ph|akzente
1/2012
pädagogische hochschule zürich
Spektrum Grenzen
Erziehung
Störungen
Umorientierung
Was die Schule erreichen soll und kann - und was eben nicht
Wie viel und welche Disziplin es in der Schule braucht
Weshalb ein Deutscher und eine Österreicherin bei uns unterrichten
Editorial |
Pädagogik – Welche Rolle die Schule bei der Erziehung einnehmen kann und soll S. 4
Liebe Leserinnen und Leser Die Kinder früherer Generationen waren teilweise wirklich nicht zu beneiden. Die extremen Erziehungsmethoden zahl reicher pädagogischer Strömungen An fang des letzten Jahrhunderts hatten aus ihnen bemitleidenswerte Wesen gemacht: Erst wurden sie ausnahmslos für schwachsinnig erklärt, dann wiede rum waren sie plötzlich alle Genies. Und heute? Sind wir heute so weit, dass wir wissen, was gut ist für die Kinder? Nein, schreibt Martin Kunz, Dozent an der PH Zürich. Wo die Grenzen der Päd agogik liegen und welche Funktion die Schule bei der Erziehung einnehmen kann, will und soll, lesen Sie auf den Seiten 4 bis 7. In der letzten Ausgabe ph akzente erfuhren wir in unserer Diskussion mit zwei Studierenden der PH Zürich, wie sie es im Klassenzimmer mit der Auto rität halten. Ihr Fazit kurz zusammen gefasst: Ein gutes Gespür für das richtige Vorgehen ist das A und O. Welche An sichten ein ausgewiesener Pädagoge zur Frage «Wie viel und welche Disziplin braucht die Schule?» vertritt, schildert Jürg Frick anhand des gleichnamigen Buches von Jürg Rüedi, Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Dass Lehrpersonen im Klassenzimmer Gren zen setzen müssen, ist klar. Doch wie viel Spielraum haben sie bei der Ausge staltung von Regeln? Schliesslich gibt unsere Redaktorin Vera Honegger Einblick in den Alltag von zwei Lehrpersonen, welche die Grenze ständig überschreiten. Eva Schär und Oliver Schneider pendeln jeden Tag von Deutschland und Österreich in die Schweiz. Warum sie das tun und wel che Bedeutung das permanente Hin und Her zwischen zwei Ländern für sie hat, erfahren Sie auf den Seiten 14/15. Damit ph akzente noch abwechs lungsreicher wird, haben wir im Ablauf und in der Gestaltung einige Anpassun gen vorgenommen. Unter anderem fin den Sie die Kolumne «stutzen und stau nen» von Hans Berner und Ruedi Isler nun weiter vorne im Heft an prominen ter Stelle. Im Namen der Redaktion wünsche ich Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre.
I Christoph Hotz
Disziplin – Wie Lehrper sonen am besten mit Störungen im Unterricht umgehen S. 12
Grenzgänger – Eine Österreicherin und ein Deutscher über ihre Erfahrungen in Schwei zer Klassenzimmern S. 14
Spektrum Grenzen der Pädagogik Was gut ist, werden wir nie genau wissen
Fachdidaktik der Naturwissenschaften «Ein hohes Niveau schon auf der Primarstufe» 31
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Migration – Deutscherwerb von Schülerinnen und Schülern «Viele Kinder können ihr Potenzial nicht zeigen» 8 Hillary Clintons Hand Ein Bild, viele Fragen und die Grenzen der Interpretation 10 Grenzen setzen im Klassenzimmer Was ist sinnvolle Disziplin?
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Über sichtbare und unsichtbare Grenzen Österreich – Schweiz – Deutschland und zurück 14 Zensur von neuen Medien Der Mythos vom grenzenlosen Internet 16 Illustration Daniel Lienhard grenzen 18
Standpunkt Claudio Caduff, Fachdidaktiker Kompetenz − ein schwacher Begriff
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Serie Blackboards von Samira Makhmalbaf Zwei Lehrer und ihr Glaube an eine Vision
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Aktuell Lehrplan 21 «Der Unterricht richtet sich neu aus» 24 Forschungsreise nach Yad Vashem «Immer wieder überlief mich ein kalter Schauer» 26
Schulforum Zukunftsthema Profilbildung
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Älter werden im Beruf Umgang mit Veränderungen
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Kolumne «stutzen und staunen»
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Medientipps
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Bildungsforschung Altersdurchmischtes Lernen AdL – ein total überschätzter Boom? 38
PHZH Live Aus der Hochschulleitung
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Stiftung Pestalozzianum − Marion Heidelberger, Stiftungsrätin «An mir kommt man nicht so leicht vorbei» 41 Unterstützung der bosnischen Minderheit Gymnasiasten ermöglichen Weiterbildung für Lehrpersonen 43 Spannungsfelder im Schulalltag Führungspersonen in der Zwickmühle 44 Umsetzung neues Volksschulgesetz «Die Arbeit war eine interessante Herausforderung» 46 ausstudiert – die studierenden-kolumne Vom Selbstwertgefühl eines Eiskristalls 49
Impressum 49
Mediensplitter Der Effekt-Effekt
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Spektrum | Grenzen
Grenzen der Pädagogik
Was gut ist, werden wir nie genau wissen
Foto: iStock
Was Erziehung kann und soll, darüber zerbrechen sich Pädagogen seit Generationen den Kopf. Im Zentrum der Überlegungen steht dabei stets die Frage nach der Aufgabe von Bildungseinrichtungen. Welche Antwort auch immer gefunden wird: Klar ist, dass dem Unternehmen Schule Grenzen gesetzt sind. | Martin Kunz
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enn von Pädagogik und Grenzen die Rede ist, wird meistens von jenen Grenzen gesprochen, die die Pä dagogen den zu Erziehenden setzen sol len. Seit den 90er Jahren wimmelt es auf dem Markt von Ratgebern, die den Eltern, Lehrerinnen und Lehrern klar
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machen wollen, dass den Kindern un bedingt Grenzen zu setzen seien. Diese Tendenz löste die aus den späten 1960er Jahren stammende autoritätskritische Euphorie ab. Kinder sind jetzt auf einmal nicht mehr nette kleine Mädchen und Jungs,
sondern schlagen permanent über die Stränge, sind masslos, ichbezogen, rück sichtslos und Tyrannen, die El tern und Lehrpersonen beleidigen und terrorisieren. Sie müssen deshalb nachhaltig diszipliniert werden. Päda gogische Kontrolle ist gefordert. Sie
zen. Eindrücklich ist und bleibt Kants radikale Formulierung: «Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erzie hung. Er ist nichts, als was die Erzie hung aus ihm macht.» Dieser empha tisch aufklärerischen Position stehen immer wieder erziehungsskeptische Hal tungen gegenüber.
Das Kind zum Genie verklärt
Allmächtige Pädagogik – vor 100 Jahren wurde in jedem Kind ein Genie erkannt.
expandiert in immer mehr Lebensbe reiche. Hier soll es aber um die Frage gehen, welche Grenzen der Pädagogik selbst gesetzt sind bzw. zu setzen seien. Im Verlaufe der Geschichte stossen wir auf verschiedene Auslegungen dieser Gren
Leicht geht vergessen, dass pädagogi sche Theorien und pädagogische Praxis nicht unabhängig sind von Welt- und Menschenbildern, von historischen und kulturellen Kontexten, von Wissen schaftsströmungen und In-Themen. Schon 1913 schrieb der Pädagoge Karl Wendling: «Was haben wir in den letz ten Jahren nicht alles an pädagogischen Schlagwörtern erlebt: Kunsterziehung, staatsbürgerliche Erziehung, sexuelle Aufklärung, persönlicher Unterricht … Und jedesmal nach dem Aufkommen eines neuen Schlagwortes erscheint ei ne Flut von Büchern auf der Bildfläche mit Anleitungen, Lehrproben und voll ständigen Lehrplänen nach diesem neuesten pädagogischen Kurs …» Ist Pädagogik allmächtig? Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts entstanden zahlreiche pädagogische Bewegungen, denen gemeinsam war, ihre Erziehungsprogramme mit halbreligiösen oder sä kularen Heilsprogrammen zu verbin den. Pädagogik habe das Ziel, «zu dem neuen Menschen hinzuführen, welcher der Gott und Künstler seiner Welt ist», schrieb Heinrich Hart 1901. Das Kind wurde verklärt zum Genie oder gar zum Heilsbringer. Erziehung soll der Verflachung und dem Mittel mass entgegensteuern, soll, wie Gustav Wynken formulierte, «in den Wesens kern des Menschen hineinwirken, eine wirkliche Wiedergeburt, eine seelische Neuschöpfung des Menschen hervorru fen.» Die Idee, der Pädagogik wenn nicht Allmacht, so doch eine befreiende, emanzipatorische, der Mündigkeit und Autonomie des Heranwachsenden die nende Funktion zuzusprechen, gehört zum Kern aufklärerischer Denkfiguren. Seit der Antike dient die Metapher der tabula rasa dem Erziehungsoptimismus. Das Kind ist zunächst gleichsam eine unbeschriebene Wachstafel. Diese In terpretation eröffnet ungeahnte Mög lichkeiten pädagogischer Massnahmen – nicht immer nur edler.
