Passagen Nr. 59

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Traumberuf: K端nstler Die Schnitzeljagd zum Erfolg Singen f端r sauberes Wasser: Spezialmaterial in Kolumbien Bewegung als visuelles Erlebnis: Pe Langs kinetische Kunst in San Francisco Kleinkunst: Eine schweizerische Herzensangelegenheit DAS KU LTU RMAG AZIN VO N PR O H E LV E T IA, NR . 5 9 , AU SG Ab E 2 / 2 0 1 2


4 – 31 THEMA

32 ORTSZEIT San Francisco: Die motorisierte Kunst des Pe Lang Der Schweizer Künstler ist mit seinen Werken an der amerikanischen Westküste zu Gast. Von Villö Huszai

Wo geht’s hier zur Kunst?

Johannesburg: Neue Klangwelten Das schweizerisch-südafrikanische Trio A.Spell überschreitet die Grenzen der Tradition. Von Gwen Ansell 36 REPORTAGE Elektronisches Blubbern für sauberes Wasser Das Elektrolabel Spezialmaterial auf Tournee durch Kolumbien. Von Christof Moser (Text) und Guadalupe Ruiz (Bilder)

Neue Theaterautoren fürs Tessin Ein Dramatikerwettbewerb für die italienische Schweiz Von Manuela Camponovo

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Strategie und eine Prise Glück Nachwuchskünstler müssen dafür sorgen, dass sie entdeckt werden. Von Barbara Basting

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Neuland Nachwuchs Die Förderung des künstlerischen Nachwuchses gehört neu zu den Aufgaben von Pro Helvetia.

19 Der Traum von der Künstlerkarriere Nur wenige haben Erfolg – trotzdem ist Künstler nach wie vor ein Traumberuf. Von Nathalie Heinich

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Grün hinter den Ohren Wann ist man keine Nachwuchsautorin mehr, sondern eine Schriftstellerin? Von Simone Lappert

12 Auf die harte Tour Die junge Berner Rapperin Steff la Cheffe hat trotz steiler Karriere die Bodenhaftung behalten. Von Christoph Lenz 16 Schreiben fürs Rampenlicht Wie ein Werk seinen Weg auf die Bühne findet. Von Alexandra von Arx

24 «Tanzen ist ein schöpferischer Akt» Der renommierte Schweizer Choreograf Thomas Hauert im Gespräch mit Anne Davier. 28 Die Schule als Gamestudio Wer im indischen Pune Gamedesign studiert hat, steigt direkt in den Beruf ein. Von Jayesh Shinde

Fabian Unternährer, *1981 in Basel, hat für Passagen sechs Schweizer Nachwuchskünstlerinnen und -künstler porträtiert. «Bei jedem Porträt möchte ich den Menschen frisch und unvoreingenommen sehen», sagt er. «Jede Begegnung ist anders und von einer bestimmten Stimmung geprägt. Diese Atmosphäre versuche ich in meinen Porträts zu vermitteln.» Fabian Unternährer hat die Fotoschule in Vevey absolviert und besucht zurzeit zur Weiterbildung die Fotofachklasse an der Zücher Hochschule der Künste. Er lebt als selbständiger Fotograf in Bern. www.fu-photo.ch

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40 PRO HELVETIA AKTUELL Schweizer Tanz- und Theatertage Pro Helvetia geht nach Russland Zur Übersetzung empfohlen Kultur in Zeiten des Umbruchs Neuer Direktor für Pro Helvetia 42 PARTNER Das Tor zur Welt der Kleinkunst Von Andreas Tobler 43 CARTE BLANCHE Kita, Kunst und Küchenkästchen Von Stefanie Grob 44 SCHAUFENSTER Plattform für Künstlerinnen und Künstler Mikrouniversum Von huber.huber 47 IMPRESSUM PASSAGEN ONLINE Titelbild: Der Künstler Daniel Karrer im Estrich seines Ateliers.

Orte der Inspiration: Yannic Bartolozzi auf dem Rhonegletscher. Er ist einer von sechs Schweizer Nachwuchskünstlern, die der Fotograf Fabian Unternährer für diese Ausgabe porträtiert hat.


Über das Nachwachsen «Bin ich eine Nachwuchsautorin?» Auf diese Frage hat Simone Lappert spätestens seit diesem Sommer eine Antwort, als wir sie um einen Beitrag für diese Ausgabe anfragten. Sie ist eine. Im Moment noch. «Schriftstellerin» fühlt sich nicht stimmig an für sie – noch nicht. Vielleicht nach dem ersten Roman oder dem zweiten. Die Frage, wie man als Nachwuchskünstler im Markt Fuss fasst, ist zentral. Talent allein genügt nicht. Und die Zeiten, in denen der genialische, im Verborgenen schaffende Künstler vom renommierten Galeristen aufgespürt wurde, sind definitiv vorbei. (Vielleicht hat es sie auch nie gegeben.) Nachwuchskünstler müssen sich vernetzen und aktiv auf sich aufmerksam machen. Das zeigt der Beitrag von Barbara Basting, die sich bei Kennern der Schweizer Kunstszene umgehört hat. Patentrezepte für den Erfolg gibt es nicht, aber ein paar beachtenswerte Strategien durchaus. Auch wenn es unter den vielen Berufenen nur wenige gibt, die Erfolge feiern und von ihrer Kunst leben können, so hat das Metier bis heute nichts an Attraktivität eingebüsst. Im Gegenteil: Eine Künstlerkarriere ist nach wie vor der Traum zahlreicher junger Leute, wie die französische Soziologin Nathalie Heinich in ihrem Essay darlegt. Klare Visionen für den tänzerischen Nachwuchs in der Schweiz hat der renommierte Choreograf Thomas Hauert. In unserem Interview schildert er seine Ideen für einen neuen Studiengang in zeitgenössischem Tanz. Um den Absolventen der Kunsthochschulen den Berufseinstieg zu erleichtern, ist eine enge Zusammenarbeit mit der Industrie oft hilfreich. So beispielsweise in der noch jungen Kunstdisziplin des Gamedesigns. Das Porträt der Gamedesignschule im indischen Pune zeigt Wege auf, die auch für europäische Schulen beispielhaft sein könnten. Wer sind die Nachwuchskünstlerinnen und Nachwuchskünstler von heute? Für unsere Bildstrecke hat der Fotograf Fabian Unternährer sechs junge Talente aus verschiedenen Regionen der Schweiz porträtiert. Schliesslich hat die Passagenredaktion für die Wahl des Themas Nachwuchs auch einen Anlass in eigener Sache: Mit dem Inkrafttreten des neuen Kulturförderungsgesetzes Anfang Jahr ist Pro Helvetia für die Nachwuchsförderung in allen Kunstsparten auf nationaler Ebene zuständig. Das ist faszinierendes Neuland und eine willkommene Herausforderung für die Schweizer Kulturstiftung. Janine Messerli Redaktionsleitung Passagen

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Wo geht’s hier zur Kunst? Wer sind die Schweizer Nachwuchskünstlerinnen und Nachwuchskünstler von heute? Der Fotograf Fabian Unternährer hat sechs von ihnen porträtiert: an Orten, die sie inspirieren, in einer alltäglichen Situation und mit einem eigenen Werk. Lesen Sie in diesem Dossier, wie man als Nachwuchskünstler im Kunstbetrieb Fuss fasst, wie ein Theaterstück seinen Weg auf die Bühne findet und warum das Künstlermetier allen Hindernissen zum Trotz noch immer ein Traumberuf ist.

Am See des Rhonegletschers: In verschiedenen Arbeiten thematisiert Yannic Bartolozzi die Beziehung des Menschen zu den Bergen. Yannic Bartolozzi, *1981 in Morges, lebt und arbeitet in Vevey. www.yannicbartolozzi.ch

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Yannic Bartolozzi F O T Ogr a FI E

Ich bin von Natur aus sehr neugierig und interessiert. Mich inspirieren reisegeschichten und Berichte geografischer und wissenschaftlicher Expeditionen. auch gedenkstätten und Spuren der Zivilisation regen meine Fantasie an.

Warten, bis das Licht gut ist. Im Restaurant Belvédère am Furkapass. Yannic Bartolozzi mit einem Bild aus seiner Serie Les Alpes.

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Künstler sein, bedeutet frei sein.


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eginnen wir mit so nackten wie symptomatischen Zahlen: Im Jahr 2008 versteigerte der britische Künstler Damien Hirst Kunstwerke aus seinem Atelier für rund 200 Millionen Dollar. Bildende Künstler verdienen in Deutschland im Durchschnitt kärgliche 1000 Euro monatlich. Für die Schweiz gibt es keine solchen Daten. Doch auch hier dürften die Grossverdiener unter den Kunstschaffenden rar sein. Nur wenige können von ihrer Kunst allein leben. Diese enorme Einkommenskluft verrät ein strukturelles Paradox: Das heute dominierende Starsystem der Kunst produziert diese Kluft und ist auf sie geradezu angewiesen. Es ist ein System, für das gilt: The Winner takes it all.

wichtigen internationalen Austausch-Plattform. Der genialische, zufällig entdeckte Künstler gehört ohnehin zu den seit langem verpönten Klischees, für die etwa Anselm Stalder, Künstler und Dozent an der Berner Hochschule der Künste, den Studierenden den Blick zu schärfen versucht. Kunststudierende sollen Abschied nehmen von der Vorstellung einer auf Selbstausdruck fokussierten Existenz: «Es geht darum, sich für etwas Neues zu öffnen, das die eigene Erfahrung hoch hält, aber Formen findet, welche die möglichen Rollen eines Publikums mitdenken». Schon bei der Produktion solle bedacht werden, dass Kunst eine kommunikative Situation schaffe. Stalder pocht aber darauf, dass die Basis jeden Erfolgs ein «Werkkörper» sei. Patentrezepte für die «freie Wildbahn» hält er Was heisst hier Erfolg? für gefährlich, als Lehrer setzt er auf Fallbeispiele für das «SelbstNachwuchskünstler müssen sich heute über diese Eigenheit des management». Nicht nur er meint, dass Eigeninitiative unverKunstbetriebs im Klaren sein; sie müssen sich Gedanken darüber zichtbar ist. «Selber etwas unternehmen», und sei es mit «Freunmachen, welchen Ort sie in diesem den in einer Garage», das raten System anstreben. Ob Erfolg für auch Karolina Dankow und sie nur ökonomisch definiert ist, Marina Leuenberger. Die beiden oder ob es auch um Anerkennung jungen Zürcher Galeristinnen haben mit diesem Modell gute an sich geht. Und welche Rolle anErfahrungen gemacht: Auch dere Motivationen spielen, etwa die ihre inzwischen viel beachtete vielbeschworene «Selbstverwirklichung». Das ist umso wichtiger, als Galerie Karma International ist Kenner des Betriebssystems Kunst 2009 aus einem experimentellen die «Machbarkeit» von Karrieren Off-Space hervorgegangen. bezweifeln. Zu viele Faktoren sind Andere Galerievertreter wie schwer kalkulierbar oder nicht inEtienne Lullin, Mithinhaber der Wie fassen Nachwuchskünstler aus dividuell zu steuern. Dennoch erengagierten Newcomer-Galerie der Schweiz heute Fuss im Kunstbetrieb? gibt sich eine Quintessenz: In einer Lullin + Ferrari in Zürich, teilen Talent alleine setzt sich nicht durch. ihre Auffassung: Sie wollen zwar mediatisierten Gesellschaft, in der Kunstschaffende müssen auch dafür die Zauberwörter «Sichtbarkeit» Künstler entdecken, aber ganz sorgen, dass sie entdeckt werden. und «Aufmerksamkeit» heissen, ist sicher nicht anhand eingesandter eine flexible Navigation angesagt. Dossiers. Die Kunstschaffenden Dabei ist das dominierende müssen also dafür sorgen, dass Von Barbara Basting Rollenmodell im heutigen westlisie entdeckt werden können. chen Kunstsystem der «postmoDiese Erkenntnis hat sich derne Künstler». Der Kultursoziodurchgesetzt und erklärt die anloge Andreas Reckwitz beschreibt ihn in seiner Studie Die haltende Konjunktur der Off-Spaces, die als trendig gelten, wie Erfindung der Kreativität (2012) treffend als «soziokulturellen etwa das New Jerseyy in Basel oder neuerdings das Studiolo in ZüArrangeur». Als solcher ist er «multikompetent: Er ist ebenso qua- rich. Wertvoll ist seit jeher die Empfehlung durch andere Künstsiwissenschaftlicher Rechercheur und Selbstkommentator, er ist ler der Galerie, meint Etienne Lullin. Museen spielen für den Kurator- und Atmosphäreninitiator, schliesslich Agent einer poli- Nachwuchs kaum eine Rolle; eher die stärker auf die Präsentation tisch-kulturellen Intervention». Kurzum, er ist ein «Atmosphä- vielversprechender Talente ausgerichteten Kunsthallen. Eine renmanager», da er nicht einfach nur Werke im herkömmlichen Accrochage, wie sie das Musée des Beaux Arts in Lausanne regelSinn produziert, sondern Erlebnisse inszeniert. mässig durchführt, kann nur punktuell wirken, meint Nicole Welche Strategien empfehlen sich für den künstlerischen Schweizer, für Gegenwartskunst zuständige Konservatorin an dieNachwuchs, um in diesem Kontext zu reüssieren? Wir haben sechs sem Museum. Auch in der Westschweiz hätten sich die jüngeren Akteure, die mit dem Schweizer Kunstbetrieb bestens vertraut Erfolgsgeschichten – etwa jene einer karrierebewussten Generasind, sowie einen Kenner der Szene aus Deutschland gefragt, wo- tion von Absolventen der ECAL (Ecole cantonale d'art Lausanne) in den späten Neunzigerjahren – an Off-Spaces geknüpft. Nicole rauf es heute ankommt. Schweizer zufolge sind für die Kunstschaffenden aus der RomanDo it yourself, am besten in Berlin die Zürich oder Berlin als Karriere-Sprungbrett heute wichtiger «Talent alleine setzt sich nicht durch», weiss Christoph Tannert, als Paris. Ein anderer Kenner der Westschweizer Szene, der Künstlangjähriger Leiter des Künstlerhauses Bethanien in Berlin, einer ler Jean-Luc Manz, zugleich Dozent an der Genfer HEAD (Haute

Strategie und eine Prise Glück

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école d’art et de design) und seit 2011 Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission, hat aber auch beobachtet, dass die jungen Westschweizer Künstler schon wegen der Sprache viele Kontakte zu den Galerien und Institutionen in Paris haben. Doch Ateliers sind dort zu teuer. Also weicht man aus – zum Beispiel nach Berlin. Netzwerke, aber die richtigen «Das Netzwerk ist heute alles», meint Luigi Kurmann, 1987 Mitbegründer der Galerie Mai 36, heute Partner bei Bernhard Knaus Fine Arts und bis 2011 Präsident des Verbands Schweizer Galerien. Und auch für Christoph Tannert sind Kontakte und Netzwerke zumindest die halbe Miete. Seilschaften und Szenen, oft negativ beschworen als Filz, sind das Nervensystem des Kunstbetriebs. Die Metapher deutet schon an, welches Sensorium ein Jungkünstler hier haben muss. Denn alles muss zueinander passen: der Mensch zur Kunst, die Kunst zur Galerie, der Galerist zum Künstler, der Künstler zum Kurator und zum Sammler. Weil es in kleinen Ländern wie der Schweiz nicht unbeschränkt viele Möglichkeiten gibt, ist der Sprung ins Ausland umso wichtiger. Entscheidend ist dafür die Wahl der richtigen Galerie. Rein Wolfs, der um die Jahrtausendwende das Zürcher Migros-Museum international profiliert hat und heute als Leiter der Kunsthalle Fridericianum in Kassel auch immer wieder Schweizer Kunstschaffende vorstellt, meint, es gebe pro Land nur wenige Aussteller, die diesen Sprung ‹garantieren› können. Es sind meist sehr gut vernetzte Galerien, die an den angesagten Messen vertreten sind, wie der Liste in Basel oder der Frieze London. Erstaunlich ist Wolfs Bemerkung, dass es sich kaum noch korrigieren lässt, wenn man im «falschen Segment» landet, in Galerien also, die nicht als Trendsetter gelten. Viel weniger gravierend sei es, mal in einer «falschen» Institution auszustellen. «Gute» Institutionen überzeugen Wolfs zufolge durch ihr kuratorisches Programm – womit die Figur des Kurators ins Spiel kommt. Wird dieser dann gar Kurator an einer Biennale, wobei die Schweiz mit Harald Szeemann, Bice Curiger, Hans-Ulrich Obrist

Mehr echten Dialog, mehr aufrichtige Kritik – das wünschen sich viele Nachwuchskünstler. und Adam Szymczyk in den letzten Jahren überproportional gut vertreten war, ist das für die Künstler, die von diesen Kuratoren gefördert werden, fast wie ein Sechser im Lotto. Kurmann verweist daneben auf die enorme Bedeutung der Sammler, nach denen die Galerien sich oft richten würden – und das schliesst die in der Schweiz breit etablierten Firmensammlungen mit ein. Christoph Tannert warnt aber explizit vor «bösem Geld», also Sammlern oder Marktakteuren, die Kunst instrumentalisieren und das Image eines Künstlers beschädigen können. «Künstler brauchen moralische Kompetenz, soziale Kompetenz», meint er. Auch für Netzwerkgenies liegt die Kunst in der Dosierung: Keine «overexposure», rät Wolfs, und das bestätigen die KarmaGaleristinnen. Kenner der Szene warnen vor dem heute üblichen «Abgrasen» der Jungszene an Abschlussausstellungen von Hoch-

schulen oder bei den Swiss Art Awards. Wer sich nicht verheizen lassen will, muss das Tempo selber bestimmen, meint etwa Luigi Kurmann: «Wirklich erfolgreiche Künstler halten immer schon was Neues in petto», und als Quintessenz: «Wer sich in den Markt begibt, muss ihn nüchtern durchschauen». Vielleicht tut die jüngste Künstlergeneration das schon. Denn wie Jean-Luc Manz beobachtet hat, hält sie eher Distanz zum Markt, organisiert sich selber in Gruppen und erprobt alternative Modelle, bei denen die zielstrebige Organisation der eigenen Karriere nicht so stark im Vordergrund steht wie bei der Generation der nun etwa Vierzigjährigen. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort Wenn es keine Patentrezepte für den optimalen «Berufsstart» des hiesigen Kunstnachwuchses gibt, sondern nur Leitplanken, wo kann dann eine sinnvolle Förderung ansetzen? Geld hilft immer; fragt sich aber, wie es einzusetzen ist. JeanLuc Manz hält die Förderung unabhängiger Projekträume und günstiger Ateliers für wichtig. Produktionsbeiträge und Atelierstipendien hätten sich sehr bewährt. Stipendien helfen beim Sprung ins Ausland, der «im richtigen Moment» erfolgen muss. Für Karolina Dankow und Marina Leuenberger sind Auslandateliers dann sinnvoll, wenn sie die Kunstschaffenden an Drehscheiben wie derzeit vor allem Berlin, aber auch New York oder London katapultieren und die Anbindung an eine dortige Szene unterstützen. Positiv unterstreichen sie die Rolle des Swiss Institute in New York und des Istituto Svizzero in Rom. Das deckt sich mit den Erfahrungen von Christoph Tannert: Coaching vor Ort, eine lokal verankerte Auftritts-Plattform sind wertvoll. Ateliers an exotischen Orten dagegen schneiden Nachwuchskünstler oft vom Betrieb ab. Die Rolle von Publikationen dagegen werde oft überschätzt, meint etwa Luigi Kurmann, denn sie sind meist zu «künstlerisch» und damit zu wenig informativ, auch weil die Werkbasis in der Frühphase häufig schmal ist. Mehr echten Dialog, mehr aufrichtige Kritik, das dagegen wünschen sich viele Nachwuchskünstler, wie die Galeristinnen von Karma International betonen. Rein Wolfs zufolge zählt die mediale Aufmerksamkeit auf jeden Fall, wobei er vor allem spezialisierte, in der Kunstwelt prominente Magazine wie Artforum oder Frieze meint. Das Fazit: Nachwuchskünstler in der Schweiz haben zwar grosse Chancen, die Mechanismen des heutigen, stark marktgetriebenen Kunstsystems früh kennenzulernen. Sie sind aber auch stärker als frühere Generationen gefordert, eine individuell passende Strategie zu entwickeln oder das, was man heute «Selbstmanagement» nennt. Einen Königsweg gibt es weniger denn je, nur verschiedene Pfade, bei denen man wie bei einer Schnitzeljagd nicht zuletzt auch auf Gespür – und ein Quäntchen Glück – angewiesen ist.

