editorial Das Abseits zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es sich dort befindet, wo man es nicht erwartet. An dem Wort Abseits haben sich gedankliche Allgemeinplätze und Klischees festgesaugt wie Fußballbildchen auf Kinderzimmertüren. Die Mutter aller Abseits-Klischees, das „gesellschaftliche Abseits“ wird vor allem und gerne von denen ins Spiel geschubst, die sich irgendwo in der Mitte, gewissermaßen abseits des Abseits wähnen. Den vermeintlichen Bewohnern dieses diagnostizierten Abseits wiederum kommen die sie ins Abseits redenden Terminologen in ihrem seltsamen Tun etwas abseitig vor. Auf dem satten Grün des abgezirkelten Spielfeldes verhält es sich nicht sehr viel anders. Der Spieler im Abseits ist sich seiner Position oft am allerwenigsten bewusst und streitet nach dem Pfiff dann alles ab. Ist derjenige, der sich hier im Abseits befindet also nicht einfach jemand, der sich weiter heraus gewagt hat, als erlaubt? Nur aus einer gewissen Distanz heraus, so scheint es, ist das Abseits überhaupt erkennbar. Andererseits lässt sich von Weitem aus nur schwer zwischen passivem und aktivem Abseits unterscheiden. Dafür wird aus der Ferne etwas anderes deutlicher: Den Spielern ist oft nicht mehr bewusst, dass die Regeln, an die sie sich halten, von ihnen selbst aufgestellt wurden. Ganz andere Spiele wären denkbar, lustigere. Ohne Regeln allerdings gibt es auch kein Spiel. Und auch nichts, über das man sich hinweg setzen könnte. Die willkürliche Begrenzung provoziert einen kreativen Umgang mit ihr. Eine wesentliche Erkenntnis der Spieltheorie besagt, dass im Idealfall jeder Spieler die jeweilige Situation gleichzeitig aus der Sicht aller Spieler betrachten können müsste. Solange ein Spieler sich verbessern kann, indem er etwas anderes macht, als die anderen denken, wird er es anders machen. Wie man es auch dreht und wendet, das Abseits ist offensichtlich vor allem eine Frage der Perspektive. Für diese Spielraum-Nummer haben wir den Versuch unternommen, dem Abseits ein Stückchen näher zu kommen, wohl wissend, das es kein Abseits mehr ist, wenn es einmal fokussiert wird. Spielraum soll künftig 2 Mal im Jahr erscheinen. Spielraum ist als Nachwuchsprojekt gedacht und möchte gerne denjenigen Fotografen und Journalisten eine Plattform sein, die Lust haben, zu veröffentlichen, aber noch dabei sind, auf dem Magazinmarkt ihren Platz zu suchen. Vor allem Raum für eigene Ideen soll das Heft bieten; die einzige Vorgabe, die von unserer Seite gegeben wird, ist der Arbeitstitel. Alle Mitarbeiter dieser Ausgabe haben ihre Beiträge kostenlos für dieses Heft zur Verfügung gestellt. Dafür vielen Dank! Ebenso möchten wir uns bei allen bedanken, die Beiträge eingesendet haben, aber nicht berücksichtigt werden konnten.
zwischenraum Eine Fotostrecke von
Thomas Kr端ger
Rosenthaler Platz/Berlin Mitte
Spielraum
Einf端hrung
Spielraum
Einf端hrung
WeinmeisterstraĂ&#x;e/Rosenthaler StraĂ&#x;e, Berlin
Senefelder Platz/Berlin Mitte
inhalt 1
Editorial
2
Inzwischenraum
fussball 72
Shooting Stars
Urbane Leerstellen
10
Eine Mannschaft will nach oben
74
Aussen.
Psychotherapie
Über die Grenzen zwischen Fotograf und Sujet
Ein Autor spielt sich frei
ortszeit
80
Ein Tor zur Welt Ein Ausflug in das kleinste Land des Fussball
14
Rhinow / School’s out forever Die Schließung der Juri–Gargarin–Schule im brandenburgischen Rhinow erzählt dieGeschichte einer schrumpfenden Region.
identität 88
24
Wettbewerb
Nostalgia
Ausgezeichnete Momente des Glücks
Das alte Coney Island verschwindet Eine der letzten Oasen New Yorks wird geschlossen.
96
Die Zugbegleiter Nächtliche Ausflüge mit Zugliebhabern
32
Urban B-Sides 104
Die Stadt erzählt Geschichten
The Camp Ein Ferienlager
40
Warschaus schlechtere Hälfte 114
Praga ist verrufen – doch hier lebt die Seele der polnischen Hauptstadt
Hier&Jetzt
116 44
Die Vergangenheit lebt
Moscheen
Auf Pilgerfahrt mit Chassidischen Juden in Osteuropa
Moscheen in Frankfurt
120
Mimikri Eine Modestrecke
leben 52
Celebration Leben in Disneyland
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Position ist alles
arbeit 128
Der Tanzpalast
Betrachtungen über den Campisten
60
sOnnenwende
Der Friedrichstadtpalast probt die MTV Revolution
136
Archäologie der Arbeit
Leben am Polarkreis
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Ratchat
Ein fotografisches Tableau
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Es sind die schmutzigen Jungs, die Herzen brechen
Was sich deutsche Rattenfreunde zu erzählen haben
Ein Besuch im Kohlehandel Hantke
68
Ort des Widerstands Die Köpi darf bleiben, zumindest die nächsten 29 Jahre. Ein Besuch im wohl bekanntesten besetzten Haus Berlins
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Einführung
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Zauberwald
154
Impressum
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Einführung
Fotografie
Johannes Starke Text Heide Häusler
Aussen. Über die Grenze zwischen Fotograf und Sujet
In den 1960er Jahren besucht der Fotograf Richard Avedon das East Louisiana Mental Hospital in Jackson, Louisiana. Es entstehen Fotografien für eine Reportage, die die Patienten dieser psychiatrischen Anstalt portraitieren. In einer Serie von S/W-Aufnahmen dokumentiert er ihren Lebensalltag mit der Kamera. Die Bewohner der Anstalt verwehren sich zum Teil in isolierenden körperlichen Gesten dem Blick des Fotografen, zu einem anderen Teil erwidern sie ihn: Mit hilflosem Blick schauen sie in diesem Moment nicht nur den Fotografen, sondern jeden Betrachter dieser Fotografien an. Das grobkörnige Fotomaterial der Abzüge forciert den Eindruck dieser zerrissenen Geisteszustände. Avedon steht mit dieser Reportage in der Tradition sozialdokumentarischer Fotografie. Ein Jahrhundert zuvor, in den 1890er Jahren, arbeitet Jacob August Riis an seiner Dokumentation „How the Other Half Lives“, in der er das Leben der Armen in den New Yorker Slums portraitiert. Lewis W. Hine kritisiert in seiner 1905 entstandenen Fotoserie Kinderarmut und Kinderarbeit in den USA. Im Auftrag der Farm Security Administration erstellen im Zeitraum von 1935 bis 1942 u.a. die Fotografen Dorothea Lange und Walker Evans eine groß angelegte fotografische Dokumentation über die verarmte Landbevölkerung in Amerika. Die Fotografin Diane Arbus ist hinlänglich für ihre fotografischen Portraits von Randständigen der
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Gesellschaft bekannt. Was vereint diese Fotografen in ihrem Schaffen? Ein Grundzug ihrer dokumentierenden Motivation ist das Aufzeigen und Erfassen sozialer Missständen und sozialer Randgruppen in einer fotografischen Authentizität, die in einer seriellen Abfolge nachgezeichnet wird. Aber was passiert in der Begegnung von Fotograf und Modell genau? Auf welche Weise wird sich dem Sujet genähert? Gemein haben die oben genannten Fotografen nämlich auch, dass sie alle nicht zu der Gruppe der Menschen gehören, die sie portraitieren. Die Welt ihrer Modelle ist ihnen fremd, aber in das Format des fotografischen Sujets gebannt, bauen sie eine Beziehung zu ihnen auf. In der Soziologie hat man den Begriff der Verwunderung gefunden, der diese Motivation treffend beschreibt. Sie ist sowohl ein Mittel der Aneignung, als auch ein Schritt zur Anerkennung des Anderen. Indem ich den anderen ansehe, erkenne ich ihn an und er mich im Gegenblick. Diese Ambivalenz des
Einführung
Blicks ist der Strategie des fotografischen Mediums immanent. Die Fremderfahrung durch die Fotografie ist demnach als eine Auseinandersetzung mit der Welt zu lesen. Die Welt wird durch die Fotografie kategorisiert, strukturiert und erschlossen. In diesem Verständnis wurde das Medium schließlich auch von Beginn an auf Reisen und Expeditionen eingesetzt und nährte in seiner anfänglich unbezweifelt präzisen technischen Wiedergabe den Drang nach Wissenspräsentation. Die Vermessung der Welt wurde mit anthropologischen und ethnographischen Fotografien vorangetrieben, die nicht nur fremde Länder und Gegenden, sondern vor allem auch Sitten und Gebräuche, fremde Kulturen und deren Lebensbedingungen portraitierten. In bewegten Bildern vertieft der Film diese Botschaft und liefert bis heute in groß angelegten Dokumentationen reichhaltiges Bildmaterial zum Verständnis der Welt. An der Grundstruktur hat sich seither nichts geändert: Es gibt ein Davor und ein Dahinter. Das technische Instrument macht aus dem Blick eine kategorisierende Linse. Und in diesem Sinne lassen sich Fotoserien über Armut, politische Grenzgänger oder jugendliche Subkulturen auf einen gemeinsamen Nenner herunterkürzen. Es ist immer eine Draufsicht. Im Moment der Annäherung des Fotografen an das zu fotografierende Sujet entsteht eine relationale
Fremdheit zwischen beiden. Das bedeutet einen gegenseitigen Abgleich und eine Wahrnehmung ihrer angenommenen Unterschiedlichkeit. Es sind die eigenen Normen, Werte, Gewohnheiten und kulturellen Selbstverständlichkeiten, die durch das Fotografierte aus einer distanzierten Sicht betrachtet werden. Die Objektivität des Gruppenfremden transformiert unseren Blick und wirft ihn auf uns zurück (Georg Simmel: „Exkurs über den Fremden“, in: „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“, Duncker & Humblot Verlag, Berlin 1908, S. 509-512.). Nichts anderes meinen Wim Wenders, wenn er sagt, dass jede Kamera in zwei Richtungen fotografiere, und Martin Parr, wenn er seine Arbeit als zeitgenössisches Gesellschaftsbild, aber auch als Selbstportrait versteht. Für den fotografischen Akt mag die Annahme der wechselseitigen Betrachtung eine Wahrheit haben – aber diesem Prozess des Fotografierens geht ein mentaler Auswahlprozess voraus. Der Fotograf benennt bereits im Geiste sein Thema und verfügt für einen kurzen Moment über die Autorenschaft an dem nun beginnenden kreativen Prozess. Dieser kurze Moment erhebt ihn über das Sujet. Es entsteht – wenn auch nur durch den knappen zeitlichen Vorsprung – ein hierarchisches Gefüge, das fotografiertes Sujet und fotografierenden Autor klar voneinander trennt. Der Fotograf muss das Sujet in einem ersten Schritt als etwas „Frem-
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Einführung
contributors
geln, Sich-im-Bild-Verstecken, Sich-vor-der-Kamera-Transformieren oder In-einem-Sujet-Untergehen. In all diesen Selbstinszenierungen wird die hermetische Blickstruktur zwischen Fotograf und Sujet aufgebrochen und damit gleichsam bestätigt. So wie Cindy Sherman, die sich in Fremdheit inszeniert und dadurch fotografisches Objekt und Subjekt permanent changieren lässt. Oder Nikki S. Lee, die sich ihren Modellen in spezifischer Kleidung und Gestik bis zur vollendeten Mimikry anpasst und in der von ihr dokumentierten Gruppe Menschen verschwindet. Das wesentliche Verhältnis zwischen Fotograf und Sujet liegt diesem Text zugrunde. Bedenkt man den oben beschriebenen eindrücklichen Verortungsvorgang von Fotografie, formuliert sich gleichzeitig ein verbindendes Wesensmerkmal aller fotografierten Sujets: Der Moment des Auslösens der Kamera verwandelt alles in einen leblosen Gegenstand. Ob der sterbende Soldat eines Robert Capa, der Hotdog essende Tourist eines Martin Parr oder die radioaktiven Behälter einer Taryn Simon – in der Zweidimensionalität ihrer Erscheinung werden die Sujets einander gleich und zum vergleichbaren Gegenstand. Sie werden Bilder. Auf anschauliche, später bisweilen amüsante Weise vermittelt gerade das Medium der Ansichtskarte den Eindruck dieser Befreiung hierarchisierter Blickmuster und untermauert zugleich die Bedeutung der Fotografie als Kommunikationsmittel von Sensationen und Nachrichten aus fernen Ländern. Im handlichen Format des Kleinbildes werden Länder, Themen und Kulturen vereinheitlicht. Und gerade hier wird in einer Draufsicht das Wesentliche eines Gegenstandes entkernt und für eine Außenansicht zugänglich gemacht. des“ – etwas außerhalb seines Selbst liegendes – erkennen, damit er sich ihm nähern kann. Und so ist der erste Blick des Fotografen, der selektiert und kategorisiert, geistiger Natur. Die Auswahl eines bestimmten Themas reflektiert seine Gedanken über die Welt und macht an dieser Stelle eine emanzipierende Umdeutung für das betrachtete Objekt kaum möglich. Das technische Gerät der Fotokamera ist dann in der Umsetzung der Idee ein unterscheidendes Merkmal in der Charakterisierung von Fotograf und Sujet und bestimmt diese beiden Akteure fotografischer Inszenierungen zu Subjekt und Objekt. Die Grenzen dokumentarischer Fotografie und anderen Genres des Mediums sind hier fließend. Ein Blick in die Fotogeschichte zeigt, dass dieses Subjekt-Objekt-Gefüge immer auch Thema fotografischer Untersuchungen und künstlerischer Experimente wurde, die eine Umdeutung dieser klaren hierarchischen Positionierung provozierte. Die Möglichkeiten des figurativen Selbstportraits sind vielseitig: das selbstbewusste Posieren und Affektieren vor der Kamera, das Sich-ins-Bild-Schmug-
Aesop Almut Hilf Bülent engüzel Elmar Bambach Dorothee Deiss Robert Engelsmann Fritz Fabert Olle Fischer Jule Frommelt Tanja Beate Heuser Daniela Klein Kerstin Koletzki Markus Krall Thomas Krüger Anett Kuhlmann Andreas Oetker-Kast Christian Reister Dietmar Spolert Johannes Starke Markus Steffen Rami Tufi Jonas Walter Jan Zappner David Denk Sandra Fejjeri Marco Gütle Heide Häusler Matthias Steffen Falko Hennig Inana Tom Jeske Andreas Metz Jan Pfaff Jan Schrenk Daniel Saltzwedel Katharina Szovati Mark van der Maarel Joachim Zimmermann
Fotografie ist immer eine Draufsicht. In der Dokumentarfotografie fällt der Blickwinkel in diesem Sinne auf sämtliche Bereiche der Gesellschaft. Ethnische Gruppenbeziehungen, prekäre Identitäten, Kinder, alte Menschen, Glaube. Für die Dokumentarfotografie ist das Anerkennen des „Außen“ substantiell. Wer sich eigentlich immer im Außen befindet, ist der Fotograf. In den letzten Jahren ist mit dem digitalen Verfahren eine Phase des Umbruchs in der Fotografie eingeleitet, die der Darstellung der Wirklichkeit die künstlerisch begründete Vorstellung von Welt an die Seite stellt. In der Formensprache des Dokumentarischen werden mittels verschiedener Produktionsmethoden und bildnerischer Strategien die klaren Grenzen von Innen und Außen verwischt. Aus den Fotografien können Bildwelten werden, deren einzelne Elemente sich zu einem Ganzen addieren. Aus fotografischer Adaption wird Addition. Auf diese Weise integriert sich die innere Vorstellung in die äußere Wirklichkeit und wirkt mit Kräften der Behauptung entgegen, dass jede Fotografie ausschließlich eine Veräußerung des Blickes sei. Der Blick, der auf den anderen gerichtet über uns selbst Auskunft gibt, richtet sich nun auch auf die Innenwelt des Fotografen und erfährt eine Erweiterung um erfundene Landschaften und Protagonisten – dem Sujet einer eigenen geistigen Welt.
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Rhinow Der Abriss einer Gesamtschule in der brandenburgischen Provinz erz채hlt die Geschichte einer schrumpfenden Region.
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Jonas Walter
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School´s out forever Text
Marco Gütle
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uck Off Rhinow– hat irgendwer mit schwarzem Filzstift auf die Bushaltestelle in Rhinows Ortsmitte geschrieben. Der Bus aus Rathenow ist gerade weggefahren, die letzten rauchenden Schülergruppen haben sich zerstreut, und es wird es ruhig. Still steht die Bushaltestelle, um sie herum die schmucke Kirche, die Grundschule und der lokale Elektroladen. Der Schneeregen hat gerade aufgehört, und eigentlich ist es ganz schön in Rhinow, der kleinen 5000-Einwohner-Stadt im Landkreis Havelland, Brandenburg. Wenige Schritte von der Bushaltestelle entfernt liegt eine große Brachfläche. Hier stand bis vor kurzem die Juri-Gagarin-Gesamtschule. Einst einer der Lebensmittelpunkte des kleinen Städtchens, wurde sie im Sommer 2006 geschlossen, als die Schülerzahl zu gering wurde. Ein Schicksal, das die Schule mit vielen anderen Schulen im Land Brandenburg teilt. Allein im Bereich des Schulamtes der Stadt Brandenburg wurden in der letzten Zeit fünf große weiterführende Schulen geschlossen. Die Lehrer der verbliebenen Schulen müssen in Teilzeit unterrichten, da die Anzahl der Schüler nicht mehr ausreichend ist. Schulschließungen und Lehrerteilzeit sind eine direkte Folge des umfassenden demographischen Wandels, den Brandenburg gerade erlebt. Offizielle Studien sprechen von einem Bevölkerungsschwund von 2,5 auf 1,8 Millionen bis zum Jahr 2050.
