Theodor W. Adorno

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Theodor W. Adorno (1903–1969)

Form in der neuen Musik (1965) Für Pierre Boulez

Der Begriff der Form bezieht sich, als ästhetischer, auf alles Sinnliche, wodurch sich der Gehalt eines Kunstwerks, das Geistige des Gedichteten, Gemalten, Komponierten verwirklicht. Form ­unterscheidet sich von dem, was geformt wird, Inbegriff dessen, was es zu Kunst überhaupt macht; der Momente insgesamt, durch welche ein Kunstwerk als ein in sich Sinnvolles sich organisiert. Demgegenüber ist die Bedeutung des Wortes Form in der Musik herkömmlicherweise prägnanter, enger. Sie erstreckt sich auf die in der Zeit sich realisierenden musikalischen Verhältnisse. Vorab wird dabei an die Artikulation ausgedehnterer Zusammenhänge gedacht. Diese reichen jedoch, wie allbekannt, bis in die kleinsten Zellen des zeitlich sich Ereignenden, Thema und Motiv, hinein. Der schul­ mäßige Gebrauch des Wortes Formenlehre, der zunächst Typen wie Lied, Variation, Sonate, Rondo, allenfalls auch Fuge gilt, genügt, die engere Bedeutung von Form zu demonstrieren. Jener Sprach­ gebrauch hat seinen Grund in der Sache. Was man in der Musik, und nicht nur dem Unterricht zuliebe, unter Form verstand, mehr oder minder verbindliche Schemata, innerhalb derer die Komponisten sich ergingen, waren in weitem Maß solche der zeitlichen Ordnung. Andere Dimensionen, wie Melodiebildung und Harmonik, waren zwar ebenfalls durch allgemeine Kategorien geprägt. Aber daraus war ein konkreter Vorrat spielmarkenähnlicher Mittel geworden, die man handhabte; Form verfügte über sie gleichwie über ein M ­ aterial.

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Die Totalität des Erscheinenden dagegen, welche der ­ästhetische Formbegriff meint, also die Konkretion des Kunstwerks in sich, sollte nicht schematisch sein. Die Einschränkung des ­musikalischen Formbegriffs folgte aus der Gleichsetzung von Form und Schema gegenüber dem spezifisch sich Zutragenden. Gewiß waren die ­traditionellen Formen, die Schemata selbst, Schemata nicht nur. Musik kennt keinen der äußeren Welt unmittelbar entlehnten ­gegenständlichen Inhalt. Dafür hatte in den überlieferten Formen Inhalt sich sedimentiert. So ruft das Rondo, vergeistigt, den Rund­ tanz mit dem Unterschied von Couplet und Refrain herauf. Es als Form verstehen, hieß stets auch, dies Verhältnis darin spüren, ihm sich anschmiegen, es abwandeln. Die Kontraste von Tutti und Solo, wie sie im Rondo stecken, von Einzelnem und einem Gesamten, wurden über das Konzert dynamisiert und wesentlich für den in der neueren Zeit entscheidenden Formtypus, die Sonate. Die geheime Inhaltlichkeit der Form beseelt die subtilsten Nuancen des Verlaufs, auch in bereits sehr freien Gebilden. Zum Inhalt wurden zunehmend die Einzelereignisse. Musikalität war wohl nicht zum geringsten Teil die Fähigkeit, die sublimierten Inhalte in der Form ebenso wieder­ zuentdecken wie des Wechsels ihrer Funktion, ihrer Einwanderung in die spezifische Gestalt innezuwerden. Waren aber sogar die über­ lieferten musikalischen Formen, ihrem Sinnesimplikat nach, allemal auch Inhalt; wurde jeglicher musikalische Inhalt einzig in ihnen oder ihren Modifikationen laut, so zeugt das davon, daß bereits in der traditionellen Musik Form und Inhalt, vor allem sogenannten Ausdruck, durcheinander vermittelt waren. Der Rang der Werke bestimmte sich danach, wie tief jene Vermittlung gelang; wie sehr die Formen durch den spezifischen und spontanen Inhalt, das ­Geschehende, sich rechtfertigten, anstatt ihn bloß äußerlich in sich zu empfangen, und umgekehrt, wie tief das musikalisch Einzelne den Formen sich anmaß, in denen es sich manifestierte. Diese Wechselwirkung, der versöhnende Austrag der Spannung zwischen Form und Inhalt, war das Lebenselement des Wiener Klassizismus von Haydn, Mozart und Beethoven. Verlangte Arnold Schönberg von Musik die Herstellung von Homöostase, Spannungsausgleich, so bekannte damit noch das Ideal der zweiten Wiener Schule sich zum überkommenen. Die Spannung zwischen einem ‚Inhalt‘, nämlich den musikalischen Einzelgestalten, und einer ‚Form‘, nämlich ihrer Integration in der Zeit, zum Prinzip der Komposition zu erheben, umschreibt wohl den Geist der Sonate insgesamt. Sie wurzelt in der während der letzten dreihundertundfünfzig Jahre selbstverständlichen

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Sprache der Musik, der Tonalität. Diese ging, trotz aller individuellen Durchgestaltung, objektiv der Individuation voraus. Die einfachsten tonalen Verhältnisse, wie sie in der Kadenz sich konzentrieren, waren die Urbilder dessen, was in der Form, ihrerseits der Synthesis von Form und Inhalt, sich entfaltete.

Abstrakt dürfte man, wie wohl August Halm zuerst erkannte, die Spannung als die zwischen dem Allgemeinen und Besonderen der Komposition definieren. Sie bildete, was Benjamin das Ideal des Problems nannte. Musik lebte im Austrag dieser Spannung. Dadurch erwarb sie, sowohl gegenüber dem leeren Formalismus wie gegen­ über der blinden Zufälligkeit des Vereinzelten, ihre Substantialität. Aber die Spannung wuchs bis zum Zerreißen an, und zwar eben indem sie ausgetragen wurde. Sie stellte seit dem neunzehnten Jahr­ hundert die Komponisten vor die Aufgabe, des toten Beiwerks fort­ schreitend sich zu entledigen. Formalismus wurde zum schlimmsten Urteil über den musikalischen Formbegriff. Das Einzelne konnte, um sich zu genügen, weniger stets auf seine Präformation durchs Allgemeine, durchs tonale Idiom, sich verlassen. Die harmonischen Mittel entfernten sich unaufhaltsam vom verfügbaren Vorrat der Akkorde und Akkordverbindungen. Die steigende Allergie der Komponisten gegen die Kadenzformel der Harmonielehre ist dafür nur das bekannteste Symptom; der Sachverhalt war universal. Unterm Ausdruckszwang, dem Bedürfnis des musikalischen Subjekts, in ­jedem musikalisch Einzelnen ungeschmälert gegenwärtig zu sein, wurde, spätestens seit dem Tristan, das Idiom bis in alle akkordischen Einzelbildungen durchgepflügt, bis es als Idiom auseinanderbrach. Vom Generalbaßzeitalter an hatte die Melodik funktional von der Harmonik abgehangen. Solche Abhängigkeit war die Bedingung der allmählichen Vereinheitlichung der verschiedenen musikalischen Dimensionen. Zu ihr trug auch die Spezifikation der Harmonik bei. Diese entäußerte sich der Reste von Allgemeinheit, die sie so lange der von oben her geforderten Formorganisation eingepaßt hatten. Die Harmonik ähnelte der freizügigen Melodik sich an. Die Überwältigung der Konsonanz durch die Dissonanz widersprach insgeheim der Idee der Homöostase, welche die Auflösung, und

