Die Nachtigall und die Krachtigall
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Text der deutschen Produktion (Juli 2008) mit Juri Tetzlaff Hamburg, 25. Februar 2009
DIE NACHTIGALL UND DIE KRACHTIGALL Vor Beginn der Musik: Die Nachtigall ist ein kleiner grauer Vogel, der wunderbar singen kann. In unserer Geschichte wird sie von der Klarinette gespielt und klingt so… Klarinette spielt Nachtigall Motiv. Neben der Nachtigall gibt es noch eine Krachtigall. Ihr Instrument ist die Trompete. Hört sie euch mal an… Trompete spielt Krachtigall Motiv. Und jetzt geht’s los… Intro a Habt ihr gehört wie Klarinette und Trompete eben zusammen gespielt haben? Die Klarinette hat fröhlich gezwitschert, fast wie ein Vogel. Intro b Die Trompete klang dagegen abgehackt und gleichförmig, wie eine Maschine. Das war natürlich Absicht! Denn so klingen Nachtigall und Krachtigall! Die Nachtigall lebt in der Natur und singt nur nachts. Wenn keiner sie stört. Intro c Die Krachtigall ist eine Maschine. Sie macht immer das Gleiche. Tag und Nacht. So lange bis sie kaputt geht! Diese Beiden treffen in unserer Geschichte und in der Musik aufeinander. Intro d Die natürliche Nachtigall und die künstliche Krachtigall. Die Krachtigall wird nie müde und hat niemals schlechte Laune. Sie funktioniert einfach. Intro e Die Nachtigall ist da anders. Sie hat Gefühle. Sie kommt nicht aus der Fabrik von irgendeinem Fließband. Nein, sie wurde liebevoll ausgebrütet und ist mühsam aus ihrem Ei geschlüpft. Ihre Eltern haben sie gefüttert und großgezogen. Und sie haben ihr das Singen beigebracht. Intro f Eine Nachtigall kann lustig und ausgelassen sein. Manchmal aber auch nachdenklich und traurig. Die Nachtigall ist einzigartig. Genau wie jeder von euch. Deshalb ist sie etwas ganz Besonderes. Genau wie ihr. Sie kann immer wieder neue Lieder erfinden. Das könnt ihr auch. Sie kann so wunderschön singen, dass sie jeden von uns im Herzen berührt. Und deswegen erzähle ich euch jetzt ihre Geschichte.
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1. Es war einmal ein Kaiser. Der lebte vor vielen, vielen Jahren im fernen China. Er war so reich und mächtig, dass er auf der ganzen Welt berühmt und berüchtigt war. Niemand hätte je für möglich gehalten, dass ein kleiner Vogel diesen großen Mann und sein riesiges Reich für immer verändern sollte. 2. Der Palast des Kaisers war ein wahres Wunderwerk. Noch nie hatte man etwas Schöneres gesehen. Die Wände waren aus feinstem Porzellan und die Fenster aus buntem Kristall. Schon von Ferne sah man die goldenen Dächer funkeln, wie ein riesengroßer Diamant. Das kaiserliche Schloss war umgeben von einem Märchengarten. Über und über gefüllt mit den schönsten Blumen. An die allerschönsten Blüten waren gläserne Glöckchen gehängt worden, die beim kleinsten Luftzug leise bimmelten. So konnte keiner an ihnen vorbeigehen, ohne sie zu bewundern. 3. Der Garten war so groß, dass selbst der Gärtner nicht genau wusste, wo er eigentlich aufhörte. Wenn man immer geradeaus ging, kam man an einen Wald mit turmhohen Bäumen, dunklen Höhlen, sprudelnden Bächen und märchenhaften Seen. 4. Dieser Wald erstreckte sich bis zum tiefblauen Meer. Die Zweige der herrlichen Riesenbäume ragten so weit über das Ufer hinaus, dass große Schiffe unter ihnen hindurch fahren konnten. 5. In diesen Zweigen wohnte eine kleine Nachtigall, die so unbeschreiblich schön singen konnte, dass jeder wie verzaubert von ihr war. Der arme Fischer vergaß seine Netze, wenn er sie nachts hörte. Jeden Abend lauschte er in die Dunkelheit. Und wenn er dann ihre immer neuen Lieder vernahm blieb er wie angewurzelt stehen und flüsterte: „Die Nachtigall hat oft gesungen, aber so hat sie noch nie geklungen!“ Doch schon in der nächsten Nacht saß er wieder im Mondschein auf seinem Boot und starrte horchend auf das spiegelnde Wasser. Und sobald er den Vogel wieder singen hörte, war er sich sicher: „Die Nachtigall hat oft gesungen, aber so hat sie noch nie geklungen!“ So ging das Nacht für Nacht, Jahr für Jahr. 6. Aus der ganzen Welt kamen Touristen nach China, um die Stadt des Kaisers zu besichtigen. Wenn sie großes Glück hatten, dann hörten sie die kleine Nachtigall singen und waren sich einig: „Eine Nachtigall wie diese dort, gibt es sonst an keinem Ort!“