Der Bus aus Rathenow ist gerade weggefahren und es wird still „Demographischer Wandel“, „geringe Geburtenzahlen“, „schrumpfende Stadt“ sind Schlagworte, die man im Rathaus der Gemeinde routiniert und häufig verwendet. Amtsdirektor Gerd Jendretzky und sein Kollege Michael Mirschel erzählen die Geschichte der verschwundenen Schule. Im Jahre 1972 gegründet, lief der Betrieb der Juri–Gargarin–Schule bis zum Sommer 2005 weitgehend ungestört. Zum folgenden Schuljahr wurden die Vorgaben des staatlichen Schulamtes zur Eröffnung der siebten Klassen schon nicht mehr erfüllt. In zwei Klassen sollten jeweils 25 Schüler eingeschult werden, in Rhinow warteten jedoch nur 40 Schüler auf den Beginn der siebten Klasse. Eine Ausnahmegenehmigung des Bildungsministeriums ermöglichte ein weiteres Schuljahr. Im Sommer 2006 warteten nur noch 19 zukünftige Siebtklässler auf ihre Beschulung. Das staatliche Schulamt der Stadt Brandenburg zog die Konse-
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quenzen und genehmigte die Einrichtung einer neuen siebten Klasse in Rhinow nicht. Im Sommer 2006 besetzten empörtte Eltern die Schule, um Presse und Bidungspolitiker für die Problematik zu sensibilisieren – ohne Erfolg. „Stirbt die Schule – stirbt unsere Region“ verkündet noch heute ein Protestbanner auf der Website der Schule. Lakonisch berichten Jendretzky und Mirschel, dass das weitere Existenz der Schule mit der Entscheidung des Schulamtes finanziell nicht mehr tragbar war. Die Gemeinde entschloss, die Schule zu schließen und das Gebäude unverzüglich abzureißen. Die beiden Beamten zeigen bei dem Bericht wenig Emotionen. Zu oft haben sie die Geschichte wohl erzählt, und nun scheint ihnen nur mehr Schicksalsergebenheit zu bleiben.
»Stirbt die Schule - stirbt unsere Region« steht auf den Plakaten der Eltern
Wie geht es weiter in Rhinow? Die Schüler der geschlossenen Schule werden fortan in umliegenden Kleinstädten Friesack, Neustandt an der Dosse und Rathenow beschult, so das Amtsdeutsch. Die Busfahrkarten müssen die Eltern der Schüler selbst bezahlen – und die Schüler fortan lange Wege in Kauf nehmen. Der Wandel in Rhinow betrifft mittlerweile auch andere Bereiche des öffentlichen Lebens. Gerd Jendretzky und Michael Mirschel erzählen, wie vor kurzem die Bahnstrecke des Städtchens außer Betrieb genommen wurde. Nur noch Busse bedienen heute den öffentlichen Nahverkehr in Rhinow. Auch das örtliche Gewerbe bemerke den Bevölkerungsschwund und die fehlenden Schüler: Bäcker, Kiosk, Dönerladen machen allesamt weniger Umsatz. Und sonst? Wolfgang Kastner, der ehemalige Rektor der JuriGagarin-Gesamtschule, vermutet, dass Rhinow mit der Schließung der Gesamtschule endgültig seine Lebensqualität einbüßt und fortan für junge Leute noch unattraktiver wird. Es werden keine jungen Eltern ein Häuschen bauen, da sie wüssten, dass der Schulweg ihrer Kinder viel zu lang sein werde. Der Verzicht auf die nächste Generation, das bedeute auch, dass die Bevölkerung Rhinows immer älter werde. Schon jetzt sei die Stadt deutlich verändert: „Wenn hier morgens die Busse mit den Schülern weg sind, ist es totenstill.“
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every night she came to take me out to dreamland when i‘m with her i‘m the richest man in the town she‘s my coney island baby
Tom Waits, Blood Money
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Jule Frommelt
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nostalgia Das alte Coney Island verschwindet. Was bleibt, ist die Erinnerung an einen Ort, der längst Mythos ist Text Sandra Fejeri
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n schönen Herbstnachmittagen, wenn sich der Himmel über Brooklyn langsam verfärbt, und ein paar Angler am hölzernen Pier des Strands von Coney Island sitzen und ihre Angeln in das kühle Wasser des Atlantiks werfen, dann kreischen die Möwen vor Vergnügen, und der hölzerne Boardwalk füllt sich - fast wie in früheren Zeiten - mit Leben. Die Spaziergänger werden zu Flaneuren; ältere russischen Damen und Hündchen ziehen vorbei, junges Volk, verliebte Paare und Rentner, wehmütige Nostalgiker, dem Charme der Insel erlegen. Wenn es sie herauszieht, an die südliche Spitze Brooklyns, dann wirkt es, als seien die Läden mit ihren heruntergelassenen Rollläden, über denen in roten und blauen Buchstaben Souvenirs steht, oder Shoot ´em & Win, nur in einen Winterschlaf gefallen; als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis der Beginn der nächsten Saison sie wieder zum Leben erweckt.
der Neuen Welt heute wie eine metallische Fontäne aus dem Boden; ein Monument, das zwischen hölzernem Bretterpier und sozialem Wohnblocks an die große Vergangenheit Coney Islands erinnert. Dazwischen stählerne Karussells und Achterbahnschienen, die wie Metallgerippe im Sonnenlicht liegen; morsche Vergnügungstrümmer, zugenagelte Bretterbuden. Die Zeiten überlagern sich auf Coney Island so nahtlos wie bei einer Mehrfachbelichtung. Angefangen hatte alles Mitte des 19.Jahrhunderts; da war Coney Island noch eine Sommerfrische für die wohlhabenden Schichten. Mit dem amerikanischen Bürgerkrieg entwickelte sich die Halbinsel allmählich zum beliebten Ausflugsziel. Mit den Zügen und Dampfern, die an den Stränden der Halbinsel anlegten, kamen auch weniger betuchte Sommergäste; Hotels und Privatstrände öffneten, an denen – eine Attraktion – das gemischte Baden erlaubt war. Erste Karussells und Vergnügungsparks siedeln sich an; Wettbüros und Taschenspieler folgen. Die „Kanincheninsel“, wie sie von den Holländern einst unschuldig getauft wurde, bekommt schon bald den Ruf eines „Eldorado des Vergnügens“, noch lange bevor im Wüstenstaub Nevadas die ersten Casinos eröffnen.
Doch seit letztem Herbst scheint der Winterschlaf für das einst größte Vergnügungsressort der USA ein endgültiger. Der Wind, der durch die Straßen fegt, rüttelt an Drahtzäunen und rostenden Schautafeln, deren Lettern ins Unkenntliche verblassen. Als Oktober 2007 die Glühbirnen von Astroland endgültig erloschen, schloss der letzte Vergnügungspark der Halbinsel. Seitdem stehen große Schaufelbagger wie unheimliche Riesen auf dem abgesperrten Gelände bereit. Nur die Wellen des Atlantiks spülen hier, an der südlichen Spitze Brooklyns, genauso geschmeidig an die Gravesend Bay, wie ehedem.
Als die Pferderennen Anfang des 20. Jahrhunderts verboten wurden, kehrt die Oberschicht der Insel allmählich den Rücken; ihrer allgemeinen Beliebtheit tut dies jedoch keinen Abbruch. Coney Island erlebt immer neue Rekorde: Das erste elektrische Karussell, die erste Achterbahn, die sich in schwindelerregende Höhen schraubt. Es genießt die Massen, die mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes in den schwül-heißen Sommermonaten den stickigen Mietskasernen entfliehen, um sich in den Fluten abzukühlen; es erlebt, wie sich Amerikas Jugend in Zeiten der großen Depression selbstvergessen und hungrig
Coney Island: Vier Meilen lang, knapp eine halbe Meile breit. Bereits aus der Ferne ist das Wahrzeichen der Insel erkennbar, der rote Parachute Jump. Vor mehr als sechzig Jahren die größte Attraktion der Weltausstellung, ragt das Fanal
nach Zerstreuung in das Vergnügen der Rides von Dreamland stürzt, für fünf Cent die Fahrt. Anfang des Jahrhunderts zählt die Sommerfrische bereits mehrere Millionen Besucher pro Jahr. Und sie zieht immer mehr Menschen in ihren Bann. Es ist die Schattenwelt von Coney Island, die das Publikum fasziniert; das bizarre Universum aus Vaudeville, Zirkus und Variété. Auf der Halbinsel sind Künstler und Prostituierte zu Hause, Artisten und Freaks. A different World oder A Dream World heißen die Shows, die die Besucher von Lunapark und Dreamland in den abseitigen Kosmos der Kabinette und Sideshows entführten. Die junge Mae West tritt hier auf, so wie dutzende Sänger und Tänzer, noch bevor sich der Broadway etabliert.
genau hier erfunden wurde); bewundern die jährliche Parade der Meerjungfrauen und feiern ihre Burlesque- und Variétéstars. Dennoch haben die Besitzer von Astroland den Park im November 2006 an einen privaten Investor verkauft. Zwischen der 10. und 15. Straße südlich der Surf Avenue, soll in Zukunft ein ganzjähriges Vergnügungsressort entstehen, mit Luxushotels, Restaurants und Shopping Malls. Das neue Gesicht Coney Islands soll an Greenwich Village erinnern, mit Luxus und Freizeitangeboten will man an die Popularität von einst anknüpfen. 2011 könnte das Projekt bereits fertig sein, einzig die Bewohner des Viertels wehren sich. Sie fürchten, dass das alte Coney Island damit für immer verschwinden wird. Denn Coney Island war immer auch ein demokratisches Massenvergnügen, der Besuch des Nickel Empire für jedermann erschwinglich. Bis heute ist Coney Island eine Freizeitnische für ärmere Amerikaner geblieben; der Eintritt in die Parks war stets frei. Und so regt sich Widerstand gegen den Abriss. Zwar konnte die Bürgerinitiative die Schließung von Astroland nicht verhindern; doch immerhin erreichte sie mit einer Petition, dass der Park noch einmal öffnen darf, für eine allerletzte Saison.
Coney Island ist eine grosteske Bühne des Alltags; eine Welt, die sich physikalischen Gesetzen und gesellschaftlichen Normen entzieht. Zugleich ist es eine soziale Utopie: Hier, im Glanz der elektrischen Glühbirnen, begegnen sich Arbeiter und Aristokraten, trifft die Coolness Harlems auf das gepflegte Understatement der Ostküste. Nirgendwo ist Amerika so sehr bei sich wie hier. Mitte der Vierziger Jahre geht die Blütezeit Coney Islands ihrem Ende entgegen. Mit dem Ausbau der Highways werden für die New Yorker auch weiter entlegene Strände erreichbar; ein Prozess des urbanen Verfalls setzt ein. Zahlreiche Brände setzen den Parks schwer zu, Coney Island beginnt zu verwahrlosen. Als in den 50er Jahren Straßengangs das kleine Viertel im Süden Brooklyns erobern, ist der legendäre Luna Park längst geschlossen. 1964 drehen sich auch im Steeple Case Park zum letzten mal die Karussells. Auf den freigewordenen Flächen der geschlossenen Parks entstehen in den 60er Jahren Blocks mit Sozialwohnungen. Doch statt erhoffter Belebung gerät das Viertel durch eine hohe Straßenkriminalität weiter ins abseits.
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uch wenn heute an den einstigen Ruf als „Sodom by the sea“ nur mehr Postkarten erinnern – Coney Island hat sie alle überlebt, die Moden und Stile, die der Insel über die Jahrzehnte prägten. Und war nicht nur das größte Vergnügungsressort der USA. Es war ein immerwährendes Versprechen auf Glück, Spiegel der amerikanischen Seele, die Wiege der amerikanischen Massenkultur; schrill, laut und schön. It´s always sunny in Coney Island hat jemand mit geschwungenen, schwarzen Lettern an eine Wand geschrieben. Ein stilles Vermächtnis. Egal, was die Zukunft bringen wird. Coney Island ist längst ein Mythos.
A
stroland ist der letzte Park, der noch geblieben ist: Ein Themenpark der Zukunft. Heute wirkt er mit seiner großen, rot-blau lackierten Rakete am Eingangsportal fast rührend altmodisch. Zwar ging es in den letzten Jahren auch Astroland schlechter; doch immerhin kamen noch Besucher, allen voran die New Yorker selbst. Sie lieben bis heute den skurrilen Jahrmarkt, zelebrieren genüsslich die Weltmeisterschaft im Hot-Dog-Essen, (der der Legende nach angeblich
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Would you like to go on the Coney Island Steeple Go and have a good time We‘ll take the subway right down to King‘s Highway Gonna have a good time If it‘s all right it would be so nice If you come and go with me
Coney Island Steeplechase, Velvet Underground
Sitting on a carousel ride without any music or light Everything was closed at Coney Island And I could not help from smiling I can hear the Atlantic echo back Roller coaster screams from summers past And everything was closed at Coney Island And I could not help from smiling
Death Cab for Cutie , Coney Island
Fotografie groß
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Stop off at Ardglass for a couple of jars of Mussels and some potted herrings in case We get famished before dinner On and on, over the hill and the craic is good Heading towards Coney Island I look at the side of your face as the sunlight comes Streaming through the window in the autumn sunshine And all the time going to Coney Island I‘m thinking, Wouldn‘t it be great if it was like this all the time
Van Morrison , Coney Island
Coney island girl Now come here and don‘t get mad I gave her all I thought I had I must live my life alone and never kiss anyone else on the Cyclone
Fun loving criminals , Coney Island
Coney island baby Man, I´ d swear, I´ d give the whole thing up for you
Lou Reed, Coney island Baby
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Urban B´sides das rauschen in den städten Eine Fotostrecke von
Christian Reister
New York 2006
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Cairns 2005
Shanghai 2006
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Ortszeit
Las Vegas 2006
New York 2007
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Warschau 2006
Berlin 2006
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Warschaus schlechtere Hälfte
Fotografie
Daniela Klein Text Andreas Metz
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ie Weichsel teilt Warschau wie eine Berliner Mauer in ein besseres Westufer und ein schlechteres Ostufer – schreibt der Warschauer Journalist Edwin Bendyk. Der Vergleich trifft es nicht ganz. Tatsächlich ähnelt die Weichsel im Stadtzentrum einer Schlucht, einem Burggraben, über den man von westlicher Seite ein paar Zugbrücken geworfen hat. Zäh und schwarz quält sich unter ihnen der Fluss dahin, so als wäre von den Burgzinnen Pech herabgeflossen.
der stadtteil praga in warschau ist verrufen - doch hier lebt die seele der polnischen hauptstadt Spielraum
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Geschichten. Fast alle beginnen weiter östlich, an den armen Rändern Europas. Die von Natascha zum Beispiel, einer Krankenschwester aus einem ukrainischen Nest nahe der Grenze zur Republik Moldau. Ganz oben am Rand der Stadionschüssel hat sie sich postiert, wo der Wind bläst und am meisten Zeit bleibt, vor Polizisten in Deckung zu gehen. Oben stehen die, die in der Hierarchie ganz unten sind: Schwarzafrikaner, Armenier, Russen. Wenn Natascha sich dreht, sieht sie am Westufer rund um den stalinistischen Kulturpalast die Kathedralen des Kapitalismus in den Himmel wachsen. Warschau-Downtown, die CashMaschine Polens.
Auf der anderen Seite fängt Asien an, sagen die Hochnäsigen unter den Warschauern und meiden den dort gelegenen Stadtteil. Das 1916 eingemeindete Praga ist anders und daran sind auch Deutsche und Russen schuld. Erstere machten im Zweiten Weltkrieg nach dem Warschauer Aufstand die Stadt am Westufer dem Erdboden gleich, letztere eroberten Praga am 15. September 1944 und sahen dann vier Monate lang zu, wie die Deutschen auf der anderen Seite der Weichsel ihr Zerstörungswerk vollendeten. Warschau-West wurde als sozialistischer Beton(alp)traum mit rekonstruierter Retortenaltstadt wieder errichtet. Praga ist stehen geblieben – als polnisches Trauma. Der APA-Guide Polen ringt sich am Ende von 20 Seiten Warschau nur ein paar gequälte Sätze über das andere Ufer ab. Von „Industriearchitektur der Jahrhundertwende“ mit „unverfälschtem und bescheidenem Charme“ ist die Rede, die gerne für Filmaufnahmen verwendet werde. Auf den „Jarmark Europa“ – den gigantischen Freiluftmark rund um das brachliegende „Fußballstadion des Zehnten Jahrestages“ wird kurz verwiesen, für viele Warschauer der Schandfleck schlechthin. Und dann kommen denkwürdige Sätze: „Gleichzeitig gehört dieses Stadtviertel zu den am meisten heruntergekommenen und gefährlichsten Gegenden der Stadt. Von nächtlichen Spaziergängen ist daher unbedingt abzuraten – begegnet man Straßengangs, so gehören die selten zu Filmteams, sondern sind meist real.“ Wer Warschaus Kehrseite besuchen will, nimmt am besten die gewaltige Most Poniatowskiego. Mit ihren burgähnlichen Brückenköpfen füllt sie die Rolle der Zugbrücke glänzend aus. Straßenbahnen schaufeln diejenigen, die auf jeden Zloty achten müssen, über die Weichsel zur Haltestelle „Rondo Waszyngtona“ am Eingang des „Jarmark Europa“. Teekessel, Sonnenbrillen, Nylonstrümpfe, Bettwäsche, Parfum, Mobiltelefone, Holzlöffel, Schweizer Taschenmesser, Angelhaken, Pfefferspray. Der „Jarmark Europa“ ist voller unmöglicher Produkte und ebensolcher
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Seit fünf Jahren steht Natascha hier. Je höher die Türme wuchsen, desto tiefer sanken ihre Chancen. „Alles wird schlechter“, klagt sie. „Täglich kommt die Polizei.“ Natascha handelt mit Hollywoodfilmen und Computerspielen. Schwarzgebrannte DVD. Zehn Zloty (2,50 Euro) das Stück. Zu Hause in der Ukraine warten Monatslöhne von 50 Euro und zwei Töchter, deshalb macht sie das. Deshalb steht sie hier mit heißer Ware neben den „CD-Handel verboten“-Schildern. Bei Natascha gibt es die blanken Platten zusammen mit schlecht gedruckten Papier-Covern in Plastikfolie verschweißt. Alles wiegt fast nichts und kann wie ein Pokerspiel kurz aufgefächert und schnell wieder zusammengeschoben werden, falls Polizei im Anmarsch ist.Unten am Anstoßkreis versumpft derweil der Rasen. 1983 hat Papst Johannes Paul II. hier noch eine Messe gelesen. 1989 mietete die Firma „Damis“ das brachliegende Stadion mitsamt dem Parkplatz. Bis hinaus zur benachbarten Bahnstation hat sich ein Labyrinth von Verkaufszelten und Blechcontainern angesiedelt. Sowjetische Münzen, gefälschte Fußball-Trikots, Kaviar, schwarze Sandalen, Dessous. Die besseren Plätze machen Vietnamesen und Polen unter sich aus. Vor allem die Asiaten sind es, die dem Markt ihren Stempel aufdrücken. Gekonnt manövrieren sie Sackkarren vollgestapelt mit karierten Plastiktaschen mit reiner Muskelkraft durch die schmalen Gänge. In Praga beginnt Asien – es ist tatsächlich so. 5000 Marktstände sollen es insgesamt sein. Dazu kommen mobile Bauchläden wie der von Natascha. Vor ein paar Jahren noch erzielten alle Händler nach Schätzungen von Experten einen höheren Umsatz als das damals größte polnische Unternehmen. Die Betreibergesellschaft hat einen eigenen Sicherheitsdienst angeheuert. In der grünen Blechcontainerlandschaft gibt es sogar eine rus-
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Esrte Seite: Eine Frau lädt im Viertel Praga zum Fensterplausch Linke Seite: Zwei Frauen auf dem „Jarmark Europa“ Rechte Seite: Hinterhofleben in Praga
Füßen. Meist ist ihr Schaukasten mit Christbaumkerzen umrankt, die ein bisschen Helligkeit spenden. Das Geld mag auf der anderen Seite der Weichsel wohnen, die Seele Warschaus aber überdauert in den Hinterhöfen von Praga.