Der Behaviorist John B. Watson hat bekanntlich plakativ formuliert: «Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgebil deter Kinder und meine eigene Umwelt, in der ich sie erziehe, und ich garantie re, dass ich jedes nach dem Zufall aus wähle und es zu einem Spezialisten in irgendeinem Beruf erziehe, zum Arzt, Richter, Künstler, Kaufmann oder Bett ler und Dieb, ohne Rücksicht auf seine Begabungen, Neigungen, Fähigkeiten, Anlagen und die Herkunft seiner Vor fahren.» Wie er sich das vorstellte, empfahl er 1929 in seinem pädagogischen Rat geber, der viele Eltern jener Generation beflügelte, nämlich dem Kind die Mut terliebe zu entziehen, noch bevor es sieben Jahre alt werde. Denn Mutterlie be lasse das Kind unselbständig werden und hindere es daran, die Welt zu er obern. Eine auf Feinfühligkeit und Zärt lichkeit beruhende Erziehung schränke das psychische Wachstum ein und be hindere spätere Erfolgschancen.
Deportation nach Australien Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde sozusagen parallel zum reformpädagogischen Auf bruch die Unerziehbarkeit des Kindes erfunden. Das Gedankengut von Juris ten, Kriminologen, Ärzten, Psychologen verdichtete sich zu einer unheimlichen Kriminalanthropologie, die im Kind den Genius des Bösen sah. Es wimmelte plötzlich von Kindern mit einer angeborenen nicht modifizier baren Grundausstattung, Kindern mit moralischem Schwachsinn, Psychopa then, geborenen Verbrechern. Erzie hung könne oft kaum mehr etwas aus richten, nicht einmal das Strafen. Die pathologischen Grundlagen eines De fekts verunmögliche Erziehung. Was aber tun, wenn Erziehung nicht fruch tet? Vorgeschlagen wurden Deportatio nen: nach Australien, Amerika oder Afrika zu «kolonialer Arbeit». Oder auch: «Die geborenen Verbrecher dürfen nicht nur temporär, sie müssen dauer haft unschädlich gemacht werden. Kas tration ist die einzig wirksame Prob lemlösestrategie», empfahl der Psychia ter Otto Monkemöller. Der 18-jährige Gymnasiast Benja min Kiesewetter veröffentlichte 1998 einen Aufsatz, in dem er die Abschaf fung der Erziehung fordert. Im Wesent lichen argumentiert er so: Erziehung ist
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Spektrum | Grenzen Inserate
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immer Manipulation. Erziehung ist Machtmissbrauch. An Stelle von Erzie hung schlägt er vor, mit jungen Men schen Werte zu leben, statt Werte zu vermitteln, und mit ihnen «gleichbe rechtigte Beziehungen zu führen.» Un terdessen ist Kiesewetter im universitä ren Bereich tätig, wo er ein Forschungs projekt zu Fragen des eingeschränkten rechtlichen Status von Kindern leitet: «Gibt es eine hinreichende Rechtferti gung dafür, fundamentale Rechte durch Altersgrenzen zu beschränken?» Wir sind also im Argumentations feld der Anti-Pädagogik angelangt. Da zu der deutsche Sozialpädagoge Harald Gewehr: «Es wird den Kindern nicht zugetraut, dass sie wissen, was für sie das Beste ist. Deshalb werden sie von ihren Eltern und Erziehern unterwor fen.» Zwar sei heute viel von Autono mie die Rede, aber: «Autonomie ist das, was die Eltern als solche definieren und was in ihren Rahmen passt. Wenn Kin dern Autonomie zugesprochen wird, ist es schwer, eine Begründung zu finden, die Erziehung rechtfertigt.» Die Frage nach der Legitimation von Erziehung wird hier radikalisiert: Wo her nehmen wir Erwachsenen eigent lich die Berechtigung, auf die nachfol gende Generation einzuwirken? Weil die Kontinuität von Werten zu gewähr leisten ist? Welche Generation kann von sich sagen, sie habe das Humane ge lebt? Wir sind stets die, die bald einmal abtreten werden. Der Jugend dagegen steht es zu, die Welt neu zu erfinden.
Worum geht es in der Schule? Werfen wir einen Blick auf die Schulpä dagogik. Um 1650 herum trat Comenius im Rahmen seiner religiösen Anthropo logie für eine umfassende Schulung al ler Kinder ein. Seine Formel für die Bil dung lautete: Omnes omnia omnino. Alle alles allumfassend zu lehren ist sein Leitgedanke. Sein grenzenspren gendes Unternehmen wurde von Zeitge nossen kritisiert: «Wohin soll das füh ren, wenn Handwerker, Bauern, Last träger und schliesslich gar Weibsbilder Gelehrte werden?» Die Frage, worum es in der Schule gehen soll, beschäftigt richtigerweise jede Generation. Ist sie beispielsweise primär als bildungs-, leistungs- und se lektionsorientierte Institution im Rah men der staatlich verordneten Lernge meinschaft mit Zwangscharakter zu
bejahen? Oder muss sie eher ein kreati ves Ensemble pädagogisch-therapeuti scher Settings sein, in der die Erzie hungsinkompetenzen der Eltern und die Orientierungsunsicherheiten der Kinder zu kompensieren sind und Kin der so erst bildungsfähig gemacht wer den können?
Die Schule ist nicht die Welt Wie differenziert auch immer entschie den wird, dem Unternehmen Schule sind Grenzen gesetzt: 1. inhaltlich: die Schule kann nicht alles behandeln. Kinder wissen und können stets mehr, als die Schule vermittelt und beschei nigt. 2. sozial: die Schule kann nur im Rahmen weniger sozialer Settings reale Übungserfahrungen anbieten. Sie ist beispielsweise kein Warenhaus und kein Klub. Die Schule ist nicht die Welt, obwohl sie manchmal so tut, als wäre sie es. Die Welt ist aber nur in Repräsentatio nen zu Gast, exemplarisch, im Schul buch, in Bildern, Simulationen und Ex perimenten. Sie hat es manchmal schwer, Kinder für diese Repräsentatio nen zu gewinnen, denn die ausserschu lischen Lebenswirklichkeiten sind oft attraktiver. Die Schule scheint unter dem Druck zu stehen, immer mehr The menfelder in ihr System hereinzuholen und medial attraktiv aufzubereiten. Dauernd wird etwas entdeckt, das auch noch pädagogisiert werden könnte. Und wie soll es inszeniert werden? Soll die Schule miteifern im Gestalten von talk showorientierten Performances oder soll sie bewusst langwierig sein, ver langsamen und innehalten? Inwiefern findet so etwas wie Vertiefung noch statt? Inwiefern haben künftige Lehre rinnen und Lehrer während des Studi ums selber gründliche Erfahrungen ge macht − Erfahrungen des Fragens nach den Gründen und Abgründen?
cken. Mythen geben uns eine Orientie rung, die sich hinterher auch als Schein orientierung herausstellen kann. Wir werden nie genau wissen, was gut ist – trotz der jeweils zeitgebunde nen Versicherungen, wir seien nun so weit. Die Schule soll zwar eine reform freudige Institution sein. Umgekehrt müssen wir mythenkritisch und gegen über paternalistisch erlassenen Optimie rungsimperativen skeptisch bleiben. Leere Sprechblasen, sound bites, das blosse Drehen an Stellschrauben müs sen wir ironisieren. Und uns selber auch. Der deutsche Journalist, Literaturund Theaterkritiker Ludwig Börne sagte 1835: «Es ist ein grosses Glück, dass die Pädagogen die Kraft und den Mut nicht haben, ihre Grundsätze völlig in Aus übung zu bringen; sonst würden sie das Menschengeschlecht gar bald zugrunde richten.» Martin Kunz ist Mentor und Dozent im Fachbereich Entwicklung und Berufsidentität an der PH Zürich. martin.kunz@phzh.ch
Uns selber ironisieren Die Antworten auf die Frage nach den Grenzen der Pädagogik haben immer einen mythischen Anteil. Ich spreche von Mythen und nicht einfach von Pa radigmen, um den irrationalen und ideologischen Aspekt, den Grosskonzep te immer haben, mitschwingen zu las sen. Mythen sind kollektive, nur teil weise bewusste Mentalitätsräume, in denen wir ticken, ohne zu durchschau en, weshalb wir so ticken, wie wir ti
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Spektrum | Grenzen
Migration – Deutscherwerb von Schülerinnen und Schülern
«Viele Kinder können ihr Potenzial nicht zeigen» Nach den mässigen Zürcher PISA-Resultaten 2009 prüft die Bildungsdirektion als Massnahme zur Behebung der Leseschwäche bei mehrsprachigen Schülern eine Stärkung der Programme «Deutsch als Zweitsprache (DaZ)». Die Fachleute Marianne Sigg von der PH Zürich und Markus Häfliger vom Schulamt der Stadt Zürich äussern sich im Gespräch zu den erwogenen Änderungen. | Das Gespräch führte Christoph Hotz Marianne Sigg, vor der Revision des Volksschulgesetzes 2005 führte der damalige Unterricht «Deutsch für Fremdsprachige (DfF)» ein Schattendasein: Was hat sich seither verändert? Marianne Sigg: Mit der Verankerung des DaZ-Unterrichts im Volksschulgesetz gab es einen Paradigmawechsel hin zur Professionalisierung. Wer heute DaZ unterrichten möchte, braucht ei nen Zertifikatslehrgang oder eine an dere entsprechende Ausbildung. Mo mentan sind im Kanton Zürich rund 1500 DaZ-Lehrpersonen angestellt. Bis 2014 wird die PH Zürich weitere 300 Lehrerinnen und Lehrer ausbilden. Die Nachfrage ist sehr gross. Der Bedarf wurde vom Volksschulamt massiv un terschätzt. Markus Häfliger: Diese Professionalisie rung war nötig. Früher wurden Kinder, die kein Deutsch konnten, quasi abge schoben. Man war froh, dass sich ir gendjemand um sie kümmerte. Jetzt erhalten die Kinder gesetzlich vorge schrieben im Minimum 0,5 Lektionen pro Woche DaZ-Unterricht von einer ausgebildeten Lehrperson. Aktuell sind dies in der Stadt Zürich rund 65 Prozent aller fremdsprachigen Kinder oder 8700 Schülerinnen und Schüler. Für uns be deutet dies einen grossen finanziellen Aufwand. Deshalb kann die Stadt zur Zeit nicht über das Minimum von 0,5 Lektionen hinausgehen. Wir prüfen