Barbara Basting (*1963) ist in der Kulturredaktion des Schweizer Radios und Fernsehens tätig. Ihre Schwerpunkte sind Kunst und Fotografie. Sie hat in Konstanz und Paris Germanistik, Romanistik und Philosophie studiert und als Redaktorin für die Zeitschrift du und den Tages-Anzeiger gearbeitet.

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Neuland Nachwuchs Die Förderung des künstlerischen Nachwuchses gehört seit Anfang Jahr zu den Aufgaben von Pro Helvetia. Die Kulturstiftung sieht ihre Rolle primär darin, jungen Talenten den Berufseinstieg zu erleichtern und ihnen zu helfen, ihr Potenzial im nationalen und internationalen Umfeld zu entfalten.

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ie finde ich einen Verleger für meinen ersten Roman? Wo könnte ich meine Bilder ausstellen? Wie organisiere ich eine Auslandtournee? Für das eigene Werk öffent­ liches Interesse zu finden, ist für Nachwuchskünstlerinnen und -künstler eine grosse Herausforderung. Wer im Kunstbetrieb Fuss fassen will, muss sich geschickt vernetzen und wissen, welche Partner ihn dabei erfolgreich unterstützen können. In der Förderung des künstlerischen Nachwuchses gehört Pro Helvetia selbst zum Nachwuchs: Auf Anfang Jahr hat sie diese Auf­ gabe vom Bund erhalten und betrat damit Neuland: «Von Anfang an war für uns klar, dass unsere Nachwuchsförderung Teil einer langfristigen Laufbahnplanung sein muss und den jungen Talen­ ten den Anschluss an unsere national und international ausgerich­ tete Förderung ermöglichen soll», sagt Andrew Holland, neuer ­Direktor von Pro Helvetia. Die Stiftung will zudem die bestehende Nachwuchsförderung von Kantonen, Städten, Schulen und Priva­ ten optimal ergänzen, bestehende Lücken füllen und dort anset­ zen, wo in den einzelnen Sparten Bedarf besteht.

Im Vordergrund stehen für die Stiftung daher Mentoring- und Coachingprojekte, mit denen die Kunstschaffenden das in der Aus­ bildung Gelernte in die Praxis umsetzen und vertiefen können, aber auch Residenzprogramme, die den Fokus auf den Nachwuchs legen. Pro Helvetia will zudem Formate unterstützen oder mit Partnern initiieren, die für vielversprechende Talente den optima­ len Rahmen schaffen, ihre Erstlingswerke zu entwickeln und sie einer interessierten Öffentlichkeit zu präsentieren. Ausserdem lädt sie Veranstalter aus dem Ausland zu Plattformen ein, wo sie den hiesigen Nachwuchs entdecken können und präsentiert Projekte von aufstrebenden Künstlerinnen und Künstlern auch mit ihren eigenen Promotionsinstrumenten. «Wir sehen unsere Aufgabe auch darin, zwischen verschiedenen Akteuren Brücken zu bauen», sagt Holland. «Den Nachwuchskünstlerinnen und -künstlern möchten wir durch unsere Kontakte den Zugang zu überregiona­ len Netzwerken eröffnen und ihnen helfen, sich national und inter­ national zu etablieren.»

Beim Sprung ins Ausland helfen «Der Austausch und die Zusammenarbeit mit den Fachleuten und Partnern, die sich bereits heute intensiv mit dem Nachwuchs ­auseinandersetzen, ist für uns zentral», sagt Holland. Recherchen und Gespräche hätten gezeigt, dass die Bedürfnisse des Nachwuch­ ses in den einzelnen Sparten unterschiedlich seien. Gemeinsam sei hingegen die Notwendigkeit, die berufliche Erfahrung zu ver­ tiefen und Begegnungen mit einer kritischen Öffentlichkeit zu ­ermöglichen.

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igentlich wollte ich Cowboy werden, sage ich zu B, B setzt sich neben mich, reicht mir einen Teller mit Rührei und der neben mir auf der morschen Veranda einer schwe- streut frisches Basilikum darüber. Warum hast du vorhin eigentdischen Stuga steht und Rührei quirlt. Der stunden- lich nicht gesagt, dass du Schriftstellerin bist, als die Frau an der lange Regen hat den Campingplatz still gemacht, wei- Rezeption dich nach deinem Beruf gefragt hat, sagt er, warum ter unten am See buckeln die nassen Zelte im Gras, fängst du in solchen Momenten immer an zu nuscheln? Ich stelle drinnen, auf dem Tisch buckelt mein Roman, den ganzen Regen den warmen Teller auf meinen Beinen ab und muss wieder an lang habe ich um den Ausklang eines Satzes gerungen, in dem es diesen anderen See denken, den Wörthersee in Klagenfurt, an den um Sommersprossen geht, jetzt brauche ich eine Pause. Was ist ich eingeladen war vor ein paar Tagen, als eine von neun nachdenn dazwischen gekommen, fragt B, zwischen dich und die Ro- wüchsigen Stipendiaten. Unsere freie Zeit verbrachten wir meiscky Mountains? Er wirft das Rührei vom Pfannenboden hoch ins tens am Wasser, das fast so warm war wie die Luft, und damit, übers Halbdunkel und fängt es geschickt wieder auf, mit der krossen Schrei-ben zu sprechen, über grosse und kleine Namen, über Seite nach oben. Einen Augenblick lang denke ich über eine zu- wachstumsfördernde Wortsubstanzen, übers Vollzeitvergleichen treffende Antwort nach und mir fällt dabei etwas ein, was vor ein und Teilzeitverzweifeln und über die Schwierigkeit, eine passende paar Tagen ein kluger Mensch zu mir gesagt hat, in einem ande- Bezeichnung zu finden, für das, was wir sind. Es stellte sich herren Land, an einem anderen See, als es um den eigentlichen An- aus, dass auch niemand von den anderen sich freimütig als Schrifttrieb hinter dem Schreiben ging. steller vorstellen würde. Ich leide unter einer BeobachNicht vor dem ersten tungsstörung, sage ich und setze Buch, sage ich zu B, vielleicht mich auf einen der Plastikstühle. nach dem zweiten, ich muss noch reinwachsen in dieses Ich lege die Beine überkreuz aufs nasse Holzgeländer, genau so, Wort. denke ich, würde Lucky Luke hier * sitzen, der Held meiner Kindheit, der Mann, der schneller zieht als Ich klaube mit einem Stück sein Schatten, ein Mann von weBrot die letzten Rühreikrumen nig Worten, der nach der souverävom Teller und plötzlich fällt mir ein, wie der Satz, um den nen Meisterung eines Abenteuers melancholisch singend auf seinem ich vorher gerungen habe, enEigentlich wollte sie Cowboy werden. sprechenden Pferd in den Sonnenden muss: «die SommersprosHeute ist sie «Nachwuchsautorin». untergang reitet, um dann auf sen auf seinem weissen Bauch: Solche Zuschreibungen sind der Veranda eines Saloons in OkKrümel auf einem Teller, den Simone Lappert aber zu sperrig. Sie sagt ich leer gegessen habe.» Ich lahoma ein wenig zu verschnaustattdessen: Ich schreibe. gehe zurück in die Stuga und fen vor dem nächsten Krawall, den er ebenfalls souverän meistern schreibe meinen Satz zu Ende. wird. Herrlich. Und während ich schreibe Von Simone Lappert denke ich, dass Bezeichnungen * ohnehin zweitrangig sind. Sie dienen der Einordnung von Beobachtungsstörung, sagt B und lacht, das klingt wie eine Krankheit, als wäre dein Beruf eine Be- aussen. Wenn ich als Kind Cowboy werden wollte, dann wohl eher hinderung. Dein Beruf, sagt er, für ihn ist das selbstverständlich, der äusseren Einordnung wegen, der Vorstellung von einem gedass ich einen Beruf habe, dass es eine Bezeichnung gibt für das, wissen Leben an sich. Aber die äussere Einordnung kann nicht den was ich tue, für ihn gibt es da nichts zu zögern, nichts zu druck- inneren Antrieb ersetzen. Weil es nicht darum geht, Schriftsteller sen, nichts zu murmeln, für ihn ist das eine Tatsache. Für mich zu sein, sondern darum, zu schreiben. sind Wörter wie Autorin oder Schriftstellerin sperrig im Mund, noch schwer auf der Zunge und ich ertappe mich dabei, wie ich um sie herumrede, so oft und so gut es geht. Vielleicht deshalb, weil es für diese Wörter noch keinen handfesten Beweis gibt, kein Buch zwischen zwei Deckeln. Machen wir uns nichts vor, du bist ein Greenhorn, würde Lucky Luke zu mir sagen. Ich bin also noch grün hinter den Ohren, nachwuchsfarben, aber noch auf keinem grünen Zweig, ich zähle zu denen, die nachwachsen, mit erkenn- Simone Lappert, *1985 in Aarau, war dieses Jahr Stipendiatin des 16. Klagenfurter Literaturkurses. barer Wuchsrichtung, das schon, bloss wer weiss, ob das nicht al- 2011 war sie Stipendiatin am Literarischen Colloquium les als Auswuchs endet. Deshalb das Zögern und kurze Tieferlegen Berlin und erhielt einen Werkbeitrag vom Aargauer für die Arbeit an ihrem Romandebüt. der Stimme, um dann doch nur wieder zu sagen: Ich schreibe. Das Kuratorium Sie studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. wenigstens entspricht der Tatsache.

Grün hinter den Ohren

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Vanessa Billy Konzep tK U nSt

ein Satz in einer zeitung, ein Wasserschaden zu Hause, ein Foto in einem Kochbuch, Schutt auf einer Baustelle, ein Kleidungsstück, das trocknet – all diese Dinge können etwas in Gang setzen.

Die Künstlerin mit ihrem Sohn im Atelier. Nach 13 Jahren in London will sie sich mit ihrer Familie wieder in der Schweiz niederlassen.

Meine erste Ausstellung fand in der Wohnung eines Freundes in London statt. es ist enorm wichtig, Leute um dich herum zu haben, die dich und deine Arbeit kennen und mit denen du dich offen austauschen kannst.

” Vanessa Billy mag rohe, einfache Materialien wie Beton und Eisen. Im Atelier in Wollerau mit der Skulptur One and Shadow.

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Lieber im Wasser als sonstwo: Die K端nstlerin in ihrem Element. Vanessa Billy, *1978 in Genf, lebt und arbeitet in Z端rich und London. www.limoncellogallery.co.uk; www.boltelang.com

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chon nach der zweiten Silbe verzieht sie die Mundwin- mals empfand, kann sie noch heute nicht recht in Worte fassen. kel. Karriere? nein, dieses Wort gefällt Steff la Cheffe «Dieses Gefühl da drinnen», sagt sie. Das Gefühl – es ist ihr später nicht. Weil es «nach Aufstieg tönt». Sie bevorzuge Lauf- wieder begegnet: «Wenn man sich verknallt, ist es ganz ähnlich. bahn, dieser Begriff ziele eher nach vorne. «Vorwärts erst wird wahnsinnig viel energie freigesetzt. Dann kommen die ist besser als aufwärts», sagt sie. Sicher, man kann Steff träume: Lerne ich diese Künstler vielleicht mal kennen? Kann ich la Cheffe nur zustimmen. Aber in ihrem Fall gibt es da ohnehin das auch? Gibts von mir vielleicht auch mal einen Videoclip? Spiele keinen grossen Unterschied. Mit ihr, der 25-jährigen Mundart-Rap- ich auch mal auf der grossen Bühne?» Stefanie peter beschliesst also an ihrem 13. Geburtstag Rapperin und Beatboxerin aus Bern, geht es seit einigen Jahren rasant vorwärts und steil aufwärts. Hitparade, Förderpreise, grosse Büh- perin zu werden. Und übt fortan im Geheimen, weder die Brüder, nen, vielbeachtete projekte: Die jüngst etwas eingeschlafene noch die Mutter wissen davon. nach drei Jahren wagt sie sich unSchweizer Rap-Szene wartete seit langem auf einen Munterma- ter dem pseudonym Steff la Cheffe an den ersten Beatbox-Jam. cher. Jetzt ist er da. Und er ist eine Sie. Weitere zwei Jahre später rappt sie erstmals vor publikum. Mit 22 es gibt dieses Foto von Steff la Cheffe. Die junge, hoch- Jahren wird sie Vizeweltmeisterin im Beatboxen und zieht die geschossene Frau posiert in kühler Studioatmosphäre. Blüten- Aufmerksamkeit von Harfenist Andreas Vollenweider auf sich. er weisser Hintergrund, die dunklen Haare streng hochgesteckt, den wirbt sie als Schlagzeugimitatorin an und führt sie ins tourleben Blick in die Ferne gerichtet, ein. parallel dazu arbeitet sie an schwarze Jeans, schwarzes teigenen Songs und schafft es mit einer Single aufs SiegerShirt. «Who’s the Boss?» steht treppchen bei der M4Musicin dicken Lettern auf dem LeibDemotape-Clinic. Dann bringt chen. Wer der Boss ist? na, wer wohl? sie endlich ihr Debutalbum raus. Und es gibt diese Anekdote Bittersüessi Pille, heisst das von Steff la Cheffe. Die junge Werk. Und es beweist nicht nur, Rapperin hat sich vor einidass Steff la Cheffe eine aussergen Jahren vorgenommen, die ordentlich talentierte Dichterin An ihrem 13. Geburtstag beschliesst Deutschschweizer Musikwelt ist, sondern auch, dass sie es Stefanie peter aus Bern, Rapperin ein wenig aus den Fugen zu heohne weiteres mit den platzhirzu werden. Mit 22 Jahren wird sie Vizeweltben. Sie erbringt dafür grosse schen der Rap-Szene aufnehmen meisterin im Beatboxen. Heute lehrt opfer. Über Monate hinweg kann. Im einem Song etwa sucht geht sie jedes Wochenende ins sie in heller Verzweiflung einen sie die Mannsbilder des Schweizer Rap das tonstudio, um ihr Debütalbum Arzt auf: «Herr Doktr, Herr Fürchten. Die junge Künstlerin aufzunehmen, nebenbei macht Doktr, i bruche es Schnäbi, zum beeindruckt durch eigenständigkeit und sie ein Studium im Sozialberäppe u so wärs drum würklech Bodenhaftung. reich, die wenigen verbleibenno gäbig.» einige takte später erden Stunden steht sie im Berner weitert sie ihren Wunschkatalog: Bahnhofkiosk an der Kasse. «I bruch no euböge u no ne grösVon Christoph Lenz Dann kommt dieser Anruf aus seri Schnure u no nes grössers Deutschland. Am Draht: Die ego u no ne grösseri Schnure.» Agentur von Hit-produzent und RtL-Showjuror Dieter Bohlen. Wegen zeilen wie diesen hat ihr die presse schnell das Attribut ob sie Lust hätte, bei Das Supertalent aufzutreten, wird Steff la «frech» angeheftet. Das ist nicht total verkehrt, aber reichlich verCheffe gefragt. Beste Sendezeit, Millionenpublikum, schneller kürzt. Denn «frech» verkennt, wie ernst es Steff la Cheffe im Ruhm, wertvolle Kontakte – Herr Bohlen wäre über eine zusage Grunde genommen ist, mit ihrer Kritik am Machismo im Rap. Und hoch erfreut, heisst es. Was sie antwortete? na, was wohl? «Sorry, wie viel harte Arbeit hinter ihrer Musik steckt. kein Interesse.» Sie suche sich lieber ihren eigenen Weg. Die Komfortzone verlassen «Dieses Gefühl da drinnen» zwei Jahre sind seither vergangen. Lehrreiche Jahre. So begeistert

Auf die harte tour

Begonnen hat dieser Weg vor knapp zwölf Jahren im Berner Breitenrainquartier. Stefanie peter feiert ihren 13. Geburtstag, die Mutter ist da, die beiden Brüder ebenfalls, der Ältere hat ihr ein besonderes Geschenk besorgt. zwei CDs: Things Fall Apart von The Roots und Make The Music 2000 von Rahzel. Als sie sich die Musik anhört, fällt Stefanie fast vom Stuhl. The Roots vermählen Rap mit Funk und Jazz. Rahzel imitiert allein mit seinem Stimmorgan eine ganze Band. er ist der Beatbox-Superstar der Stunde. Steff la Cheffe rührt mit dem Strohhalm im eisteeglas. Was sie da-

das echo auf ihr Album ausfiel, so sehr ihr die Sympathie von publikum, presse und Kulturförderstellen zuteil wurde, so kräfteraubend war die zeit. «Ich hatte zwei Jahre lang einfach durchgearbeitet», erzählt Steff la Cheffe. erst für Andreas Vollenweider, dann für das Album, anschliessend für die tour. «Ferien? Gab’s nicht.» Die Konsequenz: Als sie im Frühling 2010 nach der plattentaufe in Bern die Bühne verlässt, spürt sie eine riesige erschöpfung. «Das war so: Yeah! Aber jetzt mal bitte pause.» Doch es geht gleich weiter: promo, Video, Festival hier, Konzert da. Ist ja klar,