sischsprachige Bibliothek, einen buddhistischen Tempel und ein eigenes Polizeirevier. An dem negativen Image konnte das nichts ändern. Angeblich wird der Markt durch einen Mafia-Vorstand regiert, in dem Vietnamesen, Armenier, Russen, Tschetschenen, Bulgaren und Georgier vertreten sein sollen. Schon lange wird dem Jahrmarkt der Tod prophezeit, nun steht er bevor: Polen hat gemeinsam mit der Ukraine den Zuschlag für die Fußball-WM 2012 bekommen. Das Stadion wird für mehrere hundert Millionen Euro saniert, der Markt muss weichen. Ein neues Domizil irgendwo am Stadtrand wird gesucht.
chen. Vielleicht ist ja im neuen Fußball-Stadion ein Plätzchen für sie. Toilettenfrauen werden immer gebraucht.„Jarmark Europa“ - ein genialischer Name. Symbol für den Urknall 1989, für den kapitalistischen Aufbruch Osteuropas und des ganzen untergegangenen Sowjetimperiums bis Wladiwostok. Denkmal für Träume und Alpträume, Glanz und Elend. Spontaner, unregulierter Handel und Wandel. In EU-Zeiten ein Auslaufmodell, wie das übrige alte Praga. Die Ausläufer des „Jarmark Europa“ reichen in nördlicher Richtung bis zur Ulica Targowa, der Marktstraße. Auch hier sitzen Kleinkrämer am Straßenrand, verticken Blumen, Schnürsenkel, Einlegesohlen, Modeschmuck oder die letzte Ernte aus dem Vorgarten. Manche Häuserfront in den Seitenstraßen ist noch von Einschusslöchern zersiebt, der letzte Putz weicht blanken, rußbraunen Backsteinen, von Balkonen sind nur rostige Stahlträger übrig und die Treppenaufgänge und Hinterhöfe sind vermutlich die finstersten und verkommensten in ganz Europa. Doch sie sind eine echte Sensation: Mit Pech trifft man auf liegen gebliebene Alkoholiker. Mit Glück hört man Kinderlachen, findet irgendwo noch eine kyrillische Inschrift aus der Zarenzeit oder ein verstaubtes Jugenstilrelief. Fast schon garantiert ist ein Opferstock für die heilige Mutter Gottes. Wenn das Licht für pflanzliches Leben nicht ausreichend ist, liegen bunte Plastikblumen zu ihren
Auf der anderen Seite fängt Asien an, sagen die Hochnäsigen unter den Warschauern „Ja, jetzt geht hier alles zugrunde“, sagt Josefa gutgelaunt. Bei ihr gehen sie alle ein und aus, Käufer, Händler, Illegale, Polizisten und Kriminelle gleichermaßen. Einen Unterschied zwischen letzteren gebe es sowieso nicht, lacht die Rentnerin, die seit elf Jahren als Toilettenfrau auf dem Jahrmarkt arbeitet. Meist macht sie die Frühschicht von 5 bis 14 Uhr. Ein windschiefer Container ist ihr Reich. Rechts sind zwei Eingänge für die Damen, links einer für Herren. Dazwischen sitzt sie hinter einem Glasfenster und sortiert Wechselgeld. Ein Zloty (25 Cent) kostet das große Geschäft, die Männer können für 30 Groszy auch die kleine Variante bu-
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Magdalena Przezdziak. Die junge Fotografin hat vor zwei Jahren die Galerie „Luksfera“(Lichtsphäre) gegründet. „In Praga gibt es Platz, die Räume sind billig“, bestätigt die Galeristin, die Fotoarbeiten in- und ausländischer Künstler ausstellt. Nach Praga kam sie noch aus einem anderen Grund. „Wir organisieren jeden Monat Workshops mit bekannten polnischen
Als erste haben das diejenigen bemerkt, die immer auf der Suche nach den neuesten Trends sind. „Es beginnt hier etwas. Künstler, Lebenskünstler, Schauspieler ziehen her“, sagt die Studentin Elzbieta, die seit fünf Monaten in Praga bedient. Über dem Eingang der Bar „W oparach absurdu“ – „In absurden Nebeln“ - in der Ulica Zabkowska hängt eine schwarze Riesenspinne. Hier erträumt sich Elzbieta eine Zukunft für Praga. „Man könnte so etwas wie Kazimierz daraus machen“, sagt sie und meint einen früher jüdisch geprägten Stadtteil von Krakau, der heute ein Touristenmagnet ist. Immerhin gibt es auch in Praga noch eine alte Synagoge. „Praga, sagt man, sei gefährlich. Aber ich habe keine Probleme hier, die Leute sind in Ordnung.“ Julita Delbar, die vor eineinhalb Jahren im Nachbarhaus einen Fotoladen eröffnet hat, sieht das ähnlich. „Es gibt Alkoholiker, arme Leute, aber Mafia? Das ist eine Legende. Es gibt Leute von der anderen Seite, die fahren aus Angst nicht hierher“, lacht sie, doch Praga sei im Kommen. Stärkster Beleg dafür sind zwei Fabrikkomplexe, die sich zu Szenetreffs entwickelt haben. Die „Fabryka Trzciny“ einer alten Marmeladenfabrik hat der Komponist Wojciech Tzcinski in ein Veranstaltungszentrum umgebaut, in dem von Jazzkonzerten bis zur Modenschau alles geboten wird. Ähnlich entwickelt sich die alte Wodkafabrik „Koneser“ am Ende der Ulica Zabkowska. In dem Backsteinkomplex aus dem Jahre 1897, der von seinen Ausmaßen her an die Kulturbrauerei in Berlin Prenzlauer Berg erinnert und mit schuld daran sein mag, dass in Praga die Alkoholprobleme besonders groß sind, wird heute nur noch auf kleiner Flamme produziert. Nun gibt es Raum für Künstler wie
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„In Praga gibt es Platz, die Räume sind billig“. Fotografen. Praga hat eine sehr schöne Atmosphäre. Hier gibt es interessante Plätze.“ Ja, sie fühle sich hier sicher, sagt sie, obwohl die Brezka-Straße ganz in der Nähe, als gefährlichste Straße Warschaus gelte. Mit dem „Jarmark Europa“ hat die Fotografin so ihre Probleme. „Es gibt da Leute, die schlafen im Garten oder im Park. Das ist ein großes Problem. Andererseits weiß ich, dass viele Leute dort Arbeit finden oder billig einkaufen können. Doch dieser Ort sollte weiter außerhalb der Stadt sein.“ Wie die Zukunft des Jahrmarkts und Pragas aussehen könnte, lässt sich an der Aleja Solidarnosci studieren. Die Straße teilt Praga in zwei Hälften. Gegenüber der goldenen Türme der orthodoxen Marienkirche ist ein Ufo gelandet - ein gigantisches Einkaufszentrums der französischen Kette Carefour. Es ist eine wohltemperierte, gut überwachte Shoppingwelt. So vorhersehbar, dass jetzt sogar kritische Warschauer den Weg über eine der sieben Weichselzugbrücken nehmen, um hier einzukaufen. Shopping-Mall, Kulturmekka, Capuccino-Meile, EM-Stadion, Touristentipp. Der Lauf der Zeit scheint unaufhaltsam. Doch noch gibt Asien sich nicht ganz geschlagen, noch wehrt sich das alte Praga mit seinen Mitteln: Am nächsten Morgen steht der Stadtteil im Polizeibericht der Tagezeitung „Dziennik“ einmal mehr ganz oben.
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moscheen Zur öffentlichen Erscheinung des Islam in Deutschland: Ein Besuch auf Allahs Hinterhöfen in Frankfurt am Main.
Eine Fotostrecke von
Rami Tufi #1/34
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Mönchhofstraße
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Ben-Gurion-Ring
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ruhe gegen ca$h Fotografie und Text
Markus Krall
Nach Celebration, einem Vorzeigeobjekt des amerikanischen New Urbanism, zieht sich die Upper Class Zentralfloridas zur체ck. Die Preise sind hoch, man bleibt unter sich. Entwickelt vom Disney-Konzern regelt ein pfundschwerer Katalog dort die meisten Bereiche des t채glichen Lebens.Trotzdem oder gerade deswegen boomt das Gesch채ft.
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ünf Meilen Richtung Osten und dann rechts ab“, lautet die Wegbeschreibung meines Zimmernachbarn, als wir uns abends auf der Motel-Veranda noch ein paar Drinks genehmigen. „Ignorier‘ die Disney-Schilder und den ganzen Quatsch. Wenn Du das Amerika von heute verstehen willst, dann fahr‘ nach Celebration.“ Mehr hatte er nicht verraten. Nur, dass ich mir genug Zeit geben solle. Erst nach ein paar Stunden würde man das Prinzip verstehen, würde immer genauer hinschauen, bis es einem eiskalt den Rücken herunterliefe. „Bei 30 Grad im Schatten?“ Die Antwort klingt schaurig. „Sogar bei 50 Grad.“ Der nächste Morgen. Langsam rollt der Chrysler die Hauptstraße von Kissimmee, knapp 30 Meilen südlich von Orlando, entlang. Vorbei an Wäldern aus gigantischen Reklame-Schildern wie sie für kleine amerikanische Orte so typisch sind, die hauptsächlich von Durchreisenden wie mir leben. Die mit den Jahren gewachsen sind, ohne dass jemand je auf ein einigermaßen attraktives Stadtbild geachtet hätte. Die einem mit keinem Detail im Gedächtnis bleiben und mir auch nur mit einer Kreuzung, weil ich zwischen den Burger-Plakaten den Hinweis nach Celebration fast übersehen hätte. Seitdem weiß ich: Chrysler baut gute Bremsen ein.
liebtesten Staaten der USA, zum anderen vernichtet das Konzept die Probleme jeder großstädtischen Wohnlage. Als wichtigste Kriterien weist der „Congress for the New Urbansim“ etwa aus, dass jede dieser Siedlungen ein Zentrum besitzen muss, das von allen Häusern zu Fuß erreicht werden kann. Alle Straßen müssen Bürgersteige haben, Haustüren und Terrassen sind so anzulegen, dass sie der Straße zugewandt sind. Und wenn ein Achtjähriger sich eine Dose Cola kaufen möchte, darf er auf dem Weg zum Shop keine mehrspurige Straße überqueren. Pop-Test heißt das Ganze, Pop nach dem amerikanischen Wort für Dose.Innerhalb der Ortsgrenzen kann dann jeder Developer eigene Regelwerke aufstellen. Für Celebration haben das selbstverständlich DisneyManager erledigt, die in einem knappen Pfund Papier allerlei Ungewöhnliches versammelt haben. Unter anderem ist dort festgelegt wie lange das eigene Auto vor der eigenen Haustür parken darf, wie der Vorgarten zu bepflanzen ist und wie hoch der Rasen wachsen darf. Zu den absoluten No-nos gehören Wahlplakate zur Beeinflussung anderer Mitbürger auf dem Grundstück, das Aufhängen von nasser Wäsche im Freien und auch das uramerikanische Barbecue auf der Veranda. Das „Beste“ dabei: Jeder muss diese Statuten nicht nur selbst einhalten, sondern ist auch verpflichtet, Verstöße seiner Nachbarn sofort zu melden.
Der erste Eindruck: ziemlich beruhigend. Augenblicklich fehlt jeglicher Kommerz-Hype. Das Straßenbild wirkt aufgeräumt, die weißen, höchstens zweistöckigen Häuser traditionell - edel, die Büsche davor wie mit der Wasserwaage gestutzt und die Autos eine Nummer größer als in Kissimmee. Rechter Hand liegt ein Golfplatz, dahinter ein Flüsschen, dann ein kleiner Park. Meterhohe Palmen flankieren die blitzsauberen Straßen und Gehwege, ein kleines Schild weist sogar auf ein Zentrum hin. Zwischen zwei smartähnlichen Elektroautos kommt der Chrysler zum Stehen; am See vor dem Parkplatz hat ein Angler seine Ruten ausgelegt. „Scheiß-Tag heute. Bin die 20 Meilen hierher wohl umsonst gefahren.“, sagt er ungefragt. „Du wohnst nicht hier?“ Er schmunzelt. „Mann, hast Du Dir mal die Hauspreise angeschaut? Hier kann ich mir nicht mal ein kleines Appartement leisten.“ Mein Gesicht scheint Bände zu sprechen. „Du weißt gar nicht, was das hier ist, oder? Mann, das ist Disney für die Upper Class.“ Augenblicklich würdigt er die Posen im Wasser keines Blickes mehr und beginnt zu erzählen. Der prophezeite Schauder auf dem Rücken setzt ein. Celebration, erzählt Bob, sei noch gar nicht so alt wie es aussehe. Früher, vor zehn bis zwölf Jahren, wäre das komplette Areal ein einziger Sumpf gewesen. „Da wurden die Alligatoren ausgesetzt, die sich auf die Disney-Parkplätze verirrt hatten.“ Irgendwann, Mitte der 90-er Jahre, wären dann Bagger angerückt und hätten das Land erschlossen. Im Zuge des New Urbanism-Booms erkannte der Disney-Konzern das Potential der Fläche und traf bei den gut Situierten landesweit ins Schwarze. Zum einen gilt Florida schon lange als einer der be-
Was zutiefst abschreckend klingt, generierte allerdings ein unglaubliches Interesse. Bei Baubeginn mussten die Grundstücke verlost werden. Für jedes Objekt gab es mindestens zehn Bewerber, und das bei Preisen, die fast 50 Prozent höher liegen als in ähnlich erschlossenen Wohnlagen der Gegend. Der Durchschnittsinteressent ist knapp 40 Jahre alt, verheiratet, hat meist mehrere Kinder und ein Einkommen, das es ihm erlaubt zwischen 500 000 und eine Million Dollar für ein Haus auszugeben, das hinter der immer sehr ansehnlichen Fassade zu 90 Prozent aus Sperrholzwänden besteht und beim nächsten Hurrikan unweigerlich zum Trümmerhaufen wird. Dennoch ist die Nachfrage auch rund zehn Jahre nach dem ersten Spatenstich ungebrochen. Sollte bis 2005 eigentlich der komplette Ort stehen, wird immer weiter gebaut, um die Nachfrage der Fluchtwilligen zu befriedigen. „Mit den Problemen des übrigen Amerika hast Du hier nichts zu tun. Nur, wenn Du Nachrichten schaust, weißt Du, das bei uns längst nicht alles so glänzt wie auf diesen Straßen.“, sagt Bob und holt seine Köder ein, für die sich immer noch kein Fisch interessiert hat. Wir drehen uns in Richtung des zwei Blöcke großen Zentrums und auf einmal sehe ich das kunterbunte, von Stararchitekten gestylte Panoptikum mit ganz anderen Augen. Nein, so sieht es in keiner normalen Stadt aus. Und die Palmen? Die sind doch auch älter als zehn Jahre. Und der See? „Künstlich“, meint Bob und verabschiedet sich mit dem Rat, am Ortsausgang doch am Celebration Place zu halten. Dort stehe die Hexenküche, die die Retortenstadt angemischt habe. Ich halte an einer steinernen Pyramide vor einem Bürokomplex. Aufschrift: „Disney, Management & Marketing“. Hier sitzt die Regierung von Celebration.
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Unter anderem ist im umfangreichen Regelwerk festgelegt wie lange das eigene Auto vor der eigenen Haustür parken darf, wie der Vorgarten zu bepflanzen ist und wie hoch der Rasen wachsen soll.
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Position ist alles Fotografie
Andreas Oetker-Kast Text Daniel Saltzwedel
für den Campisten, dass sieht der Junge in diesem Sommer, da der abgesteckte Parzellenfriedhof des örtlichen Campingplatzes überläuft. Er schwappt plötzlich hoch und spuckt Zelte über die Straße auf die jenseitige Wiese, die rechts von einem Bach, links von der Behelfsstrasse und hinten von einem mächtigen Bauernhof begrenzt wird. Der Junge sitzt auf seinem alten Fahrradt fast zentral auf der Wiese, die der Bauer kurz geschnitten hat, rollt manchmal etwas vor oder schiebt einen Meter zurück, wenn es ein neues Detail zu beobachten gibt. Seine Position ist gut. Die Campisten halten ihn für einen der ihren, vielleicht am Vortag angekommen.
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orn, auf der anderen Seite der Strasse, stauen sich vor der beschrankten Zufahrt des Campingplatzes Fahrzeuge und Anhänger, die Fahrer darin ungeduldig und voller Erwartung. Doch die Schranke bleibt verschlossen. Ab und an treiben Menschen von dem Empfangskiosk auf die Strasse hinaus und an den Rand der Wiese, um die erst durch wenige Campisten zerstückelte Fläche zu erwägen. Es gibt keine erkennbare Ordnung, keine Stromanschlüsse, kein Waschhaus, keine Wege und keine Nummerierung. Das Gras duftet. Die Menschen am Straßenrand werden nach kurzer Ausdauer von einem unsichtbaren Untersog zurück zu den wartenden Fahrzeugen gezogen und mit diesen über die Strasse und weiter die Behelfsstrasse hinunter auf die
Wiese abgeleitet; oder sie werden ganz zurückgetragen, in einer resignativen, ufernahen Stromaufbewegung zurück zur Hauptstrasse, einen anderen Nebenarm suchend. Der Junge kennt die Rituale auf dem Campingplatz nicht, das Ankommen, Auspacken, Planen auslegen, das Wohnwagen einjustieren und Gerätschaften ausbringen. Er kennt nur den Kiosk an der Schranke und das Eissortiment auf der Karte neben dem Tresenfenster. Das Gelände jenseits der Schranke zu erkunden, ist verboten. Dass, was er weiß, ist durch vage Rückschlüsse angesammelt, durch Blicke über die Hecke, die den Campingplatz umfasst, vom Bahndamm aus. Oder, besser noch, von den Berghängen, die sich in einiger Entfernung links und rechts erheben und die Sicht freigeben, über die Umfassungshecke hinweg, auf Wohnwagendächer und die Spitzen der Parzellierungshecken. Beide verweisen auf das Leben am Grund, die Stellplätze, asphaltierten Strassen, Stromanschlusspunkte, das Waschhaus und die Gastwirtschaft. Hinter Blättern verborgen ein Dorf im Dorf, maßvoll, geregelt. Einmal im Winter würde er von oben auf das Fort hinabsehen und wie immer überrascht sein, dass Hecken und Wagen noch da waren, still stehend im Strom, der vermutlich stete Austausch der Bewohner vollzieht sich unterschwellig, nach Außen hin unbemerkt.