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aber, ob eine Anhebung auf 0,75 Lekti onen möglich und sinnvoll ist. Wie denken Sie über die von der Bildungsdirektion vorgeschlagene Möglichkeit, die aktuell gültige zeitliche Beschränkung des DaZ-Unterrichts von drei Jahren aufzuheben? Häfliger: Ich bin der Meinung, dass die PISA-Resultate nicht zu voreiligen Mass nahmen führen sollten. Wir haben in den letzten Jahren einiges verbessert und jetzt möchten wir abwarten, wie sich die Situation entwickelt. Sigg: Das sehe ich etwas anders. Wir be finden uns in der Deutschschweiz in einer äusserst anspruchsvollen Lernum gebung. Die Kinder hören den ganzen Tag Mundart und bloss ein paar Stunden Hochdeutsch. Das macht den Erwerb an spruchsvoll. Zudem beschränkt sich der Erwerb der Hochsprache tendenziell auf die Sachebene. Auf der emotionalen Ebene redet auch die Lehrperson mit den Schülern nicht selten Mundart. Die Darlegung von Markus Häfliger ist zwar plausibel. Ich gebe jedoch anhand ei nes Beispiels zu bedenken: Wird ein DaZ-Kind in einer Sechsergruppe unter richtet, erhält es in einer Gemeinde mit 0,5 zugesprochenen Wochenlektionen drei Stunden Unterricht pro Woche. Die 0,5 Lektionen sind ja pro einzelnes Kind berechnet. Insgesamt ergibt das in drei Jahren rund 315 Stunden. In dieser
kurzen Zeit lernt kein Kind so Hoch deutsch, dass es die Lerninhalte nach vollziehen kann. Dies hat zur Folge, dass viele DaZ-Kinder ihr Potenzial nicht zeigen können. Häfliger: Damit bin ich völlig einver standen. Mir ist klar: Der Fremdspra chenerwerb dauert fünf bis sieben Jah re. In der Stadt Zürich wird der DaZ-Un terricht auch nicht nach drei Jahren beendet. Dass nach drei Jahren Schluss sein muss, steht nirgends festgeschrie ben. Ich wehre mich jedoch gegen eine isolierte Heraushebung des DaZ-Unter richts als Mittel zum Spracherwerb. Deutsch wird ja nicht nur im DeutschUnterricht gelernt, sondern auch in an deren Fächern. Die DaZ-Lehrperson soll nicht alleine für den Deutsch-Erwerb verantwortlich sein. Auch die Klassen lehrperson muss über gewisse Kompe tenzen verfügen. In der Stadt Zürich arbeiten wir aktuell an einem Konzept zum Erwerb der Schulsprache, wo sol che Überlegungen einbezogen werden. Sigg: Ich finde das Signal mit der Aufhe bung der zeitlichen Begrenzung von Re gine Aeppli wichtig. Viele Gemeinden können den Spielraum bei der zeitli chen Begrenzung aus Kostengründen nicht nutzen. Hinzu kommt: Die aktuel le Regelung sieht vor, dass der DaZ-Un terricht im Kindergarten beginnt und diese zwei Jahre Teil der drei Jahre DaZ
Foto: Vera Honegger
Waren sich in der Diskussion nicht in allen Punkten einig: Marianne Sigg (PH Zürich), Markus Häfliger (Schulamt der Stadt Zürich).
sind. Das ist nicht sinnvoll. Denn die für die Selektion massgeblichen Kompe tenzen des Leseverstehens und des Schreibens von Texten können erst nach Abschluss der Alphabetisierung geför dert werden. Mit einer Aufhebung der zeitlichen Begrenzung könnten wir die ses Problem lösen. Mit dem Vorschlag zur Aufhebung der zeitlichen Beschränkung verknüpft ist der Gedanke der Bildungsdirektion, dass der Unterricht so lange dauern soll, bis die Kinder «die Schulsprache beherrschen». Aktuell gilt die Formel «bis die Schüler dem Unterricht folgen können». Erachten Sie dies als eine geeignete Änderung? Sigg: DaZ-Lehrpersonen haben verschie dene Möglichkeiten, die Kompetenzen in der Schulsprache zu überprüfen – beispielsweise mit einer einfachen Text analyse. Die Schulsprache ist also mess bar. Mit der neuen Formulierung könn ten wir einen sinnvollen Standard ein führen. Häfliger: Ich störe mich etwas am Wort «beherrschen». Diese Angabe müsste differenzierter formuliert werden. Zu dem bin ich der Meinung: Wenn die Kinder dem Unterricht folgen können, und zwar erfolgreich folgen können, dann schliesst dies die «Beherrschung» der Sprache mit ein. Entscheidender als die Formulierung ist jedoch, dass wir den Kindern ermöglichen, ihre Sprach
kompetenzen laufend zu verbessern – und zwar nicht nur im DaZ-Unterricht, sondern auch in der Regelklasse. Das ist auch eine Herausforderung für die Lehr personen. Frau Sigg, wie denken Sie über die von Markus Häfliger angesprochene Stärkung der Kompetenzen der Klassenlehrpersonen im Bereich Sprachförderung? Sigg: Das ist ein wichtiger Aspekt. Alle Klassenlehrpersonen sollten über ein Minimum an Wissen verfügen, wie sie die zwei- und mehrsprachigen Schüle rinnen und Schüler sprachlich unter stützen können. Deshalb schreiben wir an der PH Zürich die DaZ-Weiterbil dungsmodule explizit für Klassenlehr personen aus. Häfliger: Hinzu kommt: Wenn die Klas senlehrperson auch über gewisse Kom petenzen in der Beurteilung des Fort schrittes eines Kindes im Spracherwerb verfügt, fördert dies die Zusammenar beit unter den Lehrpersonen, was zu einer Verkürzung der Beurteilungsver fahren führen kann. Ausserdem werten diese Kompetenzen die Funktion der Klassenlehrperson auf. Sigg: Eine weitere Möglichkeit zur Ver besserung der Situation sehe ich darin, den DaZ-Unterricht aus dem Bereich der sonderpädagogischen Massnahmen he rauszulösen und ein eigenes Fach dar
aus zu machen. Dies aus folgendem Grund: Zwei- und mehrsprachige Kinder sprechen eine Erstsprache. Sie denken wie andere Fünfjährige, nur machen sie das eben in Portugiesisch oder Tamil. Es ist keine Teilleistungsschwäche, wenn Kinder kein Deutsch sprechen. Mit der heilpädagogischen Orientierung wird der DaZ in eine sonderpädagogische Ecke gedrängt, wo er nicht hingehört. Häfliger: Da bin ich anderer Meinung. Fremdsprachige Kinder befinden sich in einer besonderen Situation. Deshalb haben sie Anspruch auf besondere Auf merksamkeit und Förderung. Der Begriff Sonderpädagogik vermittelt fälschli cherweise einen Eindruck von Schwä che. Doch auch Hochbegabte benötigen manchmal sonderpädagogische Mass nahmen. Weitere Informationen: www.vsa.zh.ch > Schulbetrieb und Unterricht > Sprachen > Deutsch als Zweitsprache
Marianne Sigg ist Dozentin an der PH Zürich und dem Fachbereich Deutsch/Deutsch als Zweitsprache zugehörig. Sie ist in der Leitung der Zertifikatslehrgänge Deutsch als Zweitsprache tätig. Markus Häfliger ist Leiter des Fachbereichs Trio (Integrative Förderung, Neuausrichtung der Sekundarschulen, diverse Projekte für die Regelschule an der Schnittstelle Regel- und Sonderpädagogik) im Schulamt der Stadt Zürich. Christoph Hotz, Redaktion ph|akzente
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Foto: flickr_Pete Souza
Spektrum | Grenzen
Hillary Clintons Hand
Ein Bild, viele Fragen und die Grenzen der Interpretation Wie viel Information vermittelt ein Bild? Am Beispiel eines Fotos, das letztes Jahr um die Welt ging, wird gezeigt, dass wir uns beim Deuten von Bildern auf schmalem Grat bewegen, unterwegs aber vielseitige Aussichten geniessen und einiges lernen können. | Thomas Hermann
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m November 2011 trafen sich Kunst historiker, Pädagoginnen, Soziologen, Psychologinnen und Philosophen in Hildesheim, um zwei Tage lang über ein Foto zu reden. Es ging um das Bild aus dem «Situation Room», das nach der Tö
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tung Osama Bin Ladens vom Weissen Haus auf der Fotoplattform Flickr veröf fentlicht wurde (siehe Foto oben). Das Foto, das die US-Regierung wäh rend der Aktion «Geronimo» eng zusam mengeschweisst zeigt, wurde weltweit
publiziert und diskutiert. Zu reden gab die Frage, was die abgebildeten Perso nen zum Zeitpunkt der Aufnahme gera de sehen und warum sich Hillary Clin ton die Hand vor den Mund hält. Sieht sie etwas Schreckliches auf dem – für uns unsichtbaren – Monitor? Und wenn ja, ist diese Gefühlsregung ein Zeichen von Schwäche oder von Empathie? Clin tons nachträgliche Erklärung, sie habe wohl einen Reizhusten unterdrücken wollen, tönt jedenfalls nicht sehr über zeugend. Die acht Vortragenden sowie das Pu blikum waren sich einig, dass das Foto ein starkes Bild ist. Gestritten wurde
dagegen über die Frage, welche Metho de der Bildinterpretation die verläss lichsten Resultate hervorbringt. Haupt streitpunkt ist die Rolle des Kontextwis sens bei der Erschliessung von Bedeu tung. Es geht um die Frage, wie und wann Wissen, das nicht unmittelbar aus diesem selbst abgeleitet werden kann, zur Interpretation beigezogen werden darf.