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damit den Primat der Konsonanz, von den harmonischen Einzel­ ereignissen und Formeln auf die Gesamtform transferiert hatte. Die sogenannten großen Formen standen im Klassizismus, noch in der früheren Romantik, in lebendiger Wechselwirkung mit dem musikalisch Einzelnen. Sie übten eine ähnlich konstitutive Rolle aus wie in der Kantischen Philosophie die Kategorien. Ohne sie wäre die klassizistische Idee ohnmächtig gewesen. Sie rechtfertigten sich in der immanenten Logik der Komposition. Allmählich dann wurden sie tatsächlich zu dem, als was die neudeutsche Schule sie schalt: akademisch, unverbindlich, mitgeschleppte Architektur. Man pflegt den Prozeß, der es dahin brachte, die Entfesselung des Individualismus, der Nuancierung der Reaktionsweisen zuzuschreiben, die es im alten Formkanon nicht mehr duldete. Gleichsam ohne es zu wissen, hätten sie aufgelöst, worin allein zuvor, noch bei ­Beethoven, das befreite Subjekt sich zu objektivieren vermochte. Aber die Entwicklung ist nicht durch Analogien zur allgemeinen Geistesgeschichte oder auf deren Basis, dem Übergang der feudalen zur bürgerlich-hochkapitalistischen Gesellschaft, zu erklären. So triftig derlei Bezüge sind, ihren Ort haben sie allein in den fenster­ losen, materialen Problemen des Komponierens. Die traditionellen Formen wurden nicht von bloßer subjektiver Empfindlichkeit der Komponisten zerrüttet, nicht von jener modernen Nervosität, über die noch Nietzsche sich alterierte. Vielmehr will die Forderung, das Allgemeine und das Besondere müßten sich in sich vermitteln, wenn sie mehr als Phrase sein soll, daß das Einzelne, das da, unter­ gehend, zum Ganzen werde, im Ernst als Einzelnes, Konkretes sich kristallisiere. Dies in der Form selbst gesetzte Desiderat hat sich dann mit der Form nicht mehr vereinigen lassen, die es zeitigte. Gemessen am Ideal des Problems, wirkte das fortschreitende ­Bewußtsein zurück, wurde zur Kritik noch am einst Gelungenen. Der Wiener Klassizismus führte ein Schwankes, nur momentan sich auf seiner Spitze Erhaltendes mit sich, unvereinbar mit der Idee zeitloser Allgegenwart, die ihn nährte. Das Wort Gustav Mahlers, in Mozarts Quartetten höre für ihn das Interesse eigentlich beim ­Teilstrich auf, war gewiß ungerecht gegen die Mozartsche Durch­ führungskunst, etwa gegen den für Mozart sehr charakteristischen Sachverhalt, daß die Durchführung in die Reprise hineinwirkt und in deren feinsten Abweichungen von der Exposition nachzittert. Gleichwohl hat Mahler ein Triftiges gespürt. Das trotz allem statisch-­ symmetrische Schema der Sonate weigerte sich deren Wesen, der Dynamik. Diese war, einmal von der Sonate entbunden, nicht

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Es ist das Paradoxon und die Not aller Kunst, daß sie zwar, ihrem ­eigenen Begriff nach, sich über das bloß Seiende, die menschlichen Verhältnisse in ihrer Beschränktheit erheben muß, das aber nur ­vermag, wofern sie diese ungemildert in sich aufnimmt und ihre ­Antinomien ausdrückt. Unter diesem Aspekt mag gerade das unstimmige Kunstwerk die höhere Substantialität beanspruchen; seine ­Unstimmigkeit indessen wird zum Motor, über seine fehlbare Gestalt hinauszugehen.


durch die Sonate aufzuhalten. Wollte man geschichtsphilosophisch deuten, was im Verhältnis zu den Formen sich zutrug, so wäre wohl daran zu erinnern, daß in der realen Gesellschaft die vom Liberalismus gelehrte Harmonie von Einzelinteresse und Gesamtinteresse miß­ lang. Indem Kunst, soweit sie ungebrochen aufs Allgemeine sich verließ, jene Harmonie als geleistet vorstellte, wurde sie zum Schein gegenüber der Gesellschaft, deren Wahrheit in ihr sich aussprechen sollte. Damit geriet sie, immer offenbarer, unstimmig auch in sich selbst. Denn es ist das Paradoxon und die Not aller Kunst, daß sie zwar, ihrem eigenen Begriff nach, sich über das bloß Seiende, die menschlichen Verhältnisse in ihrer Beschränktheit erheben muß, das aber nur vermag, wofern sie diese ungemildert in sich aufnimmt und ihre Antinomien ausdrückt. Unter diesem Aspekt mag gerade das unstimmige Kunstwerk die höhere Substantialität beanspruchen; seine Unstimmigkeit indessen wird zum Motor, über seine fehlbare Gestalt hinauszugehen. Nachdem die Emanzipation der konkreten musikalischen Gestalt endgültig die Formen und schließlich das Idiom sprengte, in dem sie herangewachsen war, zwingt die Idee sich auf, die Form von Musik rein aus der Spezifikation des einzelnen ­Werkes zu entwickeln, den Aufgaben, die es jetzt und hier stellt. In der ersten, überschwenglichen Phase der neuen Musik, deren ­Unerreichbarkeit heute mit Grund die Sehnsucht der Komponisten erweckt, wurde, in kühnem Vorgriff, nach jenem Ideal getastet. Große, in der Zeit ausgedehnte Formen erschwerten die Aufgabe und verstärkten die Widerstände. Weberns Kurzformen sind ­bewundernswert in sich und tragen streng, negativ, nämlich durch Verzicht auf die zeitliche Extension, dem Stand des Formproblems Rechnung. Sie weichen aber vor ihm zurück, weil in den Kurzformen die Objektivation des Einzelnen unvergleichlich viel mehr Aussicht hat als dort, wo zeitliche Ausdehnung eine über die lyrisch subjektive Regung hinausweisende Objektivität erheischt. Sie aus reiner ­Subjektivität zu erfüllen, umschreibt strikt das Formproblem. Wohl dürfte es daher in Gebilden wie dem letzten Orchesterstück aus op. 16 von Schönberg, in der äußerst vorgeschobenen Erwartung und in den drei Orchesterstücken von Berg, zumal dem Marsch, weiter getrieben sein als bei Webern, der zunächst als der radikalste der Wiener Komponisten erschien. Der Angriffspunkt einer autonomen, rein aus der Sache auf­ steigenden, jeder Anleihe ledigen Form war die Reprise. Mit ihr ragt in die konstitutiv zeitliche Musik ein zuinnerst zeitfremdes, räumlich-symmetrisches, architektonisches Moment hinein. Latent