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7. Viele Professoren schrieben dicke Bücher über den Garten, den Palast und die Stadt. Aber die kleine Nachtigall bekam immer ein eigenes Kapitel. 8. Da stand dann zum Beispiel: „Der Vogel klingt primär, wirklich extraordinär!“ 9. Die kleine Nachtigall schmückte viele Reiseberichte. Es gab Lieder, Geschichten und Gedichte über sie. 10. Die Bücher gingen um die ganze Welt. Alle kannten die kleine Nachtigall. Nur einer kannte sie nicht: Der Kaiser von China selbst. Er war immer sehr beschäftigt damit, noch reicher und mächtiger zu werden und verließ deshalb so gut wie nie den Palast. Eines Tages bekam er ein Buch vom Kaiser von Japan geschenkt. Zwischen zwei wichtigen Terminen blätterte er es durch. Er saß auf seinem Thron, überflog die prachtvollen Beschreibungen und war sehr zufrieden. Denn jede Zeile lobte seinen Ruhm und seinen Reichtum. Aber ganz am Ende las er einen Satz, der ihn stutzig machte: „Doch die Nachtigall der Chinesen, ist von Allem das Schönste gewesen!“ „Was hat das zu bedeuten?“, rief der Kaiser „Was für ein Vogel gefällt diesen Leuten? Warum kenn ich diesen Piepmatz nicht, von dem sogar der Kaiser von Japan spricht?“ Sofort ließ er seinen Kammerherrn rufen. 11. Der kam schwitzend herbeigeeilt und verbeugte sich tief. Er hatte sich so viele Ehrentitel geben lassen, dass er einen Spickzettel brauchte, um sie alle aufsagen zu können. (AUF MUSIK) „Tsing Pee“, fuhr er jeden an, der ihn anzusprechen wagte. Das bedeutete eigentlich gar nichts, aber der Kammerherr fand, dass es sehr würdevoll und wichtig klang. „Was ist das für eine Nachtigall?“, fragte der Kaiser streng. „Ich will es wissen, auf jeden Fall.“ „Ich hab noch nie von ihr gehört! Aber ich kriege es raus, wenn Sie das stört!“ Versuchte der Kammerherr den Kaiser zu beruhigen. „Heute Abend soll der verflixte Vogel für mich singen Ich will wissen wie seine Lieder klingen. Die ganze Welt kennt dieses Tier, nur ich nicht. Dabei wohn ich hier!“ „Hoheit, hört bitte auf zu fluchen Ich werd die Nachtigall für Euch suchen!“
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Der Kammerherr machte eine tiefe Verbeugung und eilte aus dem Thronsaal. 12. Er überlegte fieberhaft, wo die Nachtigall wohl zu finden sei. Schnell wirbelte er treppauf, treppab und suchte an allen Ecken und Enden. Sogar die riesige Schatzkammer ließ er auf den Kopf stellen. Schließlich kam er völlig erschöpft zum Thronsaal zurück: „Dieses singende Federvieh gibt’s nur im Buch. Das find ich nie!“ 13. Der Kammerherr keuchte: „Wir sollten die Sache jetzt schnell vergessen, und erstmal einen Happen essen“ Damit gab sich der Kaiser nicht zufrieden. „Das Buch stammt vom japanischen Kaiser Und jeder weiß, das ist ein Weiser. Der Vogel wird heute für mich singen, wenn er nicht will, müsst Ihr ihn zwingen. Und schafft Ihr’s nicht, so lasst Euch sagen, ich lass den ganzen Hofstaat schlagen.“ 14. ‚Tsing Pee’, schnaubte der Kammerherr und wirbelte wieder treppauf, treppab und machte sich panisch auf die Suche. Aufgeregt rannte er durch alle Säle und Gänge. Und der gesamte Hofstaat rannte mit, denn alle fürchteten die Schläge. Überall fragten sie ängstlich nach der Nachtigall, die der ganzen Welt bekannt war, nur dem Hofe nicht. 