Ein Bild muss für sich sprechen
Foto: Zenodot Verlagsgesellschaft mbH
Der Kunsthistoriker Michael Diers stieg mit einer Rüge an die Organisatoren ein. Diese hatten es unterlassen, den Namen des Fotografen auf dem Tagungs programm zu erwähnen. Es gehöre sich, die Autorschaft eines Bildes zu dekla rieren, und zudem diene das Wissen über den Bildproduzenten dem Ver ständnis. Zu wissen, dass das Bild von Pete Souza gemacht wurde, der als Leib fotograf Obamas zu dessen Stilisierung als Polit-Ikone beigetragen hat, ist für Diers eine entscheidende Information. Damit lancierte er einen Steilpass in Richtung seines Hauptgegners, dem So ziologen Ulrich Oevermann, der ein sol ches Vorgehen für wissenschaftlich fragwürdig hält. Wenn es darum geht, ein Bild zu verstehen, dann muss die ses schon für sich sprechen, egal, wer es geschossen hat. Gemäss seiner «ob jektiven Hermeneutik» muss beim Ent schlüsseln eines Textes oder Bildes zu nächst alles, was man darüber weiss, «suspendiert» werden, etwa das Identi fizieren von Personen und jegliches Wissen über die Situation, in der ein Bild entstanden ist. Solche Einwände lassen Diers kalt. Für ihn ist schon der Begriff der «objek tiven Hermeneutik», also einer unvor eingenommenen Auslegung, ein Wider
spruch in sich. Ausserdem sei der Er kenntnisgewinn im Vergleich zum Auf wand bescheiden. Lieber stellt Diers Bezüge her zwischen inhaltlich und formal verwandten Bildern. So spannt er vom Foto aus dem «Situation Room» einen Bogen zu Rembrandts Bild «Die Anatomie des Dr. Tulp» aus dem Jahre 1632. Eine Gruppe von Männern steht um die Leiche eines Strassenräubers, der zum Tod verurteilt worden war, und folgt den Ausführungen des Arztes. Ne ben einer ähnlichen räumlichen Anord nung der Figuren, die ausserdem gleich wie im Foto von Souza alle auf etwas schauen, was dem Betrachter verborgen bleibt – auf ein Buch unten rechts im Bild –, ist Rembrandts Bild thematisch verwandt mit dem Foto. Beide Bilder handeln von Gewalttätern, die für ihre Verbrechen mit dem Leben zahlten. Über solche Bezüge schütteln die empirischen Sozialwissenschaftler den Kopf, entspricht dies doch nicht ihrer Vorstellung eines «methodisch kontrol lierten» Umgangs mit Kontextwissen. Es sei spekulativ anzunehmen, dass der Fotograf beim Druck auf den Auslöser an Rembrandt gedacht hätte.
Jedes Detail ist wichtig Oevermann zelebriert seine Methode und beschreibt das Bild wie jemand, der gerade noch den Unterschied zwi schen Männern und Frauen, Schwarzen und Weissen sowie Zahlen und Schrift als «objektive» Kriterien gelten lässt. So spielt in seiner Interpretation das Schriftstück, das auf Clintons Schoss liegt, eine grosse Rolle. Aus den Worten «Top Secret: For use in Situation Room only» schliesst er, dass das Bild da selbst aufgenommen wurde, die Anwe senden ergo Mitglieder der amerikani
Parallelen zum Foto aus dem «Situation Room»: Rembrandts Bild «Die Anatomie des Dr. Tulp» 1632.
schen Regierung und des Militärs sein müssen. Das ist der Moment, wo die Erzie hungswissenschaftlerin Ulrike Pilarz cyk dem Kollegen der exakten Sozial wissenschaften die Grenzen seiner Me thode vor Augen hält: Das Bild sei gar nicht im «Situation Room» aufgenom men worden, sondern in einem Neben raum. Das könne man auf Plänen im Internet nachschauen. Pilarzcyk bringt eine weitere Methode ins Spiel: die se rielle Bildanalyse. Um das Foto zu ver stehen, studierte sie eine Menge von Souzas Fotografien. Damit konnte sie zeigen, dass er die Aussenministerin im Vergleich zum Präsidenten gerne in ein schlechtes Licht rückt. So könnte es Sou zas Absicht gewesen sein, Clinton als schwache Frau zu inszenieren, wäh rend ihr Chef mit höchster Konzentrati on den Geschehnissen auf dem Bild schirm folgt. Interessant ist es, das Foto im Kontext der ganzen Bildstrecke zur Operation «Geronimo» zu lesen. In die ser Serie wird die Geschichte vom star ken Präsidenten gezeigt, der einen Ent scheid fällt und nach erfolgreicher Durchführung der Welt Bericht erstattet. Es gab kaum ein Detail, auf das an der Tagung nicht eingegangen wurde. Die Faszination des Fotos hat durch die aufgeworfenen Fragen nicht nachgelas sen. Eine Lesart, die sich als mehrheits fähig durchgesetzt hat, ist die, dass die Bildkommunikatoren des Weissen Hau ses mit dem Foto die Weltöffentlichkeit in die Verantwortung für die Tötung Bin Ladens einbeziehen wollten. Indem die US-Führungskräfte als Zuschauer insze niert werden, werden wir beim Betrach ten der Augenzeugen selbst zu Augen zeugen und können – nach der Redens art «mitgegangen, mitgehangen» – in die Verantwortung gezogen werden. Obamas Rede nach Abschluss der Operation würde eine solche Lesart stützen: Bin Laden wird als Gefahr nicht nur für Amerika, sondern für die ganze Welt dargestellt, so dass seine Tötung im Interesse der ganzen Welt erfolgt ist. Dass Obamas Rede eine bildexterne Quelle ist, die zur Unterstützung einer Lesart des Bildes beigezogen wird, las sen wir gelten, darf doch angenommen werden, dass die Kommunikationspoli tik des Weissen Hauses medienüber greifend konzipiert wird. Thomas Hermann, Redaktion ph|akzente
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Spektrum | Grenzen
Grenzen setzen im Klassenzimmer
Was ist sinnvolle Disziplin?
Wie viel und welche Disziplin braucht es in der Schule? Mit dieser Frage werden Lehrpersonen tagtäglich konfrontiert. Jürg Rüedi, Dozent für Erziehungswissenschaften an der FHNW, hat zu dem Thema eine umfassende Publikation veröffentlicht. | Jürg Frick
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isziplin und Klassenführung sind Themen, die Lehrpersonen früher wie heute immer wieder beschäftigen. Also: kein neues Thema! Trotzdem ist das Unterrichten in vielerlei Hinsicht komplexer, anspruchsvoller geworden. Stichworte dazu lauten: neue Medien, eine deutlich heterogenere Klassenzu sammensetzung, Integration und Indi vidualisierung, Hektik, auseinanderbre chende Familien, heterogenere Erzie hungsstile und Wertvorstellungen der Eltern, deutlich erhöhte Ansprüche und Forderungen an Schule und Unterricht durch Eltern und Bildungspolitik, mehr Akteure in der Schule durch PensenAufteilung und Fachlehrkräfte. Aber: Was ist eigentlich sinnvolle Disziplin? Nach seinem ersten Buch Disziplin in der Schule (2002) legt der Autor und Dozent für Erziehungswissenschaften an der FHNW, Jürg Rüedi, zu dem Thema eine neue Darstellung vor. Er möchte damit, wie er selber schreibt, «eine Rei he von Thesen, wissenschaftlich abge stützten Handlungsstrategien und Hil festellungen zur Klassenführung und zum Umgang mit Unterrichtsstörungen» vermitteln. Vorweg: Das ist ihm bestens gelungen. Sein neuestes Buch Wie viel und welche Disziplin braucht die Schule? (2011) enthält vier Hauptteile mit den wichtigsten Begründungen, Theori en und Handlungsempfehlungen zur Klassenführung und zu Unterrichtsstö
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rungen, einem Exkurs zum Thema «Strafen», einem Praxisteil mit 20 Handlungsstrategien, die einen gelin genden Umgang mit Klassenführung und Unterrichtsstörungen ermöglichen können, sowie einem Anhang mit kon kreten Ergänzungen und Anschauungs beispielen.