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ist die Reprise bereits bei Beethoven problematisch. Nicht ist aus seinem Respekt vorm Usus zu erklären, daß er, der subjektiv ­dynamische Kritiker aller musikalischen Ontologie, die Reprise nicht drangab. Er registrierte deren funktionalen Zusammenhang mit der Tonalität, die bei ihm noch ihren Primat behauptete und die er, wie man wohl sagen darf, auskomponierte. Freilich wird dazu Beethovens wunderliches Diktum berichtet, man dürfe über den Generalbaß so wenig nachdenken wie über den Katechismus – fast als habe er willentlich Zweifel an der Voraussetzung alles dessen niederkämpfen wollen, was er produzierte. Daß er an jener Stelle innehielt, bezeugt keine unerschütterte Tradition. Ihm mochte dämmern, daß die Sprache der Musik und die musikalische Gestalt, einmal divergent, nicht ohne weiteres zur Einheit sich zusammen­ zwingen lassen. Der Realisierung der Einzelimpulse zuliebe konser­ vierte er das Idiom als Einschränkung der Freiheit, darin tief ver­ wandt dem Hegelschen Idealismus. Wie bei Hegel hat das Problem Male in seiner Verfahrungsweise hinterlassen. Die Reprise Beethovens bedarf innerhalb der freigesetzten, im strengsten Sinn thematischen Zeit immer erst ihrer Legitimation. Der Eintritt des Gleichen nach einer Dynamik, die über Wiederholungen hinausdrängt, muß ­seinerseits von ihrem Gegenteil, der Dynamik, motiviert werden. Deswegen sind die großen Durchführungen der dem Geist nach ­eigentlich symphonischen Sätze Beethovens fast stets auf die Wende­ stellen, den kritischen Moment des Reprisenbeginns angelegt. Weil die Reprise nicht mehr möglich ist, wird sie zum tour de force, zur Pointe. Im Beethovenschen, scheinbar strikt musikalisch-logischen Klassizismus versteckt sich Paradoxie. Sein Größtes ist der eigenen Unmöglichkeit abgetrotzt und prophezeit zugleich, vermöge des Effekthaften, das jenen Augenblicken regelmäßig sich gesellt, jene Unmöglichkeit, die unterdessen zur totalen Krise der musikalischen Form sich zuspitzte. In den späteren Phasen der musikalischen Emanzipation, nach dem Sturz der Tonalität, geriet die Reprise mit der ungemein ge­ steigerten Empfindlichkeit fürs Materialgerechte in offenen Kon­ flikt. Jene älteren Kompositionen von Schönberg und Berg waren tatsächlich, trotz ihrer relativen Länge, reprisenlos. In ihren Impli­ kationen betrifft die Reprise aber nicht allein die sogenannte große Form, sondern erreicht auch ihre Teilganzheiten, die Kategorien der Verbindung, kurz die Fiber der Musik. Diese war durch die Tradition a priori nach dem Postulat möglicher Wiederholbarkeit beschaffen. Wahrhaft befreite, zu sich gekommene, mit ihrem Zeit­

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verlauf versöhnte Musik dann möchte alle Wiederholung abschüt­ teln. Aber der Sachverhalt rechtfertigt seine dialektische ­Behandlung, weil jene Sehnsucht kaum weniger an einem Wider­ spruch laboriert als die Verfahrungsart, gegen die sie sich sträubt. Wodurch immer Musik sinnvoll sich artikulierte, ihre innere ­Logizität war an offene oder latente Wiederholungen gebunden. Ohne Ähnlichkeit oder Ungleichheit ist musikalische Form schwer vorstellbar. Noch das Postulat des Wiederholungslosen, der absoluten Ungleichheit fordert ein Moment von Gleichheit, an dem gemessen das Ungleiche allein zum Ungleichen wird. Das drosselt das absolut Neue, nach dem in der Philosophie von Karl Heinz Haag geprägten Ausdruck, Unwiederholbare, die Utopie der Musik, die offener und irreversibler Zeit. Das Bedürfnis nach musikalischer Artikulation, ohne dessen Erfüllung noch der unermüdliche Wechsel in Mono­ tonie, in Immergleiches abgleitet, widersetzt sich unerbittlich dem Traum des puren sich aus sich selbst Erneuerns, dem doch Musik nicht absagen darf, wenn sie nicht verraten will, was ihr absehbar ward. Alle musikalische Form, gleichgültig mit welchen Mitteln sie umgeht, involviert in erweitertem Sinn Reprise; diese aber ist, noch in ihrer verstecktesten Gestalt, zu einem fast Unerträglichen geworden. Darauf stößt, wie auf ihre Grundschicht, die konsequent neue Musik. Nur ein Schritt zu der metaphysischen Spekulation, daß emphatisch gute, in sich ganz stimmige Musik gar nicht mög­ lich sei. Manche Phänomene aus den formativen Jahren der neuen Musik, die sonst schwer erklärbar sind oder als restaurativ sich verdächtig machen, rücken dadurch in verändertes Licht. Daß Schönberg während der Zwölftonphase traditionelle Formen bemühte, insbe­ sondere Sonate, Rondo, Variation, die er zwischen 1907 und dem ersten Weltkrieg außer Aktion gesetzt hatte, ist bekannt. Nicht nur jedoch, solange er der neuen, aus der freien Atonalität folgerecht entwickelten Technik sich versichern mußte und darum nicht in ­allen Dimensionen gleich angespannt verfahren konnte, zog er jene Formen heran, sondern während seiner höchsten Reife, als Von heute auf morgen und das Mosesfragment bereits geschrieben waren und er auch dem Zwölftonmaterial gegenüber die volle Souveränität erlangt hatte. So nähern sich das Vierte Quartett und das Violin­ konzert den vertrauten Typen ihrer Gattung. Daß im Violinkonzert Sonatendurchführung und Scherzo verschmolzen wurden, hat daran nichts Wesentliches geändert. Vollends im Einzelnen der musikali­ schen Diktion ist das traditionale Moment in der Form des späteren