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die platte ist endlich draussen, da muss man auch auftreten. einige Monate hält Steff la Cheffe noch durch. Dann folgt das Unvermeidliche. Sie beschreibt es so: «ein schlechter Gedanke, ein böses Wort – und Stefi hat losgeheult. Und Stefi konnte damit auch nicht aufhören, weil Stefis nervenkostüm einfach nur noch geflattert hat. Irgendwann lag ich dann in der embryostellung auf einem Sofa im Backstagebereich. Wir sollten in Wädenswil eine Show spielen an jenem Abend. Aber es ging einfach nicht mehr.» nein, der Gedanke, alles hinzuschmeissen, sei ihr damals nicht gekommen. «Ich dachte nur: Das hast du dir selbst eingebrockt – hast immer Ja gesagt zu allem, hast überall mitmachen wollen. Aber das geht nicht. Und jetzt bist du hier. Jetzt kannst du es lernen.» Ihre Antwort ist jetzt öfters nein, wenn wieder ein projekt an sie herangetragen wird. trotzdem tritt Steff la Cheffe häufig jenseits ihrer musikalischen Heimat in erscheinung. Als Rapperin und Beatboxerin, aber auch als Kolumnistin, Moderatorin und Do-

tet sie als unvermeidlich. Die klassische nachwuchsförderung könne durch finanzielle zuschüsse vieles möglich machen. Auch sie, die penibel darauf achtet, auch nicht zweckgebundene Beiträge ausschliesslich in die Studioarbeit zu investieren, habe stark davon profitiert. Aber für den Druck, in der Öffentlichkeit zu stehen, Interviews zu geben, mehrmals pro Woche die Bühne zu rocken – dafür gebe es nirgends eine Vorbereitung. «Das ist eine erfahrungssache. Jeder muss seine physischen und psychischen Grenzen selbst ausloten.» Sie selbst plant jetzt öfters arbeitsfreie tage ein. es müssen nicht immer Ferien sein: «ein bisschen zuhause rumsiffen, ohne etwas Schlaues zu machen, ist gerade so wichtig. Danach kann man wieder vorwärts schauen.» Vorwärts geht es nun wieder für Steff la Cheffe. Dieser tage steht sie im Studio, um mit ihrem produzenten am neuen Album zu arbeiten, das Anfang 2013 erscheinen soll. Sie hat sich auf eine schwierige zeit eingestellt. «Beim letzten Album gab es keinen Druck von aussen. Ich hatte nichts zu verlieren. zudem verfügte ich über sehr viel textmaterial aus jener zeit, als die Musik noch nicht mein Job war, Im Rap geht es nicht darum, ständig zu jammern, wie sondern meine Flucht aus dem Alltag.» nun schlimm alles ist. Vielmehr soll man Geschichten erzählen. sei es umgekehrt. Da ist die erwartungshalDafür muss man nicht untendurch im Leben. Man muss tung des publikums, da ist der persönliche ehrgeiz, noch besser zu werden. zugleich nur die Augen offen halten, immer und überall. habe sich ihre Beziehung zur Musik professionalisiert. «Früher durfte ich schreiben, zentin. Demnächst wird sie sich auf der theaterbühne versuchen. heute muss ich.» erschwerend komme hinzu, dass sie sich nicht Warum? «es geht mir um Kompetenzerweiterung». Was das mehr in diesem «Hustle» befinde, den die meisten Leute täglich heisst? «Da ich nicht in einer Musikausbildung bin, habe ich keine erleben. «Früher war der Druck aus dem Arbeitsalltag sehr inspiInstitution, die mich vor eine neue Herausforderung stellt, mich rierend. Heute stecke ich in meiner Künstlerwelt.» aus der Komfortzone lockt. Das muss ich selbst tun. Da kommen trotzdem ist sie zuversichtlich: «Ich habe festgestellt, dass es mir projekte in fremden Genres und mit Künstlern, die einen an- im Rap nicht darum geht, ständig zu jammern, wie schlimm alles deren Hintergrund haben, sehr gelegen.» ist. Vielmehr soll man Geschichten erzählen. Dafür muss man nicht untendurch im Leben. Man muss nur die Augen offen hal«Früher durfte ich schreiben, heute muss ich» ten, immer und überall.» Auch andere Dinge, die mit dem erfolg kommen, muss sie lernen. Den Umgang mit Geld beispielsweise. nach der Lancierung ihres Albums vergeht weit über ein Jahr, das ihr unwirklich wie ein Film erscheint. Unter der Woche proben, termine, Interviews, promoArbeit. An den Wochenenden Shows. Wenn sie in den frühen Morgenstunden nach Hause zurückkehrt, schmeisst sie die Gage müde in eine Schublade. Dort bedient sie sich, wenn sie zwischendurch Geld benötigt. nach eineinhalb Jahren macht Steff la Cheffe Kassensturz – und erschrickt gehörig. In der Schublade hat sich ein beachtlicher Haufen Geld angesammelt. Geräuschlos wie ein Sediment. natürlich wird sie nervös. «Soviel Geld auf einem Haufen hatte ich noch nie gesehen», sagt sie. Dann macht sie es wie in den Hollywood-Streifen: Sie steckt die Geldbündel in ein Couvert, wirft sich die schwarze Lederjacke über und geht diskret, aber schnurstracks zur nächsten Bankfiliale. «Die haben Augen gemacht!» «Geld interessiert mich nicht. es ist nur ein Mittel, um Rechnungen zu bezahlen und essen zu kaufen. Ich will nicht reich werden mit meiner Musik. Ich will mich ausdrücken.» trotzdem hat sie www.stefflacheffe.ch jetzt eine Buchhaltung, einen AHV-Ausweis und jemanden, der ihr Lenz (*1983) ist Journalist und begleitet hilft bei der Steuererklärung. «Muss halt sein», sagt Steff la Cheffe. Christoph die Karriere von Steff la Cheffe seit 2009 für die Berner Dass sie diese Lektionen auf die harte tour lernen musste, betrach- tageszeitung Der Bund.

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Das Wohnzimmer der Grossmutter im Tessin ist ein Ort voller Geschichten und eine der ersten Inspirationsquellen f端r die K端nstlerin. Nina Haab, *1985 in Bellinzona, lebt und arbeitet in Genf und Giubiasco. www.ninahaab.ch

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Nina Haab M edi eN K U NST

es ist die Beobachtung menschlicher Beziehungen, die meine künstlerische Arbeit nährt.

Für ein Buchprojekt über die Geschichte des Wohnquartiers hat die Künstlerin ihre Nachbarin interviewt.

Künstlerin sein ist für mich eine Möglichkeit, meine persönlichen Beobachtungen und Recherchen in neuer Form wiederzugeben. ich versuche eine Atmosphäre zu schaffen, mit der sich der Betrachter identifizieren kann.

” Auf Video, Fotos und mit Tondokumenten sammelt Nina Haab Biografien von Menschen und verwebt sie zu einer Geschichte.

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ie Zukunft steht in den Sternen. Zumindest jene des italienische Schweiz ein eigenes Förderinstrument (siehe nachProtagonisten in Lukas Linders Stück Der Mann in folgender Text). In den letzten zwölf Jahren haben 66 Theaterautoder Badewanne oder wie man ein Held wird. Wird ren Unterstützung beim Schreiben erhalten, einige von ihnen hier der Beginn einer geglückten Befreiung erzählt? mehrfach. Knapp zwei Drittel der so entstandenen Texte fanden Oder gerade im Gegenteil, die kalkulierte Zerstörung schliesslich den Weg auf die Bühne. «Eine gute Quote», findet eines jungen Optimisten? Die Antwort ist letztlich unwichtig, denn Martha Monstein, Leiterin der Abteilung Theater bei Pro Helvetia, die Theaterbesucher werden während 90 Minuten intelligent un- denn «es sind Nachwuchsautoren ohne viel Schreiberfahrung und terhalten. Linders Stück lebt von schnellen Dialogen und Sprach- nicht alle Texte gelingen.» Fast alle Absolventinnen bleiben übriwitz. Es wird oft gelacht während der Vorstellung, zwischendurch gens dem Theater treu: Nur drei der 66 schreiben inzwischen gar keine Stücke mehr. gibt es sogar Szenenapplaus. Ein grosser Erfolg für den 28-jährigen Jungdramatiker. MögIm Theater gelten eigene Regeln, die ein Autor berücksichtilich gemacht wurde er durch das Förderprogramm Stücklabor, gen muss. Ein spritziger Dialog allein füllt noch keine Bühne aus. das sich seit 2008 für die Stärkung der Gegenwartsdramatik in der Lukas Bärfuss, einer der erfolgreichsten zeitgenössischen SchweiSchweiz einsetzt. Früher in Form von Werkstatt-Tagen, seit der zer Dramatiker, hat seine ersten Stücke in enger Zusammenarbeit Spielzeit 2011/12 erstmals mit Hausautorschaften. Drei Theater mit der freien Theatergruppe 400asa geschrieben und so die Gesetzhaben beim ersten Durchgang mitmässigkeiten der Bühne kennengemacht, je einen Autor ausgegelernt. «Je mehr ein Autor über wählt und für ein Jahr engagiert. Theater weiss, umso erfolgreicher Das Honorar von 40 000 Franken kann er arbeiten», bringt es Andteilen sich Theater und Stücklareas Erdmann, Dramatiker und Dramaturg am Wiener Burgtheabor. Was in den Aufgabenkatalog des Hausautors gehört, entscheiter auf den Punkt. Darum sind den die Theater selbst. So betreuen auch jene Förderprogramme, die diese manchmal Inszenierungen, eng an ein Theater gekoppelt sind, schreiben Texte für die Theaterzeierfolgversprechender und nachtung oder organisieren Lesungen. haltiger. Im Zentrum steht aber immer das Der Dramenprozessor wurde Verfassen eines Theaterstücks: Im bereits neun Mal am Theater WinIm Theater gelten eigene Regeln, die ein engen Austausch mit der Dramakelwiese in Zürich durchgeführt. Autor berücksichtigen muss: Ein turgie-Abteilung und der Regie Während einer Spielzeit werden spritziger Dialog allein füllt noch keine dürfen sie dem Schauspielensemdie Teilnehmer dabei vom Theater Bühne aus. Vier Förderprogramme ble einen Text auf den Leib schneibetreut und begleitet: Mit Bühbegleiten Schweizer Nachwuchsdramatidern. Im Frühsommer 2012 kanentests, Probebesuchen und Gemen so die Werke von Beatrice sprächen mit Schauspielern und kerinnen und -dramatiker mit ihren Fleischlin, Verena Rossbacher und Regisseurinnen erhalten sie den Werken vom Schreibtisch auf die Bühne. nötigen Praxisbezug und ihre Lukas Linder an Deutschschweizer Texte die Bühnentauglichkeit. Theaterhäusern zur Uraufführung. Von Alexandra von Arx Hier hat so mancher Autor, der Der Vorteil der Hausautorschaft ist klar: Das Theater bekommt ein heute an grossen Bühnen gespielt massgeschneidertes Stück, wähwird, erstmals richtig Theaterluft rend die Autorin die Bedingungen der Bühnenrealität erproben geschnuppert. Der Dramenprozessor ist als Sprungbrett in der und Kontakte knüpfen kann. Über mehrere Monate hinweg ent- Szene gut verankert und anerkannt. Zahlreiche Absolventen haben stehen dabei eine enge Beziehung und ein vertiefter Austausch. ihm einen Stückauftrag zu verdanken oder wurden an einen inter«Ich habe beim Schreiben in erster Linie an die Sprache, den nationalen Wettbewerb eingeladen. So wurde Daria Stockers Stück Rhythmus und die Bilder gedacht», sagt Lukas Linder, «aber die Nachtblind, das im Rahmen des Dramenprozessors entstanden ist, Regisseurin und der Dramaturg haben meinen Text jeweils auf mehrfach im In- und Ausland inszeniert, ins Englische, Russische, seine Umsetzbarkeit gelesen. Dieser für mich neue Blick hat mein Spanische und Lettische übersetzt und mit dem Hauptpreis des Schreiben bereichert und verändert.» Heidelberger Stückemarktes ausgezeichnet. «Die Stärke des Dramenprozessors liegt in der Vernetzung», hält Lorenz Langenegger Nachwuchsautoren bleiben dem Theater treu fest, der aufgrund seiner Abschlusspräsentation am DramenDas Stücklabor ist eines von vier Nachwuchsförderprogrammen prozessor einen Theaterverlag gefunden hat. für Dramatikerinnen und Dramatiker in der Schweiz, die Pro Helvetia unterstützt. Im Zweijahresturnus werden in der Deutsch- Der Sprung ins Ausland ist schwierig schweiz zudem der Dramenprozessor, und in der Westschweiz Die positive Bilanz täuscht jedoch über gewisse Schwierigkeiten Textes-en-Scènes durchgeführt. Seit dem letzten Jahr hat auch die bei zeitgenössischer Dramatik hinweg. «Es ist unglaublich schwie-

Schreiben fürs Rampenlicht

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rig, die Zuschauer von einem neuen Autor zu überzeugen. Zeitgenössische Dramatik spricht meist nur ein kleines Publikum an», bemerkt Karoline Exner, Dramaturgin am Theater St. Gallen. So erklärt sich, dass zeitgenössische Theatertexte nur zurückhaltend in die Spielpläne aufgenommen und auch dann oft nur auf der kleinen Bühne gespielt werden. Den Theaterverlagen kommt hier als Vermittlern eine entscheidende Rolle zu, empfehlen sie doch den Theatern neue Stücke und Autoren. Das gilt jedoch nicht für die französischsprachige Schweiz: Sie orientiert sich an der Praxis Frankreichs, wo sich die Verlage meist ausschliesslich um die Publikation der Stücke kümmern. Weder vertreten sie die Autorinnen und Autoren gegenüber den Theatern, noch besitzen sie in der Regel die Bühnenrechte für die Texte. Weil sie also nichts an einer Inszenierung verdienen, ist ihr Interesse, Vermittlungsarbeit für einen Autor zu betreiben, entsprechend gering. Deshalb ist es für Theaterautoren aus der Romandie überaus schwierig, in Frankreich wahrgenommen zu werden. Ihre Stücke erleben oft nur eine einzige, regionale Inszenierung und verschwinden danach von der Bildfläche. Vom Schreiben für die Bühne leben zu können, ist darum fast unmöglich. Umso wichtiger ist es, dass ein Förderprogramm wie Textes-

en-Scènes überregionale Aufmerksamkeit schaffen kann. Daran arbeitet gegenwärtig die Société Suisse des Auteurs (SSA), welche Textes-en-Scènes seit den Anfängen 2004 organisatorisch betreut. Jedes der vier Schweizer Förderprogramme hat seinen eigenen Schwerpunkt: sei es in der Textgenese oder im direkten Austausch zwischen Schreibstube und Bühne. Allen gemeinsam ist jedoch, dass die Teilnahme als Auszeichnung gilt und Tore zu den Theaterbühnen öffnet.

www.winkelwiese.ch/dramenprozessor www.stuecklaborbasel.ch www.ssa.ch Alexandra von Arx schreibt als freie Journalistin über Literatur und Theater und übersetzt aus dem Englischen. Als Kulturvermittlerin arbeitet sie für Pro Helvetia und Migros-Kulturprozent. 2011 hat sie für diese beiden Institutionen die Schweizer Dramatikerförderprogramme evaluiert.

Neue Theaterautoren fürs Tessin Zum ersten Mal fand dieses Frühjahr auch im Tessin ein Dramatikerwettbewerb statt. Der Gewinner Massimiliano Zampetti erhielt für seine schwarze Komödie über eine Totenwache ein Stipendium. Von Manuela Camponovo

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eim Stichwort «Tessiner Theaterszene» kommen einem Namen wie Dimitri, Gardi Hutter oder Daniele Finzi Pasca in den Sinn. Es erstaunt nicht, dass gerade Künstler aus dem Bewegungstheater, der Clownerie oder dem Zirkustheater die Sprachbarriere überwinden und sich national und international einen Namen machen konnten. Nicht unbedeutend dürfte dabei der Einfluss der Bewegungstheaterschule gewesen sein, die Dimitri 1975 in Verscio gründete. Oft wird vergessen, dass das Tessin auf eine grosse, eigene Dramatikertradition zurückblickt – sowohl auf Italienisch als auch in Dialekt. Dazu gehören Namen wie Guido Calgari, Carlo Castelli, Sergio Maspoli und Giuseppe Biscossa. Das Radio und Fernsehen der italienischsprachigen Schweiz (RSI) hat hier eine wichtige Rolle gespielt: Es hat das professionelle The-

ater von Anfang an unterstützt, indem es die Realisierung von Hörspielen ermöglichte – die sogenannten «radiodrammi» – und auch Stücke auf Theaterbühnen inszenierte. Wegweisend war die Arbeit von Alberto Canetta, dem wohl herausragendsten Regisseur und Autor, den das Tessin je hatte: Nach langjähriger Zusammenarbeit mit dem RSI gründet er in den 1980er Jahren das Teatro La Maschera und inszenierte zahlreiche, selbst bearbeitete klassische und zeitgenössische Bühnentexte. Gutes Potenzial Diese spezifischen kulturellen Bedingungen galt es bei der Gestaltung des Tessiner Dramatikerwettbewerbs zu berücksichtigen: «Zusammen mit den Kommissionen des Kantons machten wir uns Gedanken über die Fördermöglichkeiten des Tessiner

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Theaters, und wie die Programme der anderen Sprachregionen auf die italienische Schweiz angepasst werden können», sagt Martha Monstein, Theaterverantwortliche bei Pro Helvetia. Die Tessiner Kandidaten wurden schliesslich aufgefordert, ein Konzept für ein Theaterstück mit Dialogbeispielen einzusenden. Eine Jury, bestehend aus Theater- und Literaturfachleuten, bewertete die Einsendungen. Aus der doch eher kleinen Sprachregion beteiligte sich immerhin die stattliche Zahl von 20 Kandidaten. «Sie haben ganz unterschiedliche kulturelle Hintergründe», sagt die Jurypräsidentin und Schriftstellerin Liaty Pisani, «sind aber grösstenteils bereits beim Theater oder beim Radio tätig.» Mit Blick auf die behandelten Stoffe meint Gianfranco Helbling, Direktor des Teatro Sociale von Bellinzona und Mitglied der Unterkommission Theater: «Ich hätte eigentlich erwartet, dass sich mehr Autoren mit Themen und Realitäten der italienischen Schweiz auseinandersetzen. Dass dies nicht der Fall war, sagt einiges über die gesellschaftliche Relevanz aus, die sie dem Theater beimessen.» Eine andere Jury-Vertreterin, Paola Gilardi, Vorstandsmitglied der Schweizer Gesellschaft für Theaterkultur, findet: «Es steckt in einigen Texten gutes Potenzial! So zeichnet sich zum Beispiel der Siegerbeitrag durch lebhafte Dialoge und schwarzen Humor aus.» Die drei Finalisten Christian Bubola, Katya Troise und Massimiliano Zampetti konnten mit Hilfe der Autorin und Regisseurin Mariella Zanetti, die als Coach fungierte, schliesslich eine halbstündige szenische Lesung realisieren, die mit Profi-Schauspielern auf der Studiobühne in Lugano öffentlich aufgeführt wurde. Den ersten Preis und ein Stipendium von 10 000 Franken gewann Massimiliano Zampetti mit seiner schwarzen Komödie über eine Totenwache (Il silenzio è obbligatorio). Auch dieses Mal wollte das Radio nicht abseits stehen: «25 Jahre nach dem Tod von Alberto Canetta nehmen wir den Faden wieder auf», freut sich Francesca Giorzi, Hörspielproduzentin bei Radio Rete Due. «Wir haben die Idee dieses Wettbewerbs mit Begeisterung unterstützt und sowohl den Coach als auch die Schauspieler vermittelt.»

Gianfranco Helbling die Möglichkeit, Zampettis Totenwache auf die Bühne zu bringen? «Für eine Entscheidung ist es noch zu früh. Die drei Wettbewerbstexte waren ja primär auf das Radio zugeschnitten – wir müssen das Endergebnis abwarten.» Mariella

Es ist eine erfreuliche Entwicklung, weil Autoren nicht nur Preise, sondern eben auch Gesprächspartner brauchen. Der Wettbewerb ist ein Pilotprojekt und soll dem Nachwuchs Mut machen. Zanetti zieht bereits eine positive Bilanz: «Es ist eine erfreuliche Entwicklung, weil Autoren nicht nur Preise, sondern eben auch Gesprächspartner brauchen. Der Wettbewerb ist ein Pilotprojekt und soll dem Nachwuchs Mut machen.»