Regeln nicht stur durchsetzen
Das zweite Kapitel besteht aus einer dif ferenzierten Kritik des Bestsellers Lob der Disziplin (2006) des deutschen Pä dagogen Bernhard Bueb. Wichtiges Fa zit: Eine unhinterfragbare, absolut ge setzte Autorität ist gefährlich und ver nachlässigt den Aufbau einer inneren Selbstdisziplin, und sie verhindert zu sätzlich eine gute Lernatmosphäre. Sinnvolle Disziplin bedeutet durchaus das Einhalten eines gewissen Ord nungsrahmens, aber immer mit Ein schränkungen: Rüedi plädiert für ein antinomisches Verständnis von Diszip lin. Was heisst das? Ordnung und Re geln sind nicht stur und mit allen Mit teln einfach durchzusetzen, sondern situativ anzupassen. Die Lehrperson sollte dabei von ei ner Mischung aus Milde (nicht Weich heit), Verständnis (nicht Blindheit), In tuition, aber auch Klarheit ausgehen. Die emotionale Dimension (Gefühle der Schülerinnen und Schüler, Klassen-Kli ma) muss bei gleichzeitiger Beachtung
Störungen können Lehrpersonen wertvolle Hinweise
der Ordnung genügend berücksichtigt werden. Antinomisch heisst so bei spielsweise, im Unterricht mit Zwi schenrufen und Störungen zwar rech nen zu müssen, mich trotzdem aber nicht aus dem Konzept bringen zu las sen und – bei allem Verständnis für die Bedürfnisse der Schüler – meinen Un terricht mehr oder weniger gemäss mei nen Vorbereitungen zu halten. Zwischenrufe mahnen mich als Lehrperson, vielleicht besser, langsa mer zu erklären, einen Schüler nach der Stunde unter vier Augen anzusprechen, das Tempo zu drosseln oder zu erhöhen.
anzustrebendes Ziel für eine Demokra tie mit aufgeklärten und selbstverant wortlichen Bürgerinnen und Bürgern.
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Eigene Pädagogik reflektieren
zur Verbesserung des Unterrichts geben.
Störungen geben so auch wertvolle Hin weise zur Verbesserung des Unterrichts! Der Autor zeigt anschaulich, wie Unter richtsstörungen aus unterschiedlichen Perspektiven aussehen und wie wichtig dabei ein Perspektivenwechsel der Lehrperson sein kann. Beispiel: Geht es um die bewusste Störung des Unter richts oder eher um Verständnisproble me der Schüler, um Unter- oder Überfor derung, um unerledigte Konflikte in der Pause? Nur Disziplin allein (Disziplin als Selbstzweck) führt letztlich in eine au toritär strukturierte Gesellschaft – kein
Rüedi verhehlt nicht, wie Unterrichts störungen zur emotionalen Belastung werden können – für Lehrpersonen wie für Lernende! Im vierten Kapitel finden sich theoretisch abgestützte nützliche Hinweise für konkrete Handlungsmög lichkeiten zur Klassenführung. Lehrper sonen sollen zu «reflektierenden Prakti kern» werden, um eine «Selbstdiagnose für die Verbesserung des eigenen Unter richts» vornehmen zu können: Das hilft, den eigenen «Tunnelblick» zu er weitern. Dabei hilfreich ist eine kriti sche und gleichzeitig freundliche Refle xion der eigenen pädagogischen Hand lungen und Schwächen. Dazu bietet der Autor wertvolle Checklisten und Fragebögen zu Strategi en zur Klassenführung und zum Diszip linmanagement, die Verbesserungsmög lichkeiten und Hinweise geben, wie Klassenführung und Beziehungsförde rung durch Klarheit, Entschiedenheit und Bereitschaft zur Lenkung gelingen können. Die Kunst liegt wohl in der richtigen Mischung von Wertschätzung und Lenkung, oder in den Worten des deutschen Psychologen Franz Emanuel Weinert: «Lenkung ohne Beziehung tut weh, Beziehung ohne Lenkung wird blind.» Ein Schwergewicht des Buches liegt auf präventiven Handlungsmassnah men, um Disziplinprobleme erst gar nicht entstehen zu lassen. Einige Stich worte dazu: Beziehung als Vorausset zung jeglicher Prävention von Störun gen; für Lernende aktivierender und übersichtlicher Unterricht mit klaren Zielen; Prävention durch breite Aktivie rung (die Beteiligung möglichst vieler Lernender); guter Unterrichtsfluss (ach ten Sie einmal als Lehrperson, ob und wie oft Sie den Verlauf einer stillen Se quenz durch zusätzliche Erläuterungen stören!); auch Schwächeren Lernerfolge ermöglichen; Stärkung des Klassenzu sammenhalts. Ebenfalls nützlich sind dreizehn Reaktionsmöglichkeiten für Lehrperso nen auf Störungen (u.a. Humor oder das Unerwartete tun!), die vom Autor mit konkreten Beispielen untermauert werden. Im Kapitel zum Thema «Strafen» be
leuchtet Rüedi die Begründungen, die Gefahren sowie diskutierbare Formen der Strafe, wobei die Bedingungen und Voraussetzungen praxisnah herausgear beitet werden. Und in «Wie Pädagogik gelingen kann» erfahren wir anhand eines Fallbeispiels aus der Unterstufe, wie eine antinomische Klassenführung aussehen kann: Ein individuelles, per sönliches Eingehen auf das Kind bei gleichzeitiger klarer Orientierung der Lehrperson auf ein bestimmtes Verhal tensziel hin (statt gewalttätiges Verhal ten mehr Sozialkompetenz). Dieses Ka pitel stellt eine kompakte, anschauliche und überzeugende konkrete Umsetzung und Anwendung der Fragestellung dar.
Störungen gehören zum Alltag Ganz zum Schluss finden Leserinnen und Leser als Fazit zusammengefasst Voraussetzungen und Erkenntnisse für einen gelingenden Umgang mit der Klassenführung und mit Unterrichtsstö rungen. Beispiele: Unterrichtsstörungen gehören zum pädagogischen Alltag (das senkt überhöhte Ansprüche!), es gibt keine Universalrezepte (zum Glück!), der autoritative Erziehungsstil ist am günstigsten (für Lernklima und Leis tung), eine gute Lehrer-Schülerbezie hung als Grundlage, Gelassenheit statt Verbissenheit, klare und faire Vereinba rungen, Elternarbeit. Für im täglichen Schulalltag stehen de Lehrpersonen sind die vielen kon kreten Fallbeispiele besonders nützlich – nicht zuletzt auch, weil sie die darge stellten Theorien anschaulich illustrie ren. Das Buch bietet Lehrpersonen aller Stufen eine differenzierte, gehaltvolle, praxisbezogene, reflexionsfördernde und verständliche Auseinandersetzung mit der Disziplinproblematik. Jürg Frick ist Dozent und Berater im Zentrum für Beratung (ZfB) an der PH Zürich. juerg.frick@phzh.ch
Buchhinweis Rüedi, Jürg: Wie viel und welche Disziplin braucht die Schule? Möglichkeiten, Wege und Versuchungen. Plädoyer für ein antinomisches Verständnis von Disziplin und Unterrichtsstörungen. Bern: Huber, 2011, 315 Seiten. ISBN 978-3-456-84882-2
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Spektrum | Grenzen
Über sichtbare und unsichtbare Grenzen
Österreich – Schweiz – Deutschland und zurück Der Deutsche Oliver Schneider, Deutschlehrer in Kreuzlingen, und die Österreicherin Eva Schär, Heilpädagogin in Heerbrugg, überqueren jeden Tag die Grenze. Sie erfahren den Übergang zwischen ihren Heimatländern und der Schweiz an unterschiedlichen Orten – manchmal existiert die Grenze aber auch gar nicht. | Vera Honegger
Foto: zVg
Oliver Schneider an der Pädagogischen Maturitätsschule in Kreuzlingen.
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liver Schneider steigt am Montag morgen aus dem Zug am Bahnhof Konstanz in Deutschland. Weil es Win ter ist, geht er zu Fuss anstatt mit dem Velo über die unsichtbare Grenze in die Schweiz, nach Kreuzlingen. Dort arbei tet er an der Pädagogischen Maturitäts schule (PMS) als Deutschlehrer, und das seit acht Jahren. Er ist ein geübter Grenzgänger, kennt alle Schleichwege von Konstanz nach Kreuzlingen: «Ich erlebe die Grenze gar nicht mehr», sagt Oliver Schneider. Ganz anders nimmt er die Grenze wahr, wenn er mit seiner Familie einen Ausflug in die Schweiz macht. Dann herrscht Aufregung im Au
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to, vor allem bei seinen Kindern. Mit den Pässen in den Händen warten sie darauf, dass der Zöllner sie kontrolliert. Jenseits der Grenze braucht die Familie Schweizer Geld, das verstärkt den Ein druck, tatsächlich in einem anderen Land zu sein.
Kein Kulturschock Für die Doktorarbeit, die er anschlies send an sein Studium der deutschen und italienischen Sprache geschrieben hatte, zog er von Nordrhein-Westfalen nach Konstanz. «Mein Umzug von der Grossstadt Dortmund in die eher ländli che Umgebung von Konstanz war für
mich ein Kulturschock», sagt Oliver Schneider und erinnert sich gerne dar an zurück, dass er im Gegensatz dazu gar keine Mühe hatte, sich hier an der Schule in Kreuzlingen ins schweizeri sche Lehrpersonen-Team einzufügen. Seine Voten im Team formuliert er so sorgfältig, dass er auch mal die Rück meldung erhält, er höre sich wirklich wie ein Schweizer an. Die Stelle an der PMS fand er per Zu fall. Ein Freund hatte ihn darauf auf merksam gemacht. Ohne lange zu über legen rief Oliver Schneider den Schullei ter an und bewarb sich. Die Zeit arbei tete für ihn, es war kurz vor den Som merferien und die Stelle musste unbe dingt besetzt werden. «Sie kauften die Katze im Sack mit mir», so Oliver Schnei der. Heute verfügt er über ein unbefris tetes Anstellungsverhältnis. «Das ist mir sehr wichtig, ich bin über 40 Jahre alt, habe Frau und drei Kinder», sagt er und schmunzelt. Es sei an der Zeit ge wesen, die Schulleitung zu überzeugen, dass es sich lohne, ihn fest anzustellen.