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Schönberg unverkennbar. Dem Schnitt der Themen, der vielfach imitatorischen Kontrapunktik, der variierenden Entwicklungstechnik nach sind diese Instrumentalwerke denen vor der Preisgabe der ­Tonalität, zumal der Ersten Kammersymphonie, verwandter als dem letzten Stück aus op. 11 oder den Sechs kleinen Klavierstücken, wo die kritische Hand noch die kleinsten kompositorischen Bestandteile umformte und den gesamten Tonfall. Daß Schönberg die Zweite Kammersymphonie Ende der dreißiger Jahre aufgriff und vollendete, dürfte mit der strukturellen Rückwendung in jener Phase zusam­ menhängen. Erst in den allerletzten Werken hat Schönbergs Form­ denken nochmals sich gelockert. Das spricht für die objektive Not im Zusammenprall der ganz autonomen, von allem Rückstand ­befreiten Form mit dem Zwang zur Artikulation. In der Mikro­ struktur lassen sich übrigens sonatenähnliche Charaktere bis in die asketisch geschrumpften Werke, die Schönberg kurz vor seinem Tod schrieb, noch im letzten Instrumentalstück, der Phantasie für Violine mit Klavierbegleitung, beobachten. Sogar bei Webern, der die kompositorische Oberfläche rücksichtsloser aufspaltete; der in manchen seiner Zwölftonstücke keinem Instrument mehr als zweitönige Motive anvertraute und damit die mittlerweile veraltete Idee des punktuellen Hörens heraufbeschwor, fehlt es nicht an sub­ kutan traditionellen, sonatenhaften Zügen: so tief verschränken sich Tradition und Neuerung in der Form. Auffällig, daß in Werken Weberns, die aller architektonischen Stützen sich entledigen, gleich­ wie aus ihrer inneren Triebkraft Sonatengeist sich reproduziert; so sind die radikalen, überaus kurzen Bagatellen für Streichquartett op. 9 derart organisiert, daß sie vielfach sich zu Knoten, minimalen Durchführungen verdichten, deren durch die verschiedensten Künste bewirkte Auflösung etwas Reprisenhaftes annimmt, obwohl nichts Handgreifliches, nichts Motivisch-Thematisches sich wieder­ holt. Kann doch die Funktion der Reprise von allen Parametern, sogar von der Farbe als solcher übernommen werden. In der ersten jener Bagatellen etwa genügt, daß sowohl im Anfangs- wie im Schlußteil vierstimmige Akkorde in tiefer Lage von Bratsche und Cello erklingen, um ein Gefühl von Symmetrie, von Wiederkehr eines Gleichen herzustellen. Unabdingbar reproduziert sich das ­Verhältnis von Ähnlichkeit und Differenz als Formkategorie. Leicht könnte einer darauf verfallen, das als musikalisches Invarianten­ denken zu interpretieren, sei es jubelnd, wie wenn aus dem reinen Zeitverlauf eine Ontologie herauszuspinnen wäre, sei es polemisch, indem man in jener Konstatierung die Schwerkraft des unfruchtbar

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Gewesenen argwöhnt, begierig, auch diese letzten Invarianten zu verleugnen. Denken, das, gleichviel mit welchem Akzent, so ­verführe, täuschte sich über das Verhältnis von Veränderlichem und Invariantem in der Musik. Vergeblich der Eifer, das an Strukturellem abzustreiten, was durch die der Musik unentrinnbare Zeitform ihr gesetzt wird; gleich falsch aber, darum dies Strukturelle aus den konkreten musikalischen Zusammenhängen herauszuabstrahieren, zu verselbständigen und darauf eine ästhetische oder auch nur be­ scheiden handwerkliche Formenlehre aufzubauen. Die Invarianten: daß der Zeitverlauf zu artikulieren sei, ja daß er zum Zeitverlauf nur durch Erinnerung an das wird, was schon war und was seinem Fluß widerspricht, besagen an sich gar nichts; allein innerhalb der Konfigurationen des spezifisch Komponierten erlangen sie ihre Kraft und ihren Stellenwert. Wie keine Änderung ist ohne sie, so sind sie selbst nicht ohne Änderung und empfangen von dieser ihre Funktion. Ein anderes sind vorgegebene Formen, auf deren Apologie die Invariantenlehre allemal hinausläuft; ein anderes solche, die, wie bei Webern, aus der spezifischen kompositorischen Sache sich bilden und in denen, ohne äußere Anleihe, Gewesenes wieder­ kehrt. Formkonstanten sind ein Rest, kein Ideal; heute hat ihre ­Allgemeinheit keinen Ort, als wo sie erzeugt werden in der rück­ haltlosen Besonderung. Der höchst legitime Widerstand gegen abstrakte Invarianten der Form hat, angesichts der Schwierigkeit einer Formkonstruktion hic et nunc, zu einer Desintegrationstendenz der Form geführt. Auf sie wies neuerdings, mit besonderem Nachdruck, Dieter Schnebel hin. Sie datiert keineswegs erst auf die jüngsten Entwicklungen ­zurück, sondern fraglos auf Gustav Mahlers Spätwerk; ja sie ist als idiosynkratisches Moment im Spätstil vieler bedeutender Kompo­ nisten zu vermuten. So schrieb der letzte Beethoven absichtsvoll zerrüttete Stücke, auffälliger noch in den Bagatellenzyklen für Klavier als in den Quartetten. Das Bewußtsein des Scheinhaften runder und in sich geschlossener Formen gegenüber den Impulsen, die sie harmonistisch einzusammeln trachten, dürfte jene Neigung, einen dégoût am eigenen Gelingen, motivieren. Längst wurde gesagt, daß bedeutende Spätstile zum Fragmentarischen neigen, dem Dokument sich nähern, als sei der Tod, die Grenze des Artefakts, in diesem selbst antezipiert und zerschlüge es; das Anfälligste der neuen Musik entspricht dem, was Valéry ein altes Bedürfnis nannte. Mit anderen Worten: die Desintegrationstendenz ist ihrerseits aus dem Form­ problem abzuleiten. Sie entspricht der notwendigen Verlagerung

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Noch was in der Kunst an Desintegration gefordert ist, die Entzauberung ihres affirmativen Anspruchs, ist Leistung des spontanen Ichs und seines Widerstands. Im Kunstwerk hat die Negation des Sinnes ihr Recht einzig als ihrerseits sinnvolle.


