Passagen Nr. 62

Page 1

passagen

Kunst aus der Cloud Digitale Kultur & Kreation   Eine Meisterin im Verlieren: die Performancekünstlerin Anthea Moys Forschungsreisender im Grenzgebiet: der Künstler Adrien Missika China: Schaufenster für junges Schweizer Design DAS KU LTU RMAG AZIN VO N PR O H E LV E T IA, NR . 6 2 , AU SG AB E 1 / 2 0 1 4


4 – 31 THEMA

32 ORTSZEIT Paris: Forschungsreisender im Grenzgebiet Adrien Missikas aktuelle Ausstellung im Centre Culturel Suisse in Paris. Von Zeke Turner

Von der Netzkunst übers Gamedesign bis zum Transmedia Storytelling – unser Dossier gibt einen Einblick in die Bandbreite digitaler Kreation. Für die Bildstrecke hat Véronique Hoegger Schweizer Kunstschaffende in ihren digitalen Werken ins Bild gesetzt. 6 Der Zugang ersetzt den Besitz «Kulturförderer sollten fünf Jahre vorausdenken», fordert der Futurist Gerd Leonhard im Gespräch mit Miriam Glass.

20 Geld, Geduld und Know-how Für eine starke Schweizer Kreativwirtschaft müssen Wirtschafts- und Kulturförderung kooperieren. Von Marc Bodmer

10 Ich geh’ nur auf einen Sprung ins Netz … Vom Schicksal eines digitalen Immigranten. Von Simon Chen

22 Erzählen als Puzzlespiel In der Welt der Neuen Medien ist Transmedia ein schillernder Begriff. Doch was ist das eigentlich? Von Hannah Pilarczyk

11 Am digitalen Puls der Zeit 14 Das Buch als Maschine Wie sieht das Buch von morgen aus? Frédéric Kaplan, Professor für digitale Geisteswissenschaften, im Gespräch mit Pierre-Yves Frei.

26 Die neue Volkskultur im Internet Zur künstlerischen Praxis des Remix. Von Felix Stalder

16 Datenpiraten und digitale Flaneure Mit subversiven Strategien unterlaufen die Netzkünstler die Machtverhältnisse im Internet. Von Brigitte Ulmer

28 Zwischen Kreativität und ­Kommerz Gamedesignstudenten aus der Schweiz und den USA im Austausch. Von Liz Armstrong

Zur Künstlerin der Bildstrecke Véronique Hoegger (*1976) stammt aus Lausanne und lebt in Zürich. Seit ihren Ausbildungen an den Kunst­hochschulen in Vevey und Zürich ist sie als selbstständige Fotografin in der Schweiz und im Ausland unterwegs. Sie hat ihre Arbeiten in zahlreichen Magazinen publiziert, verschiedene Ausstellungen, Buch- und Magazinprojekte realisiert. Die neuste Publikation Buchs ist in der Edition Patrick Frey erschienen. www.ver.ch

INH ALT 2

Schanghai: Schaufenster in China für Schweizer Design Pro Helvetia hat an der Beijing Design Week junge Schweizer Designer vorgestellt. Von Iona Whittaker

36 REPORTAGE Eine gegen Alle Die Performance-Künstlerin Anthea Moys versucht sich als Alphornistin und tritt gegen den Genfer Eishockeyclub an – a­ llein. Von Daniel Di Falco (Text) und Herbert Zimmermann (Bilder) 40

PRO HELVETIA AKTUELL Visionäre Architektur entdecken Innovative Fotobücher Neue Pläne für das Swiss Institute Coseys Wege durch Indien

42 PARTNER Importprodukt Kultur Von Christoph Lenz 43 CARTE BLANCHE Übersetzer des Lebens Von Michail Schischkin 44 SCHAUFENSTER Plattform für Künstlerinnen und Künstler Cancer face 4 Von Maja Hürst 47 IMPRESSUM PASSAGEN ONLINE AUSBLICK

Titelbild: Véronique Hoegger: Das Game Drei von Etter Studio ist ein modernes Babel-Experiment. www.etter.co/drei Foto Seite 2: Véronique Hoegger: Camille Scherrer mit ihrer Arbeit Parc naturel régional Gruyères, Pays-d´Enhaut, 2012

Kunst aus der Cloud


Digitale Impulse für die Kultur Wer geht morgen noch ins Konzert, zum Theaterabend oder in die Kunstausstellung, wenn via Internet alles bequem im eigenen Wohnzimmer zu haben ist? Für die klassischen Kulturinstitutionen kommt aus der virtuellen Welt ernsthafte Konkurrenz. Doch es ist das besondere Live-Erlebnis, mit dem die Kulturhäuser trumpfen können, findet der Zukunftsforscher Gerd ­Leonhard im Passageninterview. Zusätzlich empfiehlt er, digitale Angebote wie virtuelle Konzert- und Ausstellungsbesuche zu entwickeln. Die Digitalisierung ist aber nicht nur eine Herausforderung, sondern hat auch neue Formen der Kreation eröffnet, von denen wir in Passagen einige näher vorstellen – von der Netzkunst übers Gamedesign bis hin zum Transmedia Storytelling. Letzteres ist ein schillernder Begriff. Wo­ rum es dabei überhaupt geht, schildert Hannah Pilarczyk an Beispielen aus Kino und Fernsehen, wo das Transmedia Storytelling seinen Anfang genommen hat. Gewissermassen eine Urform digitaler Kreation ist das Copy Paste-Verfahren. Es hat sich im Internetzeitalter in Form der Meme zu einer lustvoll betriebenen Volkskunst entwickelt, wie Felix Stalder in seinem Beitrag darlegt. Mit den ernsthafteren sozialen und politischen Implikationen des Internets setzen sich die Netzkünstler Gordan Savic  ˇic ´und die Gruppe Ubermorgen auseinander. Mit ihren subversiven künstlerischen Strategien machen sie auf Machtmissbräuche im Netz aufmerksam. Die Digitalisierung bringt auch für Pro Helvetia neue Aufgaben und Innovation in der Kulturförderung: Die Stiftung engagiert sich mit eigenen Initiativen wie dem 2013 lancierten Programm Mobile. In Touch with Digital Creation. Sie fördert aber neu auch digitale Projekte und Kooperationen zwischen Kunst, Technologie und Forschung. Mit dieser Ausgabe verabschieden wir die Redaktionsleiterin Janine Messerli, die während der letzten sechs Jahre die Fäden unseres Kulturmagazins geführt und es von der ersten Idee bis zum Gut zum Druck in eine unverwechselbare Form gebracht hat. Wir bedanken uns für ihr gros­ ses Engagement. Sabina Schwarzenbach Leitung Kommunikation Pro Helvetia

E DIT O R IAL 3


Digitale Kultur Stefan M端ller Arisona arbeitet an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Technologie. Er verwendet dabei Methoden aus der Computergrafik, der 足 Mensch-足Computer-Interaktion und dem digitalen Design. www.robotized.arisona.ch

4


und Kreation

Die Digitalisierung verändert das Kulturschaffen tiefgrei­ fend. In unserem Dossier werfen wir Schlaglichter auf Werke, Prozesse und Auswir­ kungen digitaler Kreation, die uns besonders wichtig und richtungsweisend erscheinen: Wir fragen nach der Zukunft des Buches, hören von den Nöten der Digital Immigrants und erfahren, was Trans­ media eigentlich bedeutet. Wir erörtern die Herausforde­ rungen der Digitalisierung für die klassischen Kultur­ institutionen und fragen, wie ­Kultur und Wirtschaft die digitale K ­ reation am besten fördern. In der F ­ otostrecke zeigen wir, wer die Macherin­ nen und Macher hinter den digitalen Werken sind: Die Fotografin Véronique Hoegger hat sieben Schwei­ zer Kunstschaffende porträ­ tiert und sie in ihren eigenen digitalen Werken ins Bild gesetzt.

5


G

erd Leonhard, ehemals Musiker, schaut heute hauptberuflich in die Zukunft. Firmen und Organisationen aus der ganzen Welt engagieren ihn als Berater oder Redner zu Themen rund um die Digitalisierung. Im Interview sagt er, wie sich durch das Internet die Rollen von Kulturschaffenden, Kulturindustrie und Kulturförderung weiter verändern werden. Und er erklärt, warum es vielen Menschen schwerfällt, auf offensichtliche Tatsachen zu reagieren. Gerd Leonhard, Sie bezeichnen sich selbst als Futurist. Was ist das? Ein Futurist thematisiert rechtzeitig Entwicklungen, die bevorstehen. Er tut aber nicht dasselbe wie ein Zukunftsforscher. Mindestens so sehr wie Forschung und Wissen spielen Intuition und Beobachtungsgabe eine Rolle. Sie referieren vor den Führungskräften grosser Firmen. Wie können Sie diesen sagen, was die Zukunft bringt? Ich beschäftige mich mit dem, was in drei bis fünf Jahren Realität sein wird. Vieles, was in diesem Zeithorizont passieren wird, liegt auf der Hand. Jeder könnte darauf kommen – aber die Leute sind so beschäftigt mit ihren aktuellen Tätigkeiten, dass es ihnen schwerfällt, weiter als ein Jahr voraus zu schauen. Sie widmen nur ein bis zwei Prozent ihrer Zeit langfristiger Zukunftsplanung. Ich verwende 90 Prozent meiner Zeit darauf und kann so einiges weitergeben. Oft geht es darum, Offensichtliches einfach wahrzunehmen.

Es wird sehr viel einfacher und billiger, ein grosses Publikum zu erreichen. Die Welt ist ein riesiges Schaufenster geworden, jeder kann sich online zeigen. Das ist ein Vorteil. Allerdings wächst auch die Konkurrenz. Den Nachteil haben bisherige «Mittelsmänner» – also Buchläden, Vertreiber, die herkömmliche Musikindustrie. Sie braucht es in der heutigen Form oft nicht mehr. Die Machtpositionen verschieben sich. Wer sind die Verlierer, wer die neuen Mächtigen? Mächtig ist in Zukunft, wer die Kontrolle über die Wolke hat, wer also den Zugang regelt. Bei der Musik zum Beispiel hat die Plattform Spotify, über die man Songs herunterladen kann, eine neue Art von Machtposition, weil sie als Verknüpfer von Produzenten und Konsumenten funk­tioniert. Oder Comcast/NBC Universal, das drittgrösste Medienunternehmen der Welt: Es besitzt sowohl Kabelnetze als auch Inhalte. Verlierer sind die, die bisher mit dem Vertrieb Geld verdienten. Kaum jemand kauft noch eine CD für 30 Franken. Auf Youtube ist praktisch jeder Song gratis zu hören.

Der Zugang ­ersetzt den Besitz

Kulturförderer sollten fünf Jahre ­vorausdenken, sagt Gerd Leonhard. Der Futurist, der Zukunftsprognosen zur digitalen Kultur abgibt, vermisst diese Weitsicht jedoch bei vielen.

Wie geht diese Entwicklung weiter? Rechteverwalter wie die SUISA oder Lobbyisten wie die IFPI (der Branchenverband der Musiklabels, Red.) wehren sich weiterhin. Sie haben langfristig keine Chance gegen diese Entwicklung, aber sie erklären alle nichtbezahlten Kopien für illegal.

Sind sie ja auch. Es ist nicht zu verhindern, dass Musik online kopiert wird. Jedes Gerd Leonhard im Gespräch mit Miriam Glass Mal, wenn ich einen Song online Zum Beispiel? Zum Beispiel war vor zehn Jahren abspiele, ihn also «streame», ist klar, dass die Musik in die «Cloud», also in die Wolke, wandern das eine Kopie. Eine Legale, übrigens. Das Copyright im heutigen würde. Trotzdem ist die Musikindustrie in eine Krise gestürzt. Alle Sinne funktioniert nicht mehr so einfach wie früher. weiteren Inhalte, Filme und Bücher zum Beispiel, wandern ebenfalls in die Wolke. Was wäre ein neues Modell? Ich nenne es User Right, also Nutzerrecht. Sobald etwas veröffentlicht ist, kann es legal genutzt werden. Eine gute Option wäre, eiWas bedeutet das konkret? Dass wir nicht mehr für die Kopie bezahlen, sondern für den Zu- nen gesetzlichen Rahmen für diese Nutzung zu schaffen. ­ gang. Wenn der Inhalt sich vom physischen Träger löst – also von der CD, vom Buch oder von der DVD, für die ich bis vor kurzem Im Sommer 2013 haben Sie eine Flatrate für Musik vorgebezahlte – muss nicht mehr der Preis für die Träger geregelt wer- schlagen. den. Sondern es geht darum, den Zugang zu den Inhalten zu er- Eher eine öffentliche Lizenz für Musik, die zu einer Flatrate fühmöglichen. Der Zugang ersetzt den Besitz, und das bringt völlig ren könnte. Lizenznehmer, zum Beispiel Telekomfirmen, würden neue ökonomische Modelle. ihren Kunden erlauben, gratis so viel Musik zu streamen oder ­herunterzuladen, wie sie wollen. Die Firmen zahlen dafür den Was bedeuten diese Veränderungen für die klassischen Kunst- Rechte­inhabern und damit auch den Künstlern einen bestimmsparten? ten Betrag, zum Beispiel einen Franken pro Woche. DIGITALE K U LT U R & K R E AT IO N 6


Die Reaktionen auf Ihren Vorschlag waren ablehnend. Ein Argument war, dass man die Nutzung nicht mehr kontrollieren könne. Muss man ja auch nicht. Wozu? Es geht nicht mehr um Kontrolle von dem, was sein sollte, sondern um Monetarisierung von dem, was ist. Ein Künstler könnte zum Beispiel verhindern wollen, dass seine Musik in gewissen Kontexten genutzt wird. Oder er könnte mehr Geld einfordern, wenn jemand mit seiner Musik selbst viel Geld verdient. Das Internet wird immer schneller, billiger, globaler. Wenn wir diese Realität akzeptieren, müssen wir davon ausgehen, dass die Technologie einen Weg um alle Kontrollmechanismen herum findet. Trotzdem sind Nutzer zahlungswillig, wenn der Deal stimmt. Soll jemand zwanzig Franken pro Monat für Musik zahlen, wird er zögern. Sind es zehn Franken im Jahr, ist er dabei –

Stimmt. Aber es war schon immer so, dass Musik verkaufen allein oft nicht reichte. Als Musiker verdiente man auch bisher Geld mit Auftritten und Fördergeldern, vielleicht auch mit Film, Werbung oder Sponsoring und weniger mit CD-Verkäufen. Ich war selbst Musiker, ich kenne das. Der Zwang, einen Mehrwert zu schaffen, bestand schon vor dem Internet. Dieses vereinfacht es nun, gute Angebote zu machen und ein Publikum dafür zu finden. Es ist allerdings eine Illusion, wenn ein Künstler glaubt, dank dem Internet plötzlich leichter an Geld zu kommen. Wechseln wir die Sparte: Wie sehen Gegenwart und Zukunft des Buchmarktes aus? Hier lässt sich beobachten, dass die so genannte «Kindle-Ökonomie» gut funktioniert. Die Konsumenten akzeptieren es, für elektronische Bücher einen gewissen Preis zu zahlen. Er muss tiefer sein als für ein gedrucktes Buch, liegt aber erheblich höher als die Kosten eines PDF-Dokuments. Warum ist das so? Anders als bei Musik, die man oft im Hintergrund und ungefragt hört, investiert ein Leser bewusst Aufmerksamkeit und Zeit. Dafür will er eine gut lesbare Darstellung und ein handliches Gerät. Er ist bereit, für das Interface zu bezahlen. Der Vertrieb aber kostet so gut wie nichts. Ich kann als Autor mein Buch schreiben, es sofort veröffentlichen und Geld von meinen Usern einnehmen. Schmerzlos.

Die Künstler sind nicht die Verlierer. Sie müssen sich aber etwas einfallen lassen, um Geld zu verdienen. und den oben genannten Franken pro Woche könnte sogar ein Provider für ihn bezahlen. Denn für die Lizenznehmer, zum Beispiel Telekomfirmen, könnte das Angebot zur Musiknutzung neue Kunden bringen. Die neue Ökonomie besteht also darin, dass die Nutzung billiger wird? Ja, der Vertrieb ist ja de facto «eingebaut». Die Einnahmen pro einzelne Nutzung gehen zurück, dafür steigt die Zahl der Nutzer dramatisch. Geht diese Rechnung auf? Oder sind die Künstler die Verlierer? Die Nutzung kann ja nicht unendlich wachsen. Meiner Meinung nach sind die Künstler hier nicht die Verlierer. Sie müssen sich aber – und das ist nicht neu – etwas einfallen lassen, um Geld zu verdienen. Zum Beispiel können sie schneller ein Publikum aufbauen, weil ihre Musik leichter zugänglich ist. Und wenn sie bekannt sind, können sie kostenpflichtigen Mehrwert anbieten, den sogenannten «Premium». Zum Beispiel? Nehmen wir an, ein Fan kann seine Songs gratis ­– also per Flatrate – herunterladen. Aber wenn er ein Livekonzert am Computer mitverfolgen will, muss er im Fanclub sein. Dieser Zugang kostet extra. Vielleicht will er auch ans Livekonzert. Dafür wird er bezahlen. Ein Musiker kann sich die digitale Verbreitungskultur zunutze machen, um ein Publikum aufzubauen, das weitere Dinge von ihm will – zum Beispiel Bücher oder andere Produkte. Die meisten Musiker wollen nicht Produkte vermarkten, sie wollen Musik machen.

Für Verlage und Buchhändler ist das nicht schmerzlos. Gibt es sie in 15 Jahren noch? Das ist eine komplexe Frage. Die Rolle der Verlage verändert sich zweifellos. Es wird weiterhin Mittelsmänner geben. Aber nicht mehr in Form von Verlagshäusern, die hauptsächlich für die Distribution zuständig sind. Sie werden eher eine Agentenrolle haben, in der sie vieles abdecken – Online-Promotion zum Beispiel. Sie werden weniger verdienen als bisher, weil sie nicht mehr für den Vertrieb sorgen und die Vermarktung dank dem Internet günstiger wird. Die Autoren können vieles selbst machen. Allerdings müssen sie auch mehr Verantwortung tragen. Wie sieht es für die Institutionen aus, die Kunst vermitteln? Museen, Kinos, Theater, Konzerthäuser? Reale Treffpunkte werden wichtig bleiben. Allerdings müssen auch sie reagieren. Wie? Ich denke, dass viele dieser Orte interaktiver werden, ihren sozialen Charakter ausbauen. Und dass sie sich digital verknüpfen. Was heisst das? Online-Marketing ist unerlässlich. Online-Booking, Photosharing, Mobile Apps, virtuelle Rundgänge … Das machen viele schon. Wie akzentuiert sich diese Entwicklung in Zukunft?

DI G ITALE K U LT U R & K R E AT IO N 7


Die Institutionen, zum Beispiel Museen, müssen auch ihre Preispolitik überdenken. Wenn ich die Sammlung online besichtigen kann, muss es neue Gründe geben, das Museum tatsächlich zu besuchen.

Ein harter Vorwurf. Wie kommen Sie dazu? Weil wir in der Schweiz – nicht nur in der Kulturförderung – zu oft reagieren statt agieren. Wir passen uns Entwicklungen an, statt sie vorwegzunehmen und mitzuformen.

Wie kann so eine so angepasste Preispolitik aussehen? Man muss Wert neu verhandeln und sich genau überlegen, was für einen Nutzer ein Grund ist, um Geld auszugeben – die «reason to buy». Diese Wertedefinitionen verändern sich immer wieder. Es ist eine Herausforderung, darauf zu reagieren oder Entwicklungen vorwegzunehmen.

Wie würde das bezogen auf die Kulturförderung aussehen? Der Hauptpunkt: Kreative und deren Vertreter sollten bestärkt werden, neue Modelle und Methoden zu entwickeln, gerade im Hinblick auf die digitale Kultur. Und man muss viel mehr an die Nutzer und deren Wünsche und Verhaltensmuster denken.