15. Endlich fanden sie ein schüchternes Küchenmädchen, das mehr zu wissen schien. „Die Nachtigall, die kenn ich gut Sie singt wie es sonst keine tut. Meine Mutter wohnt im Wald Sie ist leider krank und alt Will ich ihr nachts zu Essen bringen, hör ich die Nachtigall oft singen. Wie versteinert bleib ich dann stehn Und kann einfach nicht weiter gehn. Manchmal fang ich zu weinen an So himmlisch schön ist ihr Gesang.“ 16. „Küchenmädchen, dich schickt der Himmel“, rief der Kammerherr erleichtert. „Zeig uns wo dieser Vogel wohnt Du wirst dafür auch reich belohnt. Denn unser Kaiser will ihm lauschen Und sich an seinem Klang berauschen. Jetzt husch, husch und nicht so träge
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Sonst kriegen wir alle heute Schläge.“ 17. Daraufhin marschierte der gesamte Hofstaat in den Wald. Angeführt vom Küchenmädchen, dahinter der Kammerherr und viele wichtige Würdenträger, die alle keine Schläge bekommen wollten. 18. Eine halbe Stunde gingen sie ohne auszuruhen, da hörten sie hinter einer Hecke eine Kuh muhen. „Das ist sie!“ rief der Hofmarschall; „Das muss sie sein. Auf jeden Fall.” Doch das Küchenmädchen schüttelte den Kopf und sagte: „Mir scheint, Ihr hört nicht richtig zu, Eure Nachtigall ist eine Kuh.“ 19. Dann hörten sie zwischen den Schnaken ein paar laute Frösche quaken. „Herrlich!“, riefen alle aus einem Mund. „Wie klingt der Vogel doch gesund!“ Das Küchenmädchen schaute nur ungläubig. „Die Sache hat nur einen Haken Das ist kein Singen, sondern Quaken!“ Suchend zog die Karawane weiter. 20. Plötzlich blieb das Küchenmädchen stehen und flüsterte: „Da! Das ist sie!“ 21. „Seht ihr dort oben auf dem Ast? Ganz ruhig, nur keine Hast.“ 22. Der Kammerherr war enttäuscht. „Das soll der gesuchte Vogel sein So unscheinbar und grau und klein?“ Das Küchenmädchen ließ sich nicht beirren und fragte die Nachtigall freundlich: „Oh, allerliebste Nachtigall, im Palast ist heute Nacht ein Ball. Der Kaiser will dich singen hören Dürfen wir deine Ruhe stören?“ Die Nachtigall zwitscherte fröhlich: „Ihr lieben Leut ich will nicht lügen Das Singen ist mir ein Vergnügen!“
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Und schon sang sie, dass es eine wahre Wonne war. 23. „Als wären es gläserne Glöckchen!“ Staunte der Kammerherr. „Aber warum hören wir das erst jetzt Ich muss schon sagen, ich bin entsetzt!“ 24. „Soll meine Stimme weiter klingen Oder ist´s genug jetzt mit dem Singen?“ Fragte die Nachtigall höflich. 25. „Tsing Pee!“ Rief der Kammerherr. 26. Dann säuselte er so freundlich er nur konnte: „Hochgeschätzte Nachtigall, heute Abend im Goldenen Saal laden wir dich ein zum festlichen Mahl. Du darfst für den Kaiser singen Und dein Lied zum Klingen bringen.“ Die Nachtigall überlegte kurz, dann antwortete sie: „Im Palast ist gewiss viel Lärm, aber für den Kaiser singen, das mach ich gern!“ Und so setzte sich der Umzug der chinesischen Würdenträger wieder in Bewegung und marschierte den weiten Weg zurück. 27. Der ganze Kaiserpalast war festlich geschmückt. Die frisch geputzten Wände leuchteten im Glanz von vielen tausend Laternen. Große Blumensträuße voller gläserner Glöckchen erfüllten die langen Flure mit ihrem Duft und Klang. Prinzen und Prinzessinnen hatten ihre prächtigsten Gewänder angezogen und auch das Küchenmädchen sah umwerfend aus. Sie hatte ein Festkleid und einen Ehrentitel bekommen und durfte sich jetzt „Kaiserliche Hofvogelfinderin“ nennen. Im großen Saal direkt neben dem Thron, war ein goldener Stab aufgehängt worden, auf dem die Nachtigall sitzen sollte. Als der kleine Vogel in den Festsaal kam, brachen alle in Jubel aus. 28. Dann nickte der Kaiser. 29. Und die Nachtigall begann zu singen.
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Alle starrten auf die kleine Kehle des Vogels, aus der die schönsten Töne kamen. Auch der Kaiser lauschte mit offenem Mund! Und dann konnte er nicht länger an sich halten und eine dicke Träne rann über seine Wange. 30. Zum Dank bekam die Nachtigall den Titel „Kaiserliche Oberhofsingmeisterin“ und als man ihr darüber hinaus eine Kette aus Gold und Edelsteinen um den Hals hängen wollte, zwitscherte sie bescheiden: „Ich will fürs Singen keinen Lohn. Der Kaiser weinte, das reicht mir schon!“ 31. „Habt ihr das gesehen?“, fragten die Edelfrauen. „So also gewinnt man des Kaisers Vertrauen!“ Sie nahmen Wasser in den Mund, um damit zu gurgeln. Sie hofften dadurch so zu klingen wie die kleine Nachtigall. Doch wenn jemand deshalb Tränen in den Augen hatte, dann nur vor Lachen. Der kleine Vogel aber wurde ein großer Star. 32. Er bekam im Palast ein eigenes Zimmer und saß dort in einem goldenen Käfig. Zweimal am Tag und einmal nachts durfte die Nachtigall den Palast verlassen. Dabei wurde sie von zwölf Dienern begleitet, die sie an einem seidenen Band am Bein hielten. So ein Spaziergang war wirklich kein Vergnügen, aber die Nachtigall ließ es geduldig über sich ergehen. Alle waren ganz verrückt nach ihr. Wenn sich zwei Leute auf der Straße begegneten, dann sagte der eine nur „Nacht“ und der andere antwortete „Igall“. Und dann schauten sie sich an und seufzten tief. Doch am hundertsten Tag wurde im Kaiserpalast ein großes Paket abgegeben, auf dem stand: Krachtigall! 33. „Hm, das wird ein Buch über unsern Vogel sein In das Paket schau ich gleich rein.“ Sagte der Kaiser. Aber es war kein Buch. In der Kiste lag ein wahres Kunstwerk, eine nachgebildete Nachtigall, die der lebenden ähnelte. Sie hatte eine kleine Klappe im Bauch und einen Riesenschlüssel im Po. Wenn man sie daran aufzog, begann sie sofort ein Lied des echten Vogels zu singen. Im Schnabel hatte sie einen Brief: 34. „Lieber Kaiser von China! Diese Krachtigall kann auch schön singen, doch wird sie je wie die Eure klingen? Mit den besten Grüßen Der Kaiser von Japan!“
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„Das probieren wir doch gleich mal aus Holt das Ding aus der Kiste raus.“ Befahl der Kaiser. „Vogel und Maschine sollen zusammen tirilieren, das wird bestimmt ein herrliches Musizieren!“ 35. Doch da täuschte sich der Kaiser! Denn die echte Nachtigall sang auf ihre Weise und erfand immer neue Lieder. Der künstliche Vogel dagegen konnte mit seinen Zahnrädchen im Bauch immer nur das gleiche Stück spielen. Aber der Hofkapellmeister war begeistert: „Noch nie hörte ich einen Musikant’, der so präzise den Rhythmus fand! Wir sollten die Maschine mal alleine hören, dann kann die Nachtigall nicht länger stören.“ Und so sang der künstliche Vogel alleine. 36. Das technische Wunderwerk hatte großen Erfolg. Der Hofkapellmeister schwärmte: „Jeder Ton sitzt auf den Punkt, wenn kein Tier dazwischenfunkt!“ Immer wieder wurde die Krachtigall aufgezogen. „Dibidi… Dibida.“ 37. Der ganze Hof war begeistert und sang aus voller Kehle mit. Die Melodie war einfach. Ein echter Ohrwurm. Die Krachtigall sang laut und klar und war auch nach dem dreiunddreißigsten Mal kein bisschen müde. Dann wollte der Kaiser zum Vergleich wieder die echte Nachtigall hören. Doch was war das? Sie war verschwunden? Alle hatten so leidenschaftlich mit der Krachtigall gegrölt, dass niemand gemerkt hatte, wie die Nachtigall aus dem Fenster geflogen war. „Was für ein undankbares Tier Ich will es nie mehr sehen hier!“ Rief der Kaiser empört. „Tsing Pee, die Nachtigall ist launisch und gemein, Verlass kann nur auf die Maschine sein.“ Sprach der Kammerherr, zog die Krachtigall wieder auf und ließ sie ihr Liedchen rattern. 38. Und so hörten sie zum vierunddreißigsten Mal das Lied der japanischen Zahnradsängerin und summten nachdenklich mit. Dann schwärmte der Hofkapellmeister wieder: „Dieser Vogel singt nicht nur exakter, er hat auch den besseren Charakter!“ 39. Der Kammerherr wetterte: „Der alte Vogel aß und trank
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Und sorgte manchmal für Gestank Er war völlig unberechenbar Mal fröhlich, mal traurig, mal sonderbar. Auf die Maschine kann man zählen, man kann den An- und Aus-Knopf wählen. Bei diesem Vogel ist alles klar Stellt man ihn hin, dann bleibt er da. Man muss nicht lange nach ihm jagen Und kann sich gut mit ihm vertragen.“ Und der ganze Hof stimmte zu: „Ja, der Kammerherr hat Recht, die Nachtigall ist fies und schlecht!“ Wenige Tage später wurde der künstliche Vogel dem Volk vorgestellt. Alle Untertanen standen auf dem Platz vor dem Palast und lauschten begeistert, wie die Krachtigall ihre immergleiche Melodie herunternudelte. Unter den Zuhörern war auch der arme Fischer. „Die Krachtigall ist hübsch gebaut Doch klingt sie abgehackt und laut. Die Nachtigall ist unscheinbar Doch ihr Gesang ist wunderbar.“ Aber dem Volk war das egal. Sie tanzten und johlten, als hätten sie einen Schluck chinesischen Tee zu viel getrunken. Auch der künstliche Vogel bekam einen Ehrentitel „Hoch-Kaiserlicher Nachttischsänger Erster Klasse Links“. Denn der Kaiser meinte, dass links die vornehmere Seite wäre, weil dort das Herz schlug. So verging ein Jahr…. 40. Der Kaiser, der Hof und das ganze Volk kannten das Lied der Krachtigall nun in- und auswendig. Und genau deswegen gefiel es ihnen so gut. Wenn man über die Straße ging, hörte man überall die Leute singen… (TROMPETE FREI STEHEN LASSEN) „Di-bi-di! Dibi-da!“ Und auch der Kaiser summte immer wieder die Melodie in seinem Palast. Es war wirklich alles wunderbar. 41. Aber eines Abends passierte es! Der Kaiser lauschte gerade dem mechanischen Vogel. Und dann… Machte es plötzlich „Knack“ im Bauch der Krachtigall. Und sie war still. 42. Entsetzt sprang der Kaiser aus seinem Bett und versuchte verzweifelt den künstlichen Vogel wieder aufzuziehen. Er schüttelte und rüttelte, aber die Maschine blieb stumm. Schnell ließ er nach dem „Hochkaiserlichen Oberuhrmacher“ Ticknich Richtich rufen. Der öffnete die kleine Klappe im Bauch der Krachtigall und begann fieberhaft an den kleinen Zähnrädchen zu arbeiten. Als er fertig war, sagte er besorgt: „Der Zahnradvogel, der singt zwar wieder Doch die Mechanik ist hinüber.
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Er darf höchstens ein Mal im Jahr singen, sonst droht er gänzlich zu zerspringen!“ Die kaputte Krachtigall klang katastrophal. 43. Sie leierte und holperte ihr Lied herunter, wie eine alte Kaffeemühle. Aber der Hofkapellmeister erklärte: „Diese Interpretation ist äußerst interessant, modern, gewagt und äh… extravagant!“ Und da wollte natürlich keiner widersprechen! 44. So vergingen fünf Jahre. Da kam große Sorge über das Land, denn der Kaiser wurde schwer krank. Der Leibarzt erklärte: „Die Stunden des Kaisers sind gezählt, wird Zeit, dass ihr einen neuen wählt!“ Das Volk stand auf dem Platz vor dem Palast und fragte den Kammerherrn, wie es dem Kaiser ginge. Und der antwortete: „Tsing Pee, unserem Kaiser tut alles weh!“ 45. Der Kaiser lag einsam, blass und krank auf seinem großen Prunkbett und stöhnte. Der Kammerherr und alle Diener hatten ihn verlassen. Sie hatten sich aufgemacht, um die Kaiserkandidaten zu begrüßen, denn sie hatten alle große Angst davor, ihre Stelle zu verlieren. Der Leibarzt hatte dem kranken Herrscher absolute Ruhe verordnet und deshalb waren alle Flure und Gänge des Palastes mit dicken Teppichen ausgelegt worden. Im kaiserlichen Schlafgemach war es totenstill… 46. Der Kaiser starrte reglos an die Decke! 47. Er war umringt von bestickten Kissen und vielen dicken Seidendecken. Die Samtvorhänge des Zimmers waren zugezogen. Nur durch einen schmalen Fensterspalt fiel fahles Mondlicht auf den Kaiser und die defekte Krachtigall. 48. Der starke Herrscher war schwach und bekam kaum Luft. Seine Brust drückte, als würde ein schwerer Stein auf ihr liegen. Doch als er für einen Moment die müden Augen öffnete, sah er, dass es der Tod war, der auf seiner Brust kniete. 49. Der Tod hatte sich die Krone des Kaisers aufgesetzt. In der einen Hand hielt er den Säbel, in der Anderen die wunderschöne Fahne des chinesischen Kaiserreiches.
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Plötzlich tauchten zwischen den Kissen und Seidendecken seltsame Gesichter auf. Einige waren hübsch und freundlich. Aber andere furchtbar grässlich. Das waren die guten und bösen Taten des Kaisers, die jetzt auftauchten und ihn anstarrten. 50. „Was du jemals hast verbrochen, kommt jetzt auf dich zugekrochen.“ Flüsterten die Fratzen. Dem Kaiser wurde angst und bange. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. 51. „Ihr bösen Geister lasst mich ruhn, Ich habe nichts mit euch zu tun. Musik, Musik, Musik will ich hören Damit die Stimmen mich nicht länger stören.“ 52. Doch die Spukgestalten sprachen immer wilder auf den Kaiser ein. Und der Tod grinste dazu. 53. „Musik! Musik!“ schrie der Kaiser verzweifelt. „Goldner Vogel, liebes Kind Sing damit ich Ruhe find. Ich hab dir doch so viel gegeben Jetzt rette du mein krankes Leben.“ 54. Aber der Schnabel des Maschinenvogels schwieg. Denn es war niemand da, der die Krachtigall hätte aufziehen können. Immer mehr Gesichter redeten auf den Kaiser ein. Der ganze Raum war erfüllt von einem Raunen, Flüstern und Zischen. 55. Doch plötzlich erklang zwischen den Stimmen freundlicher Gesang. 56. Das war die kleine Nachtigall, die draußen beim offenen Fenster auf einem Zweig saß. Sie hatte von der Krankheit des Kaisers gehört und war nun gekommen, um ihn zu trösten. Vorsichtig begann sie zu singen. Ton für Ton erfand sie eine magische Melodie, die die flüsternden Stimmen zum Schweigen brachte. 57. Ja selbst der Tod hörte ganz begeistert zu, wie die Nachtigall sang. Und so sprach der kleine Vogel den dunklen Schatten an: „Gern will ich weiter für den Herrn des Friedhofs singen. Aber Ihr müsst den Kaiser zurück ins Leben bringen.“
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Der Tod nickte und die Nachtigall ließ ein wunderbares Lied erklingen. Es erzählte vom stillen Friedhof, auf dem weiße Rosen wachsen. Vom Flieder und seinem süßen Duft. Da begann der Tod Heimweih zu bekommen und schwebte wie Nebel aus dem Fenster hinaus. 58. „Hab Dank, hab Dank, ich bin nicht mehr krank!“ seufzte der Kaiser als der Tod verschwunden war. „Wie konnte ich dir nur böse sein Dein Herz ist groß, bist du auch klein. Ich hab dich aus meinem Reich verbannt Trotzdem hast du meine Not erkannt. Mit Schätzen will ich dich reich beschenken Und verspreche hiermit, dich nie mehr zu kränken.“ Doch die Nachtigall erwiderte bescheiden: „Ihr schuldet mir keinen Lohn Ich sah Euch weinen, das reicht mir schon. Als ich zum ersten Mal für Euch sang Eine Träne aus Eurem Auge rann. Nichts kann eine größere Ehre sein Drum schlaft in aller Ruhe ein.“ 59. Die Nachtigall sang und der Kaiser begann sanft zu schlummern. 60. Am nächsten Morgen wurde der Kaiser von einem feinen Sonnenstrahl geweckt. Verschlafen rieb er sich die Augen und schaute sich in seinem riesigen Schlafgemach um. Niemand war da, um nach ihm zu sehen. Nur die kleine Nachtigall saß auf dem Fensterbrett und trällerte immer noch vergnügt. 61. Gerührt sagte der Kaiser: „Ich möchte dich hören an allen Tagen, die Krachtigall werde ich in Stücke schlagen!“ 62. „Tut dem Vogel bitte nichts an Er hat sein Möglichstes getan. Ich fliege wieder in meinen Wald, aber keine Angst ich komme bald.“ 63. „Ich setz’ mich abends auf einen Ast Und bleibe gern Euer Gast. Dann erzähl ich Euch von Glück und Leid Damit Ihr auf dem Laufenden seid…“
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64. „Ich sehe, wie es den Menschen im Lande geht, und werde es Euch sagen, damit Ihr versteht.“ 65. „Ich werde Euch von der Wahrheit singen Das wird dem Reich Glück und Frieden bringen!“ 66. „Aber eins müsst Ihr mir hoch und heilig versprechen Und dürft Euer Wort auf keinen Fall brechen!“ 67. „Alles“, rief der Kaiser. Er war aus seinem Bett gesprungen und gerade dabei ganz alleine seinen schweren kaiserlichen Umhang anzuziehen. 68. „Niemand darf jemals erfahren, wer Euch berät in den nächsten Jahren.“ Dann flog die Nachtigall aus dem Fenster. 69. Auf dem Platz vor dem Palast hatte sich das ganze Volk versammelt, um den neuen Kaiser zu begrüßen. Als sich die schwere goldene Tür öffnete, klatschten und jubelten sie alle. Doch als sie ihren alten Herrscher mit Säbel und Fahne erkannten, erstarrten sie vor Schreck. Mit fester Stimme sprach dieser zu seinen Untertanen: „Seit Jahren bin ich euer Kaiser, doch ab heute bin ich weiser. Eine Maschine kann präzise und praktisch sein Doch nur ein Freund lässt uns nicht allein. Er kann uns helfen, beraten und verstehn Und mit uns gemeinsam durchs Leben gehn.“ Es dauerte eine Weile bis die Menschen auf dem Platz begriffen, was da eigentlich vorgefallen war. Doch dann jubelten alle und feierten ein Fest, wie es die Welt noch nicht gesehen hat.
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