des eigentlich kompositorischen Interesses vom abstrakten, in keiner überkommenen Gestalt mehr tragfähigen Ganzen aufs Detail. Je mehr das Ganze, losgerissen vom traditionellen Schema, zu einem selbst Gesetzten wird, um so gewaltsamer verfährt es mit dem, was es unter sich befaßt. Der Drang der Details, solcher Gewalt sich zu entziehen, äußert sich als Desintegration. Sie möchte, als freilich wiederum abstrakte Negation die blinde Vorherrschaft der Form korrigieren, die der blinde Wille der Details überbieten soll. ­Desintegration ist im Primat der Totale schon angelegt. Was nur von außen unter einen Hut gebracht wird, strebt auseinander: ­Desintegration ist der Integration immanent, als der Einheit von Unverbundenem. Die Analogie zum totalen Staat drängt sich auf, in dem ebenfalls, wie Franz Neumann, im Behemot, dargetan hat, die formale Vereinheitlichung aller Bereiche der Gesellschaft ein ­irrationales Auseinander der auf eine Formel gebrachten Gewalten verdeckt und befördert. Um so weniger haben kulturkonservative Erben des Faschismus ein Recht, die ästhetischen Desintegrations­ tendenzen mit dem Salbadern von Zersetzung abzutun. Desintegra­ tion hat sich in der Krisis der letzten traditionalen Formen radikalisiert, griff über auf alle von jenen sei’s noch so entfernt abgeleiteten ­Momente wie Kohärenz, Deutlichkeit des Komponierten, auch Eindeutigkeit der Funktion der Details im Ganzen. Die Grenze der Konstitution musikalischer Form rein aus sich heraus jedoch ist auch eine der Desintegration, wie legitim immer diese dem Schein eines Ganzen, in dem die Widersprüche sich schlichten, opponiert. Ihr Begriff ist nicht strikt wörtlich zu nehmen. Jedes musikalische Stück, mit Anfang und Ende in der Zeit, hat dadurch, schließlich durch den Sachverhalt einer aus der empirischen herausgesprengten musikalischen Zeit selber, ein Minimum an Form und Einheit. Was seiner zu entraten wähnt, erliegt einer Fiktion; Kunst verfällt dem Schein dort erst recht, wo sie den ihr innewohnenden durch ihre Erscheinung verleugnet. Musik ist, trotz ihres nicht abbildenden, unmetaphorischen Wesens, mit dem Scheincharakter aller Kunst historisch zusammengewachsen, einzig durch ihn Kunstmusik ­geworden; sie kann ihn nicht loswerden, wenn sie sich schüttelt. Komponieren wäre heute ohne den zentrifugalen Drang kaum mehr zu denken, doch ihre Desintegration bedarf ihrerseits der kompositorischen Synthesis. Danach lautete wohl die Formfrage an die Komponisten: ist Desintegration durch Integration möglich? Der Stand des kompositorischen Bewußtseins ist derart, daß nur durch die kritische Auflösung der sinnstiftenden Momente der

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Komposition, jenes Zusammenhangs, der Sinn irgend als positiv existent unterstellt, die synthesierenden, sinnstiftenden Elemente des Komponierens sich behaupten. Integration und Desintegration sind ineinander. Die fortgeschrittenen Komponisten erfahren die Hingabe an die Sache ohne Zwischenschaltung prästabilierter Formen, ihre ­Befreiung von den angefaulten Rückständen der in Heteronomie ausgearteten Konvention, als Lockerung der Ichkontrollen beim Komponieren. Sie wollen sich von den sonst kaum mehr erträglichen Anforderungen des Komponierens als absoluter Spontaneität ent­ lasten. Das wurde schon in der Formulierung der Zwölftontechnik spürbar und verlieh ihr, um ihrer Ichfremdheit willen, zugleich Züge des Kompositionsfremden. Die gesamte Entwicklung Schönbergs seit der Mitte der zwanziger Jahre war eine einzige Anstrengung, dies Kompositionsfremde der Zwölftontechnik durch die Komposi­ tion auszugleichen. Die von der Lockerung der Ichkontrolle, dem action composing jeglicher Art Faszinierten können darauf sich ­berufen, daß die integrativen, synthesierenden Momente der tradi­ tionellen Musik, auf ihrer Beethovenschen Höhe, nichts anderes als die freigewordenen und selbstherrlich installierten Kräfte des Subjekts waren. Aber der subjektive Anteil an musikalischer Auto­ nomie ist durch die Kritik an seiner Verblendung nicht einfach zu durchstreichen. Sonst wird die Grenze ästhetischer Gebilde zum empirischen Dasein verwischt, aufs Vorästhetische regrediert. Das nackte Material würde entweder gleichgültig und indifferent oder vom Aberglauben mit einem ansichseienden Sinn jenseits der ­Subjektivität belehnt, während doch die Reduktion der Musik aufs vermeintlich nackte Material erst recht subjektiver Veranstaltung bedarf. Noch was in der Kunst an Desintegration gefordert ist, die Entzauberung ihres affirmativen Anspruchs, ist Leistung des spontanen Ichs und seines Widerstands. Im Kunstwerk hat die Negation des Sinnes ihr Recht einzig als ihrerseits sinnvolle. Das Subjekt muß noch im Augenblick seiner Entäußerung ans Unwillkürliche seiner selbst mächtig bleiben. Wissenschaftlich anfechtbare Transpositionen wissenschaftlicher Verfahrungsweisen in die Kunst erlösen das Kunstwerk nicht vom Ich. Sie überantworten es der Banausie. Die authentischen Werke der Desintegration wären solche, in denen der Zerfall einen Sinn der Kunstwerke stiftete, Synthesis zweiten Grades; der letzte Satz des Lieds von der Erde ist dafür eines der frühesten und eindringlichsten musikalischen Modelle. Daß die Ausschaltung der abstrakten, verdinglichenden Rationalität Sache der eigenen

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Anstrengung von deren Subjekt ist, wird auf die Dauer vor keinem kollektiven Einverständnis zu verbergen sein. Aragon, der produk­ tivste Künstler des Surrealismus, warf diesem nach seiner Desertion vor, die automatische Niederschrift eines Geistlosen sei so blödsinnig wie der vordergründige Sinn des akademisch Approbierten. Das ist auf den Kult des Zufalls, die systematisierte und vollends ichfremde Auferstehung des surrealistisch Automatischen, erst recht anzuwenden. Kunst ist die Dialektik zwischen dem formsetzenden rationalen Prinzip und dem mimetischen Impuls. Diesem verhilft sie zu dem Ihren mit Mitteln der Technik, mit rationalen Verfahrungsweisen. Sie vertritt die unterdrückte Natur allein kraft dessen, was sie in der Beherrschung von Natur ausgebildet hat. Schlägt sie, anstatt jene Dialektik auszutragen, sich programmatisch auf die eine oder andere Seite, so wird sie nichtig. Für das musikalische Formproblem in seinem aktuellen Stand reicht daher das in den komplementären Verfahren des Seriellen und Aleatorischen vorherrschende Prinzip der Reihung, des ­abstrakten Nacheinander, nicht länger aus. In der Bescheidung beim inwendig unverbundenen Erst-Nachher wird das Zeitverhältnis in der musikalischen Erscheinung ignoriert. Dem Doppelcharakter der Zeit, dem einer Irreversibilität, die nur an der Wiederkehr von Gleichem, also gegen sich selbst, zu greifen ist, entzieht sich die Gestaltung. Anstelle jener sturen Folge von Komplexen, deren ­monotones Symptom gegenwärtig die säuberlichen Zäsuren zwischen allem Aufeinanderfolgenden sind, müßte das Verhältnis der Komplexe von innen her verzeitlicht werden. Die Sukzession eines Teiles B auf einen Teil A müßte sich immanent musikalisch, nicht bloß räumlich-tektonisch ausweisen; die Notwendigkeit dieser und keiner anderen Zeitfolge, für die ehedem schlecht und recht das Schema sorgte, müßte aus der Komposition als solcher sich begründen; ­außerkompositionelle, materiale Relationen leisten es nicht. Das ist streng das Formproblem; solange es nicht angefaßt wird, sind ­Entwürfe von Strukturen nur nachzüglerische Anleihen bei der Malerei. Zuzuspitzen wäre die Frage nach der musikalischen Form zu der nach der Verknüpfung des Zeitlichen über die sukzessive Anordnung hinaus. Das verlangt Kategorien, die im Augenblick verkümmern. So die der Linie und des Linienzuges. Nach dem Ab­ sterben der funktionellen Harmonik sind einzig noch Linien und Linienzüge das musikalische Strukturelement, das, als zeitlich aus­ gedehntes, mehr ist als sein Augenblick. Sie konstituieren Gegen­ wärtiges durch den Vorblick auf das, was folgt und erfüllt. Das