Gibt es ein konkretes Beispiel, wo das gelungen ist? Viele grosse Opernhäuser machen es gut. Die Metropolitan Opera in New York erlaubt es zum Beispiel, virtuell in die Oper zu gehen. Entweder zu Hause oder im Kino. Ein grossartiger Ansatz. In Amerika machen 480 Kinos mit, in der Schweiz auch schon einige. Die Leute gehen hin. Und wenn sie nach New York kommen, besuchen sie die echte Metropolitan Opera. Dieses Erlebnis ist dann eine «reason to buy». Die Met ist eine sehr renommierte Institution, die sich solche Investitionen leisten kann. Andere können so nicht vorgehen. Man sucht immer nach Regeln, die für alle gelten. Die gibt es aber nicht. Wie sieht die Zukunft des Kinos aus? Kinos können sich halten, wenn sie ein Erlebnis bieten, das der Nutzer zu Hause nicht haben kann. Zum Beispiel mit einer teuren Soundanlage oder Surround-Movies. Die Nutzer gehen hin, weil sie etwas Besonderes erleben. Das gilt für alle Kunstformen, die mit Echtzeit-Erlebnissen zu tun haben. Also Bühnenkünste wie Tanz und Theater oder eben auch Konzerte.

Gibt es dafür ein Beispiel? Man könnte Kulturschaffende, zum Beispiel Filmemacher oder Autoren, dazu motivieren, von Anfang an für den digitalen Markt zu arbeiten. Ein Autor produziert Inhalt, egal, wo dieser erscheint. Nein, das ist nicht egal. Die Motivation, sich mit den digitalen Möglichkeiten auseinanderzusetzen, hängt stark davon ab, ob diese digitalen Möglichkeiten wirklich etwas bringen. Wenn ich einen Film mache, will ich ihn dort vertreiben, wo er ein Publikum findet. Man müsste also in Plattformen oder zumindest in Verknüpfungen mit Plattformen investieren, die sich dafür eignen. Die Aufgabe der Kulturförderung ist es sozusagen, eine passende Logik zu dem zu entwickeln, was in fünf Jahren sein wird. Nur bestehende Kanäle zu pflegen, ist nicht sinnvoll. Bei allen laufenden und bevorstehenden Veränderungen: Was bleibt, wie es ist? Das Menschsein und das Kreativsein. In der Kunst geht es um menschlichen Ausdruck. Und was Menschen bewegt und motiviert, hängt zwar mit technischen Entwicklungen zusammen, aber es ist kein Algorithmus. Den Wert der Kunst macht immer noch aus, dass sie nicht berechenbar ist.

Wenn vieles ins Netz wandert, wer hilft mir durch die Datenflut? Wer kuratiert? Wir brauchen Filter, das ist klar. Blogs und soziale Medien übernehmen diese Rolle schon ein Stück weit. Welche Filter jemand nutzt, hängt mit seinem Referenzsystem zusammen – genau wie bisher. Es lesen auch nicht alle die gleichen Zeitungen. Man nimmt Empfehlungen nur von gewissen Leuten entgegen. Wie verändert sich durch all die Verschiebungen die Rolle der Kulturförderung? Grundsätzlich braucht staatlich betriebene Kulturförderung wohl auch eine Art von Zukunftsvision. Man muss ja überlegen, was in fünf Jahren sein wird. Es reicht nicht, von heute in die Zukunft zu denken, sondern man muss eine doppelte Perspektive einnehmen: Erst sich die Zukunft vorstellen und dann sozusagen aus der Zukunft zurückschauen auf die Gegenwart, um Handlungsschritte und Strategien zu bestimmen. In der Schweiz fehlt diese Weitsicht leider weitgehend, es wird oft einfach von jetzt auf morgen linear extrapoliert und nicht das exponentielle Wachstum der Technologie erwogen.

Gerd Leonhard (*1961) arbeitete rund zehn Jahre als Musiker und Komponist, bevor er sich bei verschiedenen Start-up-Firmen im Internet engagierte. Seit 2002 ist er Futurist, Berater von Firmen und Redner zur künftigen Entwicklung im Zusammenhang mit der Digitalisierung. Er lebt in Arlesheim bei Basel. Miriam Glass (*1979) ist Redaktorin bei der Wochenzeitung Schweiz am Sonntag. Davor arbeitete sie als Kulturredaktorin bei der Basler Zeitung.

DIGITALE K U LT U R & K R E AT IO N 8


Yves Netzhammer mit einer Projektion aus seiner Installation Die Anordnungsweise zweier Gegenteile bei der Erzeugung ihres Ber端hrungsmaximums, 2005. www.netzhammer.com

9


F

otos angucken, das liebte sie. Sanft tippte sie mit der musste er erkennen: Wer im World Wide Web nicht erscheint, exisFingerkuppe auf den Screen, elegant wie Eistänzerin- tiert nur in Wirklichkeit. nen wischten ihre Finger über die Oberfläche, und das Vergrössern des Bildes durch Auseinanderziehen von Community ist, wo man sich gemeinsam abschottet Daumen und Mittelfinger war von geradezu angebo- Als er eines Tages erfuhr, dass seine mittlerweile halbwüchsige rener Natürlichkeit. Tochter Opfer von Cybermobbing geworden war, war seine VaterEr staunte über die Fingerfertigkeit seiner fünfjährigen liebe stärker als alle Vorbehalte. Für sein eigen Fleisch und Blut Tochter. Sie stolperte zuweilen über ihre Beine, lispelte beim gab er seine mediale Eigenständigkeit auf, registrierte sich und Sprechen, aber die Feinmotorik ihrer Finger war nahezu perfekt. eilte seiner Tochter unverzüglich zu Hilfe. Er erntete tausende Und auch wenn sie eine ausgedruckte Fotografie weiterwischen von Likes und Followers. wollte; oder wenn sie ihn in kindlicher Naivität fragte, ob der Damit war der Bann gebrochen. Als hätte er nur auf eine GelegenGooglehopf auch aus dem heit gewartet, liess er sich jetzt Computer komme – musste er voll und ganz in die unendlichen sich eingestehen, dass ihm sein Tiefen der virtuellen Welt fallen Töchterchen digital gesehen und verfing sich schnell und ret(lat. digitus=Finger) bereits tungslos in den engen Maschen eine Generation voraus war. des World Wide Web. Von einem Tag auf den anderen brauchte er Er war auf die Welt gekommen, als man Heim und Comnicht mehr zu wissen, denn jetzt puter noch nicht zusammen googelte er; und er musste sich schreiben konnte. Die ersten nicht mehr erinnern, denn das dieser Rechner, mit denen er übernahm Wikipedia. Schlau in Berührung kam, verfügten war, wer ein Smartphone besass, über einen Arbeitsspeicher, der so seine Devise. ungefähr dem Umfang eines Fortan wandelte er halb blind und taub durchs Leben; seiner Schulaufsätze entsprach. seine Augen spiegelten sich in In seiner Mittelschulzeit beJahrelang hatte er sich den digitalen wegte er sich ganz ohne MobilDisplays und Screens, seine OhMedien verweigert. Bis ein Hilferuf aus dem telefon. Kurzmitteilungen wurren dienten als Halterung für virtuellen Raum seinen Widerstand brach. den noch mittels kleiner Headsets, während seine Finger Eine Geschichte, die das Leben tippte. Zettelchen überbracht. Der wie junge Rehe über die Tasten Sound der Zeit ertönte aus tanzten, twitternd und bloggend. walkmanbetriebenen KassetNach jahrelanger Verweigerung Von Simon Chen ten, und das World Wide Web und Ausgrenzung war er zum war ebenfalls noch Zukunfts­digitalen Vorzeige-Immigranten musik. Er war in einer Zeit hegeworden: er kommunizierte rangewachsen, als ein Fenster nach dem Schliessen noch vorhan- nur noch mit Menschen, die abwesend waren. den war, und als der Satz «Ich schau mal im Netz nach» höchstens Am Tag, als seine Tochter von zuhause auszog, trennte er sich unter Fischern fiel. auch von seiner Frau, die ihm schon lange viel zu real vorgekommen war. Nach dem Abendessen streichelte er ihr noch einmal World Wide Web versus Wirklichkeit über die Wange, wie er sonst nur sein iPad streichelte. «Ich geh Er hatte sich lange gegen Handys gewehrt. Bis ihm für verbindli- nur mal schnell ins Netz», sagte er. che Verabredungen fast nur noch seine Eltern blieben. Er hatte Er kam nie wieder. lange keine Mailadresse. Bis man es leid war, ihm die Einladungen jedes Mal per Briefpost zu schicken. Er hatte sich jahrelang standhaft geweigert, sogenannt sozialen Netzwerken beizutreten. Bis er merkte, dass er nicht mehr mitreden konnte, weil sich die Gespräche rundherum um Dinge drehten, die bereits in einem anderen Raum besprochen worden waren. Immer öfter kam er sich vor wie ein Ausländer, der ein Wort oder einen Satz nicht verstanden hatte. Und es gab immer weniger Menschen, mit denen er sein Leid hätte Simon Chen, 1972 in Freiburg geboren, ist diplomierter Schauspieler und seit 2007 hauptberuflicher Spoken-Wordteilen können, geschweige denn sharen. Autor. Er arbeitet regelmässig für Radio SRF1. VergangeDie Welt hatte sich rasanter weitergedreht als die mechani- nen Dezember erschien bei Edition Porro SUSHI (Buch+CD). Chen lebt in Zürich, ist nicht auf sche Wählscheibe, die seine fünfjährigen Finger seinerzeit noch CASANOVA Facebook, besitzt kein Smartphone, wohl aber eine betätigen mussten, um mit Oma zu telefonieren. Und bitter Webseite: www.simonchen.ch

Ich geh’ nur auf einen Sprung ins Netz …

DIGITALE K U LT U R & K R E AT IO N 10


Am digitalen Puls der Zeit Mit dem Schwerpunkt Digitale Kultur fördert Pro Helvetia die künstlerische digitale Kreation. Die Bilanz nach den ersten zwei Jahren ist positiv: Die neuen Förderangebote stossen auf grosse Resonanz bei den Kunstschaffenden und führen zu beeindruckenden Projekten. Von Janine Messerli

D

igitalisierung und Neue Medien sind heute ein wichtiger Bestandteil zeitgenössischer Kunst und Kultur. Mit dem Schwerpunkt Digitale Kultur (2012 – 2015) antwortet die Schweizer Kulturstiftung auf diese neue Realität. Kernstück ist das Programm Mobile. In Touch with Digital Creation, das Werke von Schweizer Kreativen unterstützt, welche die neuen technologischen Möglichkeiten innovativ nutzen. Zum Programm gehört neben Symposien, Workshops und Ausstellungen auch der Call for Transmedia Projects, mit dem die Stiftung offenbar den Nerv der Zeit getroffen hat: An die hundert Transmedia-Projekte wurden eingereicht. Sie erschaffen eine dokumentarische oder fiktive Welt, indem sie verschiedene Medien verknüpfen, und ermöglichen dem Nutzer ein interaktives Erlebnis. «Die Projekte arbeiten mit Film, Comics, Musik, Videospielen – und Webseiten oder ­Applikationen gehören meist dazu», erklärt der Programmverantwortliche Michel Vust. Das Programm Mobile knüpft an den Erfolg des Vorgängerprogramms GameCulture an: «Junge Schweizer Gamedesigner, die wir unterstützt haben, wie Mario von Rickenbach, Etter Studio und Apelab, sind bereits zu internationalem Erfolg gelangt», sagt Vust. Wichtig für diesen Erfolg sei eine koordinierte Förderung von der Entwicklung des Prototyps bis zur Lancierung im Markt. Dafür kooperiert die Kulturstiftung mit Partnern aus Wirtschaft und Technologie. Eine weitere Ausschreibung für Spieleentwickler wird diesen September lanciert, und schliesslich vergibt die Stiftung zusammen mit dem CERN zwei Atelieraufenthalte an diesem renommierten Genfer Forschungsinstitut.

nologie- und Forschungsinstitutionen. Anreiz für solche Projekte schuf die Stiftung mit der Ausschreibung Interdisziplinäre Kooperationsprojekte Neue Medien. «Die grosse Resonanz auf die Ausschreibung hat unsere Erwartungen klar übertroffen, und die Qualität der Projekte ist bemerkenswert», sagt Andreas Moos, Leiter der Förderung bei Pro Helvetia. Es gingen 43 Vorschläge ein, die gemeinsam von Schweizer Institutionen aus Kunst, Forschung und Wissenschaft entwickelt wurden. Sechs ausgewählte Projekte werden unterstützt und spätestens im Sommer 2015 einem grös­ seren Publikum präsentiert. Die Kulturstiftung fördert ausserdem Digitalisierungsprojekte im Bereich Vermittlung und Promotion, die von gesamtschweizerischer Bedeutung sind. Mehr Informationen zur Förderung der Digitalen Kultur finden Sie im Internet.

Interdisziplinäre Kooperationen Ein wichtiger Bestandteil des Schwerpunkts Digitale Kultur ist ferner die Förderung von Kooperationen zwischen Kultur-, Tech-

www.prohelvetia.ch > Initiativen > Digitale Kultur www.prohelvetia.ch/mobile

DI G ITALE K U LT U R & K R E AT IO N 11


12


Die Gamedesigner Marc Gruber (rechts) und Simon Kovatsch mit ihren Kreaturen Ned & Ted. Im gleichnamigen Game geht es darum, die beiden verr端ckten Kerle zu befreien. www.nedandtedgame.ch

13


F

rédéric Kaplan, womit beschäftigt sich Ihr Labor für digitale Geisteswissenschaften? Mit den kulturellen Veränderungen, die durch neue Technologien ausgelöst werden. Konkret nutzen wir die Mittel der Informatik und der Informationswissenschaft, um bestimmte Fragen der Geistes- und Sozialwissenschaften aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Bei unseren Überlegungen zur Zukunft des Buches heisst das zum Beispiel, dass wir die grossen Dynamiken unter die Lupe nehmen, welche die lange Geschichte dieses Mediums geprägt haben.

informationen – möglich ist jedoch nur, was das Programm vorgesehen hat.

War es die Erfindung des Buchdrucks, mit der die Maschinisie­ rung des Mediums ihren Anfang nahm? Der Buchdruck leitete diesbezüglich in der Tat eine erste Ent­ wicklungsphase ein, in deren Verlauf die konventionellen Produktionsmethoden der klösterlichen Schreibstuben nach und nach maschinisiert wurden. Während sich das gedruckte Buch im Gebrauch nicht wesentlich von einem handschriftlichen Manuskript unterschied, wurde seine Form und Gestalt durch die neue TechDas Buch sei dabei, sich zu einer Maschine zu entwickeln, ist in nologie in zunehmendem Masse beeinflusst. Mit dem E-Book mehreren Ihrer Arbeiten zu lesen. Was meinen Sie damit? hat die zweite Etappe dieser Entwicklung begonnen, in der sich Meines Erachtens waren Bücher schon immer technologische aufgrund der Mechanisierung des Lesevorgangs nun auch die Objekte. Nachdem sie lange den Charakter eines Werkzeugs hat- ­Verwendungsweise verändert. Das Buch wird vom Werkzeug zur ten, das sich auf vielfältige Weise ­Maschine. Dies zeigt sich unter nutzen lässt, werden sie heutzuanderem darin, dass sein Inhalt tage zunehmend zu regelrechnur über eine Benutzeroberfläten Maschinen – leistungsfähiche und durch das Ausführen ger als je zuvor, aber auch mit vordefinierter Gesten zugänglich begrenzteren Verwendungsmögist und dass sich Markierungen oder Kommentare nur auf eine lichkeiten. bestimmte Art anbringen lassen, während man dafür bei einem Wie würden Sie den Begriff «Buch» definieren? Buch aus Papier unzählige MögWie wird das Buch der Zukunft aussehen? Traditionell ist ein Buch ein dreilichkeiten hat. Frédéric Kaplan, Professor für digitale dimensionaler Gegenstand, beGeisteswissenschaften an der ETH stehend aus einer gewissen AnAber bietet das elektronische ­Lausanne, spricht über die Auswirkungen Lesen denn gar keine Vorteile? zahl zweidimensionaler Objekte – also Seiten –, die Text, aber Doch, natürlich. Indem ich bei der Digitalisierung auf das Buch und auch Diagramme, Zeichnungen einem entsprechenden Anbieter unser Leseverhalten. oder anderes enthalten. Das das Recht dazu erwerbe, erhalte Buch bestimmt deren Reihenich Zugriff auf Unmengen von Interview: Pierre-Yves Frei Inhalten, die entweder in einer folge und schlägt Vorgehensweisen vor, um in diesem dreidimenexternen Datenbank oder direkt sionalen Raum zu navigieren. Es auf meinem Lesegerät gespeiist physischer Behälter und Benutzeroberfläche zugleich und hat chert sind, und kann so stets Tausende von Werken mit mir herEntstehen und Verbreitung verschiedener Arten von intellektuel- umtragen. Dieses bequeme System birgt jedoch ein grosses Problen Inhalten ermöglicht, etwa des Romans oder des Essays. lem: Ich besitze lediglich das Hilfsmittel, um mir ein Buch anzusehen, nie aber dessen Inhalt, für den ich nur ein befristetes, nicht übertragbares und jederzeit widerrufbares Zugriffsrecht Und was verstehen Sie unter «Maschine»? Die Automatisierung von Vorgängen zum Erreichen eines vor- habe. Damit muss sich abfinden, wer von der Flexibilität des digigegebenen Ziels. Ein Hammer mag primär dazu gedacht sein, talen Lesens profitieren will. Nägel einzuschlagen – man kann mit ihm aber auch etwas kaputt machen oder ihn als Briefbeschwerer verwenden. Er ist im ei- Inwiefern verändert die Digitalisierung des Buches unser Lese­ gentlichen Sinn des Wortes ein «Werkzeug», das unser Wirken verhalten? unterstützt und nicht nur vielseitig, sondern eben auch kreativ Wie bei jeder neuen Kommunikations- oder Informationstechnoeinsetzbar ist. Im Gegensatz dazu wandelt eine Maschine die logie beschränken sich die kognitiven Auswirkungen auch hier ­manuelle Bewegung in einen mechanischen Ablauf um, was sie nicht auf einen einzelnen Effekt. Manche glauben, dass sich Eeffizienter, aber natürlich auch weniger flexibel macht. Eine her- Books weniger gut zum immersiven und linearen Lesen eignen, kömmliche, faltbare Landkarte ist immer noch ein Werkzeug, das für die Lektüre von Romanen charakteristisch ist, und dass wir das im Prinzip für einen bestimmten Zweck vorgesehen ist, aber zu einem agileren Leseverhalten zurückkehren werden, so wie es ebenso gut als Regenschutz oder Einwickelpapier dienen kann. einst Montaigne praktizierte. Der grosse Denker sprang von einem Im Vergleich zu ihr bietet Google Maps zwar viel mehr Optionen Buch zum nächsten, wobei er fast nie eines zu Ende las, sondern wie Vergrössern/Verkleinern oder das Einblenden von Zusatz­ sich nur das herauspflückte, was sein Interesse weckte; damit

Das Buch als Maschine

DIGITALE K U LT U R & K R E AT IO N 14


nahm er sich die Freiheiten heraus, die der Schriftsteller Daniel Pennac als «die unantastbaren Rechte des Lesers» bezeichnet hat. Allerdings lesen wir einerseits auch heutzutage oft nach Art Montaignes, ohne dass dabei ein Bildschirm im Spiel wäre – zum Beispiel Zeitungsartikel, kommentierte Ausgaben von Werken oder Lexikoneinträge –, während es andererseits durchaus Leute gibt, denen es keine Mühe macht, einen Roman auch in elektronischer Form immersiv und linear zu lesen. Führt die digitale Revolution zu einer Verarmung unseres Le­ seerlebnisses und letztlich unserer Kultur? Nein, man kann vielmehr mit Fug und Recht behaupten, dass das Leseerlebnis potenziell reichhaltiger und vielfältiger geworden ist.

diese Entwicklung überhaupt nicht entspricht. Ich denke da insbesondere an Kinderbücher, die sich gerade durch ihre Vielfältigkeit in Form und Inhalt auszeichnen. Auf sie wird die Standardisierung nur geringe Auswirkungen haben. Werden neben dem «enzyklopädischen Buch» alle anderen Gattungen dereinst nur noch eine marginale Rolle spielen? Das bleibt abzuwarten. Nach Gutenberg dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis wirklich innovative, sich klar von der visuellen Sprache der handschriftlichen Manuskripte unterscheidende Formen der Seitengestaltung entstanden. Noch wissen wir nicht, ob der enzyklopädische Strom alles auf seinem Weg mitreissen wird oder ob kleine, nicht standardisierte Inseln weiterbestehen und wahrhaft neuartige Gattungen hervorbringen werden.