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er dickledern verpackte Fahrer einer GoldWing hat seine Maschine noch einmal verschoben und nimmt die Plastikkoffer ab, die zum Sortiment des Herstellers gehören. Zügig wird ein kleines Zelt aufgebaut, Luftmatratzen in kastenartige Form gebracht, ein Einflammkocher installiert. Kleidung entfaltet. Dieser Campist ist verflucht, sich erschöpfend zu offenbaren: einmal, für einen kurzen Moment zwischen Ankunft und Zuhause, legt er alle Gegenstände, die in ihrer Summe die neue Bleibe sind, im warmen Mähgras des Sommers aus, bereit zur Archivierung. Links vom Biker, jedoch nicht zu nah, wird ein etwa ein Meter hoher Zeltwohnwagen aufgeklappt, je ein Flügel auf jeder Seite, die auf Tischhöhe Liegeflächen bilden. Durch den Aufklappvorgang ist über den Betten ein Stoffdach entstanden.
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Zwischen den Betten sind in der Hartschale des Anhängers mittig und längs zur Fahrtrichtung zwei gepolsterte Sitzbänke und ein skatfester Tisch eingelassen, über eine winzige Tür im Heck zu erreichen. Eine Tür mit Schloss und Klinke. Nach dem Claim wurde das Vehikel zunächst mit auszukurbelnden Stützen in die Waage gebracht und der Deckel des Anhängers zu einer Seite aufgeklappt, schon stand die Hälfte des Faltwunders. Vorn auf der Deichsel ist quer zur Fahrtrichtung eine Küchenzeile angebracht, die demontiert und auf sehr fragil wirkenden Beinen im Vorzelt platziert wird. Drei Personen, Eltern und ein Kind, besorgen die Sesshaftwerdung. Für den Jungen existiert die Zeit nicht.
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ls endlich Zeltwände verspannt und alles Zeug von der Wiese im Inneren der Behausung verschwunden ist, bildet sich das Leben aus als Fertigkeit. Zwischen Nachbar und Nachbar nur Baumwolle, Folie und Sandwichaluminium, so wie das der Tabbert Comtesse, die, gezogen von einem senfgelben Opel Rekord, gerade einen eleganten Bogen auf das unbeschriebene Weiß des Ausweichbeckens malt. Mit fahrtmüden Augen misst der Lenker die Entfernungen zu seinen zukünftigen Nachbarn, die er im selben Schritt einer sozialen Kategorisierung unterzieht, und verrechnet diese Informationen mit der relativen Geradflächigkeit der Erdoberfläche am potentiellen Standort sowie den dortigen Blickachsen nach Süden und Südwest. Der Junge radelt über die Wiese zum Bach, und weiter zum geräumigen Spielplatz der Siedlung, in der er wohnt. Er spannt einen alten Poncho über Stöcke, besorgt Decken und eine Petroleumlampe. Zusammen mit seinem Spielfreund ist er Campist. Schon bald gelingt es ihnen, auf einem kleinen Kocher eine Tütensuppe zuzubereiten. Morgen werden sie den Staudamm aufstocken und das Becken zur Spülküche umwidmen. Eine Wäscheleine spannen. Nachts schaut der Junge zwischen den Bergkämmen und der Unterkante des Ponchos, der seitlich nur kniehoch zum Boden reicht und an beiden Stirnseiten offen ist, in das Draußen des Universums. Gegen zwei Uhr ist es sehr kalt, und die Felder dampfen Nebel. Der Junge geht ein paar mal die hundert Schritte, die es zu seinem Elternhaus sind. Im Ponchodach erscheinen vereinzelt Löcher, durch die das Mondlicht Sterne streut. Es ist eine dünne Wand, aber sie scheidet.
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Matthias Steffen
„Wenn die Sonne tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten“
Am Polarkreis wird im Sommer die Nacht zum Tage und im Winter der Tag zur Nacht. Einsichten in das tägliche Leben 400 Kilometer nördlich des Polarkreises – unter veränderten Lichtverhältnissen.
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Ratchat „meine rattis sind so zahm das sie mit mein hundis schmusen“ Was sich deutsche Rattenfreunde Im Internet zu erzählen haben Idee
*Hier
könnt ihr schauen welche Ratte wann Geburtstag hat, unter Downloads könnt ihr Dokumente über Ratten runterladen und unter Nose-Calc könnt ihr euch ausrechnen, wie viele Ratten in eurem Käfig reinpassen. Wer wichtige Fragen zu seiner Ratte oder zu irgendeiner anderen Ratte, zum Beispiel von einem Freund die Ratte hat ist dort genau richtig. Fast nichts, wo es keine Antwort drauf gibt.
Sabine Wild Illustration Robert Engelsmann Aufgeschrieben von Tom Jeske
*Nun muss man aber der Vollständigkeit halber erwähnen,
*Endlich
dass es sich bei den von uns im Rattenzimmer gehüteten Schätzchen um große, ein wenig aus der Form und dem besten Alter geratene Laborpuschel handelt, die eine Sprungkraft wie ein Amboß besitzen – noch nie gesprungen sind und das mit Sicherheit auch nie tun werden, sollte sich die Kugel zwischen ihrem Kopf und Schwanz nicht doch als verschluckter Gummiball erweisen. Das begriff auch irgendwann mein Verstand, der sich ein gutes Stück langsamer hinzuschaltete, und so langsam dämmerte mir ein Verdacht..._
fällt es auf: die absurde Mülltrennung ist eben nicht nur eine ästhetische Katastrophe, sondern auch eine hygienische. Mit ewig wartenden „Biotonnen“ und gelben Säcken wurde auch das größte Rattenförderprogramm der Welt aufgelegt. Der Fortschritt durch Grüne und Co hat wesentlichen zivilisatorischen Rückschritt gebracht. Jetzt leben wir mit der Natur, den Ratten, in Einklang.
*Es
ist eine wahre Geschichte, so geschehen vor 2 Tagen hier im “Tierhausi”, und der Held des Ganzen ist ein Wildratterich namens Herr Püsch, der sich anscheinend in der Nähe von unserem “Tierhausi“ ganz wohl zu fühlen scheint. Da ich zwar spontan ganz gemein und schallend über den kleinen Hopserich gelacht habe, aber ihm nun auch helfen wollte, ließ ich die Schuppentür über Nacht offen, damit er in Ruhe sich in Sicherheit bringen konnte. Das tat er denn auch, und ich meinerseits war recht erbaut über die Begegnung.
*Heute ist Brownie, mein wunderschönes Rattenmädchen aus dem Tierschutzhaus, ein Monat nach Smokie, einem verspielten, handzahmen Rattenmann, an Krebs gestorben. Nun ist meine Knuffie leider ganz alleine, und sitzt mit riesengroßen Kulleraugen verschreckt in ihrem Lieblingsversteck. Gibt es denn nicht irgendwo ein einsames, kastriertes Rattenmännchen, das einen kuscheligen Platz sucht?
*Die
Ratte ist Bayern München im Tierreich, immer auf dem Vormarsch, schlecht spielen, aber trotzdem gewinnen. Und wer ist auch zahlenmäßig überlegen? Richtig, beide, die Ratten und Bayern München. Was wir dagegen unternehmen können? Na nichts. Aber wenn sie mir in die Quere kommen, werde ich zum Tier, da kenne ich nix.
*Ich gehe abends nicht mehr weg (außer einmal im Monat zum Rattentreff). Wenn es irgend geht, lasse ich Freunde und Bekannte aber hierher kommen. Die werden dann in den Flur zu den Ratzen gesetzt und die Kommunikation findet über die Absperrung zwischen den Zimmern statt._ Urlaub gibt es für mich nicht, denn ohne meine Ratzen würde ich mich gar nicht wohl fühlen können.
*Warum streut man nicht Antibaby Pillen für Ratten und andere unerwünschte Tiere aus? So etwas sollte in der heutigen Zeit doch möglich sein. Damit könnte das Problem doch auch gelöst werden
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ort des widerstands Die Köpi war nach dem Mauerfall eines der ersten besetzten Häuser im Osten Berlins. Heute ist sie eine Institution der linken Szene – und hart umkämpft. Zu Besuch in einem Haus, dessen Bewohner ihre Vorstellung von Freiheit verteidigen. Fotografie entnommen Flickr commons Text Jan Pfaff
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enn man Magdalena fragt, was für sie Glück bedeutet, dann blickt sie aus ihrem Fenster auf den Hof. Der Platz sieht an diesem grauen Tag nicht sehr einladend aus, ein asphaltiertes Rechteck, dahinter ein paar Holzgestelle, Sitzbänke, Sperrmüll, alte Wohnwagen. An einer Mauer hängt, aus Gips geformt, der Kopf der amerikanischen Freiheitsstatue. Es ist der Hof der Köpi, ein nach der Wende besetztes Haus in Berlin-Mitte und heute das bekannteste autonome Wohn- und Kulturprojekt der Hauptstadt. Für Magdalena bedeutet dieser Hof sehr viel. Es sei der Freiraum, der ein Leben abseits des Mainstream möglich mache, sagt sie. Hier trifft sie die anderen Hausbewohner, und sie hat auf dem Hof immer etwas zu tun: Holz für die Ofenheizung klein hacken, den angesammelten Schrott nach Verwertbarem sortieren oder eine Bar für die nächste Party aufbauen. Unter ihrer schwarzen Cap quellen Rastazöpfe hervor, im Gesicht trägt Magdalena mehrere Piercings. Sie ist 22 Jahre alt, vor drei Jahren zog sie von Polen nach Berlin. Freunde von ihr lebten damals schon in der Köpi. Sie schlief ein paar Monate im Gästezimmer, bis im ersten Stock ein WG-Zimmer frei wurde. Sie strich die Wände rot, zimmerte ein Hochbett, stellte ein altes Sofa und einen Couchtisch darunter. „Die Möbel habe ich auf der Straße gefunden.“ Magdalena versucht, weitestgehend ohne Geld auszukommen, nicht im kapitalistischen System mitzumachen. Ein paar Euro verdient sie, indem sie an Straßenkreuzungen mit brennenden Fackeln jongliert. Dann läuft sie mit einer alten Tasse durch die Reihen der wartenden Autos, sammelt Kleingeld für ihre „Fire Show“ ein. Auf dem Nachhauseweg sucht sie in Abfallcontainern von Supermärkten nach Obst und Gemüse, das noch genießbar ist. „Containern“ nennt sie das. „Richtigen Müll esse ich natürlich nicht, aber oft finde ich noch gute Sachen.“ Sie sei schon in der Schule links gewesen, eine Punkerin, immer irgendwie dagegen. Eine normale Mietwohnung könne sie sich mit ihrem Lebensstil nicht leisten. Aber warum auch? Die Köpi sei für sie der perfekte Ort. Magdalena schwärmt von dem Gemeinschafsgefühl, alles wird im Hausforum besprochen, zusammen entschieden und umgesetzt.
zeit leben im Haus knapp 40 Menschen – Studenten, Arbeiter, Arbeitslose, Lebenskünstler. Zahlreiche Kulturprojekte haben außerdem in den hohen Räumen im Erdgeschoss Unterschlupf gefunden. Es gibt eine Druckerei, ein Kino, eine Kneipe und eine Sporthalle, alles in Selbstverwaltung organisiert. Bei Partys drängen sich oft mehrere hundert Menschen im Hof und den Veranstaltungsräumen. Weit über Berlin hinaus ist das Haus an der Köpenicker Straße 137 daher auch ein Symbol für alternative Lebensentwürfe. Aber dieser Rückzugsraum linker Gesellschaftsutopien ist in letzter Zeit hart umkämpft. Denn nach langen Jahren, in denen in Berlin mit Wohnungen nicht viel Geld zu verdienen war, steigen die Immobilienpreise rasant. Und der Hunger nach Luxus wächst. Aus Paris, London und New York fliegen Vermögende ein, um sich noch ein Townhouse in Mitte oder eine Dachetage in Prenzlauer Berg zu sichern. Makler berichten, dass vor allem Berlins Image der wilden, ungezähmten Metropole die reichen Kunden anzieht. Mehr als 14 Milliarden Euro haben Investoren hier 2007 für Immobilien ausgegeben. Kein Wunder, dass auch das Köpi-Grundstück mit seiner zentralen Lage unweit des Alexanderplatzes Gelüste weckte. Zu DDR-Zeiten war das Haus Volkseigentum. Nach der Besetzung im Februar 1990 kam es bald zur Legalisierung, eine kommunale Wohnungsverwaltung stellte den neuen Bewohnern Mietverträge aus. 1995 wurden Grundstück und Gebäude dem Alteigentümer rückübertragen, der es nach einer Pleite an Gläubiger-Banken verlor. Interessenten für einen Kauf gab es über die Jahre immer wieder, zwei Zwangsversteigerungen platzten aber. Die Aussicht auf einen langwierigen Räumungskampf schreckte mögliche Investoren ab – bis zum Mai 2007. Bei der dritten Versteigerung kaufte eine Gesellschaft mit dem seltsamen Namen „Plutonium 114“ um den Kosovo-Albaner Besnik Fichtner das Gebäude für die Hälfte des Verkehrswerts, andere Interessenten hatte es nicht gegeben. Kurz darauf bekamen die Hausbewohner Kündigungsbriefe. Über Magdalenas Schreibtisch hängt ein Foto, das die letzte Köpi-Demo im Dezember zeigt. Ein Strom junger Leute, fast durchweg schwarz gekleidet, manche mit Tüchern vor dem Gesicht, schiebt sich an Polizisten in Schutzmonitur vorbei. Neun Autos brannten in jener Nacht, mehr als 50 Köpi-Sympathisanten nahm die Polizei fest. Die Botschaft des Demo-Bildes: Kampflos wird man die Köpi nicht aufgeben. Aber die Hausbewohner setzten bei ihrem Widerstand nicht nur auf mehr oder minder of-
Die Köpi ist eine Parallelwelt in der schicken neuen Mitte Berlins: Das fünfgeschossigen Gebäude mit der verfallenen Fassade wirkt düster, die meisten Bewohner kleiden sich in Schwarz. Zur-
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Der Hunger nach Luxus wächst. Aus Paris, London und New York fliegen Vermögende ein, um sich noch ein Townhouse in Mitte oder eine Dachetage in Prenzlauer Berg zu sichern. Makler berichten, dass vor allem Berlins Image der wilden, ungezähmten Metropole die reichen Kunden anzieht.
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fene Gewaltandrohungen. Sie recherchierten auch über den ominösen Käufer. Es stellte sich heraus, dass Fichtner nur als Treuhänder für den Berliner Immobilienmann Siegfried Nehls auftrat. Er wolle 150 Wohnungen mit knapp 13.000 Quadratmeter Fläche auf dem günstig gelegenen Gelände errichten, teilte Nehls mit. Die „Plutonium 114“ mit Fichtner habe er vorgeschickt, weil solche Pläne bei der gewaltbereiten Szene nicht ungefährlich seien, ließ er wissen.
„Die Köpi ist eine Nische.“ Dass es sie weiter gebe, sei aber nicht nur für die Hausbewohner wichtig, sondern auch für die Menschen außerhalb dieser kleinen Welt. „Als Erinnerung daran, dass ein anderes Leben möglich ist.“
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war. In der engen DDR-Welt eckten Lothar und seine Freunde immer wieder an. Eine verbotene Kahnfahrt auf der Saale, spontane Straßenmusik in Weimar – immer gab es Ärger. Als sie 1987 Ausreiseanträge stellten, ging alles ganz schnell. Man war froh, die Störenfriede loszuwerden und Lothar fand sich plötzlich in der Hausbesetzerszene in Kreuzberg wieder. Warum sollte er schließlich alte Gewohnheiten aufgeben, nur weil er jetzt im Westen war? Über Stationen in verschiedenen Hausprojekten gelangte er schließlich 1992 in die Köpi.Ein paar Mal ist er auch hier weggegangen. Zwei Jahre lebte er auf dem Land, 200 Kilometer vor Berlin, ein Jahr im Dschungel in Papua-Neuguinea. Warum es ihn immer wieder in die Köpi zurückzog? „Man kann sagen, dass ich nie erwachsen geworden bin, aber ich habe hier einfach alles, was ich brauche.“ Nirgends sonst gebe es Kino, Bar, Sporthalle und Konzertbühne im eigenen Haus. Selbst kochen habe er in all den Jahren nie richtig gelernt, erzählt er. Denn immer wenn er irgendwo im Haus mit Freunden quatsche, forderten diese ihn zum Mitessen in ihrer WG auf.
Das Köpi-Treppenhaus ist dunkel, die Wände und Fenster mit Graffiti zugesprüht. Um in Lothars Wohnung zu gelangen, muss man die langen Altbautreppen bis ganz nach oben steigen. Lothar gehört zu den Veteranen des Hauses, mit Unterbrechungen lebt er hier seit 16 Jahren. Er ist das Gedächtnis der Köpi, sammelt Videoschnipsel und Fernsehbeiträge über das Haus, erzählt den Jüngeren, wer schon alles vor ihnen hier wohnte. Viele Bewohner bleiben nur zwei, drei Jahre, ziehen dann weiter in eine normale Mietwohnung, wo das Leben ruhiger ist. Lothar lebt unter dem Dach in einem knapp 30 Quadratmeter großen Raum, die Decke ist mit Holz getäfelt. Aus dem Fenster kann man die nahe Spree sehen, im Ofen knackt ein Feuer. „Ich habe das alles selber ausgebaut“, erzählt er. Schließlich habe er früher Maurer gelernt. Stolz auf die Leistung der eigenen Hände sind viele Hausbewohner. Immer wieder hört man in Gesprächen, wie sie die Räume verändert haben, was alles umgebaut wurde. Das Selbermachen ist für autonome Wohnprojekte ein wichtiges Argument, um sich zu legitimieren. Häuser professionell zu sanieren, nutze nur Spekulanten, da diese dann höhere Mieten verlangen könnten, so die Argumentation. In der Köpi zahlen sie nach den Verträgen von 1992 eine Miete, die sich nach dem Zustand des Hauses zu Wendezeiten bemisst. 14 Cent pro Quadratmeter. „Plus Nebenkosten“, fügt Lothar hinzu. Er habe nichts gegen Privateigentum, aber eine Miete zu zahlen, die sich am freien Markt orientiere, sehe er wirklich nicht ein, sagt er. „Wohnen ist ein Menschenrecht“, lautet der Slogan der Hausbesetzer. Einer weiteren Begründung bedarf es in ihren Augen nicht. Lothar ist ein kleiner, drahtiger Mann mit rasiertem Schädel, 41 Jahre alt. Anders als viele im Haus geht er regelmäßig arbeiten. Als Industriekletterer baut er an den Dachkonstruktionen von Sportstadien und Flughafenhallen auf der ganzen Welt mit: Dänemark, Kuwait, Nigeria. Auf Montage würden ihn Kollegen manchmal schon komisch anschauen, wenn er erzählt, wo er lebt. „Die meisten können sich das gar nicht vorstellen.“ Dabei kann er auf eine lange Karriere als Hausbesetzer zurückschauen. Lothar wuchs in Jena auf, Mitte der Achtziger zog er dort mit ein paar Freunden in eine leer stehende Altbauwohnung. Die Staatsmacht ließ sie gewähren. Zu Zeiten des rigiden DDR-Wohnungsmanagements war das illegale Beziehen heruntergekommener Altbauwohnungen allerdings weit verbreitet. Vor kurzem erzählte Angela Merkel in einem Interview, dass auch sie auf diese Weise an ihre erste Wohnung in Ostberlin gekommen
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m ihr alternatives Idyll zu verteidigen, nutzten die KöpiBewohner auch das ungeliebte System, genauer die Justiz. Nach ihrer Recherche zu dem neuen Besitzer beauftragten sie den Mieteranwalt Moritz Heusinger mit ihrer Verteidigung. Dieser legte Widerspruch gegen die Kündigungen ein und erklärte Fichtner, dass er sich auf einen jahrelangen Rechtsstreit einstellen könne. Außerdem wurde bekannt, dass die Berliner Staatsanwaltschaft gegen Fichtners Auftraggeber Nehls ermittelt. Der Vorwurf lautet auf Betrug. Nehls soll bei früheren Haussanierungen Baufirmen um ihre Einkünfte geprellt haben. Zwischen Fichtner und Nehls kam es daraufhin offenbar zu Unstimmigkeiten, die die Köpi-Bewohner bei Verhandlungen mit Fichtner nutzen konnten. Von seinem Partner im Stich gelassen und mit der Aussicht auf einen jahrelangen Kleinkrieg vor Gericht zog Fichtner Anfang März überraschend die Kündigungen zurück. Zudem stellte er für die Veranstaltungsräume im Erdgeschoss neue Mietverträge mit 30-jähriger Laufzeit aus. Die Köpi-Bewohner triumphierten. Sie hatten sich als ausgebuffter erwiesen als der Immobilienmann Nehls mit seinen hochfliegenden Plänen. Lothar hat die Nachricht von der abgewendeten Räumung gelassen aufgenommen, genauso ruhig wie zuvor das drohende Ende des Köpi-Projekts. Er habe gelernt, sich nicht zu viele Gedanken über die Zukunft zu machen, sagt er. „Als ich 1987 aus der DDR ausreiste, hat man mir gesagt, dass ich die nächsten 20 Jahre nicht wieder einreisen darf – das kam dann ja anders.“ Und außerdem, fügt er zum Ende des Gesprächs noch hinzu, könnte er eigentlich überall leben. Aber warum muss die Köpi dann unbedingt erhalten bleiben? Er sei zu alt, um von der Weltrevolution zu träumen, sagt Lothar. Die Verhältnisse insgesamt werde man nicht verändern. „Die Köpi ist eine Nische.“ Dass es sie weiter gebe, sei aber nicht nur für die Hausbewohner wichtig, sondern auch für die Menschen außerhalb dieser kleinen Welt.„Als Erinnerung daran, dass ein anderes Leben möglich ist.“
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Julia Hecht Fotografie Christian Reister Text Tom Jeske
In den Sechzigerjahren erlebte der Neuköllner Traditionsfußballverein NFC Rot-Weiß 1932 seine Glanzzeit. Keiner im Kiez spielte besser – doch danach ging es stetig bergab. Heute sammelt sich der Staub in dem großzügigen Vereinskasino und man gibt sich mit dem kleinen Kaffee-Büdchen gleich daneben zufrieden. Es fehlt Geld, um dem Teufelskreis des Abstiegs zu entkommen. Einziger Sponsor ist derzeit eine fußballbegeisterte Omi, die auch ab und zu bei den Turnieren vorbeischaut. So mancher bei Rot-Weiß träumt von einer Renaissance des vergangenen Ruhmes, doch dahin scheint es noch ein weiter Weg zu sein. Ein Blick auf den Nachwuchs vermittelt hingegen ein weniger düsteres Bild – die Jungs von der C-Jugend wirken entschlossen, ihren Club aus der Misere heraus zu kicken.
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Yusuf Cam, 14 Ich werde demnächst 15, dann muss ich aus der Mannschaft raus, und wechsele in die B-Jugend. Das ist ein bisschen schade, weil es Spaß gemacht hat mit dieser Mannschaft und diesem Trainer. In der Abwehr oder als Torwart muss man sich sehr konzentrieren und die gegnerischen Bälle abfangen. Ansonsten muss man schnelle und genaue Pässe geben können. Klar, vor unseren Spielen machen wir genau wie die Profis auch eine Besprechung und überlegen, wie und in welcher Formation wir gegen die andere Mannschaft spielen müssen. Neulich gegen Hertha ging es darum, dass unser Mittelfeld und der Sturm immer weiter mit nach hinten kommen mussten, um die Abwehr zu unterstützen. Es ging darum, ein schnelles Spiel zu spielen, viel zu laufen.
Emre Aktas Was ein Stürmer können muss? Tore schießen! Vor dem Verein hab ich auf der Straße Fußball gespielt. Der Unterschied ist, dass es auf der Straße keine Regeln gibt, im Verein lernt man die Regeln und muss sich dran halten. Ich hoffe mal, dass ich später professionell spielen werde. Jedenfalls werde ich das probieren. Dann müsste ich aber in einen besseren Verein, Hertha BSC. Frauen-Fußball? Viele denken, dass Frauen kein Fußball spielen können. Keiner guckt Frauenfußball, eher Männerfußball. Frauen haben mehr Angst vor dem Ball.
Sami Issa, 13
Adem Besi, 13
Ich wollte schon immer Fußballer werden. Am liebsten würde ich dann bei Barcelona spielen. Meine Vorbilder sind Ronaldinho und Figo. Falls es mit Fußball nicht klappt, werde ich Polizist. Wenn Frauenfußball im Fernsehen kommt, guck ich kurz und schalt dann eins weiter. Ich guck lieber Männerfußball. Dass die Männer besser spielen liegt an der Natur. Meine Schwester spielt kein Fußball, würde ich ihr auch nicht erlauben.
Ich spiele zwischen Mittelfeld und Sturm, das ist unterschiedlich bei mir. Je nachdem, wie mein Trainer mich einsetzt. Mir gefällt es aber besser, wenn ich im Mittelfeld spiele, dann kann ich die Bälle verteilen, gebe die Torchancen, schieß auch manchmal die Tore.... Im Verein bin ich schon seit vier Jahren, immer bei demselben Trainer. Ich finde der trainiert uns sehr gut und wir verbessern uns auch mit den Spielen.... Als ich hier angefangen hab, war ich nicht besonders gut, konnte kaum Fußball spielen und er hat mir alles beigebracht. Ich kann mir schon vorstellen mal professionell zu spielen. Aber in der Schule läuft es auch sehr gut, da bin ich Schnellläufer, und überspringe jetzt die achte Klasse. Ich will probieren, das Abitur zu machen und dann Arzt zu werden. Oder Pilot. Wenn ich das geschafft hab, geb ich das auf mit dem Fußball. .
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Marvin Geister, 13 In der Mannschaft hab ich zwei Positionen, rechtes Mittelfeld und Sturm. Wenn das rechte Mittelfeld verletzt ist, dann muss ich ran. Vorher hab ich nur rechtes Mittelfeld gespielt, aber dann hat mich der Trainer bei einem Spiel gegen Lichtenrade gesehen und dann hat der mich in den Sturm geschickt. Das war bei dem ersten Spiel hier in der Mannschaft. Wegen meiner Schusstechnik. Letzten Sonntag hab ich ein Tor in der letzten Minute geschossen. 4:2 gewonnen. Zu den Spielen kommt mein Vater immer. Wenn es 4:1 Steht für die andere Mannschaft und es ist noch ne halbe Stunde zu spielen? Ich kämpfe weiter. In einer halben Stunde kann man noch 3 Tore schießen.
Caner Gozmen,14 Ich würde schon gerne professionell spielen, aber ob das klappt: na ja. Wenn ich damit viel Geld verdiene, kaufe ich meinen Eltern ein Haus, für meine Geschwister, für meine ganze Familie..... Ich würd gern mal surfen.... und... ich würde derselbe sein! Als Politiker würde ich versuchen, mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Und ansonsten weiß ich gar nicht. Ich würd nicht viel verändern. Dass die Jugendlichen im Verein Sport machen, ist eigentlich besser, dann geraten manche nicht auf die schiefe Bahn. Hab ich aber noch nicht selber erlebt. Nur im Fernsehen gehört.
Ufuk Satis, 14 Ich bin erst seit ein paar Monaten in der Mannschaft. Bei den Spielen kommt manchmal meine Mutter und meine Schwester vorbei, aber nur wenn das Wetter schön ist und wenn meine Schwester nicht arbeiten muss. Die spielen keinen Fußball, aber machen auch Sport, Fitness. Fußball hält mich fit. Um mich für den Fußball fit zu halten, mache ich aber eigentlich nichts besonderes. Ich esse nicht so viel, aber ansonsten ganz normal. Fußball ist schon gut, macht Spaß. Ich weiß, dass dieser Verein mal richtig gut war. Warum das nicht mehr so ist, weiß ich allerdings auch nicht. Vielleicht haben zu viele gute Spieler den Verein verlassen und dann kamen keine guten mehr nach. Aber wenn man gut trainiert, kann sich das wieder ändern. Am fehlenden Geld liegt das glaube ich nicht.
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Harun Ergun Ich bin noch neu in der Mannschaft, und hab noch keine Spielberechtigung, deswegen war ich auch nicht am Wochenende dabei, als wir 4:2 gewonnen haben. In eine richtig gute Mannschaft wie Hertha BSC oder Tennis Borussia kommt man nicht so leicht rein. Du musst zu erst in eine Mannschaft, die Verbandsliga spielt, dann muss dich der Trainer weiterempfehlen, an Hertha oder so. Du machst
ein Probetraining, wenn sie dich gut finden, trainierst Du da ein paar Wochen, dann kommen Einzelgespräche und die wollen dein Zeugnis sehen. Du musst nämlich in der Schule gute Noten haben, um in eine solche Mannschaft zu kommen. Wenn du Fünfen hast, dann wirst Du nicht angenommen, egal wie gut du spielst. Weil, Hertha BSC, die trainieren vier oder fünf mal in der Woche, und da
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hast Du dann fast keine Zeit mehr für deine Hausaufgaben. Natürlich habe ich mitbekommen, dass die deutsche Frauen-Nationalmannschaft Weltmeister geworden ist. Wenn Deutschland gewinnt freue ich mich immer besonders, weil - ich bin halt Deutscher. Und deswegen ist es mir egal ob Männer oder Frauen spielen, ich guck jedes Spiel von Deutschland.
Fatjan Esati, 14: Ich bin erst seit dieser Saison im Verein. Vorher hab ich bei Neukölln und Marathon 02 gespielt. Aber die waren schlecht, die waren nicht so gut und dann bin ich hier hin gegangen. Professionell spielen? Schwierig. Da müsste man jetzt schon bei Hertha sein, bei einem Top-Verein. Jeden Tag trainieren. Schule geht vor. Obwohl ich lieber Fußball spiele, als in die Schule zu gehen. Wie ich leben würde, wenn ich reich und berühmt wäre? Darüber hab ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich würde das Geld meiner Familie geben.
Metin Dere, 14 Ich bin der Libero. Das heißt ich spiele hinter der Abwehr, und wenn die nicht dichthält, muss ich Ganze noch mal retten, ein Tor verhindern. Wenn gar nichts mehr geht, foult man da auch mal. Das ist nicht nur bei den Profis so, bei denen es um viel Geld geht. Hab auch schon einmal eine gelbe Karte gesehen dafür. Insgesamt bin ich aber nicht besonders brutal.
Thevakar Uijayakumar, 14 Vorher war ich in einer anderen Mannschaft, aber auch hier in Neukölln. Außer Fußball mache ich keinen anderen Sport, das reicht mir. Später will ich auf jeden Fall in Berlin bleiben. Oder vielleicht nach London ziehen. Meine Tante lebt dort, ich war schon öfter bei ihr und das gefällt mir sehr da. Falls ich kein Profi-Fußballer werde, würde ich gerne Ingenieur werden, mit Architekten oder so zusammen arbeiten. In der Schule interessieren mich auch eher die kreativen Sachen, Werkkunde, also Kunst, Musik .... und Sport. Liegt wohl ein bisschen in der Familie, meine Mutter kann gut zeichnen..
Mohammed Osman, 14 Zurzeit bin ich noch Ersatztorwart, aber weil der Haupttorwart die Mannschaft verlässt, bin ich ab demnächst Haupttorwart. Als Torwart tut man sich öfters weh, aber ich hatte bisher nur Prellungen. Man muss Schmerzen ertragen müssen, das ist normal. Es gibt eigentlich keine Mannschaft, vor der wir Angst hätten. Auch wenn der Gegner alle Spiele gewonnen hat, wir versuchen einfach unser Glück und geben nicht vorher auf. Man muss einfach sein Bestes geben.
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psychotherapie Text
Falko Hennig
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ls ich begann, regelmäßig Fußball zu spielen, hatte das eher psychische als körperliche Gründe. Es war eine lustige und wilde Truppe von ehemaligen Dissidenten, die sich damals, Anfang der 90er Jahre in einer Halle im Nordischen Viertel von Prenzlauer Berg traf und mit denen ich einmal die Woche spielte. Damals versuchte ich mich als ComputergrafikFachmann und schrieb Unmassen von Artikeln, die alle abgelehnt wurden. Mir war klar, dass ich bei meinen ausschließlich geistigen Tätigkeiten, einen Ausgleich brauchte, um nicht wahnsinnig zu werden. Bänderdehnungen und ein Beinbruch machten diesem schönen Hobby ein Ende, aber 2005 rief dann Thomas Brussig an, der dem Italiener Paolo Verri zugesagt hatte, ein deutsches Team für die Schriftsteller-WM zusammenzustellen. Wir waren eine erstaunliche Truppe, die sich da im Trainingslager auf Thomas Brussigs Anwesen traf, an Krüppeln und Versehrten herrschte kein Mangel. Hans Meyer kam nachmittags und erzählte von seinem größten sportlichen Erfolg, als er eine holländische Mannschaft bei einem Behinderten-Turnier zum Sieg verholfen hatte. Mit uns erhoffte er sich Ähnliches.
Wir waren eine erstaunliche Truppe, die sich da im Trainingslager auf Thomas Brussigs Anwesen traf, an Krüppeln und Versehrten herrschte kein Mangel. Er wirkte gutgelaunt, obwohl er „von Brussig beschissen“ worden sei, nördlich von Berlin, so habe der ihm den Ort beschrieben, als er das Dorf in sein Navigationssystem eingab und da erschien die Zahl, über 800 Kilometer, da dachte er, er kucke nicht richtig. Das Ergebnis des ersten Trainingsspiels war verheerend, Bohni brach sich ohne Gegnerberührung durch einen unglücklichen Sturz den Arm, Andreas Landert fügte sich eine Zerrung zu und musste abreisen. Der Acker, auf dem wir spielten, war aber auch eine Todesfalle. Als sich Meyer wunderte, warum Robert Naumann nicht auf seine Bitte, die Bälle zu holen, reagierte, musste ich den großen Trainer aufklären: „Der ist schwerhörig.“ Dann sollten wir alle mal solange wie möglich den Ball hochhalten, der Anblick, der sich Meyer dabei bot, nahm ihm sämtliche Illusionen über uns, aber er gab nicht auf, er war ein Mann für eigentlich hoffnungslose Fälle. Der größte Risikofaktor in jedem Spiel, egal ob nun im Training oder ernst, war ich. Ich war ich ziemlich gefürchtet. Dabei war ich überzeugt, dass ich nicht absichtlich foulte, sondern aus Unvermögen, einfach durch meine mangelhafte Körperbeherr-
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schung. So verletzte ich in jedem Spiel mindestens einen Gegner schwer durch Tritte, selbst in Situationen, als der Ball auf der anderen Hälfte des Spielfeldes war. Es ging soweit, dass sich alle Kameraden weigerten, in der jeweiligen Gegner-Mannschaft zu spielen. Es kam dann zu sehr eigenartigen Trainingsspielen, und dass ich mangels gegnerischer Spieler nun die meiner Mannschaft krankenhausreif trat, verbesserte das Klima in der Mannschaft nicht. Oft nahm mich unser Co-Trainer Ulli beiseite und versuchte zu ergründen, was denn mit mir los war. Bei der WM in Italien 2005 kam es, wie es kommen musste, alle Spiele, bei denen ich vom Rand aus zusah, wurden gewonnen. Aber im Endspiel gegen eine Mannschaft aus Dänen, Schweden, Finnen, Norwegern und Engländern wurde ich auf mein flehentliches Betteln hin eingewechselt und trat unseren eigenen Torwart Albert Ostermeier so hart, dass sein Sprunggelenk brach, wir verloren 5:0. Aber noch immer hatte ich keine Zweifel an meiner Strategie: Ich brauchte den Fußball, um nicht wahnsinnig zu werden. In Wirklichkeit war ich es längst und der Fußball ein Teil davon. Der schwerste Moment war für mich 2006, als ich zur Schriftsteller-WM in Bremen nicht nominiert wurde. Nach außen hin versuchte ich, nicht zu verbittert zu wirken, wünschte meiner Mannschaft viel Glück. Aber innerlich haderte ich und haderte. Damals machte ich mir ziemlich viel vor. Der Grund, für meine Nichtnominierung war sehr simpel: Ich war der schlechteste Spieler. Es hatte im Team ein rasender Verjüngungsprozess stattgefunden, immer mehr bessere Spieler waren zu unserer Mannschaft gestoßen. Und während ich mit Augenzudrücken davor noch Spieler auszumachen meinte, die noch schlechter waren als ich, war ich nun einfach mal der schlechteste.
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amals begann das, was vielleicht eine Geisteskrankheit war. Ich weinte und weinte, hatte Zwangsvorstellungen meiner triumphierenden Sportfreunde und von Spielsituationen, in denen ich immer versagte. Ich konnte nicht schlafen, wenn ich doch in einen kurzen Schlummer sank, hatte ich Alpträume, in denen ich auf dem Feld stand, den Ball bekam und einfach nicht spielen konnte, der Gegner lief auf mich zu und nahm mir den Ball ab. Ich war wie gelähmt. Diese Alpträume waren so schrecklich, dass ich lieber ohne Schlaf blieb, ich zitterte und rauchte Kette, kaufte mir schlimmste Drogen zu überhöhten Preisen und brach bei jeder Gelegenheit in Tränen aus.Heute ist es mir völlig schleierhaft, dass ich nicht zum Arzt ging. Aber es gab da in meinem Kopf dieses Tabu: Geisteskrankheit! Wahnsinn! Psychiatrie! Erblicher Selbstmord! Ich doch nicht! Ich machte verbissen weiter, in der irren Erwartung, irgendetwas
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würde sich verbessern. Es war bestimmt mehr die Rücksicht auf meinen ganz augenscheinlich labilen Zustand, der verschlungen dazu führte, dass ich zur WM 2007 nach Malmö doch nominiert wurde. Es war wohl ein Test, wie ich das durchstehen würde.