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­ olgende wird, in einer Art ästhetischer Sublimierung der außer­ F ästhetischen Kausalität, quasi verursacht von dem, was vorhergeht. Mit Rücksicht auf das Verhältnis von Linien und Form hat die ­Situation ihre Parallelen zu Bach. In dessen Werk waren die Form­ schemata längst noch nicht so geronnen wie im Wiener Klassizismus. Bei der Fuge mag man schwanken, ob sie strikt ein Formtyp oder ein Modell polyphonischer Konstruktion im Generalbaßraum sei. Die noch nicht ganz genormte Form bei Bach empfängt ihre ­Verbindlichkeit von der kräftigen Tendenz des Linienzuges, der Wechselwirkung zwischen den Linien, ihrer Verdichtung und ­Lockerung, nachdem sie sich ausgelebt haben. Wohl ist das Bachsche Verfahren nicht, wie man vor fünfzig Jahren, zu Beginn der neuen Musik gern es sich ausmalte, wiederherstellbar. Es setzte die Sicher­ heit des tonalen Bereichs voraus, so wie Bach geistig einsteht für ein Bewußtsein, das einzig noch als Wunschbild behauptet werden könnte, und gar nicht zu wünschen ist. Aber die formbildende Kraft der Linie wäre originär wiederzuentdecken. Die Exposition des ersten Themenkomplexes aus dem ersten Satz von Schönbergs Violinkonzert bietet in der neuen Musik dafür ein bisher kaum recht erkanntes Paradigma. Aus beethovenisch unscheinbaren Motiv­ansätzen sammelt sich unwillkürlich die Linie zu einer ganzen Struktur, in der jeder erscheinende Moment die zwingende Konse­ quenz des Vorhergehenden ist. Von dem Komplex geht etwas von jener Authentizität aus, auf welche die neue Musik seit ihrer ­E­manzipation verzichten mußte. Wo in einem musikalischen Typus, einem Stil, Dimensionen verkümmern wie neuerdings Linie und Verknüpfung, regt sich der Verdacht des Beengenden, Unter­ drückenden; integrales Komponieren könnte nicht einfach vernichten, was durch Integration, mit anderen Schichten versöhnt, auch zu er­ retten wäre. Die eigentlich dynamische Kategorie der Verknüpfung aber ist die des Knotens. Webern rückte sie noch in den gedrängtesten ­seiner Kompositionen ins Zentrum. Die Kurzformen von op. 7 bis op. 11 sind beinahe Reduktionen des Gesamtverlaufs, der Form schlechterdings, auf den Knoten; ihn hat er auskonstruiert. Ihr ­Urbild jedoch kommt aus den weit ausgedehnten symphonischen Sätzen des Wiener Klassizismus, so aus dem ersten Satz der Eroica, vorm Eintritt des neuen Themas der Durchführung. Kaum ist ­verbindliche neue Musik vorzustellen, welche der Erfahrung sich entschlüge, die in jenen zum Formkonstituens gesteigerten ­Dissonanzen sich aufspeichert. Ohne Knoten, ohne die schmerzhaft

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negierende Konzentration des Vorhergehenden und den von ihr ausgeübten Zwang zum Fortgang in ein qualitativ Anderes ist in sich geschürzte, in sich geschichtliche Musik kaum zu denken. ­Andererseits bietet der Knoten heute das Ärgernis des Veranstalteten, der manipulierten Spannung; vor allem des Anspruchs, daß in ihrer Entladung ein Sinn aufleuchte, dessen, als ihres metaphysischen ­Gehalts, keine Musik mehr versichert ist. Was Brecht zur Konzeption des epischen Theaters bewog, ist musikalisch so wenig zu über­ springen wie die Einsicht, daß der Form seiner epischen Stücke auch ein Erschlafftes, Regressives innewohnt. Insbesondere mani­ festiert es sich in der Unmöglichkeit überzeugender Schlüsse. ­Musik hätte wohl Webern zu folgen in der Bemühung um Knoten ohne Dramaturgie. Sie müßten aus dem musikalischen Verlauf, ohne den selbstherrlichen Eingriff des Willens und der komposito­ rischen Hand, sich ergeben. Eine solche Musik gliederte nicht ­länger ausschließlich, zum Ersatz für die verlorenen Schemata, sich abschnittsweise, von Zäsur nach Zäsur; das Mittel ist abgestumpft. Lieber wären ihr Gebilde, die aus sich heraus wuchern, sich ver­ schlingen und, gleichsam pflanzenhaft, nicht durch Disposition von oben her sich artikulieren. Möglichkeiten dazu haben Schönberg und Berg auf einem älteren Stand der Technik erkundet. Sie verfielen auf den Formpluralismus, die Überlagerung mehrerer Strukturen, die ebenso zueinander kontrastieren wie sich ergänzen, sich trennen und sich überschneiden. Der berühmte „Mondfleck“ aus dem Pierrot lunaire verfuhr so in kurzen Dimensionen, Berg in sehr weiten im Finale des Kammerkonzerts, das, der Idee nach, die beiden ersten Sätze simultan vorträgt. Beiden war es um etwas wie Einheit von Statik und Dynamik zu tun. Schönberg komponierte über dem ­Begleitsystem eines in sich krebsgängigen, sich zurücknehmenden, also statischen Doppelkanons eine offen verlaufende, dynamische Klavierfuge als Hauptereignis. Für Einheit sorgte die reihenhafte Identität des Hauptmotivs beider Komplexe. Das umfangreiche Bergsche Rondo nahm das auf. Der vorhergehende Adagio-Satz, seine eine Schicht, war in sich – allerdings nicht tongetreu wie der Schönbergsche Doppelkanon – krebsgängig; die zweite Simultan­ schicht dagegen, der erste Satz, eine einsinnig verlaufende Variationen­ folge. Der handfeste Rationalismus der Addition ist so wenig zu leugnen wie der anderer Formerfindungen aus den früheren Jahren der neuen Musik. Hier wie dort wird der Eindruck einer neuen Form durchs Würfeln mit traditionellen erreicht. Das frappierende Resultat jedoch ist eine bis zur Undurchdringlichkeit in sich ver­