Gutes Verhältnis zu Schülern Mentalitätsunterschiede zwischen Deut schen und Schweizern fallen Oliver Schneider am ehesten im Klassenzim mer auf. Er hat ein sehr gutes Verhältnis zu seinen Schülerinnen und Schülern an der PMS, empfindet sie aber auch als etwas zurückhaltend und reserviert. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab,
Foto: Vera Honegger
seine ganze Klasse zu sich nach Hause einzuladen. An den Tag erinnert er sich gerne, es war eine total unverkrampfte Begegnung. Während seines Studiums unterrich tete er verschiedene Klassen in Deutsch land, daran denkt er gerne zurück. Die deutschen Schülerinnen und Schüler waren ihm gegenüber aber sicher etwas direkter und forderten ihn mehr.
Eine konkrete Grenze Oliver Schneider bedauert manchmal, dass er zuhause in Deutschland mit nie mandem über sein Engagement an der PMS diskutieren kann – sein berufliches und privates Leben findet in verschie denen Ländern statt, der Freundeskreis ist dementsprechend unterschiedlich. Er setzt sich in Kreuzlingen gerne politisch für die Schule ein – wenn auch im
Eva Schär in ihrem Klassenzimmer an der Heilpädagogischen Schule in Heerbrugg.
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iebevoll beobachtet Eva Schär ihre Schülerin Laura und hilft ihr, sobald sie beim Lesen steckenbleibt. Das Schul zimmer an der Heilpädagogischen Schu le in Heerbrugg ist genau nach ihren Wünschen eingerichtet und auf die klei ne Klasse von sieben Kindern ausgerich tet. Sie arbeitet seit August 2011 als Lehrerin an dieser Schule. Damit ging ein kleiner Traum für sie in Erfüllung.
Fehlende Wertschätzung Die Pädagogin lebt in Göfis, Österreich, etwa 30 Kilometer von Heerbrugg ent fernt. Dort hat sich die 47-jährige Öster reicherin eine fundierte Berufserfah rung als Lehrerin in Sonderschulen er arbeitet. Sie fand in der Montessori-Pä dagogik die richtige Methode für sich und machte eine Montessori-Diplom ausbildung. So sehr sie ihr Heimatland auch schätzt, beklagt sie den langsa men Abbau im Bildungswesen und die Behandlung, die sie als Lehrerin er fährt: «Ich war nicht mehr wirklich glücklich im Lehrberuf und nicht damit
einverstanden, wie die Lehrerschaft be handelt wurde in Österreich.» Es war Zeit für eine Neuorientierung und sie führte in die Schweiz. Diese ist nicht nur geografisch nah, sondern auch gesellschaftlich: Eva Schär ist Dop pelbürgerin, sie ist Österreicherin und Schweizerin. Die Familie ihres Mannes stammt ursprünglich aus dem Emmen tal, lebt aber seit Generationen in Göfis. Ihr Mann Hanspeter arbeitet seit über 30 Jahren in Heerbrugg. Umso erfreuter war sie, als die Heilpädagogische Schu le sie zu einem ersten Gespräch einlud. Dort fühlte sich sie sich von der ersten Sekunde an wohl und sehr herzlich auf genommen: «Ich bin sehr glücklich, dass ich hier unterrichten darf. Hier er fahre ich eine grosse ideelle aber auch eine finanzielle Wertschätzung, und diese Wertschätzung habe ich schon bei meinem Bewerbungsgespräch heraus gespürt.»
Die Schweiz ist interessant Jeden Morgen fährt Eva Schär gemein
kleinen Rahmen –, macht Werbung, diskutiert mit seinen Kollegen über bil dungspolitische Fragen. Etwas ganz Wichtiges fehlt ihm aber: Abstimmen und wählen kann er nur zuhause in Deutschland, obwohl die Grenze zwi schen den beiden Ländern in seinem beruflichen Alltag kaum mehr existiert.
sam mit ihrem Mann von Göfis in die Schweiz, nach Heerbrugg. Eine halbe Stunde dauert die Fahrt, während der sie mit ihrem Mann ganz ungestört dies und das besprechen kann. Die Grenz überquerung ist für sie noch immer et was Besonderes, es ist ihr jeden Tag bewusst, dass sie in die Schweiz fährt – dahin, wo sie sich auch zuhause fühlt. Sie schaut jeden Abend die Nach richtensendung 10vor10, auch das Wet ter ist ihr hier wichtiger als jenes in Wien. Sie mag aber nicht nur das Schweizer Fernsehen – nein, sie nimmt auch ihre Rechte und Pflichten als Schweizer Bürgerin wahr. Keine Ab stimmung geht an ihr vorbei, sie infor miert sich immer und stimmt brieflich ab. Auch ihre beiden erwachsenen Töchter teilen das Interesse an der Schweiz und nehmen am politischen Leben teil. Die Famile Schär fährt regel mässig in die Schweiz, gerne besucht sie ihre Heimatgemeinde Dürrenroth im Emmental. Der Austausch mit Bekann ten und Freunden ist ihnen wichtig. Eva Schär litt am Anfang etwas un ter den kritischen Schweizern, aber mit ihrer offenen und sehr herzlichen Art gelang es ihr ohne weiteres, ihre Kolle ginnen und Kollegen für sich einzu nehmen. Genau für diese unkompli zierte Art wird sie sehr geschätzt an der Schule. Auch da hat sie Grenzen überwun den, genauso wie mit ihrem Interesse am gesellschaftlichen und politischen Leben in der Schweiz. Einzig den Grenz übergang zwischen Österreich und der Schweiz, den muss sie jeden Tag über queren. Aber das läuft ohne Verzöge rung ab, die Grenzbeamten auf beiden Seiten kennen das Ehepaar und winken die beiden durch. Vera Honegger, Redaktion ph|akzente
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Spektrum | Grenzen
Zensur von neuen Medien
Der Mythos vom grenzenlosen Internet Nach den Umwälzungen im arabischen Raum im letzten Frühling waren Begriffe wie Facebook- und Twitter-Revolution allgegenwärtig. Bei genauer Betrachtung entpuppen sich die Einflussmöglichkeiten der neuen Medien und die Vorstellung eines grenzenlosen Internets jedoch als Mythos und Wunschdenken. | Heinz Moser
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n den Neunzigerjahren betrachteten viele das Internet als die grosse zeit genössische Revolution – eng verbun den mit einem neuen Land ohne terri toriale Grenzen. Es war jetzt nicht mehr der Wilde Westen, den die Cyber-Cow boys besiedeln wollten, sondern die neue virtuelle Welt des Netzes. John Perry Barlow, ein Mitbegründer der legendären amerikanischen «Elec tronic Frontier Foundation», verfasste 1996 die Unabhängigkeitserklärung des Netzes (A Declaration of the Independ ence of Cyberspace). Darin appelliert er an die Regierungen der Welt: «Wir ha ben Euch nicht eingeladen. Ihr kennt weder uns noch unsere Welt. Der Cyber space liegt nicht innerhalb Eurer Ho heitsgebiete. Glaubt nicht, Ihr könntet ihn gestalten, als wäre er ein öffentli ches Projekt. Ihr könnt es nicht.»
Internet schafft Welt für alle Die Deklaration bleibt indessen zwei deutig: Einerseits reagiert sie auf die ersten Versuche der damaligen ClintonRegierung, dem Netz Grenzen zu setzen. Gleichzeitig schwingt darin die Über zeugung mit, dass dies nicht gelingen wird. Denn der Cyberspace habe letzt lich keinen physischen Ort. Er bestehe allein aus Beziehungen, Transaktionen und dem Denken selber. Für Barlow ist es ausgemacht, dass wir mit dem Internet eine Welt erschaf fen, die alle betreten können, ohne Be vorzugung oder Vorurteil bezüglich Ras
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se, Wohlstand, militärischer Macht oder Herkunft. Die Quintessenz: In der neuen Welt des Internet darf jeder Einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugun gen ausdrücken, wie individuell sie auch sind − «ohne Angst davor, im Schweigen der Konformität aufgehen zu müssen. Eure Rechtsvorstellungen von Eigentum, Redefreiheit, Persönlichkeit, Freizügigkeit und Kontext treffen auf uns nicht zu. Sie alle basieren auf der Gegenständlichkeit der materiellen Welt. Es gibt im Cyberspace keine Mate rie.»