Die Entwicklung hin zu maschinisierten Büchern und der Wandel der für das 20. Jahrhundert typischen Erzählweisen werden zu einer Umgestaltung unserer intellektuellen Landschaft führen. Es stellt sich jedoch die Frage, welche Arten von Büchern in diesem neuen, im Entstehen begriffenen Ökosystem einen prominenten Platz einnehmen werden. Indem sie das Aufkommen neuer kultureller Formen begünstigt, kann eine Technologie einen eindeutig bereichernden Einfluss auf unsere Kultur haben. Wie wird sich die Maschinisierung der Bücher auf deren Inhalt auswirken? Die Standardisierung von Formaten und Praktiken sowie die einfache Vernetzung von Inhalten prädestinieren das maschinisierte Buch für eine ganz bestimmte Textform, nämlich die lexikalische. Das Lexikon ist seit jeher der natürliche Feind des Buches, befindet es sich doch in einem stetigen Zustand der Veränderung und Erweiterung, angetrieben von dem Bestreben, die Welt in ihrer Gesamtheit auf systematische Weise zu erfassen. Das Buch hingegen ist räumlich und zeitlich limitiert und betrachtet die Welt aus einem subjektiven und individuellen Blickwinkel. Durch die Möglichkeiten der Informatik haben sich lexikalische Formen stark weiterentwickelt und begonnen, Inhalte aus verschiedenen Quellen zu standardisieren und miteinander zu verknüpfen. So wie im Zuge der allumfassenden Digitalisierung und Vernetzung das herkömmliche Musikalbum mit seiner sorgsam durchdachten Abfolge der Lieder an Bedeutung verloren hat, so werden auch Bücher zunehmend in einzelne Bestandteile zerlegt, die miteinander verknüpft eine einzige riesige, kontinuierlich wachsende und laufend aktualisierte Enzyklopädie bilden. Somit stellt die Enzyklopädie die Zukunft des Buches dar? Zumindest passen alle Bücher mit enzyklopädischem Aufbau – wie Wörter-, Koch- oder Reisebücher und natürlich Lexika – ausgezeichnet in die neue Welt des standardisierten und maschinisierten Lesens. Sie werden zu reinen Informationsträgern, die je nach Benutzeroberfläche und Bedarf unterschiedlich dargestellt werden können. Daneben gibt es natürlich auch Gattungen, denen

Wie könnten neue Arten von akademi­ scher und wissenschaftlicher Literatur aussehen? Oftmals ist es die Volksliteratur, die den Boden für die wissenschaftliche Literatur bereitet. Ohne die populären Bücher des 18. Jahrhunderts, durch die sich ein breites Publikum daran gewöhnte, aufmerksam, immersiv und für sich alleine zu lesen, wären Jahrzehnte später Werke wie Die Entstehung der Arten oder Das Kapital nie so geschrieben worden. Vielleicht wird ja zum Beispiel die aktuelle Beliebtheit von Serien in vergleichbarer Weise die akademische Literatur von morgen prägen.

Können unterschiedliche Leseverhalten nicht parallel weiter­ bestehen? Langfristig wohl nicht. Grosse technologische Veränderungen haben tiefgreifende und nachhaltige Auswirkungen auf die Kultur. Die Entwicklung hin zu maschinisierten Büchern und der Wandel der für das 20. Jahrhundert typischen Erzählweisen werden zu ­einer Umgestaltung unserer intellektuellen Landschaft führen. Die neuen Werkzeuge und Medien, die uns heute zur Verfügung ­stehen, haben die Art, wie wir denken und die Welt wahrnehmen, bereits radikal verändert.

Frédéric Kaplan wurde 1974 in Frankreich geboren. Nach seinem Abschluss an der École Nationale Supérieure des Télécommunications in Paris arbeitete er zehn Jahre lang im Sony Computer Science Laboratory. Heute ist er Professor für digitale Geisteswissenschaften an der ETH Lausanne. www.frederickaplan.com Pierre-Yves Frei, 1964 in Genf geboren, hat internationale Beziehungen sowie Geowissenschaften studiert. Neben seiner Tätigkeit als Wissenschaftsjournalist konzipiert er didaktische Ausstellungen für ein breites Publikum. Aus dem Französischen von Reto Gustin

DI G ITALE K U LT U R & K R E AT IO N 15


W

ie könnte ein Flaneur des 21. Jahrhunderts dem öffentlichen Raum begegnen, wenn er sich durch die urbane Arena treiben lässt? Natürlich stösst er auf gebaute Architektur, auf Ladenpassagen, anonyme Menschenmassen und Fahrzeuge – nicht anders als Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Geistesmänner wie Charles Baudelaire und Walter Benjamin den Begriff des Flaneurs prägten: jenes dandyhaften Wesens, das versuchte, in zielloser Gangart durch die Stadt das soziale Geschehen zu erfassen. Mit dem Einzug der elektronischen Medien in unseren Alltag ist der soziale Raum um eine Dimension gewachsen: Ein Hyperraum aus Datensträngen und Netzen beeinflusst die Kommunikation, die Verhaltensweisen – und damit das gesamte Leben.

war es eigentlich selbstverständlich, dass Künstler es als Spielweise und Labor entdecken würden. Mit der Öffnung des Internets für die breite Masse und der damit einhergehenden Kommerzialisierung markierten Netzaktivisten sichtbar ihr Revier. Seither beschäftigen sich Künstler verstärkt mit dem Medium Internet selbst, erforschen die technischen Grundlagen und Vorgänge und richten sich gegen die zunehmend zentralisierten Organisationsformen wie Google, Amazon und Facebook im Netz. In jüngster Zeit ist die Überlagerung von realem Raum und Informationssphäre in den Fokus der Künstler gerückt. Nach der Erfindung des Web 2.0, das die User zu Teilnehmern gemacht hat, soll nun auch das Virtuelle physisch erfahrbar werden. «Die Pioniere der Netzkunst wollten das Internet für sich reklamieren und als Ort der Kunst besetzen», sagt Sabine Himmelsbach, künstlerische LeiSchmerzensgang durch die terin des Hauses für elektronische Stadt Künste in Basel. «Die heutige GePlastischer lässt sich dieses neuneration arbeitet an der Schnittere Phänomen kaum aufzeigen, stelle Netz und realer Raum.» als es der Netzkünstler Gordan Savic ˇic´ , der seine Wurzeln Savic  ˇic  ´ in seiner Performance in Bosnien-Herzegowina hat, in Constraint City – The pain of Wien aufwuchs, in Lausanne lebt everyday life (2008/10) getan und sich an der Universität für hat. Savic  ˇic  ´ zog als Flaneur ­angewandte Künste in Wien wie Die Web 2.0-Kultur hat eine neue durch Städte wie Berlin, Wien am niederländischen Piet Zwart ­Generation aktiver Netzkünstler und Rotterdam und liess sich daInstitute in digitaler Kunst und ­hervorgebracht. Mit subversiven ­Strategien bei filmen: Ein Grossstadtdandy Neuen Medien ausbilden liess, machen sie die technisch vernetzte in schwarzen Hosen, mit langen versteht sich, wie er sagt, «als HyHaaren und Schnauz – und nabridwesen aus Entwickler, DesigWelt auch physisch erfahrbar. hezu barem Oberkörper, wären ner, Medienarchitekt, Marketingda nicht die schwarzen, fest­ maschine und Computerhacker». Von Brigitte Ulmer gezurrten Riemen, die Kunst­ Zurzeit arbeitet er etwa am Langstoffteile auf seinen Oberkörper zeitprojekt Unpleasant Design, pressen. Wenn er durch Untereiner Recherche, die sich mit Deführungen hindurchspaziert, vorbei an Cafés und über Trottoirs, sign im öffentlichen Raum beschäftigt, das Passanten disziplinieverzieht sich sein Gesicht unwillkürlich vor Schmerz: Die Riemen ren und kontrollieren soll. Er gehört aber auch zu jenen Netzhaben sich plötzlich fester um seinen Brustkorb geschlossen, bis künstlern, die sich vermehrt für die Schnittstelle realer Raum und sie ihm beinahe den Atem abschnüren. Das Korsett – über Game- Netz interessieren. Sie stellen sich der Frage, wie mobile Technokonsolen WLAN-aktiviert – reagiert, sobald er in ein WLAN-Netz logien unsere Wahrnehmung und unser Verhalten beeinflussen. tritt, und mittels Motoren ausgerüsteter Brustgurte zieht es sich Ihnen geht es um die physische Materialisierung des vermeintlich zu. Savic ˇic ´Spaziergänge durch den elektronisch vernetzten urba- dematerialisierten virtuellen Raums. nen Raum werden zum Schmerzensgang, der auf einer Schmerzkarte aufgezeichnet wird – ebenfalls durch das elektronische GIS Virtuelle Sterbehilfe (Geographic Information System) generiert, das die Routen und Mit der Arbeit web 2.0 suicide machine zielte Savic  ˇic  ´ gleich ins Signale in ihrer unterschiedlichen Stärke aufzeichnet. Diese Karte Herz der Social Media-Kultur – jener Sphäre, in welcher Bezieversinnbildlicht nicht nur die Netzdichte der Stadt. Sie macht vor hungen – von Freundschaften über Fan- bis zu Kundenbeziehunallem die alltägliche Kommunikations- und Erreichbarkeitsfolter gen – rationell ins Netz verlagert werden. Auf einer gleichnamigen des Flaneurs des 21. Jahrhunderts nachvollziehbar, indem sie die Webseite stellte Savic ˇic ´ein Programm zur Verfügung – das Embunsichtbare Realität der urbanen Netzwerke direkt auf den lem ist ein roter Button mit einer Henkersschlaufe –, mit dem sich ­Körper abbildet. die eigene digitale Identität auf Seiten wie Facebook, Twitter etc. Der vernetzte Raum ist für Künstler zum neuen Betätigungs- auf Knopfdruck auslöschen lässt. Wie in einer Nahtoderfahrung feld geworden, schon bald nachdem sich das Internet Anfang der ziehen vergangene Nachrichten und Bilder von «friends» an eineunziger Jahre international verbreitete. Unsichtbar, unberühr- nem vorüber, bis die Existenz gelöscht ist. Bis im Januar 2010 leisbar, aber doch so präsent, dass es unser Dasein grundlegend prägt, tete das Programm bei über Tausend Nutzern virtuelle Sterbehilfe,

Datenpiraten und digitale ­Flaneure

DIGITALE K U LT U R & K R E AT IO N 16


über 80 500 Freundschaften wurden aufgelöst und 276 000 Tweets gelöscht. Er wolle «Lärm ins System injizieren» und «das Bewusstsein für die sozialen und politischen Implikationen des technologischen Fortschritts» fördern, sagt Savic ˇic ´. Das Internet und die Web 0.2-Kultur haben eine Vielzahl an Betätigungs-, Kommunikations-, Selbstverwirklichungs- und Shoppingmöglichkeiten geschaffen – zugleich aber auch einen ­faszinierenden Raum für Umstürzlerisches eröffnet. «Das Sub­ versive steht im Vordergrund. Es wird vermehrt die Frage gestellt, wer Zugriff auf welche Daten hat», sagt Himmelsbach. Netzaktivisten inszenieren sich als die Davids gegen die Goliaths der Medienkonzerne. Kampf gegen die Mächtigen im Netz Zu den Davids der ersten Stunde gehört auch das 1995 gegründete, österreichisch-schweizerische Netzkunst-Duo Ubermorgen. In ihrer Zusammensetzung wechselnd, aber im Kern aus Hans Bernhard und Elisabeth Haas alias lizvlx bestehend, beschäftigen sie sich in jüngster Zeit unter anderem mit der Persiflierung von Videogames und Videoclips. Einen Namen innerhalb der Netzkunst haben sie sich aber vor allem mit raffinierten, zwischen Realität und Fiktion wechselnden Projekten gemacht, in denen sie Grosskonzerne wie Amazon und Google mit deren eigenen Mitteln zu unterlaufen versuchen. Bei Hans Bernhard, der Visuelle Mediengestaltung bei Peter Weibel in Wien studierte, und lizvlx, die Handelswissenschaft an der Wirtschaftsuniversität in Wien belegte, handelt es sich um Netzpiraten, von denen man nie ganz ­sicher ist, ob sie wirklich Delikte begehen in Bereichen, in denen die Gesetze diffus sind. In ihrem Projekt Amazon Noir – The Big Book Crime ermöglichte Ubermorgen, kostenlos Volltexte herunterzuladen, indem sie die beliebte Amazon-Funktion «Search Inside the Book» in abgewandelter Form zur Verfügung stellten. Sie brachten mittels

Zwecke «missbrauchten» und die Machtposition der E-Unternehmen thematisierten: Deren Geschäftsmodelle wurden mit ihren eigenen Instrumenten unterlaufen. Zur Trilogie gehört ferner das Projekt Google will eat itself (GWEI), in dem Ubermorgen den omnipräsenten Internetriesen Google ins Visier nahm. Dabei legte Ubermorgen selber Webseiten an, auf die sie mit dem Google AdSense-Programm Google-Textanzeigen platzierten. Anonym klickten sie auf die Annoncen, worauf Google dem Inhaber der Seiten (also der Künstlergruppe Ubermorgen selbst) eine Provision für die scheinbar erfolgreichen Klicks zahlte. Von dem erwirtschafteten Geld kaufte Ubermorgen Google-Aktien. Mit dem so entstandenen Kreislauf von Verdienen und Re-Investition wurde ein kannibalistischer Prozess in Gang gesetzt, bei dem Google sich – laut Ubermorgen – selbst auf­fressen wird. Es gehe ihnen um die Offenlegung des «Shareholder-­ValueTotalitarismus», liessen sie verlauten. Die Reaktionen auf ihre Projekte versteht Ubermorgen als integralen Bestandteil ihrer Kunst. Die Reaktion von Google auf die Aktion – in einem Brief wurde auf die strafrechtlichen Folgen bei Missbrauch der sogenannten AdSense-Anzeigen hingewiesen – ist Teil der Performance. Das Subjekt stärken

Die Zurichtungen des Individuums und seiner Seele durch die Web 2.0-Kultur, omnipräsente Datenströme und die permanente Selbstentäusserung im Netz sind Zielscheiben der Aktivitäten der Netzkünstler. Savic ˇic ´ist mit seinen Arbeiten klar dem Aktivismus verpflichtet. Ubermorgen hingegen sehen sich erklärtermassen nicht als Aktivisten. «Wir haben keine politische Agenda in unserer Arbeit», steht in der Deklaration auf ihrer Webseite. Sie sehen sich in der kommunikativen und experimentellen Tradition des Wiener Aktionismus um Hermann Nitsch als Aktionisten, nicht als Aktivisten. Sie interessiert das Konzept der Autorität, sei es in der Wirtschaft oder in der Politik. Beide, sowohl S ­ avic  ˇic  ´ wie Ubermorgen, agieren im Bis im Januar 2010 leistete das Programm bei über Tausend Sinne des «Détournement» der SituatioNutzern virtuelle Sterbehilfe, über 80 500 Freundschaften nisten, jener losen Künstlergruppe, die in wurden aufgelöst und 276 000 Tweets gelöscht. Er wolle den Sechzigerjahren mittels Zweckentfremdung und Subversion das System, das «Lärm ins System injizieren und das Bewusstsein für «Spektakel» unterliefen, und zwar mit desdie sozialen und politischen Implikationen des technolo­ sen eigenen Mitteln. Heute ist das Netz das gischen Fortschritts» fördern, sagt Savic  ˇic  ´. «Spektakel» und darum Zielscheibe, Handlungsraum, Ort, Material und ­Instrument ­eines Roboter-Clusters einen computergestützten Prozess in zugleich. Performances tragen zur Wissensproduktion bei, immer Gang, mit dem sie bis zu 5000 Abfragen pro Buch machten. In- mit dem Ziel, das Subjekt auf dem weiten virtuellen Feld aus dem er bei der Stichwortsuche die am häufigsten verwendeten ­Hyperlinks und Codes zu stärken. Wörter wie beispielsweise «und» eingab, um alle Seiten des Buches zu erfassen, konnten schliesslich digitale Teiltexte herausgefiltert und zu einem Ganzen zusammengesetzt werden. Die Kunstaktion berührt virulente Fragen, wem die Inhalte gehören, wer sie nutzen darf, und wer dafür zahlt – und was passiert, wenn eine solche Download-Software zur Verfügung gestellt wird. Das Brigitte Ulmer hat an der Universität Zürich Geschichte, Projekt war Teil der 2005 ins Leben gerufenen EKMRZ-Trilogie Publizistik und Politische Wissenschaften sowie am College in London Kunstgeschichte studiert. (der Name folgt der lautmalerischen Abkürzung des Wortes Goldsmith Sie arbeitet als freie Kulturjournalistin u.a. für NZZ, ­E-Commerce), in welcher sie Software-Programme für eigene NZZ am Sonntag und Bilanz.

DI G ITALE K U LT U R & K R E AT IO N 17


Flo Kaufmann in der Projektion einer Gl체hlampe: Der K체nstler verarbeitet einfache Gegenst채nde und Abfallprodukte zu technisch komplexen Maschinen und Installationen. www.floka.com/art.html

18


Camille Scherrer schafft mit Scherenschnitten eine magische Welt, die sie digital zum Leben erweckt. Im Bild mit einer Projektion aus ihrer Arbeit In the Woods, 2011. www.chipchip.ch


A

ls der amerikanische Videospielentwickler Duncan beiden Free-2-Play-Games Clash of Clans und Hay Day mit einer Pond 2009 in die Schweiz zog, war er geschockt: «Da schier unglaublichen Marktkapitalisierung von 3 Milliarden Dolwar einfach nichts. Keine Spur einer kommerziellen lar auftrumpfte. Internationale Aufmerksamkeit erreichte auch Game-Industrie.» Folglich setzte Pond mit seiner das finnische Studio Rovio, das den zweimilliardsten Download St. Galler Firma Crown Adam die Beziehungen mit seines Spiels Angry Birds verzeichnete. Finnische Venture-CapiUS-Games-Verlagen fort, für die er erfolgreiche Titel wie Picnic tal-Firmen wie Accel, Atomico und Index sind bereit, zweistellige Wars und Jewel Quest Mysteries entwickelte. Inzwischen hat sich Millionenbeträge in vielversprechende Titel zu stecken. So schön der Erfolg für die jeweiligen Firmen ist – fast noch einiges in der Schweiz getan. Massgeblich zum besseren Image des Computerspiels beigetragen hat das Pro Helvetia-Programm wichtiger ist er für die aufstrebenden Studios, deren Zahl sich in GameCulture, das nach drei Jahren Laufzeit nun im Programm Finnland in den letzten drei Jahren auf 180 Start-ups verdreifacht Mobile seine Fortsetzung findet. «Videospiele von Schweizer Ent- hat. «Der Haupteffekt ist, dass die kleinen Unternehmen nun an wicklern haben wiederholt an internationalen Wettbewerben sich selber glauben. Sie wissen, dass sie alles schaffen können», Preise gewonnen», sagt Sylvain Gardel, Leiter Impulsprogramme wird Peter Vesterbacka, Marketing-Chef von Rovio, auf Techcrunch bei Pro Helvetia. «In der Fachzeitzitiert. Auch die Schweiz verfügt schrift Wired erschienen kürzlich über einen internationalen BestArtikel über die Schweizer Spiele seller: den Landwirtschafts-SimuIDNA von Apelab und Drei von Etlator. Seit seinem Launch 2008 ist ter Studio. Und das renommierte der vom Zürcher Studio Giants Software entwickelte Titel mit britische Magazin Edge widmete dem Schweizer Game-Schaffen mehr als vier Millionen Installatieinen Schwerpunkt.» onen auf Mobilgeräten, PCs und Dieser erfreulichen EntwickKonsolen zu einem weltweiten Bestseller geworden. Mehrere lung zum Trotz mag nach wie vor niemand von einer Game-IndustSchweizer Spiele haben an interrie in der Schweiz sprechen. Es nationalen Wettbewerben Preise Das Vorurteil will es, dass sich Kunst und handelt sich eher um eine lose gewonnen. So wurde zum BeiKommerz ausschliessen. Doch um einer Anordnung verschiedener kleiner spiel das im Call for Projects Swiss digitalen Kreativwirtschaft in der Schweiz Start-ups, die versuchen, Fuss in Games ausgezeichnete Spiel Drei zum Durchbruch zu verhelfen, ist die der internationalen Computervon Etter Studio am Independent spielbranche zu fassen, weil der Games Festival in San Francisco Zusammenarbeit von Wirtschafts- und hiesige Markt zu klein ist. Bei diefür «Excellence in Visual Arts» Kulturförderung unerlässlich. sen «Art Ups» als Ausdruck einer nominiert. aufstrebenden Kreativwirtschaft Die Schöpfer der genannten Von Marc Bodmer handelt es sich oft um Zwei- bis Games, Mario von Rickenbach oder Florian Faller, blicken auf Drei-Personen-Betriebe, die nicht eine Ausbildung an der Zürcher auf dem Radar der traditionellen Business-Entwickler erscheinen. Dabei bieten diese Kleinstunter- Hochschule der Künste ZHdK zurück. Aber auch an der Genfer nehmen im Bereich der interaktiven Medien und des Designs In- Haute Ecole d’Art et de Design HEAD entstehen immer wieder vestitionsmöglichkeiten an der Innovationsfront digitaler Ent- Computerspiele, die international für Aufsehen sorgen. Die Abgänwicklung: «Videospiele verbinden auf effektive Weise künstlerisches ger der renommierten technischen Universitäten von L ­ ausanne Know-how mit Technologie- und Businesswissen», bringt es und Zürich sind verstärkt im Middleware-Sektor zu finden, wo ­Didier Mesnier, Chef des Business-Clusters Alp ICT, auf den Punkt. Programme entwickelt werden, die der Kreation digitaler Werke dienen. So wurde der ETH-Spin-off Procedural, dessen City-EnFinnlands erfolgreiche Game-Industrie gine virtuelle Städte gestaltet, vom amerikanischen Kartografie«Die Game-Industrie funktioniert sehr spekulativ», gibt Duncan Konzern Esri aufgekauft und der EPFL-Start-up Faceshift mit seiPond zu bedenken. «Weltweit ist nur etwa jedes 20. Spiel rentabel. nem vereinfachten Motion-Capturing-Programm für EchtzeitWenn man als Spielehersteller eine Ratio von 1:10 erreicht, ist Animation arbeitete mit Warner Bros. Interactive bei der Promoman sehr gut.» Was heisst sehr gut? Für ein paar illustrative Bei- tion des Bestseller-Games Batman: ­Arkham Origins zusammen. spiele fernab der schlagzeilenträchtigen AAA-Titel wie dem berüchtigten GTA 5 (Grand Theft Auto), das über 125 Millionen Dol- Weniger Risikofreude in der Schweiz