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Der Komponist muß, dem eigenen Werk gehorchend, aus diesem heraus, um jenen Doppelcharakter der Zeit sich mühen, der vordem durch die Formtypen garantiert schien. In den Orchesterwerken von Stockhausen und Boulez – und das angemessene Organ für solche Versuche ist das große Orchester – dürfte jene Idee sich fortsetzen.


wachsene Struktur, von der gleichwohl, ob auch durch einigermaßen mechanische Mittel, etwas wie Zwang ausgeht. Zeitartikulation durch Wiederholung, durch Statik, und die Utopie des Unwieder­ holbaren durchdringen sich virtuell. In beiden Fällen ist ein neuer Impuls spürbar, der erst nach der Kritik an den traditionellen Formen entbunden ward: Formphantasie. Gehemmt ist sie durch das unsicher und vorsichtig Tastende der ­Innovation, die bei Berg von einem fast ängstlichen Bedürfnis gerade nach Deckung schwer zu trennen ist. Jedenfalls haben Schönberg und er wohl als erste hochorganisierte Formen so sich einfallen ­lassen, wie vordem Komponisten Melodien, Themen, Kontrapunkte und Harmonien erfanden. Bergs Ingenium war darin unermüdlich. So hat er die Lyrische Suite insgesamt fächerförmig von den zentralen Sätzen her konstruiert. Später hat er, nach einem verhältnismäßig primitiven Modell aus dem Wozzeck, die Monoritmica der Lulu, eine Art weitschichtiger Variationenfolge über einen Grundrhythmus, geschrieben. Sie wird als solche, außer an den dramatischen ­Wendestellen, keineswegs sinnfällig wie in Ostinato-Komplexen; die Gliederung ereignet sich hinter den Kulissen, die erscheinende Musik ist ganz frei. Auch sie jedoch bildet eine mehrschichtige Form: die Variationen der Monoritmica sind abermals krebsgängig gestaltet. Daß Berg von der Intention einer durchs lebendige Ohr zu vollbringenden ars combinatoria verfolgt wurde, spricht für ­objektive Nötigung. Der Komponist muß, dem eigenen Werk ge­ horchend, aus diesem heraus, um jenen Doppelcharakter der Zeit sich mühen, der vordem durch die Formtypen garantiert schien. In den Orchesterwerken von Stockhausen und Boulez – und das ange­ messene Organ für solche Versuche ist das große Orchester – dürfte jene Idee sich fortsetzen. Das zweite Heft der Structures für zwei Klaviere von Boulez nimmt ausdrücklich die Überlagerung mehrerer Formen, nach dem literarischen Modell von Hoffmanns Kater Murr, wieder auf. Wenn ein Rat an Komponisten ohne Unbescheidenheit erlaubt ist, wäre es der, die eigene Formphantasie so zu entwickeln, so über sie zu verfügen zu lernen, wie die Tradition anderen Para­ metern es gestattete; aus dem Einfall von Strukturen spezifische Einzelcharaktere zu erfinden, die dann wieder die Struktur vor ­ausgedachter Willkür behüten. Der Begriff der Form wäre dabei von gewissen automatischen Verfahrungsweisen zu befreien, die in den frühen Strukturphantasien der zweiten Wiener Schule zuhilfe geholt wurden. In ihnen ist die tektonische Disposition allzu abs­ trakt, will sagen, zu unverbunden mit dem, was konkret musikalisch

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sich zuträgt. Die Komplexität stammt eher aus den miteinander kombinierten Grundrissen als aus den Ereignissen als solchen. Ein verbindlicherer Formbegriff wäre aus der kompositorischen Fiber, dem Gewebe zu entwickeln. Das ist einstweilen am besten dort ­geglückt, wo von Strukturexperimenten im großen abgesehen ward. So läßt der erste Satz von Schönbergs Viertem Quartett unschwer aufs traditionelle Sonatenschema sich projizieren. In ihm jedoch, wie auch beim reifen Berg, ist alles durchführungsähnlich. Jeder Takt ist gleich nahe zum Zentrum. In Wahrheit wird zwischen ­Exposition und Verdichtung nicht mehr unterschieden. Dadurch verläuft die Form subkutan ganz anders, als durchs innegehaltene Schema gegeben scheint. Das Durchführungsfeld hat seine alte Funktion verloren, wird zu einem Teilganzen gleich den übrigen, liegt auf derselben kompositorischen Ebene wie diese, vergleichbar der Erwartung, wo alles dieselbe Intensität ausstrahlt. Die leicht hingezeichnete Form soll lediglich das Ganze verdeutlichen, weniger substantielle Struktur als Darstellungsmittel der Musik, eines ihres immanenten Vortrags. Derlei Wandlungen in den verborgenen ­Zellen des Formbegriffs wäre kompositorisch nachzuhorchen, wenn die fällige Formstruktur mehr sein soll als ein aufgeklatschter Ersatz, in dem eben die Verdinglichung wiederkehrt, die an den traditionellen Formen abstößt. Nichts anderes wäre die Übersetzung des partikularen musikalischen Formbegriffs in den ästhetischen, in die Idee einer integralen Form, nicht länger von anderen ­Dimensionen unabhängig, sondern eins mit ihnen. Sie böte kein bloßes Agglomerat der Parameter, die gelegentlich einander substituieren mögen. Vielmehr wirkten dann im lebendigen Vollzug der Musik die Dimensionen aufeinander ein, anstatt auf ein gemeinsames Ur­ material sich zu reduzieren. Integrale Form stiege aus den spezifischen Tendenzen alles musikalisch Einzelnen auf. Nach der Liquidation der Typen kann sie einzig als eine von unten nach oben, nicht ­umgekehrt mehr geraten. Form im aktuellen Sinn ist die Totalität der musikalischen Erscheinung. Sie sprengt die engere temporale Bedeutung des üblichen Formbegriffs: nichts an der emanzipierten Musik, was nicht Träger der Form würde. Diese rückhaltlose Erweiterung des Formbegriffs entschädigt vielleicht für das, was er an vorgeordneter Allgemeinheit einbüßte. Weil keine Formen mehr sind, muß alles Form werden. Die Musik des reifen Mahler war, unter Bedingungen einer Tonalität, die die volle Realisierung ­verhinderte, der Traum davon, dem Gegenteil bloß systematischer Integration.