Ägyptens Internet-Revolution Umgekehrt hat der immaterielle Raum des Netzes durchaus Auswirkungen auf das reale Leben. Autokraten und Dikta turen fürchten sich vor der Macht der neuen Medien, in welchen keine Mei nung unterdrückt werden kann. Was will man der globalen Macht des Netzes entgegensetzen, das immer wieder Wege findet, um unverfälschte Informationen an die Öffentlichkeit zu bringen? Dieser Mythos von Demokratie und freiem Internet hat sich bis heute gehalten, noch verstärkt durch Websei ten wie «Wikileaks», die geheime Doku mente aus der ganzen Welt öffentlich gemacht haben. Nach den letzten Wah len im Iran verkündete die Presse be reits die «Twitter-Revolution», und auch die arabischen Umwälzungen des letz ten Jahres werden immer wieder mit den digitalen Netzen der Handys und
des Internets in Verbindung gebracht. So schrieb die Financial Times Deutsch land am 28. Januar 2011 unter dem Titel «Ägyptens Revolution aus dem In ternet»: «Ägyptens Protestbewegung hat weder Führer noch Ideologie: Ihre Antreiber sind Netzaktivisten.» Schien es nicht das beste Zeichen, dass den Regierenden die Kontrolle über ihr Land entglitt, wenn ägyptische Blogger direkt von den Schauplätzen des Geschehens Videos verbreiten konn ten? Schon am Tag darauf hiess es je doch im Zürcher Tages-Anzeiger: «Rund eine halbe Stunde nach Mitternacht ist Ägypten am Freitag aus dem Internet verschwunden. Fast gleichzeitig kapp ten Internetprovider die Leitungen, die ägyptische Internetnutzer mit dem Rest der Welt verbinden. Es war offenbar ei ne Massnahme in Vorbereitung auf die für Freitag angekündigten Demonstrati onen gegen die seit fast 30 Jahren an dauernde Herrschaft von Präsident Hos ni Mubarak.» Wir wissen seither, dass dies alles Mubarak nichts half. Dennoch ist die Skepsis gegenüber der Wirksamkeit von Internet-Revolutionen nicht geschwun den. Begriffe wie die «Facebook-Revo lution» empfindet der in Kairo lebende deutsch-ägyptische Aktivist und Blog ger Philip Rizk im Rückblick als «puren Schwachsinn». In der Zeitschrift Telepolis gibt er zu bedenken, dass die über wiegende Mehrzahl der Bevölkerung in Ägypten gar nicht über einen Computer,
Foto: flickr_endworld
Beerdigt: Am Tag des Rückzugs von Google aus China legte die Bevölkerung Blumen am Sitz der Firma nieder.
geschweige denn einen Internetan schluss verfüge. Zwar räumt er ein, dass das Internet bei den Umwälzun gen eine Rolle gespielt habe, aber nicht die entscheidende. Das Netz habe ge holfen, die Demonstrationen zu organi sieren – bis zu jenem Zeitpunkt eben, als die Regierung den Stecker zog. Rizks Folgerung: «Die Strasse war wichtiger als das Internet.» Die Erfahrungen aus Ägypten kann man generalisieren: Das Netz hilft bei der Mobilisation, weil dies schnell und effektiver geht. Aber der ganze komple xe Prozess einer Revolution lässt sich nicht in der ungegenständlichen Welt des Cyberspace organisieren.
Zensur in China, Iran, Syrien Ganz allgemein ist zu fragen, ob die von den Internet-Pionieren beschworene Idee des grenzenlosen Internets nicht ein Mythos ist. Das bekannteste Bei spiel ist China, das früh schon das In ternet strikte überwachte, so dass sich die Firma Google aus dem fernöstlichen Land zurückzog. Aber auch Länder wie Nordkorea, Iran, Syrien und Weissruss land zensieren den Zugang zum Inter
net. Die amerikanischen Rechtsprofes soren Jack Goldsmith und Tim Wu spre chen von der Illusion einer grenzenlo sen Welt und betonen, dass sich auch das Internet zwischen Regionen und Nationen unterscheidet – in der Spra che, in den Inhalten, in den Wertvor stellungen. Auch die USA, die in beson derer Weise die Informationsfreiheit des Internets betont, macht keine Aus nahme. So ist im US-Kongress ein Gesetzes entwurf in Diskussion, der die Behör den ermächtigt, Internetanbieter zur Sperrung von Webseiten zu zwingen, wenn der Verdacht einer Verletzung des Urheberrechts oder einer Marke besteht. Die Gegner machen dagegen mit der Website «Free Bieber» Druck. Denn der Teenie-Star Justin Bieber war vor allem mit selbst erstellten Liedern auf YouTu be bekannt geworden. Eine Verabschie dung des «Stop Online Piracy Act» be deutete nach den Betreibern dieser Sei te, dass Bieber dann zu jenem Perso nenkreis gehört, der regelmässig be kannte Songs covert und damit zu bis zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt werden könnte.
Doch der Mythos des freien Internets ist nicht nur auf politischer Ebene proble matisch. Denn längst ist das Netz kein unschuldiger Raum für herrschaftsfreie Kommunikation mehr. Ist es wirklich ein Verstoss gegen die Informationsfrei heit, wenn Regierungen gegen Pädophi le vorgehen, die ihre Kontakte im Netz knüpfen? Und wie soll man gegen Inter netkriminelle vorgehen, wenn im Netz alles erlaubt ist? Fälle wie jener estni sche Ring, der bis zu seiner Zerschlagung im Jahr 2011 die Kontrolle über vier Millionen Computer in 100 Ländern übernommen und sich so 14 Millionen Dollar erschwindelt hat, stärken das Ver trauen auf ein ungeregeltes Netz nicht. Die Aufgabe der nächsten Jahre wird es deshalb nicht sein, den Mythos eines völlig freien Internets zu realisieren. Vielmehr wird es wichtig sein, dass glo bale Regeln bestehen, welche Grenzen zur Cyberkriminalität abstecken, ohne das als Vorwand zu nehmen, gleich die Spielräume für freie Meinungsäusse rung und freien Informationsaustausch einzuschränken. Heinz Moser, Redaktion ph|akzente
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Spektrum | Grenzen
| Daniel Lienhard
Schneegrenze
Promillegrenze
Schmerzgrenze
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Grenzen
Schallgrenze
Hรถchstgrenze
Toleranzgrenze
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Stiftung Mittelschule Dr. Buchmann
Inserate
Dein Weg zur Matura In unserer privaten Mittelschule bieten wir den Schülerinnen und Schülern eine angstfreie Lernumgebung. Wir bereiten sie auf die Schweizerische Matura und ein anschliessendes Studium vor. Informationen erhältlich bei: Stiftung Mittelschule Dr. Buchmann Keltenstrasse 11 . 8044 Zürich 7 . T 044 252 65 64 . F 044 262 34 92 info@buchmannschule.ch . www.buchmannschule.ch
«Bilden Sie sich weiter am IKP: Für Ihre ganzheitliche Lebenskompetenz, berufliche Entwicklung und Qualifikation.» Dr. med. Yvonne Maurer
Das Hochschulforum im HS 2012 zum Thema:
Berufsbegleitende,
Neue Fortbildung für Lehrer/-innen ganzheitlich-humanistischer anerkanntein Weiterbildungen Psychologie: mit Diplomabschluss:
Info-Tel. 044 242 29 30
Persönlichkeitsentwicklung und erprobte körperzentrierte Tools für verschiedene Situationen in Ihrem Schulalltag.
Die Fortbildung startet am 12.5.2012 in Zürich. Bestellen Sie jetzt die Fortbildungsbroschüre per E-Mail: info@ikp-therapien.com
Info-Abend: 13. März
Workshop mit Inputs und Übungen – Den eigenen Zugang inmitten der Flut des schon Geschriebenen fi nden
(2 Jahre, ASCA und SGfB anerkannt)
Gesucht: Einblick in digitale Bildarchive und Bildtagebücher von Studierenden
Zahlreiche psychische Störungen zeigen raschere Besserungstendenzen, wenn im beraterischen Gespräch der Körper in aktiver oder passiver Form einbezogen wird.
Humanistische Psychologie: Sie lernen, Menschen mit Ernährungsproblemen ganzheitlich in ihrer aktuellen Lebenssituation zu beraten und eignen sich fundiertes Ernährungsfachwissen an. (Dauer: 2 bzw. 4 Jahre, ASCA anerkannt)
Die Ganzheitlich-Integrative Atemtherapie nach Dr. med. Yvonne Maurer führt zum eidg. Branchendiplom Komplementärtherapeut/in OdA KTTC. (2 Jahre, EMR und ASCA anerkannt)
Mehr Infos? Ausbildungsinstitut für Ganzheitliche Therapien IKP, in Zürich und Bern.
Tel. 044 242 29 30 www.ikp-therapien.com Seit 30 Jahren anerkannt
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Thinking at the edge
Fokus Islam
Ganzheitliche/r Atemtherapeut/in IKP Info-Abend: 2. Mai
Wie setze ich mich ins Bild und wo erschaffe ich eigene Bild-, Denk- und Freiräume?