Geld, Geduld und Know-how

lar Produktionskosten verschlang, aber binnen dreier Tage die Milliarden-Umsatzgrenze sprengte, lohnt sich der Blick nach Norden. «2013 ist das Jahr, in dem Helsinki zur Weltstadt des Gaming wurde», schreibt der Technologie-Blog techcrunch.com. Es war im vergangenen Jahr, in dem das junge Studio Supercell dank den

Obschon die hiesigen Gamedesigner über internationale Anerkennung in einem künstlerischen wie kommerziellen Bereich verfügen, im Middleware-Segment wiederholt erfolg­reiche Entwicklungen lanciert wurden und die Schweiz über die weltweit höchste Smartphone-Dichte und damit über einen attraktiven – wenn auch

DIGITALE K U LT U R & K R E AT IO N 20


zu kleinen – Heimmarkt im App-Segment verfügt, ist in den vergangenen Jahren noch kein tragfähiges Ökosystem entstanden, wie man es aus anderen Ländern wie Finnland, Kanada oder Deutschland kennt. Was braucht es in der Schweiz, um den Braindrain, die Abwanderung gut ausgebildeter Studienabgänger ins Ausland, zu verhindern? «Der Transfer von der Uni zum Markt muss unterstützt werden, damit die Wertschöpfung im Land bleibt. Aus den Studierenden sollen Unternehmer werden, die ihr Publikum finden und so auch Arbeitsplätze schaffen», ist ­Sylvain Gardel von Pro Helvetia überzeugt. Erfolgreiche Beispiele für diese Art der Förderung gibt es bereits, sowohl an der ZHdK als auch an der HEAD haben sich Inkubatoren angedockt, die ausgewählte Studienabgänger bei ihren ersten Schritten ins Berufsleben begleiten. So finanziert die Stiftung AHEAD nebst einem Arbeitsplatz konkrete Start-up-Hilfe in

Helvetia und weiteren Partnern im Herbst ein Gamefestival in der Limmatstadt unterstützt. «Gerade im Gamedesign sind die verschiedensten Fähigkeiten gefragt, von der Entwicklung einer ­Geschichte über die Gestaltung einer zugänglichen InterfaceOberfläche bis hin natürlich zur Software-Programmierung.» Entsprechend divers sind die Einsatzgebiete von Computerspielen, die von der Unterhaltung über den Rehabilitationsbereich bis zu den Schulen reichen. «Es bedarf noch der Aufklärungsarbeit, denn mit der Investition in die Spielentwicklung unterstützen wir einen zukunftsorientierten Markt», sagt Rahel Kamber und erhält Unterstützung von Gamedesigner Spoerri: «Wir befinden uns in einer Ära der Gamification. Den wenigsten Leuten ist bewusst, dass sie an den verschiedensten Orten ‹spielen›. Treueprogramme wie sie Banken, Fluggesellschaften und der Handel betreiben, bei denen Punkte gesammelt werden, weisen einen klar spielerischen Grundcharakter auf. Trotzdem haftet dem Spielen etwas Anrüchiges an.» Der Transfer von der Uni zum Markt muss unterstützt Bis es so weit ist, dass wir sagen «Wir werden, damit die Wertschöpfung im Land bleibt. Aus den sind ein einig Volk von Gamern», braucht es Geld, Geduld und Know-how. Duncan Studierenden sollen Unternehmer werden, die ihr Pond ist aber dennoch zuversichtlich, dass ­Publikum finden und so auch Arbeitsplätze schaffen. Europa den Computerspielemarkt in Zukunft anführen wird. Für die Schweiz, die Form von Beratern. «Auch wenn unsere Ausbildung eine Ein­ auf Export angewiesen ist, ist das eine positive Entwicklung und führung ins Marketing umfasst, so ist das Wissen lückenhaft», sagt eine Gelegenheit, die Vielsprachigkeit auszuschöpfen und den Jean-Pierre Greff, Rektor der Haute Ecole d’Art et de Design in Trend zur sprachlichen Adaptation in die jeweiligen LandesspraGenf. «Der Inkubator ist ein Weg, diese Lücken zu stopfen, und chen umzusetzen. «Die Schweiz ist ein überaus attraktiver Standam Ende stehen die meisten der ausgewählten Abgänger mit ei- ort», sagt Chris Bergstresser, Commercial Director der in Neuenner kleinen Firma da.» Gerade in dieser Startphase sind Coaching burg ansässigen und äusserst erfolgreichen Online-Plattform und der Aufbau von Business-Know-how wie z.B. Projektmanage- Miniclip. «Aber Investoren ist nicht bekannt, was hier läuft. An ment entscheidend. Der Schweizer Gamedesigner Reto Spoerri Game-Konferenzen im Ausland werben England, Deutschland und betont, dass man sich auch von einem Projekt lösen können muss: Frankreich für ihre Standorte. Dort muss auch die Schweiz prä«Arbeitet man in einem zeitlich festgelegten Rahmen, gilt es, das sent sein, schliesslich kann man gutes Geld mit Games verdienen.» Spiel zum Abschluss zu bringen. Damit bekunden viele Spielent- Die Kreativwirtschaft muss das graue Mäntelchen der Bescheidenwickler Mühe.» heit abstreifen und auf das Schweizer Können, die Innovation und das Design aufmerksam machen. Denn das beste Game findet «Europa wird den Computerspielmarkt anführen» keine Investoren, wenn niemand davon weiss. Und ohne Geld Mühe bereitet hierzulande aber auch die Vorstellung zu versagen geht’s nicht, davon können auch die Finnen ein Lied singen. Doch und ein Projekt in den Sand zu setzen. Die Angst vor finanziellen im Unterschied zu uns tun sie es. Verlusten ist gemäss dem Amway Global Entrepreneurship Report 2013 (AGER), für den 26 000 Personen in 24 Ländern befragt worden sind, die grösste Hürde auf dem Weg in die Selbstständigkeit. Der AGER zeigt aber auch deutliche Unterschiede bei den befragten Staaten: Die Selbstständigkeit wird ausgesprochen positiv beurteilt in den Ländern Finnland (92 %), Dänemark (90 %), den Niederlanden und Frankreich (86 %). In der Schweiz hingegen schliessen sich nur 57 Prozent der Befragten diesem Urteil an. «Wenn ein Unternehmer in der Schweiz versagt, leidet sein Ruf stark darunter. Die Chance, seine Erfahrungen in einem nächsten Start-up-Projekt umzusetzen, ist praktisch Null», fasst Sylvie Reinhard, CEO der Innovations-Konferenz Lift, die ProbleMarc Bodmer (*1963) ist Jurist und freischaffender Publizist. matik zusammen. Er beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit Videospielen «Vielen Leuten ist die Verbindung zwischen Kultur und Wirt- und digitalen Medien. Er ist unabhängiger Game-Experte schaft nicht ersichtlich», erklärt Rahel Kamber, Projektleiterin bei bei Pro Helvetia. der Wirtschaftsförderung der Stadt Zürich, die zusammen mit Pro www.marcbodmer.com

DI G ITALE K U LT U R & K R E AT IO N 21


I

m Zeitalter der Digitalisierung nehmen Legenden mitunter ler vom Massachusetts Institute of Technology, «steht für einen seltsame Formen an. Eine dieser Legenden handelt von Han- Prozess, in dessen Verlauf integrale Elemente eines fiktionalen dys, die in Schokoladentorten stecken und Hinweise auf den Stoffes systematisch über mehrere Kanäle verteilt werden, um ein Verbleib des Bösewichts eines Eventfilms geben. Die Rede einheitliches und koordiniertes Unterhaltungserlebnis zu schafist von der Legende rund um die transmediale Werbekam- fen.» Im Gegensatz zu Crossmedia, das dieselben Inhalte auf verpagne zum Batman-Film The Dark Knight 2008. In Branchenkrei- schiedenen Kanälen anbietet, funktioniert Transmedia wie ein sen ist sie unter dem Titel why-so-serious berühmt geworden. Mit Puzzle, dessen Teilchen über die unterschiedlichen Plattformen winzigen versteckten Hinweisen in Filmschnipseln hatte das Film- verstreut sind, wo sie von Usern gefunden und zusammengesetzt studio Warner Bros. die Fans angelockt, sich auf die Suche nach werden müssen. dem neuen Bösewicht der Superhelden-Produktion zu machen. Das Interesse an Transmedia ist bei Film- und Fernsehpro­ Die schnellsten Sucher stiessen in Nordamerika auf die besagten duzenten wie bei Marken ähnlich begründet: Je stärker der Alltag Torten, auf die in Zuckerguss eine Telefonnummer geschrieben von Medien geprägt ist und je vielfältiger die Plattformen und war. Wurde diese Nummer angewählt, klingelte im Innern der ­Geräte sind, desto stärker müssen Unternehmen darauf drängen, Torte ein Handy. Schätzungen zufolge waren bis zu zehn Millionen auf ­allen Plattformen und Geräten präsent zu sein. Andernfalls, Menschen an der digitalen so die Befürchtung, riskierSpurensuche beteiligt, die sie ten sie den Verlust von Aufzum berüchtigten Joker führte. merksamkeit und (Werbe-) Ein­nahmen. AllgemeingülDen Film selbst sahen schliesslich rund 70 Millionen Mentige Regeln für den Erfolg von schen weltweit, er machte über Transmedia-Projekten gibt es bislang nicht. Einzelbeispiele eine Milliarde Dollar Umsatz. Kein Wunder also, dass die mezeigen aber, wie sich Aufdienübergreifende Schnitzelmerksamkeit schaffen lässt Transmedia ist ein schillernder Begriff. jagd auch sechs Jahre später und zu Engagement auf verDoch was ist damit eigentlich gemeint? noch die Fantasien von Meschiedenen Plattformen führt. Und wie funktioniert Transmedia dienmachern befeuert. Emotionale Geschichten Storytelling? In den USA und Deutschland Das Fernsehen bietet eine Den besten Überblick über erproben die Film- und Fernsehbranche grosse Reichweite transmediale Projekte vermit-

Erzählen als Puzzlespiel neue Formen des Erzählens.

Dabei fällt die Realität aktutelt der US-amerikanische Meeller Transmedia-Projekte oft dienjournalist Frank Rose in Von Hannah Pilarczyk ­etwas ernüchternd aus: Der seinem Bestseller The Art of Grossteil der Projekte kann Immersion, 2012. Rose nennt mit der Reichweite von whyhierbei die mit Preisen überso-serious nicht mithalten. Zudem konzentrieren sich die meis- häufte Fernsehserie Lost, 2004-2010, die ihre Fans mit einem imten Projekte auf eine andere Plattform – nämlich das Fernsehen. mer komplexer werdenden Geflecht aus Zeitsprüngen und ErzähWarum das so ist, kann Kristian Costa-Zahn erklären. Er ist Pro- lebenen begeisterte und deren Neugier mit Online-Clips und duzent beim UFA LAB, einem «Labor für Neue Medien und digi- interaktiven Spielen kontinuierlich anfütterte. Puristen halten tales Entertainment» in Berlin-Kreuzberg, das unter anderem für Lost für keine genuin transmediale Erzählung, da die Internetandas ZDF den transmedialen Krimi Wer rettet Dina Foxx? (2011) gebote erst zum Ende der ersten Staffel hinzukamen – als Zeitverkonzipiert hat. «Ohne ein reichweitenstarkes Medium wie das treib bis zum Beginn der nächsten Staffel. Trotzdem bietet Lost eiFernsehen kriegt man nicht schnell genug die Aufmerksamkeit, nige wichtige Orientierungspunkte für transmediales Erzählen. die man für den anfänglichen Schub braucht», sagt Costa-Zahn. Sie hätten die Serie nach dem Prinzip angelegt, «erst die Zu«Mit einem grossen Werbebudget kann man das notfalls noch schauer mit den Charakteren anzufixen, dann unbeantwortete Frakompensieren, aber welche Projekte haben schon so viel Geld zur gen zu lancieren», sagt Carlton Cuse, einer der Executive ProduVerfügung?» cer von Lost, in The Art of Immersion. «Die Serie entwickelte sich Im deutschsprachigen Fernsehraum war 2011 das Startjahr zu einer Entschuldigung dafür, eine Community zu bilden. Und für Transmedia-Projekte. Neben Wer rettet Dina Foxx? brachte zwar indem die Leute die Möglichkeit hatten, Fragen zu diskutieder SWR, einer der grössten Regionalsender der ARD, den Daten- ren – Fragen, die wir ausdrücklich offen liessen, und welche die schutz-Thriller Alpha 0.7 an den Start. Im internationalen Ver- Fans an die Serie banden.» gleich ist das deutschsprachige Fernsehen mit solchen Projekten Genau dieses emotionale Involvieren, das Lost gelang, fehlt spät dran. Als Phrase wabert «Transmedia» schon seit rund 15 Jah- bei den deutschsprachigen Transmedia-Projekten bislang. Bei ren durch Produktionsstudios, Start-ups und Forschungsinstitute. Wer rettet Dina Foxx? brach das ZDF die Fernsehsendung, in Eine griffige Definition hat aber erst Henry Jenkins 2006 welcher der fiktive Kriminalfall vorgestellt wurde, gezielt nach geliefert.«Transmediales Storytelling», so der Medienwissenschaft- einer Stunde ab, um die Zuschauer zur weiteren Recherche ins DIGITALE K U LT U R & K R E AT IO N 22


Projekt entwickeln würde. Nur eines wollten wir vermeiden: Dass die Leute auf die Idee kommen, Autos anzuzünden. Schliesslich ist RLF eine friedliche Protestbewegung.» Ungewöhnlich war auch das Finanzierungsmodell des Transmedia-Projekts: Mit der Idee, den Kapitalismus mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, sollte der politische Widerstand durch den Verkauf hochpreisiger Markenartikel finanziert werden. So entwickelten die Initianten zum Beispiel mit der Königlichen PorzellanManufaktur Berlin ein Teeservice mit Goldrand für 6000 Euro. War es von Borries und Costa-Zahn wirklich ernst mit der Politisierung? Oder war RLF nicht eher ein transmedialer Witz, bei dem sogar Geschirr zu einem weiteren Mittel des transmedialen Storytelling wird? Je stärker der Alltag von Medien geprägt ist und je Für ein Projekt über politischen Aktivisvielfältiger die Plattformen und Geräte sind, mus war die aktivierende Wirkung von desto stärker müssen Unternehmen darauf drängen, RLF jedenfalls bescheiden: Am OnlineSpiel Start-A-Revolution beteiligten sich auf allen Plattformen präsent zu sein. Andernfalls, letztlich nur rund hundert User. so die Befürchtung, riskierten sie den Verlust von Angesichts solcher Zahlen dürfte sich Aufmerksamkeit und Werbeeinnahmen. der kommerzielle Durchbruch von transmedialem Storytelling im deutschspra­ Figuren wurde über vorgefertigte SMS und Voicemails organi- chigen Raum weiter hinauszögern. Das grösste Engagement wird siert, in denen die Protagonisten die Nutzer über Émilies letzten wohl weiterhin von öffentlich-rechtlichen Sendern kommen. Abend als Junggesellin informierten und darüber, welcher Mann «Diese wissen, dass sich das Fernsehen in der Evolution befindet, bei ihr gerade hoch im Kurs war. Die Wahl eines emotionalen Stof- und experimentieren viel», sagt Produzent Costa-Zahn. «Dennoch fes überzeugte dabei nicht nur die kanadischen Nutzer: Am Gen- trauen sie sich häufig noch nicht, ihre Transmedia-Projekte auf fer Film- und Fernsehfestival Tous Écrans wurde Émilie im No- Sendeplätzen zu präsentieren, die mehr Aufmerksamkeit brinvember 2013 mit dem Preis für die beste Transmedia-Arbeit gen.» Am Durchbruch von transmedialem Storytelling arbeitet ausgezeichnet. Costa-Zahn trotzdem unermüdlich weiter. Zurzeit entwickelt er die Fortsetzung von Wer rettet Dina Foxx? fürs ZDF. Sie ist für Verführung zum politischen Aktivismus November 2014 geplant und soll diesmal zwei TV-Sendungen umIntensives Engagement der Nutzer wirft aber auch Probleme auf, fassen, die auch nicht nach der Hälfte abgebrochen werden. Vielwie Damon Lindelof, Schöpfer von Lost, feststellt: «Die Fans wol- mehr ist eine Sendung zum Anfang geplant und eine zum Ende len, dass wir die Geschichte komplett durchgeplant haben – gleich- der Aktion. Vielleicht reicht ja diesmal die Zeit, um sich so mit Dina zeitig wollen sie mitreden. Das schliesst sich aus.» Mit diesem Di- anzufreunden, dass man ihr in transmediale ­Welten folgt. lemma hatte auch Kristian Costa-Zahn zu kämpfen. Gemeinsam mit dem Berliner Design-Professor und Autor Friedrich von Borries hat er RLF konzipiert, ein transmediales Kunst-Protest-Projekt, das mit seiner Kapitalismus-Kritik die Nutzer zum politischen Aktivismus verführen wollte. Offiziell steht die Abkürzung RLF für das Adorno-Zitat «Es gibt kein richtiges Leben im falschen», doch genauso gut könnte hinter dem Akronym das Schlagwort «Real Life Fiction» oder eine Anspielung auf die deutsche Terrorgruppe RAF stecken. RLF startete im September 2013 mit der Veröffentlichung des gleichnamigen Buchs beim renommierten Suhrkamp-Verlag. Darin erzählte von Borries die Vorgeschichte eines Aktivisten-Trios, das danach auch im realen Leben auftrat – zuletzt in einem ArteDokumentarfilm über RLF. Ob es die Vollzeitaktivistin Slavia, den Künstler Mikael Mikael und den Kreativdirektor Jan so wirklich gibt, liessen die Macher aber absichtlich im Unklaren. Die RLFKampagne mündete schliesslich in ein Online-Spiel, bei dem sich Nutzer durch vorgegebene Formen von politischem Engagement Hannah Pilarczyk (*1977) arbeitet als Redakteurin im von Spiegel Online und hat u.a. das Statuspunkte erkämpfen sollten. «Ab Erscheinen des Buchs», sagt Kulturressort Buch Sie nennen es Leben. Werden wir von der digitalen Costa-Zahn, «war für uns nicht mehr vorhersehbar, wie sich das Generation abgehängt? veröffentlicht. Internet zu führen. Kaum Zeit also, um sich mit Dina Foxx medial anzufreunden – am Ende sorgten sich nur 1000 User aktiv um ihr Schicksal. Deutlich besser gelang es dem franco-kanadischen Transmedia-Projekt Émilie, die User in das Leben seiner Protagonistin zu verwickeln. Lanciert am Valentinstag 2013, erzählte Émilie im Stil einer romantischen Komödie von einer jungen Frau, der am Vorabend ihrer Hochzeit Bedenken kommen, ob sie den Richtigen heiratet. In interaktiven Web-Filmen konnten die Nutzer Émilies Verlobten kennenlernen sowie drei weitere Männer, die eine grosse Rolle in ihrem Leben spielten. Der Austausch mit den

DI G ITALE K U LT U R & K R E AT IO N 23


24


F端r ihr Spiel OKO, 2012, hat die Gamedesignerin Nadezda Suvorova Satellitenbilder der Nasa zu einem interaktiven Puzzle arrangiert. Das Ziel ist, das Originalbild zu rekonstruieren, indem man die rotierenden Kreise im richtigen Moment stoppt. www.nadezdas.com

25


L

ängst bekannt ist die Methode des «Remix» aus der elek- mit einer unüberblickbaren Vielzahl kultureller Objekte, deren tronischen Musik der 1990er-Jahre. Dass sie über das Bedeutung und Ordnung brüchig oder fragwürdig geworden ist, Feld der Musik hinaus Verbreitung fand, ist wesentlich zu agieren. Gerade online, aber nicht nur dort, ist es normal, dass dem Umstand zu verdanken, dass heute fast alle kultu- wir mit Dingen konfrontiert sind, von denen wir nicht genau wisrellen Werke, ganz oder in ihren reproduzierbaren Tei- sen, woher sie stammen, was sie bedeuten oder deren Bedeutung len, digital codiert sind. Zwei der wesentlichen Aspekte des Remix nicht zum Kontext passt, in dem wir sie verwenden. Sich mit diesind die Erkennbarkeit der Quellen und der freie Umgang mit die- ser Welt auseinanderzusetzen heisst oft, Bestehendes als Baustein sen. Die Erkennbarkeit der Quellen schafft ein internes System von für die Konstruktion neuer Bedeutung zu verwenden. Herkunft Verweisen, das die neue Aussage wesentlich prägt. Der freie Umgang verliert dabei ihre zentrale Stellung in der Bedeutung eines mit dem Material hingegen ist Voraussetzung, um etwas hervorzu- ­Objekts. Diese bestimmt sich mehr aus dem Kontext seiner aktubringen, das auf der gleichen Stufe wie das verwendete Material ellen Verwendung. In diesem Sinne ist der Remix auch eine Halsteht. «Dem Remix», so schreibt Ulf Poschardt im Kontext der DJ- tung, die zwar aus dem Arbeiten mit digitalem Material stammt, Kultur, «geht [es] nicht um die Eraber keineswegs auf dieses berettung von Authentizität, sonschränkt sein muss. dern um die Erschaffung einer Temporäre Präsenz neuen Authentizität.» Während die analoge MonDie Verbreitung des Remix als tage auf das Zusammenführen Methode verändert die kultufremder, in sich stabiler «Fertigrelle Landschaft in ihrer ganteile» abzielte, um daraus wieder zen Breite, von der Hochkuletwas Fixes herzustellen, ist das tur bis hin zur Entstehung einer neuen, vitalen Volks­ Typische am digitalen Remix das kultur. Arbeiten so unterFluide. Die Teile, die miteinander verwoben werden, sind verändert, schiedlicher Künstler und Künstlerinnen wie Thomas angepasst und transformiert. Der Was haben Thomas Hirschhorns Kunst und Remix betont entsprechend nicht Hirschhorn oder Gerda Steidie singende Nyan Cat auf Youtube gemeinprimär den Bruch zwischen den ner & Jörg Lenzlinger haben sam? Beides sind Formen des Remix – einer zueinander gesetzten Elementen, aus der Perspektive des Remix künstlerischen Praxis, die uns vor allem aus sondern deren meist nur tempoformal mehr gemeinsam als räre Synthese im Neuen. Dies sie trennt. Beide arbeiten mit der Musik vertraut ist. Sie taucht aber in geht mit digitalen Objekten nagrossen, offenen Sammlunverschiedensten Kunstsparten auf und findet türlich um vieles einfacher als mit gen heterogener Materialien in der Volkskunst des Internets, den analogen. Digital heisst aber nicht unterschiedlichster Herkunft, Memen, ihren zeitgenössischen Ausdruck. unbedingt elektronisch, sondern und sie entwickeln daraus eieinfach, dass Informationen mitgene Ordnungssysteme, um tels eines begrenzten Systems diszumindest temporäre BedeuVon Felix Stalder kreter Zeichen, die selbst bedeutungszusammenhänge zu ertungslos sind, codiert werden. In stellen. Beide nutzen oftmals diesem Sinne war die alphabetische Schrift, besonders seit dem starke visuelle Elemente – braunes Klebeband bei Hirschhorn, Buchdruck, immer schon digital, wie der Literaturwissenschaftler kristallisierter Harnstein bei Steiner & Lenzlinger – um die diverFlorian Cramer betont. So ist es einfach möglich, «perfekte Ko- sen Materialien in einem neuen Ganzen zu verweben. Es entsteht pien» gedruckter Texte anzufertigen und Teile ohne Verlust aus ih- eine prekäre Balance zwischen der Disparität der einzelnen Teile rem Kontext zu lösen und in einen neuen einzufügen. Zitieren ist und der Kohärenz des Zusammenhangs. Hirschhorn wie Steiner eine Form des Remixing. Eine ganze Reihe von Konventionen des & Lenzlinger schaffen Momente der Präsenz, der Verdichtung und Einfügens und Weglassens wurde entwickelt, mit denen direkte der Konzentration, vor dem Hintergrund einer überbordenden Zitate so bearbeitet werden können, dass sie sich nahtlos in den Fülle an konkurrierenden, in ihrer Summe chaotischen kulturelneuen Text einfügen, aber immer noch als Elemente eines fremden len Fragmenten, zu denen heute auch biologische Prozesse gehöTextes erkennbar bleiben. Eine Kultur des Zitierens, wie wir sie aus ren. Inhaltlich könnten die Welten unterschiedlicher nicht sein, den textorientierten Wissenschaften kennen, breitet sich nun auch aber die Künstlerinnen und Künstler verwenden vergleichbare auf andere Kontexte aus, allerdings ohne deren streng formale Kon- Verfahren, um aufzunehmen, umzuwandeln und in ein neues Beventionen der Referenzierung. deutungs- und Handlungssystem einzufügen. Eine Folge davon ist, dass ihre Arbeiten keinen Anfang haben – die verwendeten MaNeue Bedeutungen schaffen terialien waren schon da, bevor die künstlerische Arbeit sie aufgriff Aber der Remix gewinnt nicht nur an Bedeutung, weil heute Kul- – und auch keine endgültige Form, sondern immer nur temporäre tur digital codiert ist. Er ist auch eine Methode, um in einer Welt Präsenz. Die Arbeiten können wieder auseinandergenommen, in

Die neue Volkskultur im Internet

DIGITALE K U LT U R & K R E AT IO N 26


ihre alten oder in neue Einzelteile zerlegt und anders zusammengesetzt werden. So tauchen gewisse Elemente immer wieder in Arbeiten auf, verändern ihre Bedeutung, schaffen aber gleichzeitig Kontinuität. Dieses provisorische, temporäre und damit auch perfor­mative Element ist typisch für die Kultur des Remix. Wenn Bedeutung aus der freien Verwebung heterogener, ambivalenter Elemente besteht, dann ist jeder Remix nur einer von vielen möglichen und die

gestalterische Schritte zu automatisieren – etwa, wenn Musiksoftware die Rhythmen zweier Stücke automatisch angleicht, damit sie einfacher miteinander verwoben werden – ist eine reichhaltige kulturelle Landschaft des Remix entstanden, die zwischen der Hochkultur und der Internetkultur der Meme eine Vielzahl von neuen produktiven Kontexten geschaffen hat. Diese erlauben es einer immer grösseren Zahl von Menschen, als kulturelle Produzenten an grössere und kleinere Öffentlichkeiten zu gelangen. Es entsteht eine neue Volkskultur, in der, wie in der traditionellen Kultur, die GrenGerade online, aber nicht nur dort, ist es normal, zen zwischen Produktion, Reproduktion dass wir mit Dingen konfrontiert sind, von denen wir und Rezeption fliessend sind. Wichtiger als die grossen, solitären Neuerungen sind nicht genau wissen, woher sie stammen, was sie oftmals die kleinen Veränderungen, die bedeuten oder deren Bedeutung nicht zum Kontext passt, leichten Anpassungen an einen anderen in dem wir sie verwenden. Kontext, die aus dem Chaos quasi bedeutungsloser Artefakte, der Kultur des semiverwendeten Materialien – stammen sie nun aus digitaler, Massen- otischen Überflusses einen neuen Z ­ usammenhang schaffen, der oder nachwachsender Produktion – stehen für andere Kombina- für einen bestimmten Personenkreis und für eine gewisse Zeittionen immer noch zur Verfügung. Der Remix überschreibt das dauer lokale Bedeutung erlangt. Alte nicht, er fügt ihm etwas hinzu. Was Arbeitsweisen wie die Diese sich entwickelnde kulturelle Landschaft ist eine der vievon Hirschhorn oder Steiner & Lenzlinger von anderen Remixes len Nischen, in denen jeweils nach eigenen Gesichtspunkten und unterscheidet, ist ihre für den Kunstkontext typische individu- unter Bezugnahme auf spezifische Referenzen, die innerhalb der elle Handschrift und der Anspruch auf eigene Bedeutungszusam- jeweiligen Nische als relevant angesehen werden, Kultur, das heisst menhänge, die im Prozess des Arrangierens und Verwebens ge- geteilte Bedeutung, produziert wird. Das ist kein Prozess, in dem alle gleichberechtigt sind. Es gibt kleine und grosse Nischen, solneriert werden. che mit weniger und solche mit mehr Ressourcen, aber alleine ist Fliegende Katze mit Tortenkörper keine mehr im Stande, ihre Referenzpunkte, ihren Kanon, für alle Am anderen Ende der Skala stehen Remix-Phänomene, die keiner- anderen verbindlich zu erklären. Bestens integriert in den zeitgelei Handschrift mehr erkennen lassen. Kulturelle Produktionen, nössischen Kapitalismus, ist der kulturelle Pluralismus der Nordie so viele Hände durchlaufen haben, so oft verändert, angepasst malfall geworden. Es ist die Frage, ob sich die kulturelle Landund wiederholt wurden, dass sie jegliche Individualität verloren schaft, und damit die Gesellschaft, immer weiter fragmentiert, haben und aufgrund der vielen Bearbeitungen anonym geworden sodass die einzelnen Gruppen sich immer weniger verständigen sind. Das bekannteste Beispiel dafür sind die sogenannten «Inter- können, oder ob unsere Gesellschaft die Herausforderung meisnet Meme». Das sind kleine kulturelle Versatzstücke, die sich ein- tert, Brücken zwischen den verschiedenen Nischen zu schaffen fach aneignen und replizieren lassen, die einem gewissen Grund- und die Differenzen in einen produktiven Austausch zu bringen. muster folgen, aber endlos variierbar sind und sich so sehr gut verbreiten lassen. Eines der langlebigsten Internet Meme ist die Nyan Cat, eine, wie Wikipedia hilfreich erklärt, «fliegende Katze, deren Körper aus einem Kirsch-Pop-Tart besteht und die einen Regenbogen hinter sich lässt. Wobei im Hintergrund ein Remix des Songs Nyanyanyanyanyanyanya! gespielt wird.» Der Ursprung dieses Mems, der selbst bereits ein Remix ist, ist ein aus acht Bildern bestehendes, auf dreieinhalb Minuten gelooptes Video, das im April 2011 auf Youtube hochgeladen worden ist. Seitdem wurde das Mem mehr als 100 Millionen mal angesehen. Was es aber zum Mem macht, ist nicht die Popularität des einzelnen Werkes, sondern sind die unzähligen Versionen, die daraus generiert werden können: von Youtube Remixes zu Computerspielen, T-Shirts, Graffitis, Schlüsselanhängern, Bastelvorlagen, Tafelbildern, inklusive Felix Stalder ist Professor für Digitale Kultur und Youtube «How To Video» und, und, und. Theorien der Vernetzung an der Zürcher Hochschule der Auf Basis der de facto (wenn auch oftmals nicht de jure) freien Künste, Vorstandsmitglied des World Information Institute Verfügbarkeit von kulturellen Artefakten – digital und analog, in Wien und langjähriger Moderator der internationalen nettime. Er forscht u.a. zu Urheberrecht, freier elektronisch und materiell – und neuer Technologien, die es er- Mailingliste Kultur, Privatsphäre und Suchtechnologien. leichtern, grosse Informationsmengen zu verarbeiten und viele felix.openflows.com

DI G ITALE K U LT U R & K R E AT IO N 27


B

ei der Game Developers Conference 2013 in San Fran- Labor einen anderen Ansatz: «Damit Neues entsteht, muss man cisco, der weltweit wichtigsten Messe für Entwickler mit Konventionen brechen. Wir isolieren den kreativen Prozess von Computerspielen, präsentierten auch Studierende des Gamedesigns von allen zweckgebundenen Zwängen, um der Genfer Hochschule für Kunst und Design (HEAD) Spiele in erster Linie als freie künstlerische Ausdrucksformen zu und des Game Lab der University of California in Los betrachten.» Angeles (UCLA) eigene Arbeiten. Kuratiert wurde ihre gemeinUm seine Studierenden aus gewohnten Denkschemata hersame Ausstellung mit dem Titel Game Gazer von Sophie Lampar- auszureissen und den sonst üblichen, bis ins Detail geplanten, teuter, Head of Public Programs bei swissnex San Francisco, und An- ren und langsamen Produktionszyklen gegenzusteuern, stellt Stern dréa Muller, Leiterin der Abteilung für internationale Beziehungen spezielle Aufgaben – zum Beispiel die Entwicklung eines Spiels, das an der HEAD. Ziel war «ein Blick in die Zukunft des Gamedesigns: zu einem fünfminütigen Musikstück passt oder die GrundstimWelche Wege schlägt die neue Generation der Spieleentwickler mung einer Kurzgeschichte wiedergibt. Bei einer Übung rund um Arte povera und die unkonvenein? Wie erzählen sie ihre Geschichten, und auf welche tionelle Verwendung kostenPlattformen und Technologien günstiger Materialien hat ein setzen sie?» Insgesamt wurden Student auch schon mal einen über zwanzig Games vorgeHot Dog zu einer Fernbediestellt, darunter zum Beispiel nung umfunktioniert. Das LaLaser Cabinet, das die Ober­ bor verströmt eine Atmosphäre, fläche eines hüfthohen Holzdie man irgendwo zwischen der schränkchens in ein archaiWerkstatt eines verschrobenen sches Videospiel verwandelt, Erfinders und dem Probedas augenzwinkernde Perfect raum einer Punkband ansieWoman, das sich um geselldeln könnte. Zur Ausstattung gehören nicht nur Computer schaftliche Klischees dreht, Im Rahmen der Game Developers C ­ onference und Konsolen, sondern auch oder Arcade Backpack, bei dem in San Francisco erhielten Gamedesign­ selbst fabrizierte Controller, die Aufgabe darin besteht, dem studierende aus der Schweiz und den USA die Träger eines portablen Spielauin ihre Bestandteile zerlegte Gelegenheit, voneinander zu lernen und tomaten durch dessen Alltag zu ­Flipper, handgemachte Arcade-­ Automaten, Karten- und Brettfolgen. sich neuen Schaffensweisen zu öffnen. Ein Während die Schweizer spiele und vieles mehr. Ergebnis des Austauschs: Die Kalifornier Studierenden grossen Wert auf wurden etwas zweckorientierter und die Vielfalt statt Technologieein möglichst ausgefeiltes Dewahn Schweizer etwas verrückter. sign legten, waren die Arbeiten ihrer kalifornischen Kollegen Aufgeteilt in Zweier- oder und Kolleginnen vor a­ llem von ­Dreierteams mit je mindestens Von Liz Armstrong der Lust an skurrilen, albernen einem Schweizer Studenten ­ bekamen die Teilnehmer des und polemischen Ideen geprägt, stellte Lamparter fest: «Die Ausstellung gab einen guten Workshops die Aufgabe, in nur drei Tagen ein komplettes Spiel zu Eindruck der unterschiedlichen Konzepte und stiess auf erfreu- kreieren – ein in der Entwicklerbranche populäres, als «Game lich grosses Interesse. Noch spannender fand ich jedoch, wie es Jam» bekanntes Vorgehen. «Alle Teams erhielten ein paar Hilfsdanach weiterging.» mittel und einige Vorgaben», erläutert Stern, «unter anderem mussten sie eine neue Spielsteuerung bauen.» Statt Tastatur, Ab ins Labor Maus oder Joystick waren also Eigenfabrikate gefragt. Im Anschluss an die Ausstellung reisten alle Studierenden nach Anders als man vielleicht erwarten würde, gerät der GameLos Angeles, wo ein gemeinsamer Workshop unter der Leitung Lab-Professor nicht jedes Mal in Verzückung, wenn eine technovon Eddo Stern, Professor am UCLA Game Lab, auf dem Pro- logische Neuheit auf den Markt kommt: «Ich besitze nicht einmal gramm stand. «Hauptziel unserer Arbeit ist die Auseinander­ eine Xbox Kinect.» Oft zeige sich, dass eine neue Technologie rasch setzung mit Spielen, ohne diese von vornherein für einen be- zu einer Konvention wird – wenn sie als besonders cool oder bahnstimmten Zweck zu instrumentalisieren», erklärt Stern – ein brechend gilt oder sich darauf beschränkt, als Krücke des Designs schwieriges Unterfangen angesichts all der Ansprüche, die Com- zu dienen. Im schlechtesten Fall schaffe sie Barrieren, weil sie aufputerspiele heutzutage erfüllen sollen: als Hilfsmittel für effizien- grund ihrer exorbitanten Kosten von jungen Gamedesignern gar teres Lernen, in der militärischen Ausbildung, zur Gesundheits- nicht genutzt werden könne. Obwohl Technologie und Hardware förderung oder allgemein als Wundermittel, das beinahe jedes meist irgendwann ihre Exklusivität verlieren und als Open soziale, ökonomische oder ökologische Problem lösen soll. Das Source-Versionen erhältlich sind, träumt Stern von einer andesei zwar alles schön und gut, räumt Stern ein, doch verfolge sein ren Spielewelt: «Im Fokus sollte nicht die Entwicklung einer noch

Zwischen ­Kreativität und Kommerz

DIGITALE K U LT U R & K R E AT IO N 28


raffinierteren Technologie, sondern die Förderung der ästhetischen und inhaltlichen Vielfalt stehen. Zudem würde ich mir wünschen, dass die Konsolen, wie wir sie heute kennen – kontrolliert von einer Handvoll Grosskonzerne – verschwinden. Aber das wird wohl nicht so bald passieren.» In seinen Kursen stellt Stern den Studierenden oft nur Einzelteile von Konsolen zur Verfügung, damit sie gezwungen sind, nicht nur bei der Spielidee, sondern auch bei der Umsetzung bei null zu beginnen und sich vieles selbst zu erarbeiten. «Das ist ein anspruchsvoller und nicht selten mühseliger Prozess», ist sich Stern bewusst. «Man kann sich kaum auf Vertrautes abstützen und hat ständig mit Unsicherheiten zu kämpfen.» Diese schmerzlichen Erfahrungen seien jedoch ungemein wertvoll: «Steckt man fest, meldet sich früher oder später das Kreativzentrum zu Wort: ‹Ich habe keine Ahnung, was ich hier mache. Ich muss unbedingt einen anderen Weg finden.› Und dann kann plötzlich etwas Neues und manchmal Grossartiges entstehen.»

klingen, ist aber Ausdruck einer Kreativität, wie sie sich in starren Strukturen kaum entfalten kann. «Unabhängige Spieleentwickler müssen sich nicht an kommerzielle Richtlinien grosser Unternehmen halten und bringen dadurch überraschendere Ideen hervor», sagt Sciboz. Erfolgreich können sie aber trotzdem sein: Fromage à Trois zum Beispiel wurde bereits zu einer Spielemesse in Tokio eingeladen. Die Frage der Vermarktung

Während die Ausbildung an der HEAD laut Sciboz auch explizit darauf abzielt, «den Studierenden zu helfen, sich als kreative Kräfte in der Branche zu etablieren», verzichtet das UCLA Game Lab bewusst auf eine derartige Ausrichtung. «In der Regel wird eine Kommerzialisierung bei uns erst zum Thema, wenn ein Projekt bereits gewisse Aufmerksamkeit und gute Kritiken erhalten hat», sagt Stern. «Unsere Studierenden sollen sich aus Leidenschaft und nicht aus finanziellem Interesse der Entwicklung von Spielen widmen. Ist der Ball ins Rollen gekommen, prüfen wir aber Zwei Schulen, zwei Ansätze natürlich alle Optionen.» Bereit zum Schritt auf den Markt sind Lea Schönfelder und Ein wenig anders präsentiert sich die Ausgangslage aus Sicht von Daniel Sciboz, Leiter des Masterprogramms für Mediendesign an Peter Lu, die Macher von Perfect Woman. Dabei möchten sie, erder HEAD: «Als Kunst- und Designschule wollen wir unseren Stu- klärt Lu, am liebsten unabhängig agieren: «Ein Spiel in Eigenredierenden breit gefächerte Kompetenzen vermitteln. Deshalb um- gie online zu vertreiben, ist eigentlich ganz einfach. Mit Perfect fasst das Masterprogramm neben Gamedesign auch andere Fächer Woman sieht das aber leider etwas anders aus, weil es ausschliess– ein grosser Unterschied zum Game Lab der UCLA.» Tatsächlich lich auf der Xbox Kinect läuft.» Deshalb bleibt ihnen vorerst nur deckt der Genfer Lehrplan ein weites Spektrum ab, von Interakti- die Möglichkeit, sich an Microsoft zu wenden und das Unternehonen mit Smart Objects über mobile Anwendungen bis zu Digital men von ihrer Idee zu überzeugen. «Das wird nicht einfach sein», Publishing. «Trotzdem nehmen Spiele eine zentrale Stellung ein», weiss Lu. «Unabhängige Entwickler haben bei den grossen Konbetont Sciboz, «erfordern sie doch die Beschäftigung mit wichti- zernen einen schweren Stand.» In der Zwischenzeit wollen die gen Aspekten des digitalen Designs: der Gestaltung und Einbin- beiden ihr Spiel bei möglichst vielen Festivals und Wettbewerben dung von physischen Objekten, dem Erstellen von interaktiven vi- einreichen. suellen Umgebungen oder Fragen der Benutzerfreundlichkeit». «Als universitäre Einrichtung legen wir den Fokus klar auf Das Programmieren bilde dabei einen Schwerpunkt als unentbehr- Forschung und Entwicklung», betont Stern. «Unser oberstes Ziel liches Instrument für die Entwicklung von Prototypen, das Testen ist es, die Kreativität der Studierenden anzuregen.» Und sein Genfer Kollege Sciboz stimmt überein: «Auch wir verfolgen einen experimentellen Ansatz, Steckt man fest, meldet sich früher oder später das wie er für mediale Kunst typisch ist.» ZenKreativzentrum zu Wort: ‹Ich habe keine Ahnung, was ich tral ist, da sind sich beide einig, den Projekhier mache. Ich muss unbedingt einen anderen Weg ten der Studierenden Aufmerksamkeit zu verschaffen. Dazu organisiert Stern unter finden.› Und dann kann plötzlich etwas Neues und manchanderem jeden zweiten Monat eine öffentmal Grossartiges entstehen. liche Veranstaltung: «Natürlich könnten wir auch die Studierenden auf Jobs vorbevon Spielen und die Umsetzung von Ideen. Von einer Kluft zwi- reiten und Firmen einladen. Aber wenn wir Künstler und unabhänschen den beiden Lehrinstitutionen könne trotzdem nicht die gige Entwickler hervorbringen wollen, müssen wir ihnen GelegenRede sein: «Computerspiele sind Teil der globalen digitalen Kul- heiten geben, ihre Arbeit auf ihre eigene Art zu präsentieren.» tur, deshalb verfügen die Studierenden über gemeinsame Bezugspunkte: Sie sprechen dieselbe künstlerische Sprache.» Ein Ergebnis des «Game Jam» an der UCLA war, dass die Schweizer etwas verrückter und die Kalifornier etwas zweckorien- http://games.ucla.edu tierter wurden. Das fand in Spielen wie Fromage à Trois von Alex http://head.hesge.ch/made/media-design Rickett, Khalil Klouche und Chris Reilly seinen Ausdruck, in dem Liz Armstrong ist Autorin, Redakteurin menschliche Figuren mit Käseköpfen zur Erde stürzen und von und Abenteurerin. Sie lebt in Los Angeles. einem kooperierenden Team von Spielern aufgefangen werden www.liz-armstrong.com müssen, bevor sie auf dem Boden aufschlagen. Das mag albern Aus dem Englischen von Reto Gustin

DI G ITALE K U LT U R & K R E AT IO N 29


30


Im digitalen Universum des Etter Studios: Christian Etter in einem Videostill aus der Kampagne fßr das Modehaus Hermès, 2012. www.etterstudio.com

31


OR T SZEI T

SAN FRANCISCO

NEW YORK

PARIS

ROM

K AIRO

JOHANNESBURG

NEW DELHI

SCHANGHAI

VENEDIG

Die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia unterhält ein weltweites Netz von Aussen­stellen. Sie dienen dem Kulturaustausch mit der Schweiz und erweitern die kulturellen Netzwerke.

Forschungs­ reisender im Grenzgebiet PARIS

Der Künstler mit seinem neusten Spielzeug: Mit dieser Drohne hat Adrien Missika die mexikanisch-amerikanische Grenze aus der Luft beobachtet.

O R T SZ E IT 32

Von Zeke Turner – Berlin, an einem Nach­ mittag im Januar: Im Restaurant des alten Fabrikgebäudes, in dem er auch sein Atelier hat, drückt Adrien Missika mit der einen Hand auf seinem iPhone herum, während er mit der anderen das letzte Salatblatt auf­ spiesst. «Irgendwie sind heute alle früh dran», seufzt der 32-Jährige und beendet seinen Imbiss schneller, als er eigentlich vorhatte. Zwei Transporteure aus Deutschland sind vorzeitig eingetroffen, um Exponate für seine in der Woche darauf beginnende Ausstellung Cosmic Latte im Kunstraum

Foto: Maxime Ballesteros

Er nennt es sein bislang politischstes Projekt: Für seine Ausstellung Amexica erforscht der Künstler Adrien Missika die Auswirkungen des Grenzwalls zwischen Mexiko und Amerika.


Foto: Adrien Missika

Walcheturm in Zürich abzuholen, und onismus, das späte 19. Jahrhundert», erin­ Lausanne hat mich stark geprägt – im Her­ jetzt ist auch noch dieser amerikanische nert er sich. Als Jugendlicher entdeckte er zen bin ich immer noch Franzose, aber als Journalist früher als vereinbart da. Dabei das Centre Pompidou, wo er ganze Tage Künstler bin ich seither Schweizer.» sollte sich Missika doch auf seine bevor­ verbrachte. In der Folge fand er immer Nachdem er bis dahin sein ganzes stehende einmonatige Reise nach Mexiko mehr Gefallen an zeitgenössischer Kunst, ­Leben in Haussmanns Paris aus Stein und vorbereiten, deren Ergebnisse er von April belegte aber seinen Eltern zuliebe zu­ Zement verbracht hatte, wurde in der bis Mitte Juli im Centre Culturel Suisse in nächst Jurakurse an der Sorbonne. Schweiz schlagartig sein Interesse an na­ Paris präsentieren wird. Zu seinem 20. Geburtstag bekam er türlichen Landschaften geweckt. Für ein Entsprechend scheint der Pariser die Nikon-Kamera seines Grossvaters – ei­ frühes Projekt bildete er fünf klassische Künstler etwas gehetzt und leicht genervt, nes «Pied-noir», der aus Algerien nach Pa­ Postkartenmotive – einen Wasserfall, eine doch tatsächlich ist er ganz in seinem Ele­ ris zurückkehrte, als Missikas Vater noch Höhle, einen Sonnenuntergang, einen ment, wenn es darum geht, ein logisti­ ein Kind war – und nahm sie mit auf eine Wald und einen Berggipfel – aus Abfall sches Chaos zu bewältigen. Ein zentraler Reise in die marokkanische Wüste: «Plötz­ nach und fotografierte sie. Dass er mithilfe Bestandteil von Missikas Arbeiten sind lich eröffnete sich mir eine Art der Kom­ seiner Kamera eine künstliche Nachah­ ­Reisen an besondere Orte, auf denen er munikation, die wie angegossen zu mir mung echter als das Original erscheinen sich immer auch vom Zufall lei­ ten lässt. So filmte er im Libanon einen französischen Musiker, der heimlich in einem verlassenen ­Gebäude von Oscar Niemeyer her­ umstrich und die Bauruine als Klangskulptur nutzte; auf Hawaii gelang es ihm, die Vorstellung ei­ nes Inselparadieses zugleich zu verfremden und perfekt einzufan­ gen, indem er am Strand eine Ka­ mera aufstellte und ein zufälliges Tableau Vivant entstehen liess; in Rio de Janeiro und São Paulo foto­ grafierte er die Gärten des brasili­ anischen Landschaftsarchitekten Roberto Burle Marx, die er an­ schliessend für eine Ausstellung in seiner Pariser Galerie in Form von bepflanzten Turmkonstruktionen nachempfand; und von einer Reise durch Island im Sommer 2013 brachte er einen Lavastein mit, von dem er, zurück in seinem Atelier, Fotografien für Cosmic Latte er­ Die Bilder aus Amexica sind noch bis zum 13. Juli im Centre Culturel Suisse in Paris zu sehen. stellte. Eine Woche vor unserem Gespräch passte. Bald danach besorgte ich mir eine lassen und umgekehrt auch reale Bilder so war Missika noch in Rom, wo er seinem der ersten digitalen Kameras und begann verfremden konnte, dass sie unecht oder letzten Projekt, einem Buch mit dem Titel damit alles abzulichten, was ich in Erinne­ sogar unirdisch wirkten, faszinierte ihn Botanica, den letzten Schliff verpasste – rung behalten wollte.» ungemein. Mit der Authentizität von Foto­ und bei einem Strassenkünstler, den er in grafien spielte er auch in The Space Betder Nähe des Pantheons kennenlernte, Spielzeuge und Politik ween, einer seiner ersten Ausstellungen, gleich einige Gemälde für seine Ausstel­ Auf Anregung eines Freundes bewarb er und weitete diesen Ansatz in der Folge auf lung in Zürich in Auftrag gab. sich an der Kunsthochschule ECAL in Lau­ Videos, Installationen und Plastiken aus. sanne, brach, als er die Zusage erhielt, sein Die beiden deutschen Transporteure Studium an der Sorbonne ab und zog in haben sich wieder auf den Weg gemacht. In Postkartenmotive aus Abfall Seine ersten Kunsterfahrungen machte die Schweiz. «In Frankreich waren die seinem Berliner Atelier im vierten Stock Adrien bereits als Sechsjähriger, als ihn Kurse meist mässig besucht, und oft mit Blick auf das markante Axel-Springerseine Mutter in den Louvre, ins Musée herrschte eine fast gespenstische Atmo­ Hochhaus und eine Gruppe von Platten­ d’Orsay und später auch zu Monets Seero­ sphäre», erzählt Missika. «An der ECAL bauten hat sich Missika einen schwarzen, sen ins Musée de l’Orangerie mitnahm. standen hingegen alle pünktlich um 8.30 zerschlissenen Kittel übergestreift und «Ihr Inbegriff von Kunst war der Impressi­ Uhr morgens auf der Matte. Die Zeit in zündet noch eine Marlboro an. Auf einem O R T SZ E IT 33


www.ccsparis.com Der Journalist Zeke Turner ist in Brooklyn aufgewachsen und lebt heute in Berlin. Der 26-Jährige berichtet für US-amerikanische Zeitungen und Magazine aus Europa, so unter anderem für die New York Times und das Wall Street Journal. Aus dem Englischen von Reto Gustin

Schaufenster in China für Schweizer Design SCHANGHAI

Junge Schweizer Designer konnten sich letzten Herbst an der Beijing Design Week präsentieren. Nach der erfolgreichen Veranstaltung will Pro Helvetia den schweizerisch-­chinesischen Austausch ausbauen.

Der faltbare Stuhl Wogg 42 des Designers Jörg Boner wird von Pierre Keller, Ehrendirektor der Kunstschule ECAL, und dem Publikum der Beijing Design Week kritisch beäugt.

Von Iona Whittaker, Peking – Die richtige Balance zwischen künstlerischer und wirt­ schaftlicher Förderung zu finden, ist bei der Unterstützung junger Designer eine der schwierigsten Aufgaben. Entsprechend galt es bei der Planung einer Ausstellung, die dem chinesischen Publikum zeitgenös­ sisches Schweizer Design näherbringen sollte, kreative und kommerzielle Aspekte miteinander zu verbinden. Pro Helvetia eröffnete 2010 ein Verbin­ dungsbüro in Schanghai. Seither erkundet die Kulturstiftung im Rahmen eines Vier­ jahresplans verschiedene Möglichkeiten, um die Präsenz von Schweizer Design in China zu fördern. Der Schritt auf den chi­ nesischen Markt ist Herausforderung und O R T SZ E IT 34

Chance zugleich: Man muss nicht nur die Anliegen der Kreativen berücksichtigen, sondern auch genaue Kenntnisse des Um­ felds erwerben, in dem sie positioniert wer­ den sollen. Die Ausstellung Young Swiss Design Kaleidoscope war Teil der Beijing Design Week 2013. Die von Pierre Keller, Ehrendirektor der Lausanner Kunsthoch­ schule ECAL, und Michel Hueter, Kurator des Design Preis Schweiz, kuratierte Werk­ schau präsentierte Arbeiten von 27 Einzel­ designern und Kollektiven aus den Berei­ chen Grafikdesign, Typografie, Möbel-, Indus­trie- und Produktdesign. «Die chine­ sische Vorstellung von Schweizer Design beschränkt sich auf traditionelle Produkte, wie zum Beispiel Uhren», erklärt Sylvia Xu,

Foto: Chang Liu

Tisch liegt eine schnittige, weisse Drohne aus China samt Fernbedienung, mit der er in Mexiko Fotos in der Wüste schiessen, Gebäude erkunden und in den Luftraum der USA vordringen will. «So etwas ma­ chen Künstler eben: Sie nehmen ein Ob­ jekt und experimentieren damit herum.» So erzeugte er für die Ausstellung Impressions botaniques, die er 2013 bei Bugada & Cargnel, seiner Galerie in Paris, zeigte, mithilfe eines Handscanners Bilder von Pflanzen (die er unter Verweis auf den Sur­ realisten Max Ernst «Frottagen» nannte), während für sein Mexiko-Projekt Christos Land Art und Richard Serras Riesenskulp­ turen Pate stehen. Sein neuestes Spielzeug hat allerdings eine düstere Seite, lässt das Stichwort «Drohne» doch an die amerikanische Mi­ litärpräsenz in Afghanistan und flächende­ ckende Überwachung denken. Ein heikles Terrain, was Missika aber nicht sonderlich beunruhigt: «Ich werde nur eine Drohne dabeihaben – wenn die abgeschossen, ge­ stohlen oder flugunfähig wird, dann war’s das halt», meint er lakonisch. Nichtsdesto­ trotz erhofft er sich von seinem Aufent­ halt an der US-mexikanischen Grenze viele neue Aufschlüsse über das Reisen, Land­ schaften, Zwischenräume und neue Tech­ nologien. «Das ist mein bisher politischstes Projekt», betont Missika. «Die Auswirkun­ gen dieses autoritären Grenzwalls auf Mensch und Natur sind enorm – das will ich mir mit eigenen Augen ansehen.» Oder, genauer gesagt, durch das Objektiv der am Bauch seiner Drohne befestigten Kamera, die hoch erhaben über allem schweben und den irdischen Wahnsinn unter ihr auf ruhige, geradezu entrückte Weise einfangen wird.


Leiterin des Pro Helvetia-Büros in Schang­ hai und Initiantin der Ausstellung. «Zeit­ genössische Schweizer Kultur ist hier kaum bekannt. Um dies zu ändern, wollen wir jedes Jahr ein eigenes Kulturprojekt durchführen – sei es in Schanghai, das über die bessere Infrastruktur verfügt, oder in Peking, wo in künstlerischer Hin­ sicht sehr viel in Bewegung ist.» Der Zeit­ punkt für die Ausstellung schien gut – auf­ grund der ausgeprägten Dynamik, die den lokalen Markt kennzeichnet. «Das Inter­ esse an einheimischen Designern nimmt stetig zu. Auf dieser Welle können auch Schweizer Designer reiten; sie haben gute Aussichten, sich auf dem hiesigen Markt zu etablieren», zeigt sich Xu überzeugt. Ganzheitliche Lösungen Dass die Bekanntheit des zeitgenössischen Schweizer Designs in China noch ver­grös­ sert werden kann, findet auch Michel Hueter. Gegenseitige Neugier ist zwar ­ ­vorhanden, doch der Zugang zum chine­ sischen Markt, der auf Aussenstehende fremdartig und unstrukturiert wirken kann, gestaltet sich wegen der kulturellen und sprachlichen Hürden oft schwierig. «Ziel der Ausstellung war es, aktuelles Schweizer Design sowohl zu präsentieren als auch strategisch zu positionieren. Wir wollten vermitteln, dass eine besondere Stärke unserer Designer darin liegt, ganz­ heitliche Lösungen zu finden, die sich langfristig bewähren und den internatio­

Foto: zVg

Eternit-Stuhl Beach Chair von Willy Guhl, 1954

nalen Geschmack treffen», so Hueter, der die neuen Kontakte nutzen will, um mehr über chinesische Netzwerke und Plattfor­ men sowie die Bedürfnisse potenzieller Partner zu erfahren. Die meisten der in Peking vorgestellten Designer hatten ­ schon zuvor Verbindungen zu China: So lässt zum Beispiel Alex Hochstrasser sein

Plakat von Aurèle Sack

Kinderspielzeug der Marke Moluk hier pro­ duzieren, Tomas Kral war für das Hong­ konger Unternehmen Praxis Design tätig, und Bernhard/Burkard entwickelten für das chinesische Label Objects You Obsess einen tragbaren Lautsprecher. Besonderes Interesse zeigten die Besu­ cher von Kaleidoscope an der Qualität der Materialien und der Herstellung der prä­ sentierten Objekte, wie beispielsweise der Laufschuhe oder der Arbeiten des ECAL für Luxusmarken wie Baccarat oder Hublot. Grossen Anklang fanden auch die Spiel­ zeuge von Moluk, die keine vorgegebene Funktion haben, sondern erst durch kind­ liche Vorstellungskraft zum Leben erwa­ chen. Künftiges Potenzial sieht Hueter be­ sonders in den Bereichen Möbeldesign, Werkstofftechnik und Grafik. Für den Erfolg weiterer Kooperatio­ nen wird vor allem Flexibilität gefragt sein, sind sich Hueter und Xu einig: Die Produk­ tionszeiten sind oft kurzfristig angesetzt und die Bedingungen können sich wegen neu entstehender Strukturen rasch än­ dern. Die nächste Ausstellung – mögli­ cherweise erneut mit Beteiligung von Pro Helvetia im Rahmen der Beijing Design Week 2014 – wird laut Xu besser auf die Räumlichkeiten zugeschnitten und unab­ hängiger abgewickelt werden. Zukunftspläne Mit dem Kunstmuseum Power Station of Art (PSA), das anlässlich der Shanghai ­Biennale 2013 eröffnet wurde, hat die Zu­ sammenarbeit bereits begonnen. Dieses führte im April eine Ausstellung zu aktu­ O R T SZ E IT 35

eller Landschaftsarchitektur sowie eine Symposiumsreihe über Typografie durch, zu der Ludovic Balland, Julien Tavelli, ­David Keshavjee und Felix Pfäffli als Gast­ redner eingeladen wurden. Ausserdem soll ein Schweizer Designer eine Ausgabe des PSA-Magazins mitgestalten, und zwei chi­ nesische Künstler werden für einen Ateli­ eraufenthalt in die Schweiz reisen. Für die Zukunft erhofft sich Xu weitere gemein­ same, Kunst und Wirtschaft kombinie­ rende Projekte der beiden Länder – so könnte zum Beispiel ein Schweizer Textil­ designer dazu eingeladen werden, vor Ort mit einem chinesischen Modedesigner zu­ sammenzuarbeiten. Im Zentrum der Perspektiven für das Schweizer Design in China steht je­ doch nicht etwa die Erschliessung neuer Märkte, sondern die Ausweitung einer grundlegenden Idee: Das Ziel von Design sei in erster Linie Inklusivität und das Leis­ ten eines Beitrags zum jeweiligen Umfeld, meint Hueter: «Nachhaltigkeit ist mehr als Ökologie; es geht auch um Bewusstsein und Verantwortlichkeit.» Design könne gerade in einem Land wie China, das in den letzten Jahren ein so rasantes Wachs­ tum von Produktion und Konsum erlebt habe, viel Gutes bewirken: «Ich habe nichts gegen Konsum, aber ich bin über­ zeugt, dass es dafür schlechtere und bes­ sere Wege gibt.» In diesem Sinn sind auch die Design­projekte von Pro Helvetia bestrebt, Werte – sozialer, ökonomischer oder ökologischer Art – zu vermitteln, De­ batten anzustossen und positive Entwick­ lungen zu fördern. Davon, wie gut dies ­gelingt, hängt letztlich die Qualität des wirtschaftlichen Erfolgs einer Gesellschaft ab, ob in China oder anderswo. www.prohelvetia.cn Die Kunstkritikerin Iona Whittaker lebt in Peking und ist Redaktionsmitglied bei Randian. Daneben schreibt sie für Art Review, das Wall Street Journal, Frieze, Flash Art, Artforum, Art Asia Pacific und The Art Newspaper über zeit­ genössische chinesische Kunst. Aus dem Englischen von Reto Gustin


«Ein grosser Teil des Trainings besteht darin, meine Angst wegzuarbeiten», die PerformanceKünstlerin Anthea Moys beim Training mit dem Genfer JuniorenEishockeyclub, gegen den sie am Festival Antigel antrat – allein.