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Der Zustand, den die Musik in der bis an die Grenze der Selbst­ verbrennung beschleunigten Entwicklung der letzten zwanzig Jahre erreicht hat, erheischt es, die Frage nach der Form zu pointieren. Das Spannungsverhältnis musikalischer Form ist eines zwischen dem keineswegs mit dem individuellen Komponisten identischen sondern irgend gesellschaftlichen Subjekt, das die Musik trägt, und einer jedenfalls nicht in diesem Subjekt sich erschöpfenden Objek­ tivität. Sie zerbrach unter dem Anprall des autonomen Subjekts. Heutzutage wird das Allerweltswort Problem mit allem und jedem verbunden. Formproblem muß etwas Bündigeres bezeichnen, wenn man ohne Phrase darüber reden will: daß das emanzipierte Subjekt die Objektivierung der Form offenbar nicht rein aus sich selbst zu vollbringen vermochte. Deswegen ist es nicht so erstaunlich, wie die Sehnsucht glauben möchte, daß das Glück der Freiheit in der Musik bis jetzt so wenig wie sonstwo sich realisierte; daß sie ihrer Freiheit kaum recht sich freute. Man sähe das Formproblem allzu harmlos, wollte man es auf das kompositorische Subjekt reduzieren; die subjektiven Schwierigkeiten des Komponierens heute reflektieren die stets in der Sache lauernde, jetzt ganz akute Schwierigkeit. Ihr wahrer Grund ist wohl, daß der traditionelle Vorrang der Formen über die Musik, vermöge seiner Verkoppelung mit dem tonalen Idiom, sprachlichen und damit kollektiven Wesens war. Bricht man das Formproblem aus seiner artistisch technologischen Verschalung heraus, so dechiffriert es sich als die Frage nach der Möglichkeit ­einer authentischen Kunst, deren Form nicht in der realen Gesell­ schaft gründet und die, kraft des ihr innewohnenden kritischen Moments, die von der bestehenden Gesellschaft ihr übermachten Formen aufkündigen muß. Stimmt sie jedoch in nichts mehr mit der Gesellschaft zusammen, so ist die Möglichkeit der Objektivation schlechterdings ungewiß. Von außen betrachtet, enthüllt sich die Antinomie der musikalischen Form als gesellschaftlich. Ebenso ist es notwendig, die Form in die Konkretion des Gebildes aufzulösen, wie diese Notwendigkeit dem Begriff der Form als der einer ­Objektivation des Gebildes widerspricht, die das je einzelne Werk ihrem eigenen Begriff nach unter sich befassen muß, damit das je einzelne Werk gelinge. Die reale Unversöhntheit von Allgemeinem und Besonderem verkappt sich im musikalischen Formproblem. Denn kompositorisch läßt auf keine wie immer geartete Objektivität, als auf ein Ansichseiendes, mehr sich rekurrieren. Der tiefste Grund für die Schwierigkeit musikalischer Objektivität aus dem emanzi­ pierten Subjekt heraus ist die Zerstörung der musikalischen

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Sprachähnlichkeit. Musik war objektiv so weit, wie sie die Sprache der Musik sprach, und keine solche Sprache existiert mehr. Daher war fast die gesamte Moderne genötigt, ihre Objektivität von außen zu erborgen. In der Wiener Schule des 1874 geborenen Schönberg waren die idiomatischen Elemente – bei völliger Umwälzung des Materials – immerhin präsent; Schönberg berief sich hartnäckig auf Brahms. Der Neoklassizismus, der mittlerweile, als ein Vergangenes, besser sich begreifen läßt als zu der Zeit, da es seiner Lockung zu widerstehen galt, hat eben das auswendige, dem Subjekt und seinem autonomen Willen entzogene Moment der Form fingiert. Die ­Risse und Brüche bei Strawinsky waren nicht Defekte oder Reize, sondern Versuche, dies Fiktive ins Kunstwerk als Formelement hin­ einzunehmen. Um der Fiktion nicht zu verfallen, wollte er sie ­reflektiert hörbar machen; aller unverwässerte Neoklassizismus war verzerrtes Idiom. Nach 1945 hofften die jungen Komponisten, ­Objektivität als eine dem Subjekt antithetisch gegenüberstehende, unter Umgehung des Subjekts gleichermaßen wie der Tradition, zu erschaffen. Solche Objektivität jedoch behielt die Spur des Willens derselben Subjektivität, die sich dabei ausschloß, die Spur von ­Zufälligkeit und Unverbindlichkeit. Daher der Prestissimo-Wechsel der Techniken. Danach ist nicht mehr Form aus Autonomie zu ­erzeugen, souverän zu planen; genauso wenig aber ist sie aus dem Material herauszulesen, das, nach der Entgötterung der Musik, als Götze sich aufrichtete. Offen ist allein noch die Möglichkeit der Selbstversenkung des Gehörs in die idiomatischen, übergreifenden Momente, deren Reservoir das Subjekt ist. Durch Kritik muß es sie festhalten und verändern in einem. Nicht arm ist die Kunst an ­Begriffen, die, ihrem Selbstverständnis nach vag, trivial, gleichwohl das Entscheidende in sich bergen, wenn man sie nur recht verstünde. Ein solcher ist der des Formgefühls, der einem allzu leicht über die Lippen kommt. Schönberg verteidigte seine harmonischen Neuerungen, die sinnfälligsten Phänomene von Atonalität, mit dem Satz: „Ich entscheide immer nach dem Formgefühl.“ Er notierte damit das zwangvolle Bewußtsein einer Objektivität, deren Norm gleichwohl sich selbst verborgen, undurchsichtig ist; so wie der Weltzustand ohne Risiko nichts Wahres mehr gewährt, alles ­Gesicherte vorab zur Lüge verurteilt. Formgefühl heißt: der Musik dorthin nachhorchen, wohin sie von sich aus will; so fern vom auf­ erlegten Willen, der auferlegten Architektur wie von ihr fremden Notwendigkeiten, in denen meist die blind gewordene subjektive Willkür sich verschanzt; Unbeirrtheit im Dunklen, nicht anders als

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in den authentischen sprachlichen Gebilden der Moderne. Dazu bedarf es aber der äußersten subjektiven Anspannung. Das spekulative Ohr ist das einzige Organ der unverbürgten Objektivität, negativ die Abwehrinstanz gegen ihre Verfälschung. Das oeuvre des jüngst verstorbenen Eduard Steuermann gehorcht der Idee der Restitution jenes Formgefühls. Das Mißverhältnis zwischen der Emanzipation von den Formen, die nach dem Formgefühl ruft, und dessen Ver­ kümmerung, wiederum Funktion des Niedergangs der traditionellen Formen, hat die Krise der Form verursacht. Alle scheinbar objektiven Techniken sind gleichsam kümmerliche Ersatzfunktionen für abge­ storbene Organe. Sie versagen vor ihrer Aufgabe; deswegen sind sie so kurzlebig. Einmal, in den Ursprungszeiten der neuen Musik, stählte sich das Formgefühl in der Komposition gegen die konventi­ onell gewordenen traditionellen Formen und an ihnen. Jetzt, da die unkonventionell aufgerichteten so hemmend geworden sind wie damals die Tonalität, ist das Formgefühl mehr gefordert als jede andere kompositorische Eigenschaft. Wenn irgend etwas, wird dies Bedürfnis, das keine Entlastungen duldet, das Formgefühl aktivieren.

aus: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Band 16 (Musikalische Schriften I–III. Klangfiguren (I). Quasi una fantasia (II). Musikalische Schriften (III)), S. 607–627. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1978. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.

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