Diese wunderbaren Sportsmänner, diese starken Kerle, diese herrlichen Männer, hart und weich, kein bisschen wahnsinnig, sie hatten eine Therapie gemacht! Ich bin ihnen sehr dankbar, ihnen und dem Physiotherapeuten, denn endlich ging ich zu einer Psychiaterin und sie gab mir Tabletten und ich begann die Therapie. Mir wurde klar, dass es nicht Unvermögen war, was mich ausrasten und treten ließ, sondern dass sich da ein Hass Bahn brach, der eigentlich auf etwas anderes gerichtet sein sollte. Und da geschah das Wunder von Berlin: Mein Fußballspiel wurde schlagartig besser. Als wäre ein Knoten in mir geplatzt, traf ich jetzt und konnte abspielen und fiel nicht mehr hin und wenn ich jemanden volle Pulle trat, hatte ich wenigstens davor auch den Ball berührt.
Bei der WM in Italien 2005 kam es, wie es kommen musste, alle Spiele, bei denen ich vom Rand aus zusah, wurden gewonnen. Es war klar, dass ich als Ersatzspieler mitfuhr und es durchaus sein könnte, dass ich überhaupt nicht aufs Spielfeld käme. Meine Mutter, selber eine große Fußballspielerin, war extra aus Rangsdorf mit dem Klapprad nach Schweden geahren und sah zu. Und meine konvulsivischen Stoßgebete wurden erhört, ich wurde doch eingewechselt. Wenn jemals die Annalen denkwürdiger Kurzauftritte von Fußballspielern geschrieben werden, dann habe ich eine gute Chance, in einer eigenen Rubrik gewürdigt zu werden. Ich war zwar nur eine Minute auf dem Feld, aber was in diesen 60 Sekunden passierte, ist um so erstaunlicher und keiner der es gesehen hat, wird es jemals vergessen können. Ich rannte dem Ball hinterher, der Ball war sehr weit weg, ich hatte kaum eine Chance, ihn zu erreichen. Aber die Zuschauer kuckten, meine Mutter kuckte, die ganze Welt kuckte und ich rannte schneller, ich musste ihn bekommen, ich rannte noch schneller, und dann fiel ich hin. Ich fiel einfach so hin, weit und breit kein gegnerischer Spieler, kein Maulwurfsloch, ich war einfach so, beim Versuch zu rennen, hingefallen. Ich lag auf dem Platz und schluchzte, ich spürte alles Unglück dieser Welt in mir konzentriert, alles Versagen meines Lebens, als Kind, als Jugendlicher, und jetzt wieder. Meine Tränen netzten den schwedischen Rasen, die Sonne schien gleichgültig auf mein Schicksal. Wir hatten einen Physiotherapeuten mit, und der redete daraufhin endlich Tacheles mit mir: „Du musst eine Psychotherapie machen.“ Ich war hell empört, erzählte den Kameraden, von denen ich vermutete, dass sie mich am wenigsten hassten:„Der Pysiotherapeut findet, dass ich eine Psychotherapie machen sollte!“ Ich erwartete, dass sie das genauso aberwitzig finden würden wie ich selber. Aber zu meiner Überraschung fanden sie das völlig plausibel und dann geschah ein Wunder: Sie öffneten sich mir gegenüber, und sie hatten alle schon eine Psychotherapie gemacht. Niemand hatte einen Schaden davon getragen, alle hatten für ihr Leben etwas dadurch gewonnen.
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ch bin immer noch der schlechteste Spieler, aber ich blicke zuversichtlich in die Zukunft. Das einzige, was mir noch fehlt, ist ein geeignetes Hassobjekt. Ich habe meinen Töchtern einige Kuscheltiere entwendet, mit denen sie aber sowieso nicht mehr spielen. Die schreie ich jetzt vor jedem Training zwei Stunden an, dann würge ich sie, bis ihnen die Knopfaugen herausploppen und schlage auf sie ein. Das tut soo gut. Ich bin sehr viel kontaktfreudiger geworden, denn ich bin auf der Suche. Ich unterhalte mich viel mit Männern und Frauen, versuche zu verstehen, wie sie ticken.
Ich bin immer noch der schlechteste Spieler, aber ich blicke zuversichtlich in die Zukunft. Das einzige, was mir noch fehlt, ist ein geeignetes Hassobjekt.
Denn ich bin auf der Suche. Das mit den Kuscheltieren ist auf Dauer keine Lösung. Mein Hass muss ein angemessenes Ziel finden. Irgendwann wird es in meinem Kopf einrasten, meine Augen werden kurz aufflackern, und für denjenigen, der mir dann gegenüber steht, wird es das Letzte sein, was er sieht. Dann habe ich endlich mein Ziel gefunden. Ich bin geheilt.
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Ein T r zur Welt
Die Färøer Inseln, auf denen neben 3,5 Millionen Vögel und 70000 Schafen knapp 48.500 Einwohner leben, gehören politisch zu Dänemark. Die 18 Inseln sind seit 1948 weitestgehend autonom und tragen wie Grönland den Titel einer gleichberechtigten Nation innerhalb des dänischen Königreichs. Trotz gemeinsamer Wurzeln machen sich die Isländer über die Färinger lustig. So wird in Reykjavík erzählt, dass, als die Wikinger losfuhren, um Island zu besiedeln, sie diejenigen auf den Färøer Inseln aussetzten, die auf halber Strecke seekrank wurden. Hier lacht der 85ste der FIFA-Weltrangliste über den 193sten. Denn seit 1988 sind die Färøer das kleinste eigenständig in der FIFA organisierte Land und im internationalen Fußball immer mal wieder für eine Überraschung gut.
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Elmar Bambach Text Jan Schrenk
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Grösster Erfolg
Im Echten Leben
Ihren größten Erfolg feierte die färøische Nationalmannschaft 1990 gleich im ersten Spiel, das kein Freundschaftsspiel war. Weil auf den Inseln kein einziges FIFA-taugliches Stadion existierte, fand das Qualifikationsspiel zur EM gegen Österreich im schwedischen Landskrona statt. Vor 1265 Zuschauern besiegte die nur aus Amateuren bestehende Mannschaft die österreichischen Profis 1:0. Die herausragenden Spieler sind der einzige Torschütze Torkil Nielsen, ein Holzhändler, und der Torhüter Jens Martin Knudson, der gleichzeitig auch der Handball-Nationaltorhüter ist. Nach der „größten Niederlage des österreichischen Fußball” muß der Trainer Josef Hickersberger am nächsten Tag seinen Hut nehmen.
Die färøische Mannschaft bestand beim Sieg gegen Österreich aus fünf Hochschülern, je einem Kraftfahrer, Fischverkäufer, Postboten, Maschinenschlosser, Gelegenheitsjobber, Handelslehrling, Holzhändler, Bäcker, Bankangestellten, Abiturient, Elektriker, Lebensmittelprüfer in einer Fischfabrik, Tischler, Fischfabrikarbeiter, Flugzeugmechanikerlehrling und dem Leiter eines Kühlhauses. An die sensationelle Überraschung erinnert sich der färøische Torwart Knudson wie folgt:„Unsere Anhänger machten sich einen Spaß daraus, die letzten Sekunden jeder Viertelstunde herunter zu zählen, die wir ohne Gegentor überstanden. Je öfter das notwendig wurde, desto mehr stimmten ein. Der Countdown zur 60. Minute war gerade verklungen, da machte Torkil Nielsen das 1:0. Ich war völlig fassungslos.“
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Mythos Pudelmütze
Rudi Völlers Frust
Viele Geschichten ranken sich um die weiße Pudelmütze vom färøischen Torhüter Knudson. Einerseits soll die Mütze von seiner Mutter gestrickt worden sein, anderseits erzählte er selbst, dass er sie speziell für das Spiel gegen Österreich gekauft hätte. Angeblich bot nach dem sensationellen Sieg gegen Österreich ein englischer Millionär für diese Pudelmütze rund 67.000 Euro. Dagegen gilt es als gesichert, dass Jens Martin Knudsons Mutter sehr viele solcher Mützen als Glückbringer für internationale Fans stricken mußte.
11. Juni 2003, Qualifikation zur EM 2004, Deutschland gegen die Farøer Inseln. Nach einem in den letzten Minuten 2:0 gewonnen Spiel erklärt der deutsche Teamchef Rudi Völler:„Ich habe immer an den Sieg geglaubt. Wir haben es leider recht spannend gemacht In der ersten Halbzeit haben wir etwas behäbig gespielt, aber in der zweiten Hälfte haben wir alles versucht. Ich kann der Mannschaft keinen Vorwurf machen. Gegen einen solchen Gegner kann man nicht glänzen, da geht es nur mit der Brechstange.“Bis in die 89ste Minute war kein Tor gefallen.
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Eine Fotostrecke von
Markus Steffen
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die zugbegleiter Fotografie
Aesop Interview Katharina Szovati
Die Stadt – ein Raum der Codes und Zeichen. Hier herrscht die kulturelle Grammatik, die festlegt, wer autorisiert ist, was in welchem Kontext zu sagen. Die Produktion von Zeichen als Bedeutungsträger ist zum symblischen Kapital geworden, transferierbar in ökonomischen Wert. „Sie haben Macht, doch wir haben die Nacht“, titelte ein Mauergraffiti in den 90ern. Nach wie vor besetzen Sprayer Wände und Bahnen mit Null-Botschaften, führen die urbane Signalethik ad absurdum.
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Aesop hat drei Jahre lang eine Gruppe von Trainwritern Photographisch begleitet. Ein Interview
„Seltsamerweise machen übrigens die Graffiti die Wände und Flächen der Stadt oder die U-Bahnzüge und Busse wieder zu einem Körper, zu einem Körper ohne Ende noch Anfang, gänzlich erogenisiert durch die Schrift, so wie der Körper durch die primitive Inschrift der Tätowierung erogenisiert werden kann. Tätowierung, das findet auf Körpern statt, das macht in primitiven Gesellschaften zusammen mit anderen rituellen Zeichen aus dem Körper das, was er ist: ein Material symbolischen Tauschs- ohne Tätowierung, wie ohne Masken, wäre der Körper nur noch das, was er wirklich ist: nackt und nichtssagend. Indem sie die Wände tätowieren, befreien SUPERSEX und SUPERKOOL sie von der Architektur und machen sie wieder zur lebendigen, immer noch sozialen Materie, zum beweglichen Körper der Stadt vor seiner funktionalen und institutionellen Markierung.“ Jean Baudrillard, Kool Killer.
auf den zweiten Blick ist es. Trainwriter werden ist ein Prozeß und am Ende steht eine hochgradige Organisation: Gummihandschuhe und Maske, die Dosen sind geputzt und jede Farbe hat in der Kiste ihren genauen Platz, damit man nachts die richtige findet. Und wenn man dann noch mit seinen Kumpels ins Ausland fährt ist man wirklich besessen.
Weltweit steigen Trainwriter in die U-Bahnschächte. Im Internationalen Vergleich - wie kann man den deutschen Sprayer beschreiben? Die deutschen Jungs sind klischeehaft ordentlich, gründlich. Die Italiener kommen aus der Disco raus und legen dann mal los… Tendenziell kann man über die Deutschen sagen: ordentlich maskiert, schön geputzt die Dosen, Handschuhe dabei. Die Kameras - da wissen sie genau, wo die stehen, auch die Aufpasser. Wann die Bahn kommt, wann die Einsetzer - für alles gibt’s Pläne, und das funktioniert in Deutschland. Da weiß man genau: 01:23 kommt die letzte Bahn, jetzt warten wir zehn Minuten, danngeht der Fahrer pennen, macht die Rollos runter und wenn wir am letzten Hänger stehen, ist die Krümmung der Kurve so, dass der uns im Spiegel nicht sehen kann. Wir sind nachts auch nach Hause gegangen, weil ein Fahrer den Spiegel rausgedreht hat oder die Bahn zu weit vorn oder in der falschen Spur stand. Aktion gelaufen, da kann man nichts machen.
Warum interessieren Dich innerhalb der Sprayerszene ausgerechnet die Trainwriter? In jeder Schulklasse gibt’s bestimmt ein zwei Leute, die auch Graffiti machen. Die Frage ist, wie lange macht man das, wie intensiv betreibt man das. Irgendwann kommt man auf die Idee, Züge zu besprühen. Da bewegen wir uns in einem sehr kleinen Kreis, weil es mit viel Risiken und einer sehr starken Motivation verbunden ist. Die, die mich interessiert haben, machen das ähnlich wie Extremsportler, um ihre eigenen Grenzen zu erfahren. Und es gibt Leute, die einen großen kreativen Anteil mitbringen. Es hat mich gereizt, jemanden kennenzulernen, der das auf einem sehr hohen Niveau betreibt, der eben nicht der stumpfe Kaputtmacher sein will und trotzdem in dem Prozeß gefangen ist – er muß ja letztendlich auch an den Zug oder die Wand malen.
Planung spielt demnach die entscheidende Rolle? An die Orte heranzukommen ist nicht mehr so einfach; alles ist gut bewacht, es gibt Wachschutz, Polizei und Bundesgrenzschutz, die passen alle verdammt gut auf. Also muss man das stundenlang vorher organisieren. Letztlich ist es ein Kampf mit der Möglichkeit; ein zeitlich, örtlich begrenztes Risiko. Das Tollste ist: Die Leute, die wissen wie es läuft, haben diese innere Ruhe und reden nicht drüber. Es gibt aber auch solche, die Autorität verbreiten und die Gruppe nach außen repräsentieren - gerade wenn zwei Gruppen aufeinander treffen. Diese ganzen Gepflogenheiten und warum es manchmal auch aggressiv zugeht, haben ja ihren Grund: die Orte sind gut bewacht und die Gelegenheiten so selten. Deshalb hat man Angst, dass man sich drei Nächte umsonst hingelegt hat, um die nächste Aktion zu planen. Man beschließt, am Samstag um neun muss man das machen und dann kommt da eine andere Gruppe. Außerdem muss man das Prinzip der Regelmäßigkeit beachten, die Soko ist ja auch nicht blöd. Wenn man drei Wochenenden hintereinander an die gleiche Stelle geht, ist es klar, dass man am vierten in die Falle geht. Dann ergeben sich bestimmte Kombinationen, wo es überhaupt möglich wird, allein durch die Sommer- und Winterzeit. Im Sommer wird es schon
Wer genau sind die Trainwriter? Im Durchschnitt sind sie zwischen 20 und 30, haben eine 5jährige Graffitikarriere hinter sich. Wer auf die Idee kommt, Züge zu bemalen, muss in seinem Leben einige Dosen geleert haben. Mit einer Grundausbildung fängt es an: erst auf der Strasse ein bisschen rumschmieren, dann mit Freunden organisiert Dosen holen und irgendwo auf dem dritten Hinterhof loslegen. Dann traut man sich auf die Hauptstrasse und muss schon abwägen, ob man gesehen wird. Irgendwann merkt man: dass jeder irgendwo in der Stadt meinen Namen gelesen hat, ist nicht alles. Wenn ich wirklich Respekt haben will, dann bin ich der, der die härtesten Aktionen klarmacht, über den kaum einer etwas weiß und dessen Sachen kaum einer zu Gesicht bekommen hat. Dieser Fame
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03:30 hell, da steht man im Hellen, bevor die Züge überhaupt losfahren, im Winter ist es dann schon um 05:00 dunkel.
Trotz aller Vorbereitung ist es sicher nicht ungefährlich, zwischen den Zügen, in den Schächten entlang zu pirschen? Es gibt Stromschienen und man klettert zwischen den Hängern herum. Es sind auch Leute ums Leben gekommen. Bei Bergsteigern stirbt auch die Hälfte. Es ist schon ein enormer physischer Kick dabei. Um das poetisch auf den Punkt zu bringen: es ist, als ob man den schlafenden Drachen besucht. Wenn die Züge die Druckluft ablassen, erschreckt man sich schon.
Abgesehen vom Kick - was ist für den Sprüher die Belohnung dafür, diese enormen Risiken auf sich genommen zu haben ? Der Graffiti–Sprüher ist eine eher introvertierte Person, die das Glücksgefühl für sich behält und mit einer inneren Selbstzufriedenheit den Erfolg genießt, den er durch das Gerede erreicht hat. Da gibt es eine richtige Mythenbildung. Der, der am unabhängigsten bleibt und es trotzdem auf die Reihe kriegt, ist das Idol. Züge machen, das ist nicht der normale Graffitityp, das ist die Endstufe, die Königsdisziplin. Wenn man den Namen groß verbreiten will, nimmt man die Wand, aber die Züge - das wird nur in einem kleinen Kreis bekannt. Da bekommt man nur Respekt von Leuten, die Ahnung haben.
Was hat Dich zu dieser Arbeit motiviert? Ich habe mich viel mit Reportagefotografie beschäftigt, zum Beispiel mit Kriegsschauplatzfotografie. Das sind relevante Themen, weil die Situationen so extrem sind. Die Motivation bei der Graffiti - Arbeit speiste sich auch aus dem Wunsch, selbst ein physisches Erlebnis zu haben. Ich mag es generell, an Orte zu gehen, an denen man als normaler Mensch in seinem täglichen Leben nicht vorbeikommt. Das Besondere, die Grenzerfahrung eines Ortes, hatte ich schon vorher mit Architekturfotografie gemacht. Das man sagt: für das Foto traue ich mich auch mal auf die Bahngleise, mich mit der Kamera auch mal abseits zu bewegen. Ich war in dem Moment, als ich angefangen habe, richtig gierig darauf.
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Es ist Dir gelungen, mit diesen Jungs loszuziehen, die sich nachts regelmäßig jenseits der Legalität bewegen. Gemessen am Risiko muss deren Mißtrauen von außen Kommenden gegenüber sehr groß sein. Wenn man in so eine Gruppe rein möchte, dann muss man bestimmte Codes und Regeln kennenlernen. Diesen Prozeß mußte ich auch durchmachen und es hat Jahre gedauert, Vertrauen aufzubauen. Die Leute haben viel zu verlieren, von allen Aktionen werden von der Polizei Fotos gemacht. Wenn dann jemand geschnappt wird, gibt es sofort die komplette Akte dazu und dann kommt schnell eine Summer von mehreren Hunderttausend zusammen. Das heißt, je länger man dabei ist, um so größer das Risiko. Und dann kann man ja auch nicht immer nur hingehen und ne Aktion geliefert bekommen. Dann sagt die Gruppe auch irgendwann: du kannst ja auch mal was tun, ne Aktion vorbereiten, was klarmachen. Insofern hatte ich eine Sonderstellung und bin sehr dankbar für das ganze Vertrauen.
Gibt es für Dich ein politisches Moment an Graffiti, das dich interessiert? Solange es möglich ist, zu einem Zug zu gehen und dort ein Zeichen zu hinterlassen, muss es freiheitliche Tendenzen geben. Darin manifestiert sich ein freiheitlicher Staat. In einer Diktatur ist das nicht möglich. Für diese Möglichkeit habe ich Sympathie. Es drückt sich natürlich auch Protest am Privateigentum aus. Was besitzt man selbst schon? Graffiti bedingt auch Zerstörung, also greift man den Besitz anderer an. Und auf den gleichen Zügen, die sauber gemacht werden, klebt Jägermeisterwerbung drauf. Wo ist da der Unterschied? Die Frage ist eher, wen stört`s?
Deine Bilder sind unter schwierigen Bedingungen entstanden. Hat gerade diese enorme Mühe den fotografischen Reiz ausgemacht?