Körperzentrierte/r Psychologische/r Berater/in IKP
Ernährungs-Psychologische/r Berater/in IKP Info-Abend: 12. April
MENSCH IM BILD
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Von Bildern und Blicken – Gender- und bildtheoretischer Workshop zum Semesterthema
Gib anderen einen Einblick und erzähle, worum es Dir beim alltäglichen Bildersammeln in Studium und/oder Freizeit geht Details unter www.hochschulforum.ch
Weitere Angebote: Blickwechsel: Treffpunkt • Gottesdienste zum Semesterthema • Ökumenisches Taizé-Gebet • Unter vier Augen • Klosterwoche • Aktives RelaxTraining • Bildfeld Mensch: Ausstellung www.hochschulforum.ch
Standpunkt |
Claudio Caduff, Fachdidaktiker an der PH Zürich
Kompetenz − ein schwacher Begriff W
ahrscheinlich wird der eine Leser oder die andere Leserin schon beim Titel die Stirne runzeln und ver sucht sein, leicht angewidert schnell umzublättern. Darum sei hier sofort die zugespitze Aussage des Titels erläutert: Schwach meint nicht schlecht; der Be griff «Kompetenz» ist wenig konturiert, allgemein und offen und daher, so mei ne These, wertvoll fürs Leben, aber kaum nützlich für die Wissenschaft. «Kompetenz» heisst nach Fremdwör ter-Duden (Ausgabe 2001) Vermögen, Fähigkeit, Zuständigkeit, Befugnis. Und im allgemeinen Sprachgebrauch wird das Wort «Kompetenz» und vor allem das Adjektiv «kompetent» in einem sehr allgemeinen Sinne verwendet. Wir alle haben schon häufig eine Person als «kompetent» (oder «inkompetent») be zeichnet, und unsere Gesprächspartner haben verstanden, was wir damit ge meint haben. Entscheidend ist nun allerdings, dass mit diesem Wort wahrscheinlich bewusst das Diffuse mitgemeint ist. Vielleicht ist das sogar das Entscheiden de: Wir wissen zwar ungefähr, was da mit gemeint ist, genauer können oder wollen wir aber die Fähigkeiten der Person nicht umschreiben. Alle Spra chen kennen solche schwachen Begrif fe, sie sind meines Erachtens für die Alltagskommunikation ganz wichtig.
Handlungswissen für Praxis In jüngerer Vergangenheit hat sich die Erziehungswissenschaft des Begriffs be mächtigt und sich ihn nutzbar gemacht. Dazu musste er zunächst möglichst prä zise definiert werden. Mittlerweile gilt Franz Weinerts Definition aus dem Jahr 2001 für den deutschen Sprachraum als Standard: Kompetenz ist «die bei Indi viduen verfügbaren oder durch sie er lernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme
aufzuzeigen, wie alle Menschen – von Jung bis Alt – am wirksamsten ihre spe zifischen Kompetenzen erwerben kön nen.
Irrtum und Unsicherheit
«Es gilt aufzuzeigen, wie alle Menschen ihre spezifischen Kompetenzen erwer ben können.» Claudio Caduff zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozi alen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwor tungsvoll nutzen zu können.» Damit haben wir eine Bandwurm definition, die einerseits selbstreferen ziell ist (Kompetenz ist die Fähigkeit – Fähigkeit ist die Kompetenz) und die sich anderseits aus vielen offenen, un klaren und mehrdeutigen Elementen zusammensetzt. Grundsätzlich ist eine solche Definition für die Wissenschaft kein Problem, solange sie als Hypothese diskutiert wird. Mir scheint dies jedoch nicht der Fall zu sein, und das ist be zeichnend für die Erziehungswissen schaft. Unter dem Druck der Bildungsver waltung, die sich als oberste Steue rungsmacht im Bildungswesen versteht, will sie hauptsächlich Handlungswis sen für die Praxis generieren. Also: Was Kompetenzen sind, ist klar, nun gilt es
Damit ist für mich die empirisch gewen dete Erziehungswissenschaft an einem Punkt, an dem die Physik Ende des 19. Jahrhunderts war. Damals glaubte man, die Welt mit den bekannten physikali schen Gesetzen umfassend und endgül tig erklären zu können. Der Glaube hielt allerdings nicht lange, die Relativitäts theorie und die Quantenphysik verän derten das bestehende physikalische Weltbild radikal. Es entstand jedoch nicht einfach ein neues Weltbild, viel mehr wurden mit der Revolution die wissenschaftliche Unsicherheit und das Nichtwissen etabliert (z.B. durch Wer ner Heissenbergs Unschärferelation und Erwin Schrödingers Katze). Irrtum und Unsicherheit scheinen heute für Physiker keine Schreckensge spenster zu sein, so schreibt z.B. HansPeter Dürr in einem seiner Texte in bes ter Stimmung: «Ich habe als Physiker 50 Jahre lang – mein ganzes Forscherleben – damit verbracht, zu fragen, was ei gentlich hinter der Materie steckt. Das Ergebnis ist ganz einfach: Es gibt keine Materie!» Könnte es sich mit den Kom petenzen ähnlich verhalten? Claudio Caduff ist Dozent für Fachdidaktik Allgemeinbildender Unterricht und Geschichte auf der Sekundarstufe II an der PH Zürich.
Im Standpunkt nehmen Persönlichkeiten Stelung zu einem aktuellen Thema aus dem Bildungsbereich. Ihre Aussagen müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.
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Serie | Schulfilme
Blackboards von Samira Makhmalbaf
Zwei Lehrer und ihr Glaube an eine Vision
Foto: zVg
Mit Schultafeln beladen, suchen im Film Blackboards Lehrer nach lernwilligen Schülern. Für ihr Werk wurde die Regisseurin Samira Makhmalbaf im Alter von erst 20 Jahren am Filmfestival Cannes ausgezeichnet. | Hans Berner
.Mit der Wandtafel auf dem Rücken suchen Lehrer nach Schülerinnen und Schülern.
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ieses Filmbild hat mich sofort fas ziniert – und zugleich irritiert: Männer tragen in einer verlassenen Landschaft schwere Schiefertafeln auf dem Rücken. Was für ein Kontrast zu den zahlrei cher werdenden interaktiven White boards in unseren Schulzimmern, die sich dank intelligentem Optik-System mit Stift oder Finger bedienen lassen. Was für ein Kontrast zu mirakulös er scheinenden Technologien, die auf den ersten Blick grossartige und unbe
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schränkt scheinende Bildungschancen für Schülerinnen und Schüler eröffnen. Im Film Blackboards von Samira Makhmalbaf aus dem Jahre 2000 ist ei ne Gruppe von Lehrern mit schweren Schultafeln beladen in den Bergen des iranischen Teils Kurdistans auf der Su che nach lernwilligen Schülern. Der Film fokussiert zwei Lehrer und ihre Suche nach Schülerinnen und Schülern – und ihre Wege zu ihnen. Einer von ihnen, Reeboir, schliesst sich einer Gruppe von Kindern an, die vom
Schmug gel mit gestohlenen Waren le ben. Mit beeindruckender Geduld und Hartnäckigkeit versucht er immer wie der, diese Kinder zum Lernen zu brin gen und ihnen eine Vorstellung eines besseren Lebens zu vermitteln: «Listen, when you know how to read, you can read some book or newspaper when ever you have nothing else to do. You can find out about what’s going on in the world. Then, you can learn to add and subtract so you can keep track of your possessions, so no one can rip you
Tafeln als Hochzeitsgeschenk Die schwarzen Schiefertafeln dienen im Film Blackboards nicht nur dem beab sichtigen schulischen oder erwachse nenbildnerischen Zweck. Sie werden zum Hochzeitsgeschenk, zum Blick schutz für ein frisch getrautes Paar, zur Unterhaltszahlung bei der Scheidung, zur Trage für Verletzte, zum Schutz schild vor angreifenden Helikoptern. Allen situations- und lebensweltbe dingten Zweckentfremdungen zum Trotz sind die Wandtafeln auch Aus druck eines beeindruckenden Willens, Menschen unter schwierigsten Bedin gungen Wissen zu vermitteln. Die Wandtafeln dienen in diesem Film als Symbol eines idealistischen Glaubens an die Vision, Menschen Wichtiges beizubringen, das ihre Le bens- und Überlebenschancen erhöhen soll. Sie sind Ausdruck einer BildungsUtopie – im Sinne von jemanden bil den, was immer auch einen Anteil des reflexiven Verbs «sich bilden» bein haltet. In einem Interview sagte die Regis seurin: «Irgendein westlicher Schlau kopf hat einmal gesagt, das Problem der modernen Welt sei nicht die Unwissen
Foto: Terre des femmes Filmfest
off ever again. First boy: Addition and subtraction are good for the owners of these goods. We only carry their stuff. We’re always on the run. Someone who is always scared, and on the run, can’t read books. Books are for people who sit down. We’re always walking.» Saïd, der andere Lehrer, stösst auf eine Gruppe kurdischer Männer, die von einer jungen Frau mit ihrem klei nen Kind begleitet werden. Sie suchen einen Weg über die Grenze zurück in ihre Heimat, aus der sie vertrieben wur den. Saïd verliebt sich in die junge Frau. Als Hochzeitsgeschenk hat er nichts anderes anzubieten als seine schwarze Tafel. In der Lehrerrolle ver sucht er, der jungen Frau Wichtiges bei zubringen. Er schreibt «Ich liebe dich» auf seine Wandtafel und möchte, dass seine Schülerin diesen Satz Wort für Wort wiederholt und hofft durch Lob und Tadel Lernen zu bewirken: «I love you. Say it. Won’t you say it? Won’t you respond? I’ll give you a zero, so you don’t ever act this way again. Should I give you a zero? You’d flunk, if I give you a zero! I’ll give you an eighteen this time, let’s see how you do next time.»
Samira Makhmalbaf: «Bildung ist die einzige Utopie, an die ich glaube.»
heit, sondern zu viel Wissen. Aber da, wo ich herkomme, ist die mangelnde Bildung das umfassende Problem. Viel leicht finden Sie meinen Humanismus altmodisch, aber Bildung ist die einzige Utopie, an die ich glauben und für die ich in meinen Filmen eintreten kann.» Diese pointierten Worte stