alltag besser zu bewältigen. Diese Arbeit macht mir viel Spass. Meine grossen Leidenschaften sind jedoch das Reisen und das Tanzen. Vor knapp zwei Jahren machte ich mit einer Freundin eine Weltreise: Amerika, Fidschi, Neuseeland, Australien, Bali, Singapur – wir waren dreieinhalb Mo-

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nate unterwegs. Einfach phantastisch und trotz Rollstuhl für mich ein wahrer Genuss. Wir haben so viel gesehen und erlebt, auch wenn wir vorab viel planen und abklären mussten. Nun überlegen wir bereits an den nächsten Ferien herum; Wunschziele sind Dubai, Südamerika oder Südafrika. Auftritte mit Show-Grössen Meine Arbeitszeit kann ich flexibel einteilen, und so bleibt viel Zeit fürs Tanzen. Kurz nach meiner Erstrehabilitation 1983 fragte mich der Manager einer Tanzgruppe, ob ich nicht mitmachen möchte. Tanzen im Rollstuhl? Ich fand das unmöglich, und schliesslich habe ich als Fussgängerin auch nicht getanzt. Doch der Herr blieb hartnäckig, und so schaute ich bei einem Training vorbei – und war gleich begeistert. Heute ist Tanzen für mich Entspannung und Sport zugleich. Die Paare setzen sich bei uns «Roll ’n’ Go Dancers» immer aus einem Rollstuhlfahrer und einem Fussgänger zusammen. Einmal pro Woche üben wir in Basel drei Stunden lang Tänze und Formationen aus dem Lateinund Standard-Bereich. Grundsätzlich ist es so, dass die Rollstuhlfahrer die gleichen Bewegungen machen wie die Fussgänger; nur seitwärts können wir nicht rollen. Damit das

alles elegant aussieht, braucht es zwischen den Tanzpartnern ein gutes Miteinander. Und: Dabei das Lächeln nie vergessen! Wir treten auch immer wieder öffentlich auf. Vor vielen Jahren wurden wir sogar mit einem Privat-Flugzeug abgeholt, um vor grossem Publikum in Berlin zu tanzen. In der Schweiz absolvierten wir Auftritte mit ShowGrössen wie Monika Kälin, Inigo Gallo und Florian Schneider. Bevor wir jeweils mit unserer Vorführung starten, spucken wir uns über die linke Schulter und feuern uns mit einem «Toi, toi, toi!» an. Die Zuschauer reagieren meistens begeistert. Wir sind stolz auf unsere Leistung und brauchen keinen Mitleidsbonus. Der perfekte Feierabend beginnt für mich mit einem guten Essen – am liebsten habe ich Spargel mit Putenschnitzel – und anschliessend gehe ich mit Freunden tanzen. Bleibe ich daheim, tüftle ich an neuen Tanzformationen herum, schaue Fernsehen (am liebsten «Stern TV») oder lese (jetzt gerade «Glück kommt selten allein ...» von Eckart von Hirschhausen). So gegen 23 Uhr zieht es mich ins Bett, wo ich nach einem ausgefüllten Tag sofort einschlafe.

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Beate Kellermann Bei einem Reitunfall im Jahr 1982 erlitt die Industriekauffrau eine Paraplegie. Heute lebt die 49-Jährige in Rheinfelden (auf der deutschen Seite) und arbeitet als Beraterin für die Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten. Ihre Leidenschaft gehört dem Tanzen: Als Leiterin und Trainerin der «Roll ‘n‘ Go Dancers» sucht sie Rollstuhlfahrer und Fussgänger, die in Basel mittanzen. www.rollstuhltanz.ch

Starkes Team. Seit vier Jahren tanzen Beate Kellermann und Oliver Wyck zusammen.

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Knörle Bild: SF/M erly

FINALE

ch liebe Ferienhäuser. Beispielsweise meinen Steinhaufen in Südfrankreich. Hinter dem seinerzeitigen Kauf (in einem Anflug von Grössenwahn) stand

auch die Absicht, sich Fremdes anzueignen und zu einem Stück Heimat zu machen. Mittlerweile sind Ferien in der Provence für mich zu einer Art geleb-

Kurt Aesc hbacher

tem Seminar geworden. Dabei lernt man Dinge anders sehen und machen als in der gewohnten Umgebung. Nehmen wir die Handwerker. Sie brauchen hier Geduld ... und Zuwendung. Da ruft man den Maurer, Gärtner oder Elektriker nicht einfach an, sondern lädt ihn ein. Und spricht mal eine Stunde über das Wetter, das Essen, die Politik und dann, ganz am Schluss, über den eigentlichen Grund des Treffens. Ob Reparatur des Daches, der Waschmaschine oder der Gartenmauer – gelöst wird das Problem immer, wenn auch meist nicht sofort. Dabei geht es dem Ausländer ein bisschen wie dem Magnolienbaum, den ich entgegen allen Warnungen gesetzt habe. Magnolien schlagen in unserer Gegend nie Wurzeln, hiess es stets. Aber nicht nur «le petit Suisse» hat Wurzeln geschlagen, auch die Magnolie tat es. So haben mich dieses Haus mit meterdicken Mauern und ein eigentlich viel zu grosser Garten demütig gemacht. Ein Wort, das man heutzutage kaum noch ungestraft brauchen darf. Und trotzdem: La Tourre, wie das Gebäude in alten Schriften heisst, stand schon vor 200 Jahren. Es hat Generationen von Menschen und Tieren Schutz geboten und kann so lange ein Refugium blei-

« Was man in alten Mauern lernen kann»

ben, als wir Sorge dazu tragen. Dass genau das auch anders geht als zu Hause, habe ich ebenfalls akzeptiert. So pflanzen wir eine ganze Allee mit wunderbar duftenden Linden, von denen ich weiss, dass sie ihre wahre Grösse erst dann erreichen, wenn es mich nicht mehr gibt. Dafür freue ich mich an «meinen» Olivenbäumen mit ihren knorrigen Stämmen, die seit über 100 Jahren Früchte tragen. Plötzlich wird das Modewort Nachhaltigkeit greifbar; indem man etwas an die Hand nimmt, ohne den sofortigen Profit zu sehen. So hilft dieser Ort mir auch immer wieder, Klarheit über eigene Ziele bei der Arbeit und in der Pflege von Freundschaften zu gewinnen. Es zählt weder das fulminante Feuerwerk noch die ständige Saldierung mit der Frage: Was bringt es mir? Es ist vielmehr die Freude, an etwas mitzuarbeiten, das sinnvoll ist, das hoffentlich Bestand hat; sei es auch nur für das Vergnügen der Augen, wie mein Gärtner sagt.

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Kurt Aeschbacher | Er arbeitet für das Schweizer Fernsehen und moderiert dort hauptsächlich Unterhaltungssendungen. Der 62-Jährige begleitet zudem Kongresse und führt durch Veranstaltungen. Ausserdem ist er als UNICEF-Botschafter tätig.


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