Vom Radio auf die Bühne? Enthusiastisch ist auch der Sieger Massimiliano Zampetti: «Ich bin Schauspieler und in meiner Compagnie, dem Teatro d'Emergenza, lassen wir uns oft von einer dramaturgischen Idee inspirieren, erarbeiten die Theaterszenen dann aber durch Improvisation. Es ist das erste Mal, dass ich mit einem Text ex novo begonnen habe. Mariella Zanetti stand mir mit Rat und Tat zur Seite, ohne mir aber irgendetwas aufzudrängen. Das liess mir viel Freiraum, zwang mich aber auch, selber Entscheidungen zu treffen.» Mariella Zanetti wird den Autor auch bei der Inszenierung seines Stücks unterstützen. Wie sieht denn Theaterdirektor

Lesen Sie den Siegertext von Massimiliano Zampetti unter: www.prohelvetia.ch/passages/it Manuela Camponovo leitet das Kulturressort der Tessiner Zeitung Giornale del Popolo in Lugano. Dort beschäftigt sie sich schwerpunktmässig mit Theater, insbesondere mit den lokalen professionellen Theater-Compagnien. Sie hat an der Universität Genua moderne Philologie studiert. Aus dem Italienischen von Karin Stutz

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ünstler – dieses Wort verführt offenbar vor allem junge Menschen, die noch ihren Platz in der Gesellschaft suchen, zum Träumen. Die für Frankreich verfügbaren Statistiken zeigen, dass sich die Zahl der bildenden Künstler von der Mitte bis zum Ende des 20. Jahrhunderts mehr als verdoppelt hat. Und was die Interpreten betrifft, also Sänger, Schauspieler oder Tänzer, so werden Kinder und Jugendliche durch die permanent über den TV flimmernden Bilder von schönen Männern und Frauen, die im gleissenden Scheinwerferlicht zu betörender Musik ihre Pailletten glitzern lassen, förmlich dazu angestachelt, auch eines Tages «Künstler» werden zu wollen. Wie erklärt sich dieses Phänomen? Dafür gilt es zunächst den Status der Interpreten von jenem der schöpferischen Künstler zu unterscheiden; und was letztere betrifft, muss man sich die über sie kursierenden Vorstellungen vor Augen führen, und wie sich diese seit der Moderne bis heute gewandelt haben.

Die grosse Mehrzahl gibt auf, nachdem sie sich lange mit Nebenjobs über Wasser gehalten hat. Viele Berufene, wenig Erwählte – das ist das harte Gesetz der performativen Künste. Und dennoch bleibt die Anziehungskraft dieses Metiers bestehen. Die Theaterkurse leeren sich ebenso wenig wie die Filmakademien oder die Keller, in denen hoffnungsvolle künftige Rockmusiker proben … Die Kreativen zwischen Norm und Ausnahme

Für die Kreativen und insbesondere die Kunstschaffenden liegen die Dinge etwas anders, weil nicht ihre Person sichtbar wird, sondern ihr Werk. Doch nur die Bedeutendsten unter ihnen werden berühmt, und nur einige wenige können reich werden. Sie sind es, die man als Beispiele anführt, ohne zu bedenken, dass sie die grosse Ausnahme von der Regel darstellen. In den vergangenen Jahren haben die Verkaufspreise von Werken lebender Künstler schwindelerregende Summen von bis zu mehreren Millionen Dollar erreicht, – so dass sie bisweilen mehr kosten als Gemälde Die Interpreten auf dem alter und moderner Meister. modernen Olymp Jeff Koons, der Pablo Picasso Der Aufstieg der darstellenüberflügelt oder Maurizio Catden Künstler geht Hand in telan, der teurer ist als Nicolas Hand mit der Erfindung der Poussin oder Rembrandt? Vor Techniken der Bildreprodukfünfzehn Jahren war das noch tion von der Fotografie Mitte undenkbar, heute liegt es im Bereich des Möglichen. Lodes 19. Jahrhunderts über das gisch, dass dies Nachahmer Kino Anfang des 20. JahrhunDie Zahl der Studierenden an den derts bis zu Fernsehen und auf den Plan ruft. Internet heute. Gefeiert werAber auch sie muss der Kunsthochschulen steigt kontinuierlich, und die den sie nicht für die von ihnen Soziologe erbarmungslos auf Studienangebote haben sich in den letzten geschaffenen Werke, sondern die eher durchschnittlichen Jahren vervielfältigt. Obwohl es nur ganz für ihren Auftritt, bei dem sie Lebensbedingungen der Mehrwenige durch das Nadelöhr des Erfolgs schaffen, Werke anderer präsentieren. heit hinweisen, statt auf die Dabei steht die Person im aufsehenerregende Ausnahme ist Künstler nach wie vor ein Traumberuf. Zentrum der Aufmerksameiniger «Stars» der zeitgenöskeit, sie zieht Blicke und sischen Kunst. Bei den KünstVon Nathalie Heinich Bewunderung auf sich, und lern ist nämlich nur eines aufsehenerregend: die Unmacht die Werke zu Konsumobjekten, die enorme wirtgleichheit in puncto Anerkenschaftliche Gewinne generieren. Unzählige Male reproduziert nung, und zwar sowohl hinsichtlich des finanziellen Ertrags wie durch die erwähnten Bildmaschinerien, verleiht ihnen ihre Be- auch der «Sichtbarkeit», will heissen der Präsenz bei den legitirühmtheit den Status des Aussergewöhnlichen sowie Privilegien mierenden Instanzen, an denen die Konservatoren, Kunstkritiker aller Art: exorbitante finanzielle Profite und, nicht zu vernachläs- und Kuratoren ihren künstlerischen und den davon abhängigen sigen, affektive Zuwendung. Ist es da noch erstaunlich, dass so ökonomischen «Wert» bemessen. viele Menschen davon träumen, diesen neuen Olymp der Moderne In den Siebzigerjahren hat nur rund ein Prozent der Maler zu erklimmen? und Bildhauer eine wirkliche Sichtbarkeit erreicht, und die AnKönnte man sie von der Realisierung ihres Traums abschre- nahme ist begründet, dass sich das seither für die grosse Masse der cken, indem man ihnen in Erinnerung ruft, dass im Schatten ei- Kunstschaffenden nicht geändert hat. Auch wenn das Internet es niger weniger Stars Legionen von Unbekannten auf ihren Durch- heute erlaubt, Reproduktionen von Werken viel leichter in Umlauf bruch warten? Aspiranten klammern sich an diesen Traum, bis sie zu bringen, geniessen doch die entsprechenden Homepages meist fast alle darauf verzichten müssen, als Schauspieler oder Sängerin wenig Vertrauen. berühmt zu werden oder auch nur von ihrer Arbeit leben zu Trotz alledem ziehen, erstaunlich genug, die Kunsthochschukönnen. Nur sehr wenigen gelingt dies, und zwar meist in unter- len immer neue Bewerber an, denen sie immer stärker spezialigeordneten, kaum sichtbaren Nebenrollen. sierte Ausbildungen anbieten. Scharen von Nachwuchskünstlern

Der Traum von der Künstlerkarriere

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drängeln vor dem Nadelöhr zum Erfolg. Der Traum kümmert sich offenbar wenig um die Realität: «Ich weiss schon! Aber warum nicht? Warum nicht ich?!» Dieser Traum lebt nicht nur von der Aussicht auf sagenhaften finanziellen Gewinn und vom Reiz der Vagheit, die einem Status anhaftet, bei dem die Verpflichtung zur Innovation laufend die Kriterien der Exzellenz verschiebt. Er lebt auch von der Verlockung des Künstlerlebens, wie man es sich gemeinhin ausmalt: am Rande der Gesellschaft, spannend, ständig in Bewegung, ohne die Zwänge und Schwerfälligkeiten von Hierarchien. Die ganze Sparte, sogar ihre obskursten und prekärsten Vertreter, profitiert von einem kollektiven Kredit, den es so wahrscheinlich in keinem anderen sozialen und beruflichen Feld gibt. Das Gesetz der Berufung

populäre und rundum erneuerte Heiligenfigur, stellt sich dar als Serie von Verschiebungen: vom Werk zur Person, von der Normalität zur Anomalie, von der Konformität zur Rarität, vom Erfolg zum Unverständnis, von der Gegenwart zur Nachwelt und genereller gesagt: vom Regime der Gemeinschaft zum Regime der Singularität. Mit Duchamp und seinen Readymades löst sich jeglicher Bezug vom vorgestellten Objekt zur Handschrift des Autors. Zugleich reichern sich die Legenden mit Bezügen zu seiner Person an. Dabei verschiebt sich der künstlerische Wert hin zu einer anderen Grösse, nämlich zur Figur des Künstlers als Künstler, nicht als gewöhnliche Person. Deswegen war Duchamp nicht nur der Schöpfer eines originalen Werks, sondern eines völlig neuen Künstlertypus. In diesem Sinne gehört er der heroischen Tradition an, in der sich der grosse Einzigartige vor allem durch seine Taten hervorhebt, deren grossartigste sich seine Gefolgsleute bis in alle Ewigkeit erzählen. Picasso schliesslich verkörpert den Idealtypus des Genies: aussergewöhnlich durch seine Einzigartigkeit und durch seinen Erfolg. Die Anekdoten, die über ihn kursieren, zeugen davon, dass er mehr geworden ist als ein einfacher Mensch und sogar etwas mehr als ein Künstler: In der westlichen Kultur ist er eine Legende. Selbst wer vom Wert seines Werks nicht überzeugt sein sollte, kann als Indiz seiner Grösse den Reichtum nehmen – denn hätte er all seine Werke verkauft, wäre er bei seinem Tod einer der weltweit reichsten Menschen gewesen. Schliesslich kommt zu dieser Verbindung von Schaffenskraft und finanzieller Potenz eine beeindruckende Vitalität hinzu, von der seine lange Lebenszeit ebenso zeugt wie die Vielzahl seiner amourösen Beziehungen.

Berufung statt Lehre oder Ausbildung, Inspiration statt sorgfältiger und regelmässiger Arbeit, Innovation statt Imitation eines Kanons, Genie statt Talent und Arbeit: Das sind die modernen Bedingungen, natürlich nicht die der tatsächlichen künstlerischen Praxis, sondern ihrer Verklärung. Die Vorstellung von der künstlerischen «Berufung», die ab den 1830er-Jahren regelmässig auftaucht, setzt sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts durch und wird im 20. Jahrhundert populär. Bis heute hält sie sich im Wesentlichen. Malerei und Skulptur gelten nicht mehr als Handwerk, stattdessen sind sie zu Berufungen im Dienste einer «Kunst» im modernen Wortsinn geworden, einer Tätigkeit, in der eine Person ganz und gar aufgeht und die auf angeborenen Gaben wie Inspiration, Individualität und Originalität beruht. Diese Vorstellung erscheint als Umkehrung von Zweck und Ziel: Ging es früher darum, eine Tätigkeit auszuüben, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, geht es heute darum, seinen Unterhalt zu verdieBei den Künstlern ist nämlich nur eines aufsehennen, um seiner Berufung folgen zu könerregend: die Ungleichheit in puncto Anerkennung; nen. Ihre vollkommenste Gestalt findet diese Vorstellung im Begriff des Genies. und zwar sowohl hinsichtlich des finanziellen Ertrags Diesem liegt ein Verständnis von Kunst als wie auch der «Sichtbarkeit». ursprüngliche und innovative Schöpfung zugrunde, nicht als Reproduktion bestehender Vorbilder. Das Genie bestätigt die Autonomie der Person Indem sich die Allgemeinheit auf diese besonderen Fälle konzengegenüber der Tradition. Wird also die Berufung zum Massstab, triert, idealisiert sie den Status des Künstler ebenso wie das Ziel, sind die Künstler dazu verpflichtet, nicht mehr Erben ihrer Väter diesen Status zu erreichen. Tatsächlich bietet er den wenigen, die zu sein, sondern Söhne ihrer eigenen Werke. ihn erlangen, echte Privilegien, vor allem, wenn sie ausnahmsweise sogar international berühmt werden. Idealtyp des Künstlers im 20. Jahrhundert Der deutsche Philosoph Max Scheler unterscheidet drei Formen Eine privilegierte Gruppe

der «Grösse»: Der Heilige wird durch seine Opfer gross, der Held durch seine Taten und das Genie durch seine Werke. Diese drei Idealtypen werden von drei Personen verkörpert: Vincent Van Goghs Leiden kann jeder beklagen, Marcel Duchamps legendäre Gesten erzählen sich die Kenner der zeitgenössischen Kunst, und das gebildete Publikum bewundert Pablo Picasso sowohl für seine schöpferische wie auch sexuell überbordende Vitalität. Durch das Opfer seines mühevollen Lebens ist Van Gogh im Laufe der Generationen eine in die Kunst übertragene moderne Heiligenfigur geworden. Denn das neue Künstlerparadigma, die

Seit der Romantik haben sich bestimmte Künstler dank ihrer Tätigkeit Zugang zu Kreisen verschafft, die ihnen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Vermögens oder ihrer Macht normalerweise verschlossen geblieben wären. Noch heute schmückt man sich bei mondänen Abendgesellschaften gerne mit einem Schriftsteller, einem Künstler, einem Musiker, deren besondere Rolle sich schon daran zeigt, dass sie ohne Krawatte auftreten dürfen – ein Privileg, das sie mit den Interpreten aus Musik, Tanz, Theater oder Kino teilen. Ein handfesteres Indiz für den privilegierten Status des Künstlers ist die Zunahme staatlicher Fördermittel. Zu den

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Ankäufen und Aufträgen als klassischen Formen öffentlicher Unterstützung gesellen sich Fördermittel auf Antrag, wie Beihilfen für eine erste Ausstellung, für den ersten Katalog, Atelierstipendien, Zuschüsse für Installationen oder für Recherchen.

tung eines bestimmten Werktypus, der aufs Sensationelle, Gigantische oder Kitschige setzt, und von denen Werke wie die von Damien Hirst, Haruki Murakami oder den schon erwähnten Jeff Koons und Maurizio Cattelan zeugen, die jüngst auf dem Markt Preise in Millionenhöhe erzielten. Die Künstler heute verkörpern also die Ging es früher darum, eine Tätigkeit auszuüben, Aufwertung des Einzigartigen, und zwar um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, mit jener für das Einzigartige charakteristischen Logik der Grenzüberschreitung, geht es heute darum, seinen Unterhalt zu verdienen, und indem sie Anspruch auf das Privileg erum seiner Berufung folgen zu können. heben, Schutz vor moralischer und juristischer Verfolgung zu erhalten. Dabei stehen Künstlerische Privilegien zeigen sich auch auf juristischer Ebene: sie schon allein deswegen nicht für ungerechten Elitismus oder Angesichts der zahlreichen Überschreitungen von moralischen einen Angriff auf die Demokratie, weil ihre Randposition sie auf Regeln oder gar Gesetzen, die mit der modernen Literatur und vor Distanz hält von den Vorteilen, die normalerweise mit einer arisallem Kunst einhergingen, ist schon öfters die Frage nach der «äs- tokratischen oder bürgerlichen Elite verbunden sind. Alles deutet darauf hin, dass auf dem Künstler heute die Verthetischen Ausnahme» oder der «strafrechtlichen Autonomie» der Kunst gestellt worden. Dank der Autonomisierung des künstle- pflichtung lastet, für die Allgemeinheit ein Fantasma der Allmacht rischen Ausdrucks muss die Kunst nicht mehr äusseren Konven- zu verwirklichen und zugleich die Forderung nach einem absolutionen, sondern nur noch ihren eigenen Regeln gehorchen. In der ten Freiraum zu erheben, den früher einige aufgrund ihrer HerFolge geht die Kunst moralisch und juristisch immer häufiger kunft hatten und für den es nun eine Mischung aus angeborener straffrei aus. So profitieren die Kunstschaffenden von einem Begabung und Verdienst braucht. Wen wundert es da noch, dass so viele diesen Status jenseits moralischen und juristischen Privileg, und zwar nicht etwa nur für das, was sie tun, sondern sogar für das, was sie sind – jedenfalls des Gewöhnlichen für erstrebenswert halten? sofern sie etabliert genug sind, um vor Verfolgungen aufgrund ihrer Tätigkeit sicher zu sein.

Künstlerischer Elitismus Für künstlerische Exzellenz, so wie sie sich seit der Romantik definiert, zählt nicht allein die Arbeit. Die Gabe, verstanden als Begabung, hat darin einen entscheidenden Stellenwert und knüpft an die aristokratische Herkunft an, eine Grösse, die jemandem zugeschrieben wird, ohne an ein Verdienst geknüpft zu sein. Aber im Gegensatz zur aristokratischen Exzellenz ist diese angeborene Grösse nicht kollektiv, sondern individuell. Sie ist an die Verdienste eines Talents geknüpft als Mischung aus Arbeit und Begabung. So stellt die Aufwertung der «Kreativen» seit der Französischen Revolution einen Kompromiss zwischen zwei widersprüchlichen Anforderungen dar: Beibehaltung der Exzellenz, will heissen der Ungleichheit zwischen den Menschen, bei gleichzeitiger Ablösung der Zugehörigkeit zu einer Kategorie (Familie, Interessengruppe, Netzwerk). Stattdessen wird die Exzellenz geknüpft an die Individualität der Begabung (als Gnade) und ihre Verwirklichung durch Arbeit (Verdienst). Diese Exzellenz bringt also keine Privilegien im herkömmlichen Sinn mehr mit sich, sondern eine soziale Randposition, die heute nicht mehr nur negativ beurteilt wird, sondern gerade in bestimmten Milieus den positiven Status der Boheme oder des Rebellentums geniesst. Der moderne und inzwischen auch der zeitgenössische Künstler sind daher gewissermassen durch ihren Status der Marginalität geschützt, der ihre Einzigartigkeit wie auch ihre Exzellenz ausmacht. Heute ist diese Marginalität jedoch durch zwei Tendenzen bedroht: einerseits das Übergehen in Gruppenprivilegien, die durch den Künstlerstatus und nicht primär durch die Qualität der Werke erreicht werden, und andererseits durch die spektakuläre Aufwer-

Nathalie Heinich (*1955) ist Soziologin und Forschungsleiterin am Pariser Studienzentrum CNRS (Centre national de recherche scientifique). Einst Schülerin von Pierre Bourdieu, ist sie inzwischen mit eigenständigen und grundlegenden Arbeiten zur Kunst- und Kultursoziologie hervorgetreten. Den Auftakt zu einer umfassenden Reihe von Publikationen machte 1991 die Studie La gloire de Van Gogh. Die jüngste Buchpublikation De la visibilité (Paris, Gallimard 2012) setzt sich mit dem Phänomen des Starkults im Medienzeitalter auseinander. Aus dem Französischen von Barbara Basting

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Daniel Karrer M a l er ei

Die guten ideen kommen meistens, wenn man loslässt … oft am Morgen im Bett, direkt nach dem aufwachen oder in der Nacht, auf dem Heimweg. So in einem Halb­ dämmerzustand. auch der Computer ist eine wichtige inspirationsquelle für mich: zum Beispiel der direkte Zugriff auf die Bilderwelt im internet.

Der Kontrast zwischen Künstlichkeit und Natur interessiert Daniel Karrer. Deshalb ist er oft mit google street view auf Wanderschaft.

Figuren im Dämmerlicht: Der Künstler im Estrich des Ateliers mit einer frühen Arbeit.

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Das Künstlerhaus in Basel war einst ein Kloster, dann eine Militärkaserne. Daniel Karrer teilt das hohe, lichte Atelier mit einem Musiker. Daniel Karrer, *1983 in Binningen, lebt und arbeitet in Basel. www.herrmanngermann.com/ artists/danielkarrer

es ist wichtig, einen guten Mentor zu haben, der einen anspornt und ermutigt – aber auch immer wieder anzweifelt. Zweifel ist für mich ein wichtiger antrieb.

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rüssel, Hauptstadt des Tanzes: Hier sind wir mit Thomas Hauert verabredet, der mit seiner innovativen Tanzcompagnie ZOO seit 1998 Publikum und Kritiker immer wieder aufs Neue verblüfft und begeistert. Wir treffen den Solothurner Choreografen vor den Studios von P.a.r.T.S., der von der flämischen Starchoreografin anne Teresa De Keersmaeker gegründeten Tanzschule, wo er gerade einen Workshop geleitet hat. Kurz vor unserem Gespräch wurde Hauert von der Manufac­ ture um Unterstützung bei der entwicklung eines Bachelorstudi­ ums in zeitgenössischem Tanz gebeten. Die Theaterhochschule der Westschweiz plant diesen gemeinsam mit der Zürcher Hochschule der Künste. Beide Schulen werden mit einem ausländischen Part­ ner zusammenarbeiten: Zürich mit Codarts in rotterdam (ab 2013) und lausanne mit P.a.r.T.S in Brüssel (ab 2014). im interview mit Passagen erklärt Thomas Hauert, was heutzutage von Berufstän­ zern erwartet wird und worauf die ausbildung deshalb beson­ deren Wert legen sollte.