36


R EP OR TAGE

Eine gegen alle Talent hat sie, Ausdauer auch. Das nützt ihr trotzdem nichts, wenn sie nach mehreren Wochen Eishockeytraining allein gegen die Junioren des HC Servette antritt. Und gegen ein ganzes Alphorn-Ensemble. Wie die südafrikanische Performance-Künstlerin Anthea Moys nach Genf kam, um die Wettbewerbsgesellschaft herauszufordern. Von Daniel Di Falco (Text) und Herbert Zimmermann (Fotos)

Sie tut alles, um sich besiegen zu lassen. Sie ist die willigste, geübteste, vielseitigste Verliererin, die die Welt je gesehen hat. Es war letztes Jahr, als sich Anthea Moys daheim mit einer ganzen Fussballmannschaft anlegte. Zweimal zehn Minuten, zur Pause stand es 5:0 für den Grahamstown United Football Club. Dann stürmten einige Zuschauer das Feld, um sich auf ihre Seite zu schlagen. Es half nichts – 12:0 das Schlussresultat. Anthea Moys versus The City of Grahamstown, so hiess das Turnier, das sich die Performerin für das jährliche National Arts Festival in der südafrikanischen Kleinstadt ausgedacht hatte. Die weiteren Partien: Anthea Moys gegen die South African Battle Reenactment Society (als einzige schottische Rebellin gegen die britische Armee), die örtliche Latin Dance Truppe, einen Schachklub und den Chor der Victoria Girls’ High School. Die letzte Niederlage setzte es ab in der Begegnung mit den Schwarzgürteln des East Cape Shotokan-Ryu Karate Club. Es gibt ein Video des Kampfs, und schon das Zuschauen schmerzt. Im Jahr zuvor war Moys mit einem nationalen Nachwuchskunstpreis der Standard Bank gekrönt worden. Sie setze sich, schrieb die Zeitung Mail & Guardian begeistert, über das prätentiöse Gewese des Galerienmilieus genauso hinweg wie über die herkömmlichen Begriffe von Kunst R E PO R TAG E 37

und Performance. Tatsächlich hat sie Visuelle Künste studiert und ihren Master dann über Performances im öffentlichen Raum geschrieben; über die Aktionen von Künstlern wie Gustavo Artigas oder Tino Sehgal, subversive Formen des Spiels, mit denen die Kunst in den Alltag ausgreift und sich ins soziale Leben einmischt. Moys mag solche «trickster tactics», darum schwärmt sie von Gianni Motti, und auch was die 33-Jährige selber macht, muss man nicht unbedingt Kunst nennen, um seinen Spass daran zu haben. Aber es hilft, wenn man über den ganzen Ernst reden will, der hinter ihren Spielen steht. Die Angst vor dem Puck im Gesicht Januar 2014, Genf, ein Café beim Parc des Bastions: Anthea Moys erscheint mit einem Eishockeyschläger zum Interview. Sie hat am Morgen schon zwei Stunden auf der Radrennbahn trainiert, jetzt kommt sie von einem Fototermin mit den Junioren des HC Servette. Am Nachmittag noch das Eislauftraining in Carouge. Und um 17 Uhr: ihre Alphornlektion. Anthea Moys versus les Communes Genevoises heisst ihr neuer Streich. Auf Einladung der Pro Helvetia-Aussenstelle Johannesburg verbringt sie zwei Monate in Genf und wird schliesslich am Kulturfestival Antigel an fünf Abenden gegen jene Genfer Vereine antreten, bei denen sie trainiert hat. Auch im Schwingen. Und im Armdrücken.


Anthea Moys will etwas können, auch wenn sie verliert. Beim Training im Genfer Eislaufstadion Les Vernets …

Dabei hätte sie noch ein Jahr hier zu tun, wenn es nach dem Publikum ginge, das ihr auf einer Kulturveranstaltungs­ webseite eine ganze Serie weiterer Wettkämpfe vorgeschlagen hat. Anthea Moys gegen die Vereinten Nationen. Anthea Moys gegen die Eringer Kühe. Gegen ­Stanislas Wawrinka. Gegen Massimo Furlan. Gegen die hundert Geigen des Budapester Zigeunersymphonieorchesters. Gegen Doppelrahm und Meringues aus dem Greyerzerland. «Sie hat vor nichts Angst.» So steht es im Festivalheft, aber die Frau mit dem pumucklroten Haar schüttelt den Kopf. «Ein grosser Teil des Trainings besteht darin, meine Angst wegzuarbeiten.» Es ist die Angst vor dem Sturz in der Steilwandkurve. Vor dem Muskelriss im Sägemehl. Oder vor dem Puck im Gesicht. Und noch eine Angst: die vor dem Versagen. Sie will etwas können, auch wenn sie verliert. Am Alphorn übt sie zwei bis drei Lektionen pro Woche. Man muss sich Anthea Moys als Menschen vorstellen, der sich laufend mit neuen Fertigkeiten beglückt. «Klar werde ich verlieren. Aber die andern gewinnen, weil sie gewinnen. Ich gewinne, weil ich etwas gelernt habe.» Für mehr als das Elementare reicht die Zeit allerdings nicht. Beim Eishockey: anhalten können,

laufen, ohne auf den Puck schauen zu müssen, möglichst nicht umfallen. «Hör auf das, was vorne rauskommt» Heute allerdings glückt das Training auf der Schlittschuhbahn nicht recht: Das Eis ist zu weich. Und dann kommt Moys eine Viertelstunde zu spät zur Alphornstunde, nach einer Busfahrt im Feierabendverkehr quer durch die Stadt. Zudem hat sie ihre Notenblätter in der Eile in einer anderen Tasche liegen lassen. Aber Pascal Droux, der sie in einem Zimmer im Soussol eines Schulhauses erwartet, ist ein geduldiger Mensch. Und er hat eine gelehrige Schülerin. Das sagt er jetzt draussen auf dem Korridor. «Ich staune über ihr Niveau nach dieser kurzen Zeit. Man merkt, wie hart sie arbeitet.» Droux leitet ein Alphornensemble namens L’Etoile, und er nennt das ­Alphorn ein «sehr, sehr schwieriges In­

… und beim Auftritt mit dem Alphorn.

strument». Weil die Tonbildung allein mit der Schürzung der Lippen geschieht. Und weil der ganze Druck aus dem Bauch kommen muss. Normalerweise, sagt Droux, dauere es drei Jahre, bis jemand sein erstes Stück spielen könne. «Perfekt wird es nicht sein, aber eine kleine Melodie wird sie beherrschen.» Zurück ins Übungszimmer. Eigentlich ist es das Magazin der Musique de la Police de Genève; in den Schränken ­hängen tintenblaue Uniformen, auf dem Tisch liegt ein Blatt Militärmusik von der 500-Jahr-Feier der Schlacht zu St. Jakob an der Birs. Die war 1944, und 2014 steht hier eine junge Südafrikanerin am schmalen Ende eines Stücks Holz, das einmal ein Fichtenstamm war, und versucht, ihren Ton durch das dreieinhalb Meter lange Rohr zu bekommen. «Hör auf das, was vorne rauskommt», sagt Droux. Moys

Der Lohn ihrer Mühe ist der Zutritt zu fremden Welten. Moys spricht von «etwas Reinem, Kraftvollem, fast Spirituellem», das sie erfährt, wenn sie mit Wildfremden in Verbindung tritt, um deren Spiel zu erlernen. RE PO R TAG E 38


Moys: «Wer spielt, um zu gewinnen, spielt eigentlich nicht.»

spielt zwar schon genau so reglos wie die Könner; keine geblähten Wangen, nur diese kaum sichtbare Verschiebung der Lippen am Mundstück. Aber dem Ton hört man die Arbeit an, unter der er entsteht. «Das sollte ein Atemzug sein. Nur einer», sagt Droux. Beim zweiten Mal klingt es voller, doch der nächste Ton beginnt wieder zu wackeln im Rohr. «Gut, machen wir etwas Einfacheres.» Nach einer Stunde kommt Moys dann doch mit einem Lob aus dem Zimmer, und sie erinnert sich, dass sie in Grahamstown mit einem Dudelsack gegen die Engländer antrat: «Dudelsack ist noch schwieriger». Trotzdem: Warum tut sie sich das an? Woher diese Ausdauer? «Die habe ich wohl von meinem Vater.» Zudem treibt sie Sport, vor allem Leichtathletik und Schwimmen, seit sie sechs Jahre alt ist. Am wichtigsten aber: Der Lohn ihrer Mühe ist der Zutritt zu fremden Welten. Moys spricht von «etwas Reinem, Kraftvollem, fast Spirituellem», das sie erfährt, wenn sie mit Wildfremden in Verbindung tritt, um deren Spiel zu erlernen. Und hier zündet auch der kritische Ernst ihrer Aktionen, die man zunächst für Klamauk halten könnte: Sie fordern ein Spiel heraus, das mitunter kein Spiel mehr ist, sondern eine Fortsetzung der Leis-

tungs- und Wettbewerbsgesellschaft mit anderen Mitteln. «Wer spielt, um zu gewinnen, spielt eigentlich nicht.» Im Deutschen gibt es ihn nicht, aber das Englische macht einen Unterschied zwischen «play» und «game». Hier das Spielen als erfinderische, zweckfreie, im besten Sinn weltfremde Tätigkeit; dort das Spiel als Institution, als Gehäuse aus ­Normen und Regeln, als Ökonomie. Und irgendwo dazwischen Anthea Moys, die fasziniert ist von der sozialen Magie des «game» und gerade darum gegen seine Aushöhlung angeht. Mit den Freuden des «play». Mit den Mitteln der Kunst. «Kunst erweitert unseren Raum in der Welt, Sport kann das nicht.» Sie ist immer die Letzte Im Hockeystadion von Les Vernets gibt es Glühwein aus Thermoskannen und Bier in Halbliterdosen. Auf der Tribüne sieht man Shirts mit der Aufschrift TEAM MOYS. Auch Pascal Droux trägt eines, der Alphornmeister, der vor einigen Tagen in einem Gemeindesaal den Untergang seiner Schülerin erlebt hat. Das Lampenfieber. Schlecht zu verstecken, wenn man an einem Alphorn steht und keine Ruhe in seine Atmung bekommt. «Es war schlimm. Ich R E PO R TAG E 39

weiss nicht warum, aber ich habe mein Yoga vor dem Auftritt vergessen.» Während das achtköpfige Ensemble mit seinen mehrstimmigen Partituren so satt klang wie ein Flugzeugtriebwerk, durfte sie das erste ihrer beiden Stücke noch einmal spielen. Am Ende kam sie mit einer fast schon sozialistisch gestimmten Jury – ein jeder nach seinen Möglichkeiten, und «sie hat sich grosse Mühe gegeben» – auf 55 Punkte. Und das waren dann doch nur 12 weniger als die Mannschaft von Droux. Anpfiff. Moys spielt dreimal fünf Minuten gegen jeweils fünf Junioren von Servette, und beim Stand von 7:0 wird der Speaker einen Witz machen: «Für wen?» In einem Punkt ist das Alphornspielen tatsächlich leicht: Es gibt keinen Gegner, der einen am Mitspielen hindert. Und wenn sich Moys den Puck doch einmal erobert, kommt sie keine zwei Meter weit, bevor sie ihn verliert und sich schon wieder ganz Servette vor ihrem Goal versammelt wie vor einem Schiessstand. Sie ist immer die Letzte. Trotzdem fällt das erste Tor erst nach einer Minute, und das hat mit ihrem zweiten Mann zu tun: der hölzernen Torwart-­ Attrappe, die das Gehäuse grossflächig dichtmacht. Dass der Show etwas fehlt, merkt Moys selber. Neue Strategie im zweiten Drittel: direkt auf den Mann. Auf irgendeinen. Weitab vom Geschehen trifft es Nummer 18 – sie wirft ihn um. Das Publikum jubelt, er reklamiert, der Schiedsrichter stellt ihren Holzkameraden zur Strafe für den Rest des Drittels vom Eis. Moys verlegt sich darauf, bäuchlings übers Eis zu surfen. Am Ende steht es 10:0, die Servettiens werfen sich aufeinander. Ein merkwürdiger Jubel nach so einem Sieg. Aber wenn nicht alles täuscht, dann türmen sich hier genau die wahren, die weltfremden Freuden des Spiels. Und wer zuletzt kommt, landet zuoberst: Die Frau, die angetreten ist, um den Sport für das Verlieren zu gewinnen, krönt den Haufen. www.antheamoys.com Daniel Di Falco ist Kulturjournalist und schreibt beim Bund in Bern über Theater, Kunst, Fotografie und gesellschaftliche Fragen. Herbert Zimmermann ist freischaffender ­Fotograf, lebt in Luzern und ist Gründer der Bild- und Fotografenagentur 13 Photo. www.herbertzimmermann.ch


PRO H ELV E T I A A K T U EL L

Ein Bummel durch die Architekturgeschichte: Biennale Venedig

Der renommierte Kurator Hans Ulrich Obrist lädt die Gäste der diesjährigen Architekturbiennale von Venedig im Schweizer Pavillon auf einen Bummel in die jüngere Architekturgeschichte ein. Stationen dieser Entdeckungsreise unter dem Titel Lucius Burckhardt and Cedric Price – A stroll through a fun palace sind die Arbeiten des Basler Soziologen und Planers Lucius Burckhardt und des Architekten Cedric Price. Burckhardt erhob mit der «Promenadologie» den Spaziergang zum wissenschaftlichen An­ satz, während sich der Brite Price mit dem nie realisierten Projekt Fun Palace einen Namen machte – einem Spass­ labor mit Tanz, Musik, Theater und Feu­ erwerk. Die Rückschau auf diese beiden kurz nach der Jahrtausendwende

verstorbenen Visionäre reflektiert die ­Architektur und Raumplanung des ­einundzwanzigsten Jahrhunderts. Die Ausstellung fungiert als Labor, in dem «die Ideen von Cedric und Lucius als Werkzeuge zur Erfindung der Zukunft dienen», so Hans Ulrich Obrist. Verant­ wortlich für den Schweizer Auftritt an der Biennale von Venedig, die noch bis am 23. November dauert, ist Pro Hel­ vetia. Im Salon Suisse, dem offiziellen Schweizer Begleitprogramm im Palazzo Trevisan, lädt sie zu einer vielfältigen Veranstaltungsreihe ein, die von den Architekten und Städteforschern Hiromi Hosoya und Markus Schaefer kuratiert worden ist: The next 100 years – ­Scenarios for an Alpine City State. www.biennials.ch

PRO HELV E T IA AK T U E LL 40

Innovative Fotobücher Obwohl wir im digitalen Zeitalter leben, ist das Ende des gedruckten Buchs noch lange nicht in Sicht. Darauf verweist ­zumindest das grosse Interesse an der Unterstützung von Fotobüchern, das Pro Helvetia verzeichnet. Auf die Aus­ schreibung im Jahr 2013 reichten über 40 Fotografinnen und Fotografen ihre Buchprojekte ein. «Die Vielfalt war gross und die Qualität hoch», stellt Caroline Nicod von der Abteilung Visuelle Künste fest. Gefragt waren innovative Fotobü­ cher mit einer starken Bildsprache, die ein zeitgenössisches Thema von gesell­ schaftlicher Relevanz behandeln. Unter den zehn aus­ gewählten ­Projekten, die nun publiziert werden, sind bekannte Na­ men wie Jules ­Spinatsch, Joël Tettamanti und Augustin Rebetez – aber auch Nachwuchskünstlerinnen wie Maya ­Rochat oder Katja Jug. Letztere lässt in ihrem Kochbuch Hermes mit Rezepten, Fotografien und Erzähl­ fragmenten ­persönliche Erinnerungen an den ­Balkan lebendig werden. Eine neue Perspektive auf die Zürcher Unru­ hen der 80er-Jahre ermöglicht das Buch von Christof Nüssli und Christoph Oeschger, das Fotografien des Aktivisten Miklós Klaus Rózsa auf dessen Staats­ schutzakten gedruckt präsentiert. Auch klassische Fotodokumentationen wie Catherine Leuteneggers Kodak City sind dabei. Sie zeigt den Niedergang der ­Heimatstadt dieses Foto-Pioniers, der den digitalen Wandel verpasst hat. Die nächste Ausschreibung für Fotobücher findet im kommenden Frühjahr statt.

Foto: Andreas Gram / Martin Schmitz

Visionäre ­Architektur ­entdecken


Neue Pläne für das Swiss I­ nstitute Der 30-jährige Franzose Simon Castets ist seit November 2013 Leiter des Swiss Institute (SI) in New York. Wie sind Sie Kurator geworden? Ich habe an der Columbia University in New York kuratorische Theorie und ­Praxis studiert und war danach fünf Jah­ re lang freischaffend tätig. Was mir an diesem Beruf besonders gefällt, ist die di­ rekte Zusammenarbeit mit den Künst­ lern und die Möglichkeit, sie auf ihrem kreativen Weg zu begleiten. Als Kurator ist man, insbesondere im Bereich der zeitgenössischen Kunst, ständig von Kunst und Künstlern umgeben. Das schätze ich sehr. Sehen Sie als Franzose die Schweizer Kunstszene aus einem anderen Blickwinkel? Das Swiss Institute ist naturgemäss eine Einrichtung mit internationalem Flair: Es präsentiert zeitgenössische Schweizer Kunst in einer echten Weltstadt, in der ich seit sieben Jahre lebe. Allein schon deshalb unterscheidet sich meine Sicht­ weise von derjenigen eines Schweizer Kurators. Ich empfinde diese Ausgangs­ lage als Vorteil, erlaubt sie es doch, dass ich die vielfältigen kulturellen Kontexte,

Porträt Castets: zVg; Porträt Cosey: Ankur Ahuja

Coseys Wege durch Indien Der international bekannte Lausanner Comicbuchautor Bernard «Cosey» Cosendai war im Frühjahr 2011 als Ar­ tist in Residence auf Einladung von Pro Helvetia in Indien unterwegs. In der ­Passagenausgabe Nr. 56 berichteten wir über seinen Besuch im Nizamuddin Tempel, einer Pilgerstätte in Dehli, wo er sich vom Menschengetümmel, den schillernden Farben und den Qawwali, den Sufigesängen, inspirieren liess. Hier

Simon Castets wird am SI regelmässig Design aus der Schweiz vorstellen.

die ein Land mit vier Amtssprachen prä­ gen, womöglich vollständiger erfasse. Welche Pläne haben Sie für das SI? Im Juni zeigen wir die Gruppenausstel­ lung The St. Petersburg Paradox, die auf der gleichnamigen Theorie des Schwei­

entstanden die Skizzen zu seinem ­neusten Comicbuch Celle qui fut (Jene, die war), das bei Lombard in Brüssel ­erschienen ist. In diesem Album führt er die Geschichte der Figur Jonathan fort, den die Leserinnen und Leser bereits aus seinen früheren Büchern kennen. Die Suche nach seiner ersten grossen Liebe Saïcha führte Jonathan bisher wie ein roter Faden durch verschiedene Aben­ teuer. In der neusten Graphic Novel be­ gegnet er April, einer weiteren wichtigen Frauenfigur. Sie bittet ihn, die Mörder ihrer Eltern zu finden, und Jonathan be­ gibt sich auf eine gefährliche Reise durch Indien. www.cosey.rogerklaassen.com

PR O H E LV E T IA AK T U E LL 41

zer Mathematikers und Physikers ­Daniel Bernoulli basiert und Themen rund um Risikoaversion und irrationa­ les menschliches Verhalten beleuchtet. Im weiteren Verlauf des Jahres folgt eine von Andreas Angelidakis kuratier­ te Designausstellung – der Auftakt zu einer neuen Veranstaltungsreihe, in deren Rahmen wir künftig jedes Jahr Design aus der Schweiz vorstellen wol­ len. Da das SI noch nicht so viel Erfah­ rung mit Design und Architektur hat, werden wir in diesen Bereichen exter­ ne Partner hinzuziehen. Eine weitere Ausstellung wird Valentin Carron ge­ stalten, und wir freuen uns schon sehr auf seine einzigartige Betrachtungs­ weise der Kunstgeschichte. Künstler sind oft die besten Kuratoren. Mit welchen Vertretern der Schweizer Kunstszene stehen Sie zurzeit in Kontakt? Unter anderem hatte ich eine sehr in­ teressante Unterhaltung mit Niels Ol­ sen und Fredi Fischli, die seit Kurzem einen Ausstellungsbereich an der ETH Zürich leiten. Ich kenne die beiden schon eine Weile und denke, dass eine Zusammenarbeit mit ihnen sehr span­ nend sein könnte. Auch mit Alexandra Bachzetsis haben wir das Gespräch aufgenommen und prüfen die Mög­ lichkeit eines gemeinsamen Projekts. Am SI wird es also auch in Zukunft ­einiges zu entdecken geben. www.swissinstitute.net

Cosey skizziert in Indien für sein neues Comicalbum.


Den Zugang zum Schweizer Markt erleichtern So sorgfältig sich die fünf Artlink-Mitar­ beiterinnen und Mitarbeiter um Media­ thek und Literaturklub kümmern, es bleibt eine Liebhaberei. Das Kerngeschäft des Büros für Kulturkooperation liegt an­ derswo: In der Förderung des Kulturaus­ tausches zwischen der Schweiz und rund 60 Ländern Asiens, Afrikas, Lateinameri­ kas und Osteuropas. Und hier steht die Zeit keineswegs still. Gegründet wurde die Artlink-Vorläu­ ferorganisation Kultur und Entwicklung vor exakt dreissig Jahren. Verschiedene Hilfswerke schlossen sich 1984 zusam­ men, um einseitige Vorstellungen über den Süden als Hunger- und Katastrophenzone zu erweitern. «Es ging um Entwicklungs­ hilfe – Entwicklungshilfe in der Schweiz», sagt Mauro Abbühl von Artlink. Man wollte der Schweizer Bevölkerung vermitteln, dass es im Süden einen grossen kulturel­ len Reichtum gibt. Mit Brot für alle und Fastenopfer ­engagieren sich zwar bis heute zwei Part­ ner der ersten Stunde bei Artlink, vom­ ursprünglichen – eher pädagogischen – Ansatz hat sich das Kulturbüro jedoch weitgehend gelöst. «Unsere Aufgabe ist es, Künstlerinnen und Künstler aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa den

PA R T N E R

Import­ produkt ­Kultur Das Büro Artlink sorgt mit seinem Kulturaustausch mit dem Süden für eine doppelte Rendite.

Zugang zum hiesigen Markt zu erleich­ tern», erklärt Abbühl. Kultur fördert freiheitliches Denken Diese Aktualisierung des Vereinszwecks ist nicht zuletzt auf einen grundlegenden Wandel in der Entwicklungszusammenar­ beit zurückzuführen. Zum einen werden heute wirtschaftliche Zusammenhänge stärker berücksichtigt, zum anderen haben Hilfswerke und staatliche Institutionen die Kulturförderung als Instrument der

PARTN E R : AR T LINK 42

Entwicklungszusammenarbeit entdeckt. Der einfache Grund: Kultur verspricht eine doppelte Rendite, eine zivilgesellschaft­ liche und eine wirtschaftliche. Sie fördert die kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart und schafft Arbeitsplätze, sie befeuert freiheitliches Denken und erzielt Wertschöpfung. Die Kulturförderung vor Ort stösst dabei mitunter an Grenzen. Und hier kommt Artlink ins Spiel. Am meisten Geld für die Musik Aus den Kooperationen, die Grenzen über­ schreiten und Kulturräume verbinden, entstehen Rückkoppelungseffekte: Kön­ nen Kunstschaffende aus Entwicklungs­ ländern in Europa touren, stärkt dies die Kulturszene in ihren Heimatländern. «Er­ folg im Ausland ist eine wichtige Referenz für die lokale Bevölkerung und stärkt das kulturelle Selbstbewusstsein», so Abbühl. Der Südkulturfonds der Schweizer ­Direktion für Entwicklung und Zusam­ menarbeit (Deza) ist das mit Abstand ge­ wichtigste Förderinstrument von Artlink. 725 000 Franken stehen jährlich für Kul­ turprojekte zur Verfügung. Der grösste Teil der Mittel fliesst in die Musik, doch kom­ men auch andere Sparten zum Zug. Veran­ stalter und Vermittler können bei Artlink Unterstützung beantragen, eine Kommis­ sion beurteilt die Eingaben und spricht, so­ fern die Gesuche die Experten zufrieden­ stellen, die Mittel. Zu den Empfängern zählen etwa die Winterthurer Afro-Pfings­ ten, das Zürcher Moods und bee-flat aus Bern. Der Fokus auf die Akteure in der Schweiz sei entscheidend, sagt Mauro Ab­ bühl. Veranstalter wüssten am ehesten, welche Künstlerinnen und Künstler ihr Publikum sehen wolle. «Wir sind über­ zeugt, dass unsere Förderung letztlich nur dann wirklich nachhaltig ist, wenn wir nahe am Markt bleiben.» www.artlink.ch Christoph Lenz (*1983) ist Redaktor beim Blick.

Illustration: Raffinerie

Von Christoph Lenz – Die CD ist tot? Das Buch durch den E-Reader ersetzt? Der per­ sönliche Kulturaustausch mit dem Süden durch die mannigfaltigen Angebote des In­ ternets obsolet geworden? Mitnichten. Wer die lichten Räumlichkeiten des Berner Bü­ ros für Kulturkooperation Artlink betritt, findet gleich zu seiner Rechten eine bes­ tens bestückte CD-Mediathek mit Werken aus den Ländern des Südens. In einem Ne­ benraum, einst ein Lehrerzimmer des zur Kulturfabrik umfunktionierten Progym­ nasiums Progr, stapeln sich Bücher wenig bekannter Autorinnen und Autoren aus Asien, Afrika und Lateinamerika. Viertel­ jährlich werden sie an die Mitglieder des Anderen Literaturklubs verschickt. Trotz Amazon und global vernetzten Buchhänd­ lern: Weiterhin vertrauen gegen Tausend Mitglieder auf das Urteil dieser LiteraturKommission. Nur unwesentlich weniger als früher.


CA RTE BL A NCHE

Übersetzer des Lebens Von Michail Schischkin – Bei uns in der Schule hing über der Tafel ein Plakat mit den berühmten Worten von Iwan Turgen­ jew: «Oh, du grosse, mächtige, wahrheits­ getreue und freie russische Sprache!» Un­ sere Lehrer haben uns so viel belogen, dass ich auch an diesen Worten des Klassikers zweifelte. Und nicht umsonst. Etwas werde ich nie vergessen, ich war vielleicht 16 Jahre alt und wollte meine erste Liebeser­ klärung machen. Ich kam auf das Mäd­ chen zu, machte den Mund auf und war auf einmal gelähmt. Ich habe plötzlich reali­ siert: Es gibt keine Worte mehr, die Spra­ che ist zu Ende, wie die zerquetschte Tube Zahnpaste. Meine erste Liebeserklärung scheiterte, weil ich keine Worte finden konnte, um die Gefühle auszudrücken, von denen ich erfüllt war. Alle Wörter sind längst abgedroschen und leer und bedeuten nichts. Sie sind tot. Das, was ich fühle, kann man mit Worten nicht ausdrücken. Nur mit diesen Gedan­ ken beginnt man eigentlich, ein Schrift­ steller zu sein. Die Sprache an sich ist we­ der gross noch mächtig, im Gegenteil, sie ist bettelarm und elend. Nur der Schrift­ steller hat die Möglichkeit und das Privileg, die elendste Sprache zu nehmen und diese dann gross, mächtig, wahrheitsgetreu und frei zu machen. Alles, was wichtig auf dieser Welt ist, passiert auf einer Ebene, auf der es keine Worte gibt. Die Liebe, die Geburt, der Tod sind ausserwörtlich. Die Sprache selbst ist bereits die Übersetzung, eine Übersetzung in eine tote Sprache, denn sie besteht aus toten Wörtern. Alles, was von Bedeutung ist, lebt ausserhalb der Sprache. Man muss es in die Sprache der Musik oder der Far­ ben oder eben in die Sprache der Sprache übersetzen. Als Schriftsteller bin ich also Überset­ zer des Lebens in die Sprache der Sprache. Jeder von uns wirft einen Schatten. Was kann ein Schatten über den Geruch des Nackens Ihres Kindes erzählen? Alles Echte, Ausserwörtliche wirft Schatten – nämlich Wörter, die flach und leblos sind.

Und doch gibt es keinen anderen Weg, als den durch die Worte. Die Sprache ist die Brücke des Verstehens, die meistens zum Missverstehen führt. Die Kunst der Prosa besteht in diesem Privileg, das Atemlose ­lebendig zu machen. Die Auferstehung des Wortfleisches. Geht das allen Schriftstellern in allen Sprachen so? Je mehr andere Sprachen man lernt, desto mehr fallen einem mangelnde Aus­ drucksmöglichkeiten der eigenen auf. Wa­ rum wurde meine Muttersprache zum Bei­ spiel des Plusquamperfekts beraubt? Was haben unsere Vorfahren falsch gemacht, dass wir jetzt keine continuous tenses be­ sitzen? Im Japanischen gibt es Ich-Formen nicht nur für Mann und Frau, sondern auch für verschiedene Lebensalter. Das weise Japanische! Wahrlich, was hat mein Ich vor 40 Jahren mit meinem jetzigen Ich zu tun? Und unwillkürlich schleicht sich die simple Lösung ins Gehirn ein: Es wäre toll, das Beste aus allen Sprachen und Mundar­ ten herauszupicken und die Sprache der Sprachen zu kreieren, die imstande wäre, dem Verborgenen Ausdruck zu geben. Alas, die Sprache des allgemeinen Verste­ hens macht den Schriftsteller überflüssig. CAR T E B LANCH E 43

Wer wird dann dem leblosen Wortstaub den Atem einhauchen? Alle Leser der Welt sind ja im Grunde genommen nackt und sterblich. Und so – sterblich und nackt – scheinen wir schon nicht mehr so verschieden zu sein. Und wenn das Wunder der Übersetzung gelingt, dann schlagen meine Worte, die ich einst in qualvoller Schlaflosigkeit gefunden habe, die Wurzeln in den unbekannten Seelen am anderen Ende der Welt, treiben Keime, spriessen. Das Unübersetzbare trennt uns. Früher schien mir das Unüber­ setzbare wichtig. Mit den grauen Haaren kommt die Einsicht, dass dies gar nicht von Belang ist. Von Belang ist nur, was wir alle teilen: Geburt, Liebe, Tod, Unsterblich­ keit. Und das ist übersetzbar. Michail Schischkin (*1961), russischer ­Schriftsteller, teilt seine Zeit zwischen Moskau, Berlin und der Schweiz. Seine Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt. Der Roman Briefsteller erschien 2012 bei DVA, München. Illustration: Joëlle Isoz


S CH AU FE NST E R 44


SCH AU FENSTER

TIKA Maja Hürst cancer face 4, 2013 Ausschnitt. Acryl und Marker auf beschich­ tetem Holz, 40 × 40 cm «Das Bild ist in einer Live Painting Aktion auf dem Hirschenplatz in Zürich entstanden, bei der es darum ging, das Bewusstsein für Krebsprävention zu schärfen», erzählt die Künstlerin Maja Hürst. «Ich habe mich ent­ schieden bei der Aktion mitzumachen, da meine Mutter im Jahr zuvor eine Krebsope­ ration hatte. Mich hat es beschäftigt, wie eine solche, bei ihr relativ kleine, Operation das Verhalten der Umgebung verändert. Wie Menschen aus Überforderung nicht mehr wissen, wie miteinander umgehen. So habe ich eine Serie vermeintlich gesunder Gesich­ ter gemalt, die jedoch auch einem Krebspati­ enten gehören könnten.» Maja Hürst nutzt Techniken wie Pyro­ graphie, Holzschnitt, Scherenschnitt und Malerei, die sie in ein Universum grafischer Formen umsetzt – eine Bildsprache, die sie TIKA nennt. Sie malt auf kleinste Fund­ objekte ebenso wie auf grosse Gebäudefassa­ den und mischt Themen des alltäglichen Le­ bens mit Sagen und Mythen verschiedener Kulturen. Ihre Wandbilder sind in zahlrei­ chen Ländern der Welt anzutreffen – das grösste befindet sich in Atlanta, USA, und misst 110 × 20 m. Maja Hürst (*1978 in Zürich) wuchs in Kairo, Wädenswil, Brüssel und Köln auf und lebt seit 2007 zwischen Berlin, Rio de Janeiro und Zürich. Sie hat Einzelausstellungen in Berlin, Kapstadt, Rio de Janeiro, Wien und Amsterdam realisiert und zeigt ihre Werke zurzeit im Toot Yung Art Center in Bangkok. www.tikathek.com

Die Rubrik Schaufenster präsentiert jeweils ein Werk einer Künstlerin oder eines Künstlers aus der Schweiz.

SCH AU FE NST E R 45


Passagen, das Magazin der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, berichtet über ­Schwei­zer Kunst und Kultur und den Kulturaustausch mit der Welt. Passagen erscheint zweimal jährlich in über 60 Ländern – auf Deutsch, Fran­zösisch und Englisch.


IMPRESSUM Herausgeberin Pro Helvetia Schweizer Kulturstiftung www.prohelvetia.ch Redaktion Redaktionsleitung und Redaktion deutsche Ausgabe: Janine Messerli Mitarbeit: Isabel Drews, Nadja Schmid Redaktion und Koordination französische Ausgabe: Marielle Larré

ONLINE

PA S S AG E N

Passagen Das Kulturmagazin von Pro Helvetia online: www.prohelvetia.ch/passagen

Die nächste Passagen-Ausgabe widmet sich dem Thema Szenografie und ­erscheint im Dezember 2014.

Pro Helvetia aktuell Aktuelle Projekte, Ausschreibungen und Programme der Kulturstiftung Pro Helvetia: www.prohelvetia.ch

Zuletzt erschienene Hefte:

Pro Helvetia Aussenstellen

passagen

Design? Design! Nr. 61

Johannesburg/Südafrika www.prohelvetia.org.za Kairo/Ägypten www.prohelvetia.org.eg

Redaktion und Koordination englische Ausgabe: Marcy Goldberg

New Delhi/Indien www.prohelvetia.in

Redaktionsadresse Pro Helvetia Schweizer Kulturstiftung Redaktion Passagen Hirschengraben 22 CH-8024 Zürich T  +41 44 267 71 71 F  +41 44 267 71 06 passagen@prohelvetia.ch

New York/Vereinigte Staaten www.swissinstitute.net

Design? Design! Wer unser Leben formt Wortfindung in Leukerbad: Das Übersetzen von Sprachmusik Bewegung in Kairo: Choreografische Recherche entlang des Nils Beleuchtung in Delhi: Schatten und Licht bei Jonathan O’Hear daS K UltUr M aG aZI n V on P r o hE lV E tI a, nr . 6 1 , aUSG aBE 2 /2 0 1 3

passagen

Hybride Kulturen Nr. 60

Paris/Frankreich www.ccsparis.com Rom, Mailand, Venedig/Italien www.istitutosvizzero.it

Gestaltung Raffinerie AG für Gestaltung, Zürich Druck Druckerei Odermatt AG, Dallenwil Auflage 20 000 © Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung – alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung und Nachdruck nur mit schriftlicher Zustimmung der Redaktion.

San Francisco/Vereinigte Staaten www.swissnexsanfrancisco.org Schanghai/China www.prohelvetia.cn Newsletter Möchten Sie laufend über aktuelle Projekte und Engagements von Pro Helvetia informiert werden? Dann abonnieren Sie unseren E-Mail-Newsletter unter: www.prohelvetia.ch

Hybride Kulturen Kunst in der Migrationsgesellschaft Surrealismus, Poesie und Akrobatik: Daniele Finzi Pasca in Montreal Biennale Venedig: Valentin Carron im Schweizer Pavillon Warschau: Bühnenreife Rebellion gegen den Überwachungsstaat DAS K ULTUR M AG AZI N V ON P R O HE LV E TI A, NR . 6 0 , AUSG AbE 1 /2 0 1 3

passagen

Traumberuf: Künstler Die Schnitzeljagd zum Erfolg Singen für sauberes Wasser: Spezialmaterial in Kolumbien Bewegung als visuelles Erlebnis: Pe Langs kinetische Kunst in San Francisco Kleinkunst: Eine schweizerische Herzensangelegenheit D A S K U LT U R M A G A Z I N V O N P R O H E LV E T I A , N R . 5 9 , A U S G A bE 2 / 2 0 1 2

passagen

Die namentlich gezeichneten Beiträge müssen nicht die Meinung der Herausgeberin wieder­­geben. Die Rechte für die Fotos liegen bei den jeweiligen Fotografinnen und Fotografen. Die Stiftung Pro Helvetia fördert und vermittelt Schweizer Kultur in der Schweiz und rund um die Welt. Sie setzt sich für die Vielfalt des kulturellen Schaffens ein, ermöglicht die Reflexion kultureller Bedürfnisse und trägt zu einer kulturell vielseitigen und offenen Schweiz bei.

Traumberuf Künstler Nr. 59

Der Geschmack der Freiheit Nr. 58

Der Geschmack der Freiheit Ägyptens Künstler in Zeiten des Umbruchs Kollektives Experiment: Schlaferlebnis in der Kunstgalerie Wurzeln schlagen im harten Pflaster: Das Swiss Institute in New York Werke aus der Wunderkammer: Andreas Züst in Paris D A S K U LT U R M A G A Z I N V O N P R O H E LV E T I A , N R . 5 8 , A U S G A BE 1 / 2 0 1 2

Wir danken den Kulturschaffenden des Zürcher Vereins Zitrone für die Bereitstellung ihrer Räumlichkeiten für das Foto-Shooting der Passagen-Bildstrecke.

Das Abonnement von Passagen ist kostenlos und ebenso das Herunterladen der elektronischen Version unter www.prohelvetia.ch/passagen. Die Nachbestellung einer gedruckten Einzelausgabe kostet Fr. 15.– (inkl. Bearbeitung und Porto).

Silberpreisträger Sparte: Non-Profit/­ Verbände/­Institutionen

IMP R E SSU M / PASSAG E N O NLINE 47


Das Internet wird immer schneller, billiger, globaler. Wenn wir diese Realität ­akzeptieren, müssen wir davon ausgehen, dass die Techno­ logie einen Weg um alle Kontroll­mechanismen herum findet. Der Zugang ersetzt den Besitz Gerd Leonhard im Gespräch mit Miriam Glass, S. 6

Auch wenn seine fünfjährige Tochter in ihrer kindlichen Naivität fragte, ob der Googlehopf auch aus dem Computer komme, musste er sich eingestehen, dass ihm sein Töchterchen digital gesehen eine ­Generation voraus war. Ich geh’ nur auf einen Sprung ins Netz … Simon Chen, S. 10

Die Kreativwirtschaft muss das graue Mäntelchen der ­Bescheidenheit abstreifen und auf das Schweizer Können, die Innovation und das Design aufmerksam machen. Denn das beste Game findet keine Investoren, wenn niemand Geld, Geduld und Know-how davon weiss. Marc Bodmer, S. 20 www.prohelvetia.ch/passagen

Die Stiftung Pro Helvetia fördert und vermittelt Schweizer Kultur in der Schweiz und rund um die Welt.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.