Hast du dieses Glücksgefühl durch Extremerfahrung selbst auch erlebt?
In so einer dunklen Lichtsituation ein scharfes Bild zu machen, das war eine Herausforderung. Etwas sichtbar zu machen, was eigentlich nicht zu sehen ist. Wenn man unten auf der Strasse läuft, ahnt man nicht, was gerade da oben auf dem Dach passiert. Ich mache ungern Sachen, wenn Leute die Möglichkeit haben, das nachzumachen. Deswegen hat mich die ganze Anstrengung beflügelt. Zu sagen, ich krieg da was Exklusives geboten, soviel Knowhow, soviel Vertrauen. Trotz des enormen Risikos bekomme ich Bilder, die meine Bilder sind.
Ich hab da Aktionen mitgemacht… da kam uns beim Wegrennen aus dem Schacht eine Bahn entgegen und hat gehupt und wir sind raus und draußen: neun Uhr morgens, mitten am Brandenburger Tor, lauter Leute, und wir kommen da mit unseren ganzen Sachen. Das große Prinzip dahinter ist Adrenalin, Angst. Vorher, schon bevor es losgeht, hat man ein Grummeln im Bauch. Dann das Lampenfieber, dass man es durchzieht. Und dann kommt der Moment, da löst sich alles, wenn man’s geschafft hat.
Ich bekomme ein breites Grinsen, wenn ich U2 fahre. Alle Leute denken nur, sie fahren eben U-Bahn und draußen ist es dunkel. Ich schaue aus dem Fenster und sehe, was dahinter ist. Wenn ich denke: letzte Woche stand ich da hinter dem Pfeiler und hab mich versteckt, fahren die Leute vorbei, lesen Bücher und kommen nicht mal auf die Idee, dass was hinter der Scheibe passiert.
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Wie hat Dich diese Art der Stadterfahrung geprägt?
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das camp Eine Fotostrecke von
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Hier & Jetzt Ein Bericht von
Inana
die eine Insulinpumpe tragen. Sozusagen eine künstliche externe Bauchspeicheldrüse, die mich über einen subkutanen Katheter (liegt bei mir am Bauch) mit Insulin versorgt. Das erspart mir auf der einen Seite das Spritzen, macht andererseits gleichwohl auch unflexibel, denn die Pumpe ist immer an mir dran. Dies kann einem eben beim Tanzen wiederum lästig werden.
*Genau jetzt in irgendeiner Stadt, irgendwo hinter einem Fenster ist Licht. Die Vorhänge sind teilweise zugezogen und du kannst von der Straße aus nicht hineinsehen. Es läuft Musik und die Tür ist abgeschlossen. Das bin ich.* Ich liebe die Nacht. Ich schlafe ohnehin nicht sehr viel. Wie auch – der Tag hat nur 24h. Meist genügt mir das nicht. Soviel Zeit geht für so vieles VERLOREN. Ich brauche Zeit, in der ich alleine sein kann, in der ich einfach sein kann. *Wenn du das Gefühl hast, du müsstest dich abseilen – seil’ dich ab. Einen Großteil dieser Scheiße regelst du ja eh’ alleine. Du weißt was ich meine.* Weißt du? Mein nächtlicher Exzess ist zur selbstzerstörerischen Sucht geworden. Schlaflose Nächte während der Woche.Am Wochenende gehe ich tanzen. Vorzugsweise laut, elektronisch bis zur Erschöpfung. Ehemalige Fabrikhallen, S-Bahnbögen, Kellerdurchbrüche und besetzte Häuser vermitteln ein Gefühl von Untergrund. Wenn ich tanze, schließe ich die Augen und spüre, dass ich am Leben bin. Früher hatte ich an Songs immer den Anspruch guter Lyrics. Ich wollte mich in den Liedern wieder finden – ich hab mich stark über die Musik definiert. Das ist auch so ein Identitätsding. Die Musik hat mir geholfen, mit Problemen fertig zu werden.Mittlerweile ist mein Anspruch jedoch ein anderer. Also noch mal: wenn ich tanzen gehe, will ich die Musik pur. Musik – das ist die erlebte Interpretation durch dein Gehirn. Das Wesen eines materiellen Prozesses (Schwingung) steckt in abstrakter Form kleiner Stromimpulse in meinem Nervenzellennetzwerk und wird zu Wahrnehmung während ich die Basslinie direkt im Brustkorb spüre. Wenn ich tanze kann ich es spüren und verschmelze mit der Musik. *Es ist seltsam, inmitten der Verwirrung und des Lärms habe ich einen klaren Kopf und meine Gedanken sind ruhig und vernünftig.* Das einzige, was mich zeitweise doch noch zurückholt, ist die Realität. Nennen wir sie mal Diabetes. Ich bin leider wirklich kein vorbildlicher Diabetiker und diese Nächte lassen es mich immer wieder spüren (Alkohol kommt erschwerend hinzu…). Um ehrlich zu sein: heutzutage ist Diabetes eigentlich kein so großes “Ding“ mehr. Die Forschung ist ziemlich weit, man hat viel Erfahrung und die Behandlung ist easy, wenn man sich an einige Regeln hält.Wenn. Wenn mein Blutzucker hoch ist und ich ihn senke, werde ich kurzzeitig euphorisch – high sozusagen. Sofern ich mich jedoch wieder an den Rand meiner Kräfte gebracht habe und völlig unterzuckere, fange ich an zu zittern und zu schwitzen. Ich bin plötzlich unfähig klar zu denken, werde mitunter beängstigend emotional, mir ist einfach nur schlecht. So muss sich Entzug anfühlen, denke ich dann manchmal. Ich gehöre übrigens zu den Diabetikern,
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Und tanzen gehe ich oft. Auch alleine. Den Club verlasse ich hingegen öfters in Begleitung. Das ist so eine Seite von mir, über die ich eigentlich auch nicht spreche. Ich merke das bereits jetzt beim Schreiben. Es fällt mir schwer, die Worte auf dem Papier festgehalten zu sehen, die mir durch den Kopf schwirren. Und dann denke ich an die Menschen, die nicht einmal in ihren Gedanken wirklich frei sind. Immerhin habe ich diese Nächte, in denen ich alleine losziehe (selbst wenn ich nicht so gerne darüber spreche…). Aber warum auch? Die Gesellschaft ist ohnehin nicht emanzipiert genug – als Frau bist du unten durch. Aber ich brauch das. Ich hab Probleme echte Gefühle zuzulassen. Also versuche ich die Lücke zu füllen. *Hier aber können wir es wagen. In dieser stillen verständnisvollen Beziehung; ich bin froh, dass du da bist und hoffe es geht dir gut. In diesem anonymen Zimmer müssen wir die gewöhnlichen, zerknirschten Masken nicht tragen, die uns am Leben erhalten und uns abstumpfen lassen. Hier in diesem Moment sind wir schöne Geschöpfe der Nacht und unsere Gedanken und Worte sind Juwelen, bewacht vom Mond.* Im Prinzip läuft es immer ziemlich ähnlich ab: man bemerkt sich, blickt den anderen an, lächelt, flirtet – man kommt sich näher und fängt an, zusammen zu tanzen… und auch eben mehr. Anonyme Zärtlichkeiten. Manchmal möchte ich überhaupt nicht sprechen. Findest du das jetzt billig? Ich finde es in den Momenten ziemlich intensiv – sich einzulassen, hinzugeben, wahrzunehmen. Wir tanzen zusammen – er steht hinter mir und ich vor ihm. Er greift mir von hinten unter das Shirt, um seine flache Hand beim Tanzen auf meinen Bauch zu legen. CUT. Und schon sind wir wieder bei der Pumpe. Wie erklär ich das jetzt? *Du hast in deinem Zimmer gesessen und dir diesen Moment ausgemalt; jetzt wo der Zeitpunkt gekommen ist, ist nichts so, wie du es dir vorgestellt hast. Alle Sprüche, die du dir aufgespart hast, sind vergessen. Du hast gedacht, du würdest richtig locker sein und jetzt bekommst du nicht einmal den Mund auf.*Ich hasse es, wenn das passiert – und es passiert unweigerlich. Es sind diese Dinge, die den Moment kaputt machen und mich zurückholen. Zumal ich in der Situation gar keine Lust habe,irgendwem irgendwas zu erklären. Naja- um wirklich ganz aufrichtig zu sein, muss ich erwähnen, dass ich mich seit einer Woche wieder spritze. Meine Insulinpumpe liegt im Bücherregal. Ist halt alles eine Frage der Prioritäten – soll heißen, die Frage nach dem, was einem eben lieber ist. Unflexibel ohne Spritzen oder Spritzen und dafür flexibel; der Diabetes bleibt so oder so. Und das nächste Wochenende rückt näher. Heute Abend kommt eine Freundin zu Besuch, die ich zum Essen eingeladen habe. Ich denke das wird eine lange Nacht.
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Die Vergangenheit lebt Fotografie und Text
Jan Zappner
Einmal im Jahr treffen sich tausende ultraorthodoxe Juden der ganzen Welt auf einer Pilgerfahrt im ostpolnischen Lezajsk. Dort beten sie zur Seele des heiligen Zaddik (Rabbi) Elimelech. Sie glauben,dass die Seele eines Toten anseinem Todestag auf die Erde zurückkehrt. Ein „spirituelles Feuerwerk“ sei diese Erfahrung, wie ein Pilger erzählt. Doch bleiben will im Land ihrer Vorväter niemand. Auch wenn Lezajsk vor dem Krieg zur Hälfte jüdisch besiedelt war. Anschließend besuchen sie die Stätten des Grauens in Auschwitz, Treblinka oder Sobibor und fliegen zurück in ihre Heimat.
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er milde Schein hunderter Kerzen hüllt Moti Glueck in ein warmes, gelbes Licht. Mit einem leichten Lächeln schiebt er seine Kippa zurecht und schaut der Flamme seiner Kerze zu, wie sie sanft hin- und her tänzelt. „Extra aus New York mitgebracht, um sie hier für Elimelech anzuzünden“, sagt Glueck und drückt sich mit aller Kraft durch die Menschenwand Richtung Grabkammer. Wie tausende anderer orthodoxer und chassidischer Juden ist er heute gekommen, um zur Seele des heiligen Zaddiks Elimelech zu beten. Es ist der 21.Adar des jüdischen Kalenders und „Jahrzeit“, der Todestag des Zaddiks Elimelech, der 1787 in Lezajsk starb. In der Grabkammer drängen sich hunderte Männer in schwarzen Mänteln und Hüten. Besonders eng ist es um das mit einem goldenen Gitter versehene Grab Elimelechs. Jeder versucht, so nah wie möglich an den verehrten Zaddik heranzukommen. Tief versunken lesen sie Gebete aus dem Buch der Psalme und bewegen dabei ihren Oberkörper rhythmisch vor und zurück. Ihr asynchrones Gemurmel hallt von den kahlen Wänden wider und erfüllt den Raum mit einem tiefen Rauschen. Moti Glueck steht inmitten der Menge und ist endlich am Ziel angekommen: „Hier spüre ich etwas viel Größeres als mich. Das macht mich demütig.“ Andere sind weniger zurückhaltend und bezeichnen es als „spirituellen Vulkan“,
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an diesem Ort beten zu dürfen. Elimelech Weissblum von Lezajsk (1717-1787) gilt als einer der Gründerväter des Chassidismus. Nach mehreren Jahren als Wanderprediger in Galizien ließ er sich 1772 in Lezajsk nieder. Dort erweiterte er die grundlegende Idee des Chassidismus. Danach soll im Mittelpunkt einer Gemeinde ein Rabbi stehen, der seine Anhänger führt und gleichzeitig lehrt. Sein Ruhm verbreitete sich schnell auch außerhalb der Stadtgrenzen. Juden aus ganz Galizien pilgerten nach Lezajsk, um bei ihm Rat zu suchen. Schließlich wurde er als besonders weiser Rabbi von seinen Anhängern Zaddik genannt. Seither werden außergewöhnliche Rabbiner von den Chassiden als Zaddiks verehrt.
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or 200 Jahren war eine Pilgerfahrt ein beschwerliches und auch gefährliches Unterfangen. Heute ist sie dank Isaak Reichberg eine durchorganisierte, bis in die letzte Minute geplante Reise. Er steht am Fuße des eingezäunten Friedhofs und krault sich zufrieden den dichten, grauen Bart. Sein letzter Reisebus ist eingetroffen und nun strömen die Insassen laut diskutierend Richtung Grabhügel an ihm vorbei. Die Skepsis war groß, als sein Vater vor 32 Jahren das erste Mal Reisetouren zu jüdischen Stätten in Ostpolen anbot. „Sie bringen uns um!, dachten fast alle“, sagt Reichberg. Nur 8 Pilger waren damals mutig genug, sich auf das
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Bis vor dem 2. Weltkrieg war Lezajsk so ein typisch galizisches „Schtetl“. Von den 5000 Einwohnern waren 3000 Juden. Heute kommen sie vor allem zur Jahrzeit des Zaddiks in das verschlafene Städtchen an der polnischen Ostgrenze zur Ukraine. Eine surreale Situation nicht nur für Einheimische, die als Zaungäste jede Pilgerfahrt in respektvollem Abstand miterleben. „Diese Bilder kenne ich sonst nur noch aus Büchern“, erklärt Macej, „So wie wir unseren Papst in Rom haben, kommen sie eben nach Lejazk.“ Für die älteren Juden ist diese Szenerie jedoch eine lebendige Erinnerung aus der Kindheit. Geschichten von früher hat Jungreis Teitelbaum von ihrer Mutter im Bus auf dem Weg nach Lezajsk erzählt bekommen. Allerdings waren das keine Gute-Nacht-Geschichten.
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enen Wald hat sie wieder erkannt, in dem sie sich vor 66 Jahren vor den faschistischen Häschern versteckt hielt. Von Hunger und Kälte und vor allem der Angst hat sie erzählt. Schwer vorstellbar sei das gewesen, so Teitelbaum. Deshalb ist sie auch stolz, in Lezajsk immer wieder die aufkeimende Kraft des jungen Judentums zu spüren. „Wir bauen auf dem auf, was wir damals verloren haben. Das ist unsere Stärke!“, sagt sie. Auf diese Stärke setzt auch der Reiseunternehmer Isaak Reichberg.Mithilfe der „Reichberg Stiftung“ bewahrt
Wagnis einzulassen. Heute sind es 500. Die Angst der Elterngeneration, die die Vernichtung der jüdischen Kultur noch miterlebte, spielt bei ihnen keine Rolle mehr. Sie kommen aus Neugier und der spirituellen Erfahrung wegen. An das Grab von Elimelech Weissblum pilgern das ganze Jahr über Juden. Besonders viele kommen jedoch zur Jahrzeit. Die orthodoxen Juden glauben, die Seele eines Toten kehre alljährlich an seinem Todestag an den Platz zurück, an dem der Körper begraben liegt. Seit 1787 pilgern deshalb Menschen nach Lezajsk, um ihre Sorgen im Zwiegespräch mit der Seele von Zaddik Elimelech zu teilen. Bei diesen Seelenbegegnungen lernen die Pilger aus der über 200-jährigen Erfahrung des Zaddiks und erklimmen im besten Fall eine weitere Stufe in der eigenen spirituellen Entwicklung. Zum Dank wird eine Kerze für die Seele entzündet.
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enn ich was für ihn mache, macht er auch was für mich“ erklärt Moti Glueck, der seine Gebete in der Grabkammer beendet hat. Dabei symbolisiert das Abbrennen der Kerze den Übergang der Seele aus dem physischen Körper in die nicht greifbare spirituelle Welt. Zusätzlich wird ein mit Wünschen beschriebenes Stück Papier, der „Kvitel“, nach dem Beten auf den Grabstein des Zaddiks geworfen. Er verleiht den Bitten nach Gesundheit für die Familie und Erfolg
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„Die Menschen erleben in Lezajsk die Vergangenheit und sind glücklich. Was gibt es Schöneres, als mit seiner Arbeit Menschen glücklich zu machen?“ Dann dreht Reichberg sich um und reiht sich in den Strom der Pilger ein. er jüdische religiöse Stätten in Polen vor dem Vergessen. „Auf meinen Reisen durch Ostpolen musste ich feststellen, dass auf ehemaligen Friedhöfen jetzt Garagen standen“, sagt er. Andere Friedhöfe waren völlig vergessen und verwahrlost. Nicht immer ist eine vollständige Rückgabe oder Wiederherstellung möglich. So wie in dem kleinen Städtchen Lelow in der Nähe von Tschenstochau. Dort stand inzwischen ein Supermarkt auf dem jüdischen Friedhof. Also ließ Reichberg einfach einen Gebetsschrein in eine Ecke des Supermarktes einbauen. Lezajsk ist dabei nur ein Teil eines Puzzles, das Reichberg mit Hilfe der Reiseagentur und der Stiftung zusammenlegen will. „Die Menschen erleben in Lezajsk die Vergangenheit und sind glücklich. Was gibt es Schöneres, als mit seiner Arbeit Menschen glücklich zu machen?“, sagt Reichberg. Dann dreht er sich um und reiht sich in den Strom der Pilger hinauf zur Grabkammer ein. Zaddik Elimelech Weissblum wartet.
im Geschäft die nötige Festigkeit im Reich des Spirituellen. Die Geburt des Chassidismus begann mit einer Katastrophe. 300.000 Juden wurden im Jahr 1648 von kosakischen Horden während des Unabhängigkeitskampfes von Polen in einem Blutrausch in Galizien umgebracht. Auch Synagogen, Jeshiwas (jüdische Schulen) und Bibliotheken wurden dem Erdboden gleichgemacht und damit der Mittelpunkt des geistigen und kulturellen Lebens zerstört. Dieses Vakuum an Spiritualität füllte der Baal Shem Tov (1689– 1760) mit der Lehre des Chassidismus. Danach sei Gott überall und ein religiöses Gefühl könne auch durch gemeinsame Gebete, Gesang und Tänze erlebt werden. Diese Lehre traf ins Herz der ungebildeten und verarmten Juden Galiziens. Innerhalb kürzester Zeit sammelten charismatische Anführer zahlreiche Anhänger um sich. Gemeinsam mit Polen und Ukrainern wohnten sie in den so genannten „Schtetls“.
Die Skepsis war groß, als Isaak Reichbergs Vater vor 32 Jahren das erste Mal Reisetouren zu jüdischen Stätten in Ostpolen anbot.“ Sie bringen uns um!, dachten fast alle“, sagt Reichberg. Nur 8 Pilger waren damals mutig genug, sich auf das Wagnis einzulassen. Heute sind es fünfhundert.
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Joachim Zimmermann Mode Nina Sophie Gekeler Model Stef
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der tanzpalast Jedes Wochenende bringen Busse aus ganz Deutschland Rentner nach Berlin zur Nummernrevue in den Friedrichstadtpalast. Einst Vorzeigeballett der DDR, entspricht er heute nicht mehr modernen Rentabilit채tsanspr체chen. Ein Einblick.