Tänzer sind heute nicht mehr bloss Darsteller einer vorgegebenen rolle. Sie tragen grosse Verantwortung, vor allem in Bezug auf ih­ ren eigenen Beitrag zu einer Produktion, aber auch gegenüber dem mit dem Choreografen erarbeiteten Werk als Ganzem. Dies ist nicht neu, schlägt sich aber bislang in ausbildung und Training der Tänzer noch nicht ausreichend nieder.

Ist dafür das technische Können zweitrangig geworden? Nein, eine solide Technik ist wichtig. So wie ein Musiker die Ton­ leitern kennen und beherrschen muss, so muss auch ein Tänzer mit den Grundlagen seines Metiers vertraut sein und sich ein mög­ lichst breites praktisches und theoretisches Wissen aneignen – nicht nur im rahmen der ausbildung, sondern während seiner gesamten beruflichen laufbahn. Man muss stets neugierig blei­ ben, denn schliesslich gibt es unzählige Stile und einflüsse zu entdecken: Flamenco, Hip­Hop, Jazz, improvisation, release, in­ dische und afrikanische Tänze, Kung­Fu … es ärgert mich, dass das Ballett immer noch so häufig als Grundlage für jede art von Tanz bezeichnet wird! Das ist eine fixe, westliche Vor­ stellung, ein selbstzentriertes kulturelles Konstrukt. ich mag diese Pyramide nicht, die das Ballett als unverzichtbare Basis des zeitgenössischen Tanzes darstellt. Der aufbau der tech­ «Du bist jung, lebst in der Schweiz und willst nischen ausbildung muss un­ Berufstänzer werden? Dann pack deine bedingt überdacht werden.

«Tanzen ist ein schöpferischer akt»

Thomas Hauert, Sie arbeiten zurzeit an einem Konzept für das geplante Studium in zeitgenössischem Tanz an der Manufacture. Partner des Studiengangs wird die P.A.R.T.S. sein – wird somit in Lausanne eine Zweigstelle der renommierten Brüsseler Tanzschule entstehen? Koffer und geh ins ausland!» So lautete bisher Nein, wozu auch? Die Tänze­ die Devise, doch das ist zum Glück rinnen und Tänzer, die an der Wie stellen Sie sich die ideale bald vorbei. Der Schweizer Choreograf Thomas P.a.r.T.S. studieren, haben be­ Tanzausbildung vor? reits ein sehr hohes Niveau. ich denke dabei vor allem an ein Hauert entwickelt für die Theaterhochschule Sie sind zwischen 18 und 30 neuartiges pädagogisches Kon­ Manufacture in lausanne ein Jahre alt und nutzen diese Ge­ zept. Wie das im Detail aussehen Bachelorstudium für zeitgenössischen Tanz. legenheit, um sich spezifisch könnte, weiss ich noch nicht, weiterzubilden. Zwar gibt es aber das oberste Ziel sollte auf nur wenige Plätze, und jedes jeden Fall sein, die autonomie Interview: Anne Davier Jahr werden Hunderte von Be­ der Studierenden zu fördern. Je­ werbern abgelehnt. aber mal der Körper ist anders, und jedes ehrlich: Wer würde lieber nach lausanne gehen als nach Brüssel, Nachwuchstalent hat einen anderen Weg vor sich. Die jungen Tän­ um die ausbildung bei P.a.r.T.S. zu machen? zerinnen und Tänzer müssen eigenverantwortung entwickeln und lernen, nicht nur in der Gruppe, sondern auch alleine zu üben und Über welche Fähigkeiten sollte ein junger Tänzer nach einer gezielt an ihren Stärken und Schwächen zu arbeiten – Musiker tun Ausbildung in zeitgenössischem Tanz verfügen? das Tag für Tag! leider wirken ihre Körper heutzutage oft wie ein­ Heutzutage erwarten die meisten Choreografen ein aktives Mit­ geschnürt. Die immer gleichen Bewegungen wurden so oft wieder­ wirken in vielen Bereichen. ein guter Tänzer muss engagiert, fle­ holt, dass sie gar nicht mehr anders ausgeführt werden können, xibel und erfinderisch sein, seine eigene Kreativität einbringen, worunter die Kreativität leidet. entsprechend sollte viel mehr Wert sich an der recherche beteiligen und bereit sein, sich gemeinsam auf die erkundung der schier unbegrenzten anatomischen Möglich­ mit dem Choreografen und den anderen Mitgliedern des ensem­ keiten gelegt werden, die unser Körper zu bieten hat. bles auf experimente einzulassen. Ist ein reines Tanzstudium noch zeitgemäss, heute, wo man Gefragt ist also nicht in erster Linie die Fähigkeit, Anweisungen immer mehr von der fruchtbaren Vermischung verschiedener eines Choreografen möglichst perfekt umsetzen zu können? Kunstsparten spricht? Trau mbe r u f: K ünsT le r 24


Bei einer Tanzschule unter dem Dach einer Theaterschule wird es automatisch zu einer annäherung der Sparten kommen. Schnitt­ stellen bestehen auch zu anderen Disziplinen, so dass die Tanzaus­ bildung heute tatsächlich in einen breiteren künstlerischen Kon­ text einzubetten ist. Dennoch soll der Tanz als Kunst des Körpers und der Bewegung eindeutig im Zentrum dieses Projekts stehen. Der Konzepttanz hat in den letzten Jahrzehnten viel Spannendes hervorgebracht, ist aber mittlerweile sehr sprachlastig geworden. Dabei hat der Tanz doch seine eigene, fundamentale und tiefgrün­ dige Sprache und kann auch subversiv sein, gerade weil er sich auf die Sprache des Körpers beschränkt. Dieser Gedanke ist nicht ganz neu … Das stimmt. ende des 19., anfang des 20. Jahrhunderts entstand eine Strömung, die den Stellenwert des Körpers und der Sinne be­ tonte, den Menschen endlich als hochkomplexen, Bewusstsein, Verstand und intuition umfassenden physischen Organismus wahrnahm, und die jüdisch­christliche instrumentalisierung des Körpers ablehnte. Zu dieser Bewegung gehörten zum Beispiel Friedrich Nietzsche (der Körper als «handelndes ich») und Walt Whitman, aber auch isadora Duncan oder rudolf von laban, die das Konzept des «freien Körpers» im Tanz begründeten. an die radikalen ideen dieser Denker und Schöpfer gilt es anzuknüpfen, besteht doch der Beitrag, den der Tanz leisten kann, genau in die­ ser ganzheitlichen Betrachtungsweise des Körpers. Aber können junge Tänzerinnen und Tänzer überhaupt mit dieser Freiheit umgehen? Muss man als Voraussetzung für einen «freien Körper» nicht über eine gewisse Erfahrung, Reife und Gelassenheit verfügen? Man muss lernen zu verlernen. Die Jungen trauen sich nicht, kre­ ativ zu sein. Sie sind fleissig wie die Bienen, reihen Kurs an Kurs, üben von früh bis spät. aber sie wagen nicht zu denken oder zu diskutieren – und erst recht nicht zu improvisieren. Eine Ausbildung, wie Sie Ihnen vorschwebt, würde demnach Tänzer, aber vor allem Künstler hervorbringen – die Choreografinnen und Choreografen von morgen …? Gut möglich. Tanzen ist immer ein schöpferischer akt, und durch kreative Übungen erhalten die Studierenden einen eindruck da­ von, wie der choreografische Prozess funktioniert. allerdings gibt es wohl kein allgemeingültiges rezept, um aus jemandem einen Choreografen zu machen. Die ausbildung an einer Tanzschule soll die Gelegenheit bieten, verschiedenste Dinge auszuprobieren und möglichst vielfältige erfahrungen zu sammeln, ohne dabei unter Druck vonseiten der Öffentlichkeit oder der Kritik zu ste­ hen. Gleichzeitig darf die Schule aber keinesfalls ein hermetisch abgeschlossenes Universum bilden. Die Studierenden müssen ler­ nen, sich dem Blick von aussen auszusetzen, mit Kritik umzu­ gehen und ihre arbeit zu verteidigen, um sich weiterentwickeln zu können. Genügt das Kontaktnetz, das eine junge Tänzerin im Rahmen ihrer Ausbildung knüpft, um ihr den Einstieg in ihren Beruf zu garantieren?

Diese Kontakte sind zweifellos nützlich, aber ob sich eine absol­ ventin einer Tanzschule auf dem Markt etablieren kann, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Zurzeit beobachte ich eher eine Überbewertung der institutionen, dieser riesigen Maschinen, zu denen manche Tanzschulen geworden sind – was trotz des enor­ men einsatzes, den sie für ihre absolventen leistet, auch auf die P.a.r.T.S. zutrifft. Meines erachtens besteht die Gefahr, dass wir nur noch zertifizierte Künstler hervorbringen und alle anderen, die nicht durch eine der grossen institutionen gegangen sind, keine Chance auf beruflichen erfolg haben … es gibt viele etab­ lierte, ausgezeichnete Tänzer, die keine akademische ausbildung durchlaufen haben, und das soll auch in Zukunft so sein. Deshalb braucht es alternativen – in der ausbildung, aber auch auf dem eu­ ropäischen Markt, damit einem Tänzer, der nicht die «richtige» institution hinter sich hat und nicht am «richtigen» Festival auf­ tritt, nicht gleich alle Wege versperrt sind. An welche Alternativen zum Tanzstudium denken Sie? in Brüssel gibt es einige interessante angebote für junge Tänzer und Choreografen. Dazu gehört zum Beispiel la raffinerie, wo das ganze Jahr hindurch Workshops stattfinden – eine gute Möglich­ keit, sich in Zusammenarbeit zu üben, sich auszutauschen, sein Kontaktnetz zu erweitern und mithilfe von lehrern aus allen Teilen der Welt neue erfahrungen zu sammeln. Zu erwähnen ist sicher auch das Théâtre de l’l, das mehrmonatige, betreute atelieraufenthalte für junge Künstlerinnen und Künstler anbie­ tet, die nicht auf ein bestimmtes Projekt hinarbeiten. Die Unter­ stützung dieser kreativen Grundlagenarbeit ist ebenso wichtig wie die Schaffung von Strukturen für die aufführung erster Werke vor einem fachkundigen Publikum. Wie sieht Ihr eigener beruflicher Werdegang aus? Nach der Schule liess ich mich in Solothurn zum lehrer ausbil­ den. Getanzt habe ich von Kindesbeinen an, meist für mich alleine, und ich machte daneben auch viel Sport, Musik und Theater. Mit professionellem Tanzunterricht begann ich erst sehr spät, mit 22 Jahren. ich studierte an der rotterdamse Dansacademie, wie die Codarts früher hiess, und tanzte danach unter anderem für rosas, Pierre Droulers und David Zambrano. Mittlerweile lebe und ar­ beite ich seit zwanzig Jahren in Brüssel. Ist Brüssel wirklich das Mekka des Tanzes? So wird es zumindest behauptet … Wahr ist an diesem Bild auf jeden Fall, dass viele Tänzer im Verlauf ihrer Karriere einmal nach Brüssel pilgern, um einen Kurs zu belegen, an einer audition teil­ zunehmen – oder einfach, um zu tanzen. www.zoo­thomashauert.be www.hetsr.ch anne Davier arbeitet seit zwölf Jahren bei der association pour la Danse Contemporaine (aDC) in Genf und ist unabhängige expertin von Pro Helvetia für Tanz und Performance. Sie hat an der Universität Genf Geistes­ und erziehungswissenschaften studiert und an der Universität Franche­Comté in Kunst, Tanz und Performance diplomiert. aus dem Französischen von reto Gustin

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Der Wald in der Nähe des Kunsthauses Glarus hat etwas Rohes, Wildes, Unzimperliches. Claudia Comte, *1983 in Lausanne, lebt und arbeitet in Berlin. www.claudiacomte.ch

Eine Plattform bieten und Sichtbarkeit schaffen, ist vermutlich das Beste, was man für eine Nachwuchskünstlerin tun kann. Ein etablierter Künstler kann mit seinem eigenen Namen Aufmerk­ samkeit schaffen und dann das Podium dem Nachwuchs­ künstler übergeben.

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Claudia Comte V ISU ELL E K U NST / I NSTA LL AT ION

Ich bin auf dem Land aufgewachsen und habe viel Zeit in einer kleinen Hütte am Waldrand verbracht. Das war ziemlich idyllisch und hat mein Interesse für Holz sicher beeinflusst. Diese intime Begegnung mit den Elementen, die Auseinander­ setzung mit einem Stück Natur, an dem ich modelliere – das ist immer ein aufregender Ausgangspunkt für eine Arbeit.

Eine Landschaft aus Bäumen: Aufbau der Aus­ stellung im Kunst­ haus Glarus.

Bäume fällen, transportieren und bearbeiten ist Schwerstarbeit. Die Künstlerin fährt regelmässig mit Holzfällern in den Wald.

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m Rand der boomenden indischen Millionenstadt Pune, etwa 150 Kilometer südöstlich von Mumbai, dem kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum des Landes, liegt der hochmoderne Campus der DSK Su­ pinfocom. Die Schule erstreckt sich über rund acht Hektare und ist von landwirtschaftlichen Betrieben und Ackerland umgeben. Eine Handvoll Gebäude verteilen sich über das Gelände, eingebettet in üppige Grünflächen. Die ruhige, friedliche Atmo­ sphäre lässt an ein Meditationszentrum denken, weit weg von den Ablenkungen der Grossstadt – ein idealer Ort, um Wissen zu ver­ mitteln und Talente zu fördern. Grosser Bedarf an Gamedesignern

von PricewaterhouseCoopers wird der indische Videospielmarkt im laufenden Jahr um 38 Prozent auf 375 Mio. und bis 2016 auf 925 Mio. US­Dollar wachsen – beste Zukunftsaussichten also, die der noch junge Beruf des Gamedesigners in Indien geniesst. «Beim Gamedesign geht es vor allem darum, eine Welt mit eigenen Regeln zu erschaffen, die dem Spieler ein einzigartiges Erlebnis verspricht», erklärt Madinier. «Dazu muss man sein Ziel­ publikum kennen und wissen, wie man es überraschen und be­ geistern kann.» Seine Visionen verwirklicht der Gamedesigner in Zusammenarbeit mit Künstlern, die Charaktere und Hintergründe gestalten, sowie Programmierern, die sich um die technische Um­ setzung kümmern. Ähnlich wie der Regisseur eines Spielfilms hält er alle Fäden in der Hand, dirigiert die Darsteller und trägt die Verantwortung für das Endprodukt. Entsprechend erfordert der Beruf nicht in erster Linie technologisches Know­how, sondern Neugier, Vorstellungskraft und Kreativität.

Die Videospielindustrie bewegt sich seit ihren Anfängen an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft. Während für die Ent­ wicklung und Produktion der ersten, einfachen Spiele in den späten Siebziger­ und frühen Autonomes Lernen Achtzigerjahren ein kleines Team von Programmierern Während ihrer Zeit an der DSK ausreichte, stellt das Medium Supinfogame werden die an­ gehenden Gamedesigner mit heutzutage deutlich höhere Anforderungen. So ist der allen Aspekten der Herstellung grosse kommerzielle Erfolg von Videospielen vertraut ge­ der Branche im letzten Jahr­ macht. Dabei vermittelt die zehnt nicht zuletzt der Mit­ Schule nicht nur akademi­ arbeit professioneller Künstler sches Wissen, sondern ermög­ zu verdanken, von Grafik­ licht vielfältige praktische Er­ Um Studierende von Kunsthochschulen designern und Autoren über fahrungen, indem sie wie ein markttauglich zu machen, arbeiten immer Komponisten und Musikern Produktionsstudio aufgebaut mehr Hochschulen mit der Industrie bis zu Sprechern und Sän­ ist. «Unsere Ausbildung ist ei­ zusammen. In Indien ist diese Zusammenarbeit gern. Mittlerweile haben mo­ gentlich eher eine Lehre als im Bereich Gamedesign sehr intensiv. derne Videospiele eine Qua­ ein Studium», findet Madinier. lität erreicht, die sich mit «Vieles hier läuft im Grunde Ein Besuch bei DSK Supinfocom in Pune. genauso ab wie bei der inter­ derjenigen von millionenteu­ nen Schulung eines Unter­ ren Hollywoodfilmen messen Von Jayesh Shinde kann und diese sogar manch­ nehmens für neue Mitarbeiter. mal übertrifft. Alle Unterrichtenden haben Entsprechend gross ist selbst für verschiedene Firmen die Nachfrage nach gut ausgebildeten Fachleuten, die die kom­ Spiele entwickelt und bringen jahrelange Berufspraxis mit.» Pa­ plexe und anspruchsvolle Kunst des Gamedesigns beherrschen rag Shirname, Stellvertretender Leiter des Bereichs Ausbildung – so wie sie die DSK Supinfocom in Pune hervorbringt. Die und Marketing an der DSK Supinfocom, fügt dazu an: «Die Erfah­ Schule, ein gemeinsames Unternehmen der indischen DSK rungen aus erster Hand, die diese ausgewiesenen Fachleute mit­ Group und der französischen Industrie­ und Handelskammer, bringen, sind für unsere Studenten sehr wertvoll, da sie ihnen auf­ ist die erste ausländische Zweigstelle der 1988 im französischen zeigen, in was für einem Umfeld sie später einmal arbeiten Valenciennes gegründeten Supinfocom, einer weltweit renom­ werden und was man dort von ihnen erwarten wird. Es ist diese mierten Hochschule für Computergrafik. Zugleich ist sie Indi­ Nähe zur Praxis, die den besonderen Charakter unseres Lehrgangs ens erste und grösste internationale Bildungsstätte für Anima­ für Gamedesign ausmacht.» Neben dem Unterricht bietet die tion, Videospieldesign und Industriedesign. Schule auch viele Freizeitaktivitäten an und verfügt über zahlrei­ «Die indische Videospielindustrie bietet fantastische Möglich­ che Sporteinrichtungen, wie Fitnessräume und Schwimmbecken. keiten», bestätigt Alexis Madinier, Studienleiter der Abteilung für Etwa 85 Prozent der Studierenden an der DSK Supinfocom Gamedesign in Pune, der seit zwanzig Jahren in dieser Branche sind Inder, während der Rest aus Frankreich und anderen euro­ tätig ist. «Zudem entwickelt sie sich rasend schnell: Alleine in den päischen Ländern stammt. Diese Internationalität widerspiegelt vergangenen vier Jahren wurde hier so viel produziert wie in die Verhältnisse in der Videospielindustrie, in der die Zusammen­ Frankreich in den letzten fünfzehn Jahren.» Gemäss einer Studie arbeit zwischen Fachleuten aus verschiedenen Ländern die Regel

Die Schule als Gamestudio

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ist, und sorgt durch den damit einhergehenden kulturellen Aus­ tausch für neue Ideen und zusätzliche Inspiration. Das Gamedesignstudium an der DSK Supinfogame ist inten­ siv und dauert fünf Jahre. Die ersten drei Jahre bestehen aus Grundkursen, die sich mit den einzelnen Elementen der Produk­ tion eines Videospiels befassen, bevor dann das Gelernte in den letzten beiden Jahren zusammengeführt und praktisch angewen­ det wird. In ihrem Abschlussjahr stellen die Studenten in Gruppen eigene Videospiele her, die von einer internationalen Jury aus

Square Enix, einem der grössten Spielehersteller der Welt. Obwohl es die Schule in Pune erst seit vier Jahren gibt, ist sie vielen poten­ ziellen Arbeitgebern bereits bestens bekannt, wie Alexis Madinier erklärt: «Wir stehen mit der internationalen Videospielindustrie in engem Kontakt. Führende Unternehmen sehen sich bei uns nach Praktikanten oder neuen Mitarbeitern um und sind in der Expertenjury vertreten, die die Abschlussarbeiten bewertet.» Durch diese Kontakte kamen Studenten zu Anstellungen bei einigen der grössten Namen der Branche, wie Gameloft, Zynga und Electronic Arts, sowie bei Entwickler­ studios in Singapur, Kanada, Frankreich – Wir stehen mit der internationalen Videospielindustrie und im Inland. «2008 gab es zehn Studios in engem Kontakt. Führende Unternehmen sehen in Indien; heute sind es schon 250», so Madinier. sich bei uns nach Praktikanten oder neuen Mitarbeitern Nur eine Autostunde vom Campus um und sind in der Expertenjury vertreten, die die entfernt befindet sich die indische Nieder­ Abschlussarbeiten bewertet. lassung des französischen Spieleentwick­ lers Ubisoft, die regelmässig Studenten Branchenvertretern und Spielern bewertet werden. «Am Ende ih­ der DSK Supinfocom als Praktikanten beschäftigt. Pauline rer Ausbildung weisen die Studenten, auch wenn sie kein externes Jacquey, Geschäftsführerin von Ubisoft Indien, ist überzeugt, dass Praktikum gemacht haben, bereits eineinhalb bis zwei Jahre kon­ die indische Videospielindustrie einheimischen und internationa­ krete Erfahrung in ihrer künftigen Tätigkeit auf. Unsere Absolven­ len Künstlern und Kreativen vielfältige Berufschancen bietet: «Wir ten sind keine Frischlinge, sondern können sofort in den Beruf suchen keineswegs nur Informatiker und Programmierer, sondern einsteigen», betont Madinier. auch Talente aus vielen anderen Bereichen, wie Kunst, Animation, An ihren Abschlussprojekten arbeiten die Studenten in Spezialeffekte, Gamedesign, Level­ und Sounddesign, Qualitätssi­ rundum verglasten Räumen, den sogenannten «Aquarien». Auf cherung oder Marketing. Ohne ihren Beitrag lässt sich heutzutage diese Weise können sie von ihren Ausbildern von draussen beob­ kein kommerziell erfolgreiches Videospiel herstellen.» Dieser Mei­ achtet werden und sind dennoch vor Ablenkungen geschützt. Aus­ nung ist auch Jitesh Panchal, Chef­Gamedesigner bei Ubisoft: «Für gestattet sind die Aquarien unter anderem mit Weisswandtafeln eine Karriere in der Spielebranche muss man kein Computerfreak für Brainstormings sowie mit Computerterminals zur Umsetzung sein. Wer kreativ ist und sich für das Genre interessiert, wird sei­ der gesammelten Ideen. Wie sich ihr Projekt realisieren lässt, müs­ nen Weg machen.» Mit ihrer internationalen Verankerung könnte die DSK Sup­ sen die Teams grundsätzlich selbst herausfinden. Sie können sich aber jederzeit an einen der Ausbilder wenden, wenn sie allein nicht infocom zum Vorbild für weitere Schulen dieser Art werden. Bei mehr weiterkommen. der offiziellen Eröffnung des Campus im Dezember letzten Jahres Das autonome Lernen und die professionellen Rahmen­ wies der französische Botschafter François Richier jedenfalls dar­ bedingungen kommen bei den Studenten gut an. Dies zeigt sich auf hin, dass Bildung und digitale Technologie zu den Bereichen auch im Gespräch mit einer Projektgruppe, die an einer Kom­ gehören, in denen Frankreich und Indien ihre Zusammenarbeit bination aus Ego­Shooter und Denkspiel namens Moon Cube verstärken wollen. Noch stammen fast alle Lehrkräfte an der in­ arbeitet. «Unsere Lehrer tun alles, um die Atmosphäre eines dischen Schule aus Europa – doch mit der Etablierung ihrer Entwicklerstudios zu simulieren», sagt Huzaifa Arab, der ur­ Absolventen auf dem globalen Videospielmarkt könnte sich auch sprünglich Betriebswirtschaft studieren wollte, dann aber sein das eines Tages ändern. Interesse für Gamedesign entdeckte. «Sie wählen aus unseren Vorschlägen eine Spielidee aus, stellen ein Team zusammen, ver­ sorgen es mit allen erforderlichen Ressourcen und geben ihm ein Jahr Zeit, um das Spiel auszuarbeiten und fertigzustellen.» Sein Kollege Mayur Bhimjiyani, der nach dem Studium beim Social­ Gaming­Riesen Zynga anfangen wird, schätzt vor allem die Mög­ lichkeit, sich intensiv mit Gleichgesinnten austauschen zu kön­ nen: «Eine Idee führt zur nächsten, und schon ist ein kreativer www.dsksic.com Prozess im Gang – das macht einfach Spass!»

Ein Vorbild für europäische Schulen? Ihr reguläres Programm ergänzt die DSK Supinfogame durch Workshops mit internationalen Koryphäen der Branche, wie zum Beispiel mit Yasuhiro Fukushima, dem Ehrenpräsidenten von

Jayesh Shinde ist Journalist mit Fachgebiet Unterhal­ tungselektronik und schreibt zurzeit für Indiens führendes Computermagazin Digit über Technologie und Videospiele (www.thinkdigit.com). Er lebt in der Nähe von Mumbai. Aus dem Englischen von Reto Gustin

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Pascal Kohtz ObjeK t / I nsta ll at IOn

Wenn ich von einem Platzregen überrascht werde, mich das echo in der leeren bahnhofshalle am sonntagmorgen übermannt, wenn ich den Milchschnauz entdecke, der bereits viel zu lange unbemerkt blieb … es sind diese kleinen Dinge, die ‹dazwischen› geschehen, die mich wochenlang zum Fragen und arbeiten bringen.

Leicht Bewölkt heisst der Wolkenhimmel aus Plexiglas. Ein neues Werk, das in einer Winterthurer Privat­ wohnung hängt.

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Das Künstleratelier in Attikon ist mitten auf einem Fabrikgelände.


Beim Blick vom Aussichtsturm über die Stadt Winterthur und das weite Land kann sich Pascal Kohtz sammeln und Klarheit gewinnen. Ein Rückzugsort in schwindelnder Höhe. Pascal Kohtz, *1983 in Winterthur, lebt und arbeitet ebenda. www.kohtz.ch

In einer von Geld und Wirtschaft dominierten Welt heisst Künstler zu sein zunächst, Projekte verfolgen zu dürfen, die jenseits von ökono­ mischen Zwängen und praktischem nutzen existieren können. Für mich persönlich ist das Dasein als Künstler auch das Privileg, Zeit zu haben.

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or t Szei t

san franciscO

new yOrk

paris

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warschau

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JOhannesburg

new delhi

shanghai

Die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia unterhält ein weltweites Netz von Aussenstellen. Sie dienen dem Kulturaustausch mit der Schweiz und erweitern die kulturellen Netzwerke.

san franciscO

Der Schweizer Künstler Pe Lang erforscht mit seinen kinetischen Skulpturen physikalische Phänomene und Bewegungsabläufe. Seine neusten Arbeiten zeigt er im kommenden Jahr im Wissenschaftsmuseum exploratorium in San Francisco.

Ein wogendes Meer aus Papier: Der Künstler Pe Lang inszeniert Bewegung als visuelles Erlebnis. moving objects, nº 564 – 595, 2012.

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Von Villö Huszai – Nichts Vertrauteres als der Klang, den wir als regen bezeichnen. Und doch besteht regen aus immer neuen ereignissen, kein regentropfen klingt am ende wie der andere. Doch wie das ein­ zelne hören, aus dem ein Ganzes zusam­ mengesetzt ist? Man soll «in den Klang hineingehen können», sagt der Schweizer Künstler Pe Lang. er will sich und seinem Publikum ermöglichen, sich in physika­ lische Phänomene zu vertiefen. Peter Lang aus dem luzernischen Sur­ see gelangte über die experimentelle Musik und Klangkunst zur kinetischen Kunst. Mit 23 Jahren hatte sich der tüftler schon einen eigenen Synthesizer gebaut; Der Vi­ suelle Künstler Pe Lang war aber erst in dem Moment geboren, als er dem digitalen Klang wieder den rücken kehrte. Heute macht Pe Lang kinetische Skulpturen.

Bewegung als visuelles Ereignis ein Kunstwerk von Pe Lang wäre ideal für das exploratorium: Darin waren sich Claire Pillsbury, Kuratorin am kalifornischen Wissenschafts­ und technikmuseum und ihre Kollegin einig, nachdem sie einen Vor­ trag und eine Performance des Schweizer Künstlers erlebt hatten. Das war im Sep­ tember 2011 gewesen, an einer Veran­ staltung von swissnex San Francisco: Der 37­Jährige war als teilnehmer des Pro­ grammes Swiss artists-in-labs der zürcher Hochschule der Künste nach San Fran­ cisco eingeladen worden. Das einjährige Programm hat es dem Künstler ermög­ licht, Kontakte zu der ihm wesensver­ wandten wissenschaftlichen Forschung zu knüpfen. Mittlerweile ist er schon mehrere Male am exploratorium zu Gast gewesen.

Fotos: Pe Lang (Werke) und Marianthi Papalexandri (Porträt)

Die motorisierte Kunst des Pe Lang


Das in San Francisco beheimatete renom­ mierte Museum ist das Vorbild und auch eine wichtige Partnerinstitution des Win­ terthurer technikmuseums technorama. Man könnte die Begeisterung, auf die Pe Lang im exploratorium stösst, ganz ein­ fach damit erklären, dass er intensiv mit technik und physikalischen Phänomenen arbeitet. Der Künstler sucht sich die kom­ plexen Klangräume und Bewegungsab­ läufe, die ihn interessieren, aber nicht in der Natur, sondern er erzeugt sie selber. Die physikalischen Phänomene basieren vor allem auf Magnetismus oder auf reibungs­ und Gravitationseffekten, die der Künstler in Versuchsreihen erforscht. ein wichtiger Baustein seiner kine­ tischen Skulpturen sind DC­Motoren, «direct­current»­ oder «Gleichstrom»­Mo­ toren. Damit setzt er etwas in Gang, in sei­ nem Untitled sound object aus dem Jahr 2008 zum Beispiel eine Kette aus Kügel­ chen, die auf einer Achse aufliegt. Während die Kette durch die sich drehende Achse langsam rotiert, erzeugt sie auf der Unter­ lage ein unablässiges Geräusch. Setzt man hundert solcher gemächlich knisternder, klöppelnd­raunender Maschinen neben­ einander, ergibt sich ein Gesamtklang, der mit dem Phänomen regen in der tat ver­ gleichbar ist. Die stets sichtbaren elektromotoren sind aber nicht bloss Antriebsmittel, viel­ mehr ist diese Mechanik teil der Skulptur oder installation. Das hat einen ästheti­ schen Wert, aber auch einen aufkläre­ risch­instruierenden: in unserer High­ tech­Gegenwart, in der die technik hinter den grafischen oberflächen immer mehr verschwindet und auch für experten im­ mer undurchsichtiger wird, ermöglicht Pe Langs Kunst die direkte Begegnung mit technischem Geschehen und inszeniert Bewegung als visuelles ereignis. Neugier und Forschertrieb Um einen immer wieder von Neuem faszi­ nierenden Gesamteffekt zu erzielen, ver­ vielfältigt der Künstler die gleichen ob­ jekte in einem raster. Das ist ein Verfahren, das Pe Lang zusammen mit dem Berner Künstler zimoun entwickelt und ab 2006 in einer reihe gemeinsamer Ausstellungen präsentiert hat. «Aber mit der zeit drohte das Prinzip zur Masche zu werden, es begann mich zu langweilen», erklärt Pe Lang. Sein Verhältnis zur technik ist kein

Wie eine Notenpartitur in Bewegung: moving objects, nº 692-803, 2012.

Bohrmaschinen. Pe Lang kann computer­ gesteuert drehen und fräsen und seine Lehrmeister sind nicht nur Handbücher, sondern auch Youtube­tutorials altgedien­ ter Dreher.

In Pe Lang ist der Techniker und der Künstler vereint: Performance im Kunsthaus L6 in Freiburg.

instrumentelles, sondern ein zutiefst for­ schendes. Der von Neugier und Spielfreude Getriebene ist ein Autodidakt: So hat sich der gelernte elektromonteur selbst das Programmieren beigebracht. Für die ent­ wicklung eines VJ­Videoprogramms wurde er 2005 von Sitemapping, einem Förderin­ strument des Bundesamtes für Kultur, mit einem Preis ausgezeichnet. Der souveräne Umgang mit dem Computer hat sein inte­ resse für den nicht­digitalen Klang und die Mechanik realer Phänomene aber offenbar nur befördert. Das Dreidimensionale, das Handwerk, ist heute wieder wichtiger für ihn. Seit einigen Jahren ist er dabei, sich autodidaktisch zum Feinmechaniker wei­ terzubilden. in seinem Atelier in der Aka­ demie auf Schloss Solitude in Stuttgart stehen eine Drehbank, wie die Uhrenindus­ trie sie verwendet, und mehrere Fräs­ und O r t sz e it 33

Spiel mit Chaos und Ordnung ein aktuelles Kunstwerk, das Pe Lang die­ ses Jahr für das exploratorium entwickelt und in der Werkstatt des Museums gebaut hat, besteht aus 42 rotierenden, von 84 DC­ Motoren angetriebenen Silikon­Strängen, auf denen sich zahllose schwarze Plastik­ ringlein in wechselnder richtung bewegen. Die Betrachterin steht einem überwälti­ genden, sich ständig wandelnden Gesamt­ bild gegenüber: Die ringe scheinen sich zu verhalten, Allianzen zu schliessen, sich schnöde im Stich zu lassen – wie eine No­ tenpartitur, die sich in ständigem Umbau befindet. Das Spiel mit Chaos und aufkei­ mender ordnung, das sich hier beobachten lässt, ist ein Moment in vielen Arbeiten des Künstlers. in Pe Lang ist der techniker und der Künstler vereint, eine Qualität, die das exploratorium schätzt, das sich an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft ansiedelt. Als Forscher versenkt er sich stän­ dig in neue Wissens­ und tätigkeitsgebiete. Und dasselbe wünscht er sich von seinem Publikum: dass es sich in die von ihm kon­ struierten Klänge und Bewegungen hinein­ begibt, sich darin allmählich orientiert und zunächst unsichtbare Gesetzmässigkeiten und Strukturen zu entdecken vermag. www.pelang.ch www.swissnexsanfrancisco.org Villö Huszai, Literatur­ und Medienwissen­ schaftlerin, unterrichtet an einem zürcher Gymnasium und ist als freie Journalistin tätig.


Neue Klangwelten JOhannesburg

Die elektro­Jazz­Band A.Spell vermengt instrumente, Genres und Klänge aus aller Welt zu sphärischen traumlandschaften. t Dieses Jahr war die schweizerisch­südafrikanische Band erstmals auf Südafrika­tournee. ­t ­tournee. Von Gwen Ansell, Johannesburg – «Was uns antreibt, ist die Suche nach neuen Klangwelten», sagt der irisch­südafrikani­ sche Perkussionist ronan Skillen über sich und seine Schweizer Kollegen des trios t A.Spell. Skillen spielt verschiedene Schlag­ instrumente – darunter die indische tabla t – sowie Didgeridoo. Jan Galega Brönni­ mann steuert Bassklarinette, Klarinette und elektronische Sounds bei, und Nadja Stoller ist für Gesang, Akkordeon, Loops und einige unkonventionelle Klangquel­ len, wie zum Beispiel Kinderspielzeuge, zuständig. Als wir die drei Musiker im Juni in einem gemütlichen Café treffen, in das wir uns vor dem Johannesburger Winter geflüchtet haben, stehen sie kurz vor einer tournee durch drei südafrikanische Län­ t der, auf der sie ihr Debütalbum Where The Strange Creatures Live vorstellen. Alle sind schon sehr gespannt darauf, wie ihre Musik bei den Besuchern der Konzerte in Südafrika, Mosambik und Swasiland an­ kommen wird. Für Brönnimann ist Afrika kein unbe­ kanntes t terrain, wurde er doch in Kame­ run geboren: «Als mir Pro Helvetia 2008 einen Auslandaufenthalt ermöglichte, fiel meine Wahl auch aus diesem Grund auf Afrika.» Seine ersten musikalischen erfah­ rungen hatte er bereits mit vier Jahren auf einer Kindergitarre gemacht. er blieb dem instrument treu, nahm aber nie Unterricht und beschäftigte sich auch nicht auf an­ dere Weise intensiver mit Musik – bis er als teenager einen Saxofonisten traf: «Damals t entdeckte ich den Jazz und war sofort fas­ ziniert.» Während seines Atelieraufent­ halts in Kapstadt wohnte er beim Jazz­ trompeter Lee thompson. «Alles war ein

wenig anders, als ich es aus Westafrika kannte. Aber das war gut, weil es mich auf neue ideen brachte. Für die lokalen Musi­ ker war ich ein unbeschriebenes Blatt, was zu vielen spannenden experimenten führte.»

Das Kapstadt, in das Brönnimann bei sei­ nem Besuch eintauchte, ist typisch für die aktuelle südafrikanische improvisations­ und Jazzmusikszene: es gibt zahlreiche Konzertlokale in der Stadt, die auch vom lebhaften t tourismus profitieren, eine fast hundertjährige t tradition des heimischen Jazz und nicht zuletzt ein grosses engage­ ment des Konservatoriums der Universität Kapstadt – all dies hat junge Musiker aus dem ganzen Land angezogen, die sich nicht von Konventionen einengen lassen. Verlangen nach musikalischer Freiheit zu dieser Generation gehört auch ronan Skillen, dessen erstes instrument das Waldhorn war. «Als ich etwa achtzehn war, wurde mir bewusst, wie viel mir die Musik bedeutet und dass sie immer ein t teil mei­ nes Lebens sein wird.» Durch einen Freund lernte er das Didgeridoo kennen: «Plötzlich gab es keine zwänge mehr, keine starren regeln, keine dreihundert Jahre alten

Der irisch-südafrikanische Perkussionist Ronan Skillen spielt Schlaginstrumente aus aller Welt. Hier im

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Fotos: Pro Helvetia Johannesburg

Werke toter Komponisten, sondern nur noch diese unglaubliche Freiheit, zu im­ provisieren und meiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Anders als beim Waldhorn war ich nicht an rhythmische Vorgaben gebunden und konnte meinen eigenen Sound entstehen lassen. Diese erfahrung wurde zum Grundstein meines musikali­ schen Schaffens.» Auch bei Nadja Stoller war es das Ver­ langen nach Freiheit, das sie zur Musik brachte: «ich war ein verträumtes, sen­ sibles Mädchen. Die Musik eröffnete mir einen raum, in dem ich mich zugleich sicher und mit der Welt verbunden fühlte.» zwar hatte sie schon früh Klavierunter­ richt, liess sich aber zunächst zur Kera­ mikerin ausbilden, bevor sie über die Lieder von rickie Lee Jones zum Jazz fand. «Mir gefiel besonders, wie der Jazz Geschichten erzählen kann und einem dennoch erlaubt, sie auf eigene Weise wie­ derzugeben.»

Was sich aus der Freiheit, die das impro­ visieren gewährt, machen lässt, lernten die drei Mitglieder von A.Spell vor allem im rahmen ihrer Auslandsaufenthalte. Skil­ len kannte Brönnimann aus dessen zeit in Kapstadt und zog 2011, als er von Pro Hel­ vetia in die Schweiz eingeladen wurde, beim Berner Klarinettisten ein. «Das war für mich wie ein Lottogewinn», erinnert sich Skillen. «ich erhielt zugang zu einer etablierten, vielfältigen Musikszene und lernte praktisch jeden tag jemanden ken­

Die Grenzen nationaler Stile überwinden: Nadja Stoller und Jan Galega Brönnimann.

The Forge in Kapstadt.

nen, mit dem ich mir eine zusammen­ arbeit vorstellen konnte! Kultur geniesst in der Schweiz einen hohen Stellenwert und wird stark gefördert. Mehrmals traf ich Musiker, die keine kommerziellen zuge­ ständnisse machen müssen und dennoch von ihrer Arbeit leben können – was mich darin bestärkte, meinen Weg konsequent weiterzugehen.» Beeindruckt war der Per­ kussionist auch vom musikalischen Kön­ nen, auf das sich die guten rahmenbedin­ gungen offenbar sehr positiv auswirkten: «ich ging nach Hause und übte mehr als je zuvor.» Nadja Stoller ihrerseits verbrachte 2009 acht Monate in Paris, um sich als Solokünstlerin weiterzuentwickeln. «ich machte den öffentlichen raum zu meinem Spielplatz und probierte all die instru­ mente, die ich gesammelt oder gebastelt hatte, auf der Strasse aus.» Das Akkordeon O r t sz e it 35

wuchs ihr in dieser zeit besonders ans Herz. «ich brauchte etwas wie ein Klavier, das ich immer mit mir herumtragen konnte. Seither liebe ich es fast so wie ei­ nen Menschen – schliesslich atmet es, und ich halte es oft in meinen Armen. Damit ist man auch als Solistin nie alleine.» In perfekter Ergänzung «Am Konzept, aus dem schliesslich A.Spell hervorgehen sollte, hatten Jan und ich schon zwei Jahre lang getüftelt», erzählt Stoller. «Als dann ronan nach Bern kam und wir uns erstmals zu dritt zusammen­ setzten, ging plötzlich alles ganz schnell. Jeder von uns erwies sich als perfekte er­ gänzung für die beiden anderen.» Brönni­ mann brachte instrumentale ideen ein und arrangierte die Lieder, die Stoller kom­ ponierte, während Skillen rhythmen und perkussive elemente beisteuerte. «Jemand schlug ein paar Akkorde vor, ich spielte einen Loop ab, und wir jammten, bis sich etwas Konkretes herauskristallisierte», so Stoller. Das Produkt ihrer zusammenarbeit beschreiben die drei als «neue Songs und Sounds», die mit Leichtigkeit die Grenzen nationaler Stile überwinden – eine Philo­ sophie, die man auch in Kapstadt kennt, wo Kooperationen zwischen Südafrika­ nern und Musikern aus Mosambik, dem Kongo, Nordeuropa oder Skandinavien keine Seltenheit sind. «Um den Sound zu erhalten, den wir uns vorstellen, setzen wir alle instrumente ein – einschliesslich Nad­ jas Stimme –, ohne dabei an Konventionen zu denken», erklärt Skillen das Credo von A.Spell. «So klingt zum Beispiel die tabla nicht automatisch nach indien, und das Akkordeon erinnert nicht sofort an Paris. Wir überschreiten traditionen und lassen sie in futuristische Klangwelten einflies­ sen, in deren zentrum aber immer der Mensch steht.» www.aspell.ch Gwen Ansell ist freischaffende Medientrainerin, Musikjournalistin und ­forscherin. Sie ist Autorin von Soweto Blues (2005), einer Geschichte des südafrikanischen Jazz. Aus dem englischen von reto Gustin


R EP OR TAGE

Elektronisches Blubbern für sauberes Wasser Kann man die Gesellschaft mit Musik für Umweltprobleme sensibilisieren? Das Schweizer Label Spezialmaterial hat sich für seine Rio­Bogotá­Tour durch Kolumbien genau das zum Ziel gesetzt. Und nicht alles, was nicht funktionierte, ging auch schief. Von Christof Moser (Text) und Guadalupe Ruiz (Bilder)

Wenn die letzten Sonnenstrahlen den stei­ len Berghängen entlang gleiten, die Ko­ lumbiens Hauptstadt Bogotá einkesseln, ziehen sich die Stadtbewohner in ihre ver­ gitterten Häuser zurück. Ihr Tagesablauf, und damit die Pulsfrequenz der Metropole, hat sich der Kriminalität angepasst, die Kolumbien weniger als auch schon, aber immer noch fest im Griff hat. Gegen zehn, elf Uhr abends sind die meisten Restaurants geschlossen, die Strassen menschenleer. Es ist schon weit nach Mitternacht, als im kolonialen Altstadtquartier La Candela­ ria ein Jodel durch die Dunkelheit hallt. Das Quietschen einer singenden Säge. Ein Rasseln. Gelächter. Das Zürcher Label Spezialmaterial lässt vor dem Hotel Dorantes einen erfolgreichen Abend ausklingen. Das Dorantes, einst Treffpunkt von Bogotás Bohemiens, zieht heute Rucksacktouristen aus aller Welt an. Der bröckelnde Wand­ verputz atmet einen feuchten Hauch Ver­ gangenheit. Die Musiker von Spezialmaterial Michael Koko Eberli, Stefanie Keller, Do­

minik Brun del Re und Daniel Hepp spielen an diesem Abend zum Hauskonzert auf – zusammen mit Songwritern aus den USA und Mexiko und der Indie­Rockerin Laetitia Sadier, die in den 1990er­Jahren mit der Londoner Band Stereolab international für Furore sorgte. Die Schweizer Musiker tra­ gen ihre aufgekratzte Stimmung rauchend, trinkend und im Rhythmus ihrer Instru­ mente in die Nacht hinaus. Ihre Klänge wirken auf das Quartier wie das Licht einer Lampe auf einen Mückenschwarm. Von überall her schwirren aus der Dunkelheit neugierige Gestalten heran. Zuerst zwei kolumbianische Musiker, die mit ihren Gitarren spontan in das Stras­ senkonzert einstimmen, dann Obdachlose und Drogenabhängige, die sich klatschend dazu gesellen. Eine Polizeipatrouille hält an, und dann noch eine zweite. Acht Po­ lizisten sind es schliesslich, die die Per­ formance von der anderen Strassenseite aus staunend verfolgen. Als auch noch der Übertragungswagen einer Radiostation zufällig heranrollt, der Moderator sein Re po R tag e 36


Lebewesen aus der Wasserwelt pulsieren zu Elektrosound: Spezialmaterial beim Auftritt im Teatro Pablo Tobon Uribe in MedellĂ­n (Dominik Brun del Re, Michael Koko Eberli und Stefanie Keller).


Mikrofon auspackt und für das Strassen­ konzert live ins Studio schaltet, unterbro­ chen nur von den Zwei­Uhr­Nachrichten, wird das Hauskonzert endgültig zu einem kolumbianisch­schweizerischen Event. «Suiza!», rufen die Schweizer auf die Frage, wo sie herkommen, im Chor ins Mi­ krofon. «Jodeln» heisse dieses Jauchzen, das die Sängerin Stefanie Keller aus sich herauspresse. «Wir sind hier, um mit un­ serer Musik auf die Verschmutzung der Flüsse aufmerksam zu machen», sagt Caro Cerbaro, bei Spezialmaterial zuständig für das Bühnendesign. «Schweizer Flüsse gehören zu den saubersten der Welt, und gleichzeitig verschmutzen Schweizer Fir­ men in Kolumbien die Gewässer», ergänzt die Schweizerin Mirjam Zimmermann. Der Moderator nickt, ein Müllwagen rum­ pelt heran, und gerade noch rechtzeitig vor dem ohrenbetäubenden Lärm der Müll­ pressmaschine geht die wichtigste Bot­ schaft über den Sender: «El agua es vida!»

ziemliche Herausforderung», so Eberli. Um sich selbst ein Bild der Verschmutzung von Bogotás Flüssen zu machen, begeben sich die Schweizer zusammen mit kolum­ bianischen Umweltaktivisten an diesem Tag auf die so genannte Desaster-Tour. Or­ ganisiert hat diese David Thayer, ein Schweizer Musiker und Filmemacher mit

kolumbianischen Wurzeln, der mit seinem Dokumentarfilm Rio Bogotá ein Schlag­ licht auf die enorme Verschmutzung von Bogotás Flüssen geworfen hat und hier die Rolle des Reiseleiters übernimmt. Im en­ gen Minibus sitzt auch Prominenz: Der ko­ lumbianische Popstar Hector Buitrago, der für sein Umweltengagement bekannt ist. «Die einfachen Leute zu erreichen und für Umweltzerstörung zu sensibilisieren, ist in einem von Gewalt und Armut geprägten Land nicht leicht», sagt er. «Die kleinen Schritte zählen.» Am Internationalen Tag des Wassers in Bogotá wurde er für sein Umweltengagement geehrt. Und auch Spezialmaterial hat an dieser indianisch geprägten Zeremonie im grössten Stadt­ park von Bogotá teilgenommen. Begleitet von Trommelklängen wurden die Wasser­ geister beschwört, Schmuck, Mais und Früchte geopfert. Dazu: Elektro­Sound aus der Schweiz.

Meister der Improvisation Um das Leben in den Flüssen sinnlich er­ fahrbar zu machen, hat Spezialmaterial für die Rio-Bogotá-Tour das Blubbern und Gurgeln des Wassers in ihre elektroni­ schen Klangwelten integriert. Das Büh­ nenbild besteht aus aufblasbaren, trans­ Die Carabineros sind als Ordnungsund Umwelthüter präsent. parenten Leuchtfiguren, die kleinsten Wasserlebewesen nach­ empfunden sind und im Takt zur Musik pulsieren. Eingespielte Visuals zei­ gen die Reaktion von Was­ ser in Verbindung mit an­ deren Flüssigkeiten. Mit unzähligen Materialkof­ fern beladen und von Pro Helvetia mit einem Pro­ jektbeitrag unterstützt, tourten die Künstler drei Wochen lang durch Ko­ lumbien – von Medellín bis Bogotá, von Club zu Club, von Museum zu Galerie. Dabei wurden sie von Elektro­Musikern Pablo Mellado und Jorge Castro aus Kolumbien begleitet, die bereits auf der letzten Tour 2008 mit dabei waren und auf der damals ent­ standenen Sudamerica­ Compilation zu hören Singen zu Ehren des Wassers: Die Zeremonie Cantoalagua fand am Weltwassertag an verschiedenen Gewässern in Kolumbien statt. Hier im Parque Nacional von Bogotá. sind. Sie haben auch die

Die kleinen Schritte zählen «Die Rio-Bogotá-Tour ist das bisher ambi­ tionierteste Projekt von Spezialmaterial», erklärt Michael Eberli, Kopf des Zürcher Elektro­Musiklabels. «Wir wollen mit unserer Musik Aufmerksamkeit für die ökologischen Missstände schaffen – eine

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Er gilt als einer der dreckigsten Flüsse der Welt: Der Fluss Funza ist eine Station auf der Desaster-Tour von David Thayer (rechts).

Auftritte in den Clubs organisiert und für die Werbung gesorgt. In Millionenmetro­ polen wie Medellín und Bogotá Auf­ merksamkeit für unbekannte Schweizer Musiker zu schaffen, ist ein ehrgeiziges Unterfangen. Weil Spezialmaterial dafür nicht auf die Unterstützung von lokalen Verbindungsbüros zurückgreifen konnte, wie sie zum Beispiel deutschen Künstlern mit den weit verbreiteten Goethe­Institu­ ten zur Verfügung steht, war die Band auf ihr loses Kontaktnetz vor Ort angewiesen. Manche Ideen und Projekte scheiterten deshalb. So eröffnete der Bürgermeister von Medellín anders als versprochen nie ein Konzert. Und eine Tournee durch die Dörfer stadtauswärts entlang eines Flusses musste wegen mangelnder Vorbereitung abgesagt werden. Manchmal blieb auch nur die versprochene Gage aus. Anderes dagegen entstand überhaupt erst, weil Spezialmaterial Meister der Improvisation sind – so wie die Kolumbianer auch. Das nächtliche Strassenkonzert im Dorantes zum Beispiel. Besuch in der Sperrzone Zielgerichtet dirigiert David Thayer den Fahrer im gecharterten Mini­Bus an Schauplätze, die das Ausmass der Wasser­

verschmutzung zeigen. «Konzerne aus Europa und den USA nutzen fehlende Ge­ setze und die Korruption aus, um bei Ge­ schäften in Kolumbien keinerlei Umwelt­ auflagen einhalten zu müssen», kritisiert er. Der Fluss Funza, der sich durch die ra­ sant wachsende Millionenstadt schlängelt, gilt als einer der dreckigsten Flüsse der Welt und ist erste Station. Ökologisch tot schon allein durch die Lederindustrie, die ihre giftigen Abwässer ungefiltert einleitet, wird der Fluss zusätzlich durch die Ze­ mentindustrie belastet, deren sediment­ haltige Brühe auch am Grund des Flusses jede Chance auf Leben erstickt. Der beis­ sende Geruch in der Luft schnürt einem den Atem ab, wer ins Wasser steigt, riskiert schmerzhafte Verätzungen der Haut. Mit­ verantwortlich für diese Umweltkatastro­ phe ist laut Filmautor David Thayer und kolumbianischen Umweltschützern auch R e po Rtag e 39

der Schweizer Zement­Multi Holcim, der zweite Station wer­ den soll an diesem Tag. «Suiza!» ertönt es wieder im Chor, als das Sicherheitspersonal leicht verdattert fragt, woher die Gruppe komme, die mit dem Minibus bis an die Zugangs­ schranke der Mine herange­ fahren ist. Die Erklärung, man möchte schauen, was die Schwei­ zer Firma hier in Kolumbien ma­ che, löst Hektik aus hinter der Schranke. Die Männer flüstern in ihre Funkgeräte. Nach einer halben Stunde Wartezeit eilt ein Chef­Mineur in seinen lehm­ verdreckten Stiefeln herbei. Die Mine sei leider Sperrzone, erklärt er freundlich, unangemeldeter Besuch unerwünscht. Trotzdem: «Künstlerisch war die Tour ein Erfolg», sagt Michael Eberli auf der Rückfahrt ins Hotel Dorantes. «Wir haben Kontakte geknüpft, die uns wieder für neue Projekte nach Kolumbien bringen werden». Allein schon, dass sich europäi­ sche Künstler nach Kolumbien wagen, ein Land, das die meisten der Armut und Kri­ minalität wegen meiden, hat den Schwei­ zern viele Türen geöffnet. Fast scheint es aber, als hätte die Sensibilisierung vor al­ lem in die andere Richtung funktioniert: Schweizer Künstler haben sich mit gros­ sem Engagement ein Bild davon ver­ schafft, wie dreckig die sprichwörtliche Schweizer Sauberkeit in Ländern wie Ko­ lumbien sein kann. «Wir sind froh», sagt Hector Buitrago, «wenn ihr bei euch zu Hause davon berichtet. Auch das ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.» www.spezialmaterial.ch Christof Moser (*1979) ist freier Autor, Polit­Reporter und Medienkritiker bei Der Sonntag sowie Redaktionsleitungsmitglied der unabhängigen Informationsplattform www.infosperber.ch. Er lebt und arbeitet in Zürich, Bern und Berlin. Guadalupe Ruiz (*1978) zog 1996 von Bogotá in die Schweiz. An der ECAL in Lausanne studierte sie Fotografie und absolvierte an der Zürcher Hochschule der Künste ein Post-Graduierten-Studium. Sie wurde mit dem Kiefer-Hablitzel­Preis und Studienaufenthalten in Zürich, San Francisco und Genua ausgezeichnet. Ihre Werke hat sie im Helmhaus Zürich, im Centre de la Photographie de Genève, im Bieler Centre Pasquart und im Museo de Arte Moderno in Bogotá ausgestellt. www.lupita.ch


PRO H ELV E T I A A K T u EL L

Pro Helvetia geht nach Russland

Schweizer Tanz- und Theatertage Neues aus dem zeitgenössischen Schweizer Tanz- und Theaterschaffen ist Anfang nächstes Jahr gleich auf zwei nationalen Plattformen zu entdecken: An den Jour Journées de Théâtre Contemporain versammelt sich die Schweizer Theaterszene vom 16. bis 19. Januar 2013 in den Städten La Chaux-de-Fonds, Le Locle und Neuenburg. Nach der erfolgreichen Einführung des Anlasses im Jahr 2009 haben Schweizer Theatergruppen nun zum zweiten Mal die Möglichkeit, sich mit ihren neusten Programmen zu präsentieren. Die Zeitgenössischen Schweizer Tanztage finden bereits zum neunten Mal

statt – heuer vom 6. bis 10. Februar 2013 in Basel. Rund 15 Compagnien tanzen und präsentieren unter anderem im Theater Basel ihre neusten Werke. Die beiden Anlässe erleichtern den Künstlerinnen und Künstlern den Sprung in den internationalen Markt und erhöhen ihre Auftrittsmöglichkeiten im In- und Ausland. Sie richten sich in erster Linie an Veranstalterinnen und Fachjournalisten, stehen aber auch einem breiteren Publikum offen. journeestheatrecontemporain.ch swissdancedays.ch

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www.prohelvetia.ru Foto: Melanie Hofmann

Die Performancekünstlerin Saga Sigurðardóttir im Stück Bluff an den Tanztagen 2011.

Un roman russe et drôle – Mit dieser Geschichte über einen nach Sibirien verbannten russischen Oligarchen reist die Westschweizer Autorin und Wirtschaftsjournalistin Catherine Lovey Ende November nach Moskau. Zusammen mit anderen Schweizer Autorinnen und Autoren ist die Walliserin Gast an der renommierten Literaturmesse Non / Fiction. Mit dem Auftritt an dieser internationalen Literaturplattform möchte Pro Helvetia das Interesse für Schweizer Literatur wecken und Über Übersetzungen hiesiger Literatur ins Russische fördern. Der Brückenschlag bildet zugleich den Startschuss für das neue Austauschprogramm Schweiz-Russland Swiss Made in Россия. Pro Helvetia will mit ihrem neuen Programm Beziehungen zu russischen Kulturinstitutionen knüpfen und sich dauerhaft vernetzen. Russlands Kulturszene rückte in den vergangenen Jahren immer mehr in den Fokus der Schweizer Kulturschaffenden. Eine Szene, die mehrheitlich von privater Hand getragen wird und in den vergangenen Jahren zahlreiche dynamische Institutionen hervorgebracht hat. Geografisch konzentriert sich das Projekt nebst den zwei Zentren Moskau und St.Petersburg auf weitere urbane Ballungsgebiete wie zum Beispiel Nizhny Novgord, Krasnoyarsk und Perm. Voraussichtlich 2015 will Pro Helvetia in Moskau ein eigenes Verbindungsbüro eröffnen.


Zur Übersetzung empfohlen Von der Kritik mitunter hochgelobt, manchmal sogar preisgekrönt, aber dennoch nur im eigenen Sprachraum wahrgenommen: So geht es vielen herausragenden literarischen Werken aus der Schweiz. um Schweizer Literatur im Ausland bekannter zu machen, hat Pro Helvetia das Magazin 12 Swiss Books lanciert: In lesefreundlicher Form präsentiert es jedes Jahr zwölf Neuerscheinungen aus allen Landesteilen, welche die Stiftung zur Übersetzung empfiehlt. Das handliche Magazin erscheint jeweils pünktlich zur Frankfurter Buchmesse und liegt auch an anderen grossen Literaturveranstaltungen auf. Es ist zusätzlich als elektronische Version im Internet oder als iPad-Applikation erhältlich.

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Das Magazin 12 Swiss Books erscheint jedes Jahr zur Frankfurter Buchmesse.