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Dietmar Spolert Text David Denk
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ünter Strohbach ist nicht zu sprechen, als er den Besucher an der Pforte abholt. Er ist nur die Eskorte. Seit 15 Jahren arbeitet Strohbach am Friedrichstadtpalast, davon 14 Jahre lang als Pressesprecher. Er hätte also bestimmt viel zu erzählen. Genau deswegen hatte Nicola Pattberg, Strohbachs zweite Nachfolgerin binnen eines Dreivierteljahrs, ihn als Gesprächspartner vorgeschlagen - um ein paar Tage später mitzuteilen, Herr Strohbach stehe nun doch nicht zur Verfügung, er sei ja nur noch freier Mitarbeiter des Hauses, was er freilich auch schon zum Zeitpunkt des ersten Telefonats war und ihn zudem als Gesprächspartner nicht weniger interessant macht - eher im Gegenteil. „Dazu kann ich Ihnen nichts sagen“, ist Strohbachs einsilbige Reaktion auf den verhängten Maulkorb, während er den Besucher durch die weißgetünchten Endlosflure des Ostberliner Revuetheaters lotst und ihm dabei an den Türen stets den Vortritt lässt. Strohbach schweigt, weil sein neuer Chef das so will. „Ich bin die Stimme des Hauses“, hatte Geschäftsführer Bernd Schmidt im November in seiner Antrittsrede klar gestellt - um „Vielstimmigkeit“ in der Außendarstellung des Palasts zu verhindern, sagt er. Der Staat bin ich, hieß das bei Ludwig XIV. Das Signal war klar: Jetzt wird durchregiert. Seit seinem Amtsantritt hat Schmidt 40 von knapp 300 Stellen gestrichen, um sein Haus wieder profitabler zu machen. Drei Millionen Euro Miese machte der Friedrichstadtpalast 2007 - bei einer durchschnittlichen Auslastung von 70 Prozent. Bei 10 oder gar 20 Prozent weniger hätte er das Defizit verstanden, aber so? „Da stimmt die Statik“ nicht, war Schmidt überzeugt - und stabilisierte seinen Laden, indem er 40 Mitarbeitern den Boden unter den Füßen wegzog. Mit den gestrichenen Stellen habe er 1,7 Millionen Euro an Personalkosten eingespart, rechnet Schmidt vor. Nein, als „harter Hund“ sehe er sich nicht, wird er später in seinem Büro sagen. „Ich habe nie Leute entlassen, um mich zu profilieren.“
„Ich bin die Stimme des Hauses“, hatte Geschäftsführer Bernd Schmidt im November in seiner Antrittsrede klar gestellt.
Zunächst führt Strohbach, ein alerter Frühsechziger, der die Ärmel seines orangefarbenen Pullovers zupackend hochgeschoben trägt, den Besucher allerdings in das gemeinsame Büro von Jürgen Nass, ebenfalls kurz vor der Pensionsgrenze, und Roland Welke, 39, die in Schmidts Umbauplänen eine zentrale Rolle spielen. Das Regieduo inszeniert seit 16 Jahren gemeinsam, aber auch immer wieder einzeln am Friedrichstadtpalast, ist also ein Glücksfall für Schmidt, der sich mit ihnen jede Woche zum „Jour Fixe“ trifft, wie Nass/Welke die Besprechungen etwas hochtrabend nennen: Zum einen verfügen die Regisseure über die künstlerische Credibility, an der es
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dem promovierten Wirtschaftswissenschaftler Schmidt fehlt; und außerdem kann dieser durch die unausgesprochene Beförderung der beiden in die künstlerische Leitung des Hauses ohne viele Worte signalisieren, dass er nicht gegen seine Mitarbeiter arbeiten will, sondern mit ihnen. Besonders bei Jürgen Nass rennt er damit offene Türen ein. Er war bei Schmidts Vorgänger Thomas Münstermann in Ungnade gefallen und entlassen worden. „Der Newcomer aus Osnabrück, der Berlin neu erfinden wollte“, nennt Nass seinen ehemaligen Chef, der den Friedrichstadtpalast zwar seit Monaten nicht mehr betreten hat, dort aber immer noch rumgeistert: als Schreckgespenst und Buhmann. Es gibt in diesen Tagen im Friedrichstadtpalast nur ein größeres Reizwort als den Namen des früheren Chefs: Krise. Neuanfang - das schon, aber Krise? Bloß nicht!
Neuanfang - das schon, aber Krise? Bloß nicht! Optisch muss man sich Nass und Welke als Pat und Patachon des Friedrichstadtpalasts vorstellen: Nass, klein und knubbelig, sieht man seine Vergangenheit als Solotänzer an der Berliner Staatsoper nicht unbedingt an, und Welke, vergleichsweise groß und drahtig, scheint all die Bücher, die er im Laufe des Gesprächs erwähnt, auf dem Trimm-Dich-Fahrrad gelesen zu haben. Welke ist der Kopf des Duos, Nass der Bauch. Sie brauchen einander - allein schon weil Welke auf Proben so ungern rumschreit und Nass‘ Händchen für den Massengeschmack ohne den intellektuellen Input seines Dramaturgen nur halb so viel wert wäre. Ihre Symbiose spiegelt sich am Tag des Besuchs sogar in der Kleidung: Nass trägt ein kurzärmliges schwarzes T-Shirt und Welke ein langärmliges weißes - wie sie so nebeneinander sitzen, muss man an Yin und Yang denken. Und Gleichgewicht ist es, was der Friedrichstadtpalast im Moment am dringendsten braucht. Der Friedrichstadtpalast sucht seine Mitte und hofft sie in der demonstrativen Abkehr vom Kurs des ehemaligen Intendanten zu finden. „Schluss mit dem Theater“ fasste eine Berliner Tageszeitung die von Schmidt zu Beginn seiner Amtszeit ausgegebene Parole zusammen. „Unser Ziel ist Überwältigung“, sagt Jürgen Nass, „dass die Zuschauer das Theater verlassen und sagen: Boah! Das war toll - in der Farbe, im Kostüm, im Bühnenbild.“ Nach den Musiktheaterversuchen Münstermanns ist die Rückkehr zur klassischen Nummernrevue also beschlossene Sache. „Münstermann wollte das Fahrrad neu erfinden und hat statt Reifen viereckige Kisten dranmontiert“, sagt Nass, der davon überzeugt ist, das der Bilderreigen zeitgemäßer ist als der Begriff klingt: „Madonna-Konzerte sind im Grunde Revuen.“ Dass weite Teile des Palast-Stammpublikums mit diesem Namen eher die Mutter Jesu verbinden als eine Musike-
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rin, macht die Sache nicht unbedingt leichter. „Wir können uns nur schrittweise vom alten Friedrichstadtpalast entfernen und neues Publikumspotenzial einbeziehen“, sagt Welke. Im Vorzimmer unterhält Günter Strohbach einige Sekretärinnen. Dem Gelächter nach zu urteilen, macht er einen guten Job.
Grundsatzfragen verbieten sich da von allein: Die Revue muss eine Zukunft haben, damit der Friedrichstadtpalast eine Zukunft hat. Die Hoffnungen des Friedrichstadtpalasts ruhen auf der nächsten Show, die im Oktober Premiere haben soll und von der es bislang kaum mehr zu sehen gibt als den weißen Zettel, den Bernd Schmidt dem Besucher in seinem weitläufigen Büro präsentiert. Es ist eine Art Strategiepapier - auch wenn darauf nur drei Wörter stehen: „Qi - eine Palast-Phantasie“. „Neue Zuschauer gewinnen“, sagt Schmidt und zeigt auf „Qi“, „diese große Projektionsfläche, auf die sich jeder seinen eigenen Reim machen soll“; „ohne die alten zu verlieren“, ergänzt er und deutet auf „Eine Palast-Phantasie“. Schmidt, Mitte 40, nachtblauer Einreiher, gestreiftes Hemd, offener Kragen, hat mit seiner Verpflichtung am Friedrichstadtpalast eine Einladung zum Eiertanz angenommen. Überraschen ohne zu verschrecken - wie das gehen soll und ob das überhaupt funktionieren kann, wissen die Verantwortlichen im Palast selbst nicht so genau. „Wir haben kein Patentrezept“, gibt Roland Welke zu. Aber sie müssen es versuchen. Die Verantwortung ist groß. Grundsatzfragen verbieten sich da von allein: Die Revue muss eine Zukunft haben, damit der Friedrichstadtpalast eine Zukunft hat. Es ist wie im Profifußball. Wenn‘s nicht läuft, gibt man dem Trainer den Laufpass und hofft auf Besserung unter dem Nachfolger. Die Kraft des Neuanfangs kann groß sein - ob sie auch stark genug war, stellt sich allerdings erst heraus, wenn man es probiert hat. Es ist ein Vabanquespiel. Der smarte Kulturmanager Bernd Schmidt ist der Gegenentwurf zu seinem Vorgänger Thomas Münstermann, dem Regisseur und Bühnenautor, der zum Gespräch in einem Kreuzberger Café in Jeans und senffarbenem Cordhemd erscheint, darunter ein weißes T-Shirt mit ausgeleiertem Kragen, und seinen achtjährigen Sohn Ludwig mitgebracht hat, weil der nun mal gerade zu Besuch bei Papa in Berlin ist. Thomas Münstermann hat in den vergangenen Monaten das gemacht, was auch Fußballtrainer nach ihrer Entlassung machen: Wunden lecken und überlegen, wie es weitergehen soll. Weder über geplante Projekte noch über den Friedrichstadtpalast möchte Münstermann eigentlich sprechen, hat er zuvor am Telefon gesagt, und nutzt dann doch die Gelegenheit trotz des Dauerquengelns seines Sohns zwei Cappuccinos lang, seine Sicht der Dinge darzustellen, ohne das
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eigene Scheitern zu beschönigen: „Ich habe es nicht geschafft, mein Konzept umzusetzen und so zu kommunizieren, dass die Mitarbeiter es mittragen.“ Es ist Münstermann wichtig, ein fairer Verlierer zu sein und nicht nachzutreten. Das unterscheide ihn von seinem Nachfolger. „Ich kenne keinen Theaterleiter, der sich so klar von seinem Vorgänger distanziert hat wie Bernd Schmidt“, sagt Münstermann und gibt diesem einen Rat: „Man definiert sich über seine eigenen Taten, die sollten für sich sprechen.“ Die Verpflichtung von Lido-Star Sabine Hettlich für die aktuelle Show „Glanzlichter der Revue“ und das Konzept dafür sowie die soliden 70 Prozent Auslastung im Jahr 2007 seien jedenfalls - anders als immer wieder dargestellt - sein Verdienst. Gedankt hat ihm das keiner - auch nicht, dass er „mit Haltung und Fairness das Schiff übergeben“ habe, obwohl, wie Münstermann betont, klar gewesen sei, dass es sich nach seiner Abberufung „in ein Fahrwasser begibt, das ich nicht angesteuert hätte.“ Münstermanns künstlerisches Ziel war es, „das unglaubliche Nebeneinander, Durcheinander und Übereinander von verschiedenen Strömungen in Berlin in Unterhaltungsstrukturen zu übersetzen“, „Zeitwirklichkeit zu reflektieren“. So hat er die Musik für die Produktion „Rhythmus Berlin“ unter anderem von Peter Thiessen komponieren lassen, dem Sänger der Band Kante. „Ich bin selber 52 und Peter ist auch nicht mehr 20“, begegnet er dem Vorwurf von Nass und Welke, er habe den Friedrichstadtpalast in einen Jugendclub verwandeln wollen. „Es ging mir immer darum, das Haus zu öffnen und nicht um Schockeffekte“, aber, stellt Münstermann klar: „Ich bin engagiert worden, um das Theater ästhetisch nach vorne zu entwickeln.“ Kunstpause. „Das ist aber jetzt nicht mehr das Ziel.“ Und dann, nachdem all die Kritik und all der Frust aus ihm herausgebrochen ist, sagt Münstermann noch einen erstaunlichen Satz: „Ich liebe dieses Theater nach wie vor.“ Nicht erwiderte Liebe kann einem sehr lange nachhängen.
„Wir sind einmalig auf der ganzen Welt“, freut sich Schmidt, ein reines Revuetheater mit 1895 Sitzplätzen und ohne Schmuddelkram. Münstermanns Nachfolger Bernd Schmidt lässt in seinem Büro keinen Zweifel daran aufkommen, wer für ihn die Männer der Zukunft im Friedrichstadtpalast sind: Jürgen Nass und mehr noch Roland Welke. „Die beiden haben bislang eigentlich nicht das machen können, was sie können“, ist Schmidt überzeugt. „Ich bin sehr, sehr froh, dass sie da sind“ - wohl auch weil sie nicht so teuer sind wie die Verpflichtung eines revueerfahrenen Gastregisseurs, den man zudem erst mal finden müsste. „Wir sind einmalig auf der ganzen Welt“, freut sich Schmidt, ein reines Revuetheater mit 1895 Sitzplätzen
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und ohne Schmuddelkram, eine Arena für eine Kunstform, die „perfekt mit den Sehgewohnheiten der MTV-Generation“ harmoniere. Theater für Menschen ohne Geduld, könnte man auch sagen, Zapping mal anders. Um jüngere Zuschauer davon zu überzeugen, müsse man diese jedoch erstmal dazu bringen, den Friedrichstadtpalast überhaupt zu betreten, gibt Thomas Münstermann zu bedenken, der sich, was die Aktualität der Kunstform Revue angeht, mit Schmidt erstaunlich einig ist.
Es gibt Ravioli mit Sahnesauce und diese Ost-Rote Grütze, die eher pink ist. „Sprechen Sie frisch von der Leber weg“, instruiert Schmidt seine Mitarbeiter und verabschiedet sich. Und das sei verdammt schwierig. „Ich finde nichts hip, wo Bustouristen hingehen“, beschreibt Münstermann die bei der angepeilten Klientel weit verbreitete Einstellung. Dass der Anteil von Bustouristen in den letzten Jahren von etwa einem Drittel auf 15 Prozent gesunken ist, viele Reiseveranstalter den Friedrichstadtpalast mangels Nachfrage aus dem Programm genommen haben, spielt da keine Rolle. Es geht ums Gefühl: Das ist was für meine Oma, nicht für mich. Hans-Jochen Rosenbauer, den am Friedrichstadtpalast alle nur „Honsa“ rufen, und Tobias Engelmann sind privat auch nicht gerade Revuefans, haben sich jedoch dran gewöhnt. Der Hydrauliker und der Bühnenmeister arbeiten seit dem Umzug des Friedrichstadtpalasts in den Neubau am nördlichen Ende der Friedrichstraße im Jahr 1984 hinter den Kulissen und sehen jede Produktion zigfach. „Hinter ‚Glanzlichter‘ kann ich hundertprozentig stehen“, sagt Engelmann, Honsa nickt, die Show sei durch die Umstellung einiger Passagen nach dem Weggang Münstermanns sogar „qualitativ nochmal besser geworden“. Dass er die beiden überhaupt kennenlernt, hat der Besucher Bernd Schmidt zu verdanken, der den Verdacht nicht auf sich sich sitzen lassen will, dass der Friedrichstadtpalast sich gegenüber der Presse abschottet. Kaum hat man sich darüber beschwert, dass die Pressesprecherin nur Interviews mit der Leitungsebene vermittelt, eilt Schmidt nebst Eskorte durch den Palast, auf der Suche nach der Stimme des Volkes. In der Kantine wird er fündig. Dort essen Honsa und Rosenbauer noch schnell zu Abend, bevor sie mit den Vorbereitungen für die Vorstellung in rund zwei Stunden beginnen. Es gibt Ravioli mit Sahnesauce und diese Ost-Rote Grütze, die eher pink ist. „Sprechen Sie frisch von der Leber weg“, instruiert Schmidt seine Mitarbeiter und verabschiedet sich. Die Eskorte kündigt an, in einer Viertelstunde wiederzukommen. Im Gespräch mit Honsa und Rosenbauer ist viel von Vertrauen die Rede und wie man es verspielt. Von Münstermann hätten
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sich die Techniker nicht ernst genommen gefühlt, erinnern sie sich. „Wir haben uns zu reinen Befehlsempfänger degradiert gefühlt“, sagt Rosenbauer. Und Honsa ergänzt: „Münstermann hat sich nicht auf unseren technischen Sachverstand verlassen - auch wenn wir gesagt haben, dass wir diesen Stepptanz vertikal am Eisernen Vorhang beim besten Willen nicht hinkriegen.“ Er habe alles, auch das Unmögliche, immer ausprobieren wollen und die Techniker damit zur Weißglut getrieben. Die Zusammenarbeit sei schwierig gewesen, aber kein Vergleich zur Amtszeit des Amerikaners Julian Herrey von 1992 bis 1994. Seine Produktion „JazzLeggs“ war ein Fiasko. Zwei Drittel der Plätze blieben leer. „Da konnten Sie jeden Abend die Zuschauer zählen“, sagt Honsa, der darüber nur im Rückblick lachen kann, denn das ging an die Substanz des Hauses, gefährdete seinen Job und den seiner Kollegen. „Wir waren uns ziemlich einig“, sagt Rosenbauer, „dass der das Haus abwickeln sollte.“ Unter diesem Verdacht steht der aktuelle Chef nicht - auch wenn die 40 gestrichenen Stellen nach Meinung von Thomas Münstermann schon ein ziemlicher Schlag ins Kontor sei. „Wer mit 285 Mitarbeitern knapp 400.000 Zuschauer im Jahr generiert, kann nicht weiter runtergehen - zumal wir ja ausschließlich Eigenproduktionen zeigen“, ist er überzeugt. Die Eskorte ist wieder da, setzt sich mit an den Tisch und wartet stumm vor sich hin. Warum erzählt er keinen Witz wie vorhin im Vorzimmer von Nass/Welke? Erst als er den Besucher wieder übernimmt und hinausführt, beginnt Günter Strohbach zu reden. Reden? Nein, plaudern trifft‘s eher. Er ist wie ausgewechselt. Fehlt nur noch, dass er wirklich noch einen Witz erzählt. Ob man zufrieden sei? Noch Fragen habe? Vielleicht noch eine Tänzerin treffen wolle? „Das kriegen wir alles hin“, sagt Strohbach. „Dafür sind wir ja da.“
„Wir produzieren hier, was kein Mensch braucht - aber es ist schön.“
Am Bühneneingang parken zwei Kleiderständer. An dem einen hängen die kleinen weißen Engelsflügel und an dem anderen die großen orangefarbenen, die sich die leicht bekleideten Tänzerinnen, für die der Friedrichstadtpalast im Osten der Republik weltberühmt ist, gleich umschnallen werden. Ohne sie und ohne das Scheinwerferlicht sehen sie ein bisschen gerupft aus. Zum Leben werden sie erst wieder auf der Bühne erwachen. Bevor Günter Strohbach den Besucher zum Abschluss noch genau dort hinführt, ins Allerheiligste des Friedrichstadtpalasts, worauf er so stolz ist, als hätte er die Bühne mit seinen eigenen Händen gebaut, sagt er einen Satz, der Faszination und Misere des Friedrichstadtpalasts ziemlich knackig zusammenfasst: „Wir produzieren hier, was kein Mensch braucht - aber es ist schön.“
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