Mit Leseproben in der Originalsprache und auf Englisch, sowie Kurzporträts der Autorinnen und Autoren, sollen Verlegerinnen, Agenturen und Übersetzer animiert werden, die vorgestellten Neuerscheinungen zu übersetzen. Die soeben erschienene erste Ausgabe präsentiert beispielsweise den Berner Schriftsteller Pedro Lenz, dessen Mundartwerk Der Goalie bin ig für die Übersetzung eine besondere Herausforderung darstellt. Ein Magazinteil mit Interviews und Kolumnen und ein Serviceteil zur Literatur- und Übersetzungsförderung von Pro Helvetia runden jede Ausgabe von 12 Swiss Books ab. Das neue Promotionsinstrument ist Teil des Übersetzungsschwerpunkts Moving Words von Pro Helvetia. www.12swissbooks.ch

Porträt: Caroline Minjolle/Pixsil

Kultur in Zeiten des umbruchs Wie wirken sich politische umwälzungen auf die Kultur aus? und was können kulturelle Institutionen in Zeiten des umbruchs leisten? Diese Fragen greift eine gemeinsame Initiative der ProHelvetia-Aussenstellen in Ägypten und Polen auf. Das Projekt, das in Zusammenarbeit mit dem dem Al-Ahram Centre for Political and Strategic Studies in Kairo entstanden ist, beginnt dort im Januar 2013 mit der Veranstaltungsreihe Culture in times of democratic transition: Rethinking cultural policies. Die Reihe richtet sich an politisch und kulturell Engagierte sowie an Repräsentanten aus Kultur, Wissenschaft und Religion. um die Sicht auf die aktuellen Ereignisse in Ägypten zu erweitern, ziehen die Organisatoren auch die jüngere Geschichte Polens heran: Obwohl beide Länder wirtschaftlich wie gesellschaftspolitisch

grundlegende unterschiede aufweisen, hat in beiden Staaten der Druck der Bürger das herrschende Regime ins Wanken gebracht. Einige Workshops wählen spezifisch ägyptische Blickwinkel: So wird etwa der Stellenwert der Religion im kulturellen Leben Ägyptens thematisiert. Im Herbst 2013 ist eine weitere Etappe der Veranstaltungsreihe in Polen geplant. www.prohelvetia.org.eg

Neuer Direktor Der Stiftungsrat von Pro Helvetia hat am 12. Oktober einstimmig Andrew Holland zum neuen Direktor gewählt. Holland war zuvor Leiter des Bereichs Förderung und stellvertretender Direktor bei Pro Helvetia. Der 46-jährige promovierte Jurist ist seit 1986 in unterschiedlichsten Funktionen in der Kultur engagiert: Er war acht Jahre für das Bundesamt für Kultur tätig, hat als Veranstalter und Dramaturg gearbeitet und als Co-Leiter des Projekts Tanz eine umfassende Tanzförderung in der Schweiz mitaufgebaut. www.prohelvetia.ch

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Grösste Künstlerbörse in Europa Dies ist der KTV gelungen. Heute wird der demokratisch organisierte Verein vom Bundesamt für Kultur, Pro Helvetia und weiteren Kulturförderern unterstützt. Mit ihren Programmen zieht die Interessengemeinschaft jährlich 1,7 Millionen Zuschauer an. Veranstalter, die ein paar Stühle im Keller aufstellen und für die Beleuchtung die Ständerlampen aus dem Wohnzimmer mitbringen, sind selten geworden. «Die Kleinkunstszene ist heute genauso professionell wie die Stadttheater», betont Claus Widmer, der die Geschäftsstelle seit 2000 leitet. Das wichtigste Angebot der KTV ist die Schweizer Künstlerbörse in Thun, ein Grossanlass, an dem jedes Jahr mehr als hundert neue Produktionen zu sehen sind. Damit ist die Schweizer Künstlerbörse die grösste Fachmesse für Kleinkunst in Europa. Gardi Hutter erlebte hier vor dreissig Jahren ihren Durchbruch; Massimo Rocchi und ursus & Nadeschkin konnten sich an der Börse präsentieren, als

PA R T N E R

Das Tor zur Welt der Kleinkunst Ständerlampen aus dem Wohnzimmer als Scheinwerfer? Diese Zeiten sind vorbei. Seit 37 Jahren professionalisiert eine Vereinigung von Künstlern und Veranstaltern die Schweizer Kleinkunstszene.

sie noch niemand kannte. Dennoch ist die Börse kein Nachwuchsformat: Qualität und Vielfalt entscheiden bei der Auswahl. Die verschiedenen Sprachregionen der Schweiz werden dabei ebenso berücksichtigt wie die unterschiedlichen Formen: von der Jonglage zum Tanz, von der Pantomime zum Poetry Slam. Kontakte nach Kanada und Deutschland Viele, die in Thun auftraten, wuchsen über die Jahre hinweg zu grossen Kleinkünst-

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lern heran. Einer von ihnen ist der Magier und Kabarettist Michel Gammenthaler, der in diesem Jahr mit dem Circus Knie auf Tournee ist: «Die KTV bietet an der Börse das umfeld, in dem sich der Künstler am besten präsentieren kann. Mein erster Auftritt war auf einer Nebenbühne; im Jahr darauf war ich im Chapiteau und später dann im grossen Schadausaal mit 700 Plätzen.» Für Gammenthaler ist die Börse das «perfekte Tor» zur Welt der Kleinkunst. und diese Welt ist gross: Veranstalter aus ganz Europa und aus Übersee kommen nach Thun, um sich neue Produktionen anzusehen. Besonders intensiv ist der Kontakt zu den grossen Messen in Kanada und Deutschland, der Bourse Rideau in Quebec und der Internationalen Kulturbörse in Freiburg im Breisgau. Wer in Thun überzeugt, hat also gute Chancen auf einen vollen Tourneeplan. Eine wichtige Rolle spielen auch das Schweizer Radio und Fernsehen, die an der Börse ausgewählte Produktionen aufzeichnen. und schliesslich werden auch Preise verliehen: ein Innovationspreis für neue Impulse, ein Ehrenpreis für ein Lebenswerk und der Schweizer Kleinkunstpreis, der an eine hochwertige Produktion geht, die ein breites Publikum unterhalten kann. Auch damit bekennt sich die KTV zur Qualität. Das soll in Zukunft so bleiben, wenn Anne Jäggi 2013 die Leitung der Geschäftsstelle übernimmt: Sie will die hohe Qualität an der Börse halten und sich darum bemühen, dass die KTV auch ausserhalb der Börse als wichtigster Dienstleister der Schweizer Kleinkunstszene wahrgenommen wird. Den Austausch unter den Sprachregionen, der schon heute von Pro Helvetia unterstützt wird, wird die KTV auch weiterhin fördern. Denn die Kleinkunst ist eine gesamtschweizerische Herzensangelegenheit. www.ktv.ch Andreas Tobler (*1980) schreibt als Theater-, Literatur- und Sachbuchkritiker für den Tages-Anzeiger.

Illustration: Raffinerie

Von Andreas Tobler – Altstadthäuser umringen einen kleinen Platz mit Bäumen: Die Obergasse in Biel ist ein Ort pittoresker Beschaulichkeit. Hier, im Kulturhaus Alte Krone an der Obergasse 1, befindet sich die Servicezentrale der Schweizer Kleinkunst: die Geschäftsstelle der KTV, der Vereinigung KünstlerInnen – Theater – VeranstalterInnen, Schweiz. In diesen Büros werden Künstler, Veranstalter und Kulturmanager miteinander vernetzt; man kämpft kulturpolitisch für die Anliegen der 4500 Mitglieder und versucht, alle drängenden Fragen zu beantworten – von der Mehrwertsteuer bis zum urheberrecht. Von solchen Angeboten konnte man Anfang der 1970er-Jahre nur träumen, als in der Berner Matte mehrere Exponenten der Schweizer Kleinkunstszene zusammensassen. «Man sollte, man müsste, man könnte doch … sich zusammentun, einen Verband gründen», so erinnert sich der Regisseur Jean Grädel in dem Buch Grosse Schweizer Kleinkunst an die damaligen Gespräche. 1975 wurde die KTV gegründet. Das Ziel war klar: «Es ging darum», so Grädel, «nach aussen stark aufzutreten, eine kulturpolitische Kraft im Lande zu werden.»


CA RTE BL A NCHE

Kita, Kunst und Küchenkästchen Von Stefanie Grob – Ich bin eine Vielschreiberin. Schreibe täglich. Im Schnitt viertausend Zeichen, in etwa die Länge dieses Textes. Mal 365 macht anderthalb Millionen Zeichen pro Jahr. Das entspricht etwa 24 Theaterstücken oder acht Romanen. Aber die sind nirgends. Weder im Buchladen, noch auf der Bühne, nicht einmal in meiner Schreibtischschublade. Wo sind die verlorenen Zeichen des letzten Monats? Ich begebe mich auf eine Spurensuche in meinem Computer: Gleich der erste Stopp ist ergiebig, der Postausgang meines Mailverwaltungsprogramms. 90 Prozent der E-Mails drehen sich um den nahenden umzug in ein GenossenschaftsReihenhaus: Zuerst das Töchterchen am neuen Ort für den Kindergartenstart anmelden, dann für den Zweijährigen eine Kita suchen und dabei immer wieder begründen, warum genau dieses Kitakonzept um Welten besser ist als die 500 gleichen Konzepte der 500 anderen Kitas. Parallel dazu glasklare Anweisungen der neuen Verwaltung zum Thema Geschirrspüler empfangen («Ikea verboten!») und zwischendurch eine E-Mail an einen Kulturveranstalter tippen: «Könnt Ihr mich bitte auf Eurer Homepage mit F schreiben? Stephanie Grob ist eine bildende Künstlerin aus Solothurn, sicher sehr nett und alles (ich kenne ihren Schwager), aber sie ist nicht ich.» Daneben mehrfach elektronische Schwärmtiraden an Freunde über das neues Wohnglück: «40er-Jahre-Häuschen, grosser Garten, günstige Miete, und das in Zürich – Jackpot!» und dann stosse ich bei meiner Computerdurchforstung doch noch auf einen neuen Text, kein umfassendes Werk, aber eine witzige Geschichte über einen Grillplausch, der ins Apokalyptische ausartet und den man sicher irgendwann auf CD hören kann. Ein erstes Zwischenfazit: Viele EMails verhindern den Roman oder das grosse Bühnenstück. Wobei: Hermann

Hesse schrieb wie ein besessener Briefe, Zehntausende; und daneben trotzdem fast im Jahrestakt Romane. Dafür kümmerte er sich kaum um seine Kinder. Modell Hesse fällt für mich flach. Sylvia Plath hingegen, schrieb a) häufig Briefe b) zwar nur einen Roman, aber unzählige Gedichte und c) war sie Mutter, Vollzeit. Ihr schriftstellerisches Tagwerk soll sie zwischen vier und sieben uhr morgens absolviert haben, bevor die Kinder erwachten. Aber sie hat sich mit dreissig umgebracht, das spricht gegen ein plathsches Rollenmodell. Vielleicht Hemingway? Auch er ein grosser Briefeschreiber und doch ein ansehnliches Gesamtwerk. Er war sogar freiwillig im Krieg nebenher. Mich legt ein einfacher umzug schon lahm. Das heisst: Das eigentliche Kistenschleppen, das auf die obigen Zügelvorwehen folgte, ging noch, aber der Nachgang! Zuerst das allseits beliebte Spiel «Wir sehn etwas, was ihr nicht seht!» mit der Verwaltung der alten Wohnung, was sich in meiner Mailbox wie folgt manifestiert: «Kratzer auf den Küchenkästchen», «Re:Aw: Wo Kratzer auf den Küchenkästchen?!» «Re:Re:Aw: Wo Kratzer auf den Küchenkästchen?! – Kästchen: H1, H4, H5». Bis die Kratzer, durch das Beiziehen einer Anwältin, plötzlich, ein Wunder, von car t e b laN ch e 43

niemandem mehr gesehen wurden. O-Ton Verwaltung: es habe sich «um eine Spiegelung» gehandelt. Aber kaum aufgeatmet, finden die Nachmieter ein Kalkringli an einem Wasserhahn. und schicken Fotos davon und können nicht einziehen in die ansonsten blitzblanke Wohnung, weil es so grauenhaft ist, dieses Ringli. und weil man schon dabei ist, geht man auch damit nochmals über drei Runden «Re:Re:Re:Aw:Aw:Re:Re: Kalkrückstände». Ich sehe genau vor mir, wie meine sommerliche Schreibenergie durch ebendiesen kalkberingten Hahn ins Lavabo und via Kläranlage Werdhölzli die Limmat runterfliesst. Good bye Roman, good bye neues Theaterstück! Kunst kommt eben nicht nur von können (aufgesplittet in gottgegebenes Talent und angeeignetes Handwerk), sondern auch und vor allem von «erst können» – vor zügeln, vor lachen, vor anderen Sachen. Stefanie Grob schreibt Theaterstücke und Kurzprosa, ist mit ihren Spokenword-Texten auf Schweizer Bühnen unterwegs und regelmässig in der Satiresendung Zytlupe auf Radio DRS 1 zu hören. Sie wurde 1975 in Bern geboren und lebt mit ihrer Familie in Zürich. www.stefaniegrob.ch Illustration: Karen Ichters


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SCH AU FENSTER

huber.huber Mikrouniversum, 2007 Buchausschnitte mit Tusche auf Buchseite, 21 × 29.5 cm In der Tradition früher Collagen montieren die Brüder Markus und Reto Huber mit Kleber und Schere alte Fotografien, Buchseiten, Postkarten und Magazinausschnitte zu skurrilen Landschaften. Die Serie Mikrouniversum (2004–2011) umfasst rund 800 Arbeiten, meist kleinformatige Collagen und Tuschezeichnungen auf Papier. In den sorgfältig inszenierten Arrangements begegnen sich Menschen, Tiere und Pflanzen in fremdartigen Naturkulissen: Auf den ersten Blick verspielt, auf den zweiten beunruhigend, werfen diese Mikrouniversen Fragen auf zum ambivalenten Verhältnis von Mensch und Natur, Realität und bildlicher Darstellung, Logik und Widerspruch. Die Zwillingsbrüder Markus und Reto Huber (*1975 in Münsterlingen) arbeiten seit dem Abschluss ihrer Ausbildung an der Zürcher Hochschule der Künste im Jahr 2005 unter dem Namen huber.huber zusammen. Sie haben ihre Arbeiten in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen vor allem in der Schweiz, aber auch im Ausland gezeigt, unter anderem an den diesjährigen Swiss Art Awards. Die abgebildete Arbeit ist in der Publikation Universen, in der Edition Patrick Frey, 2011, in Zürich erschienen. www.huberhuber.com

Die Rubrik Schaufenster präsentiert jeweils ein Werk einer Künstlerin oder eines Künstlers aus der Schweiz.

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Passagen, das Magazin der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, berichtet über Schweizer Kunst und Kultur und den Kulturaustausch mit der Welt. Passagen erscheint zweimal jährlich in über 60 Ländern – auf Deutsch, Französisch Französisch und Englisch.


IMPRESSuM Herausgeberin Pro Helvetia Schweizer Kulturstiftung www.prohelvetia.ch Redaktion Redaktionsleitung und Redaktion deutsche Ausgabe: Janine Messerli Mitarbeit: Isabel Drews Redaktion und Koordination französische Ausgabe: Marielle larré Redaktion und Koordination englische Ausgabe: Marcy Goldberg Redaktionsadresse Pro Helvetia Schweizer Kulturstiftung Redaktion Passagen Hirschengraben 22 CH-8024 Zürich T +41 44 267 71 71 F +41 44 267 71 06 passagen@prohelvetia.ch Gestaltung Raffinerie AG für Gestaltung, Zürich Druck Druckerei odermatt AG, Dallenwil Auflage 19 000 © Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung – alle Rechte vorbehalten. V Vervielfältigung und Nachdruck nur mit schriftlicher Zustimmung der Redaktion.

oNlINE Passagen Das Kulturmagazin von Pro Helvetia online: www.prohelvetia.ch/passagen Pro Helvetia aktuell Aktuelle Projekte, Ausschreibungen und Programme der Kulturstiftung Pro Helvetia: www.prohelvetia.ch

PA S S AG E N Zuletzt erschienene Hefte:

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Der Geschmack derr Freiheit Nr. 58

Pro Helvetia Aussenstellen Paris/Frankreich www.ccsparis.com

Der Geschmack der Freiheit Ägyptens Künstler in Zeiten des Umbruchs Kollektives Experiment: Schlaferlebnis in der Kunstgalerie Wurzeln schlagen im harten Pflaster: Das Swiss Institute in New York Werke aus der Wunderkammer: Andreas Züst in Paris DAS K ULTURM AGAZIN VON PRO HELVETIA, NR. 58, AUSGABE 1/2012

Rom, Mailand, V Venedig/Italien www.istitutosvizzero.it W Warschau/Polen www.prohelvetia.pl

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Performance Nr. 57

Kairo/Ägypten www.prohelvetia.org.eg Johannesburg/Südafrika www.prohelvetia.org.za New Delhi/Indien www.prohelvetia.in

Performance Das Spiel mit Inszenierung und dA Authentizität ä ät Vietnam meets Schw h yzerörgeli: bittersüsse Begegnung in Giswil hw W rkshop im InstantWo t Komponieren: Das Duo Schaerer/ tr/O r/ /Oester in Grahamstow o n ow Genie versus Handw d erk: Kann man schreiben lernen? dw DAS K ULTURM AGAZIN VON PRO HELVETIA, NR. 57, A USGAbE 3/2011

New Y York/V ork/Vereinigte ork/V ereinigte Staaten www.swissinstitute.net San Francisco/V Francisco/Vereinigte Staaten www.swissnexsanfrancisco.org

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Blättern, bloggen, twittern, taggen Kulturjournalismus im Wandel Weltenbummler mit Skizzenblock: Cosey in Indien | Schweizer Gamedesign in San Francisco | CoNCa: Frischer Wind in der katalanischen Kulturlandschaft D A S K U LT U RMA G A Z I N V O N P RO H E LV E T I A , NR. 5 6 , A U SG A B E 2 / 2 0 1 1

passagen

Die Stiftung Pro Helvetia fördert und vermittelt Schweizer Kultur in der Schweiz und rund Welt. Sie setzt sich für die V Vielfalt des um die W kulturellen Schaffens ein, ermöglicht die Reflexion kultureller Bedürfnisse und trägt zu einer kulturell vielseitigen und offenen Schweiz bei.

Blättern, bloggen, twittern, taggen Nr. rr. 56

Kreativität ät und Kulturschock Nr. 55

Kreativität und Kulturschock Kulturaustausch rund um den Globus Am Suezkanal: Der Künstler auf Spurensuche | Design: Objekte, die von der Schöpferkraft erzählen | Experiment: Klangforscher treffen Soundtüftler

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Früher durfte ich schreiben, heute muss ich. Steff la Cheffe Auf die harte Tour Christoph Lenz, S. 12

Man muss lernen zu verlernen. Die Jungen trauen sich nicht, kreativ zu sein. Sie sind fleissig wie die Bienen, reihen Kurs an Kurs, üben von früh bis spät. Aber sie wagen nicht zu denken oder zu diskutieren – und erst recht nicht zu improvisieren. «Tanzen ist ein schöpferischer Akt» Thomas Hauert im Gespräch mit Anne Davier, S. 24

Machen wir uns nichts vor, du bist ein Greenhorn, würde lucky luke zu mir sagen. Ich bin also noch grün hinter den ohren, nachwuchsfarben, aber noch auf keinem grünen Zweig … Grün hinter den ohren Simone Lappert, S. 9

Mehr echten Dialog, mehr aufrichtige Kritik – das wünschen sich Strategie und eine Prise Glück Barbara Basting, S. 6 viele Nachwuchskünstler. www.prohelvetia.ch/passagen

Die Stiftung Pro Helvetia fördert und vermittelt Schweizer Kultur in der Schweiz und rund um die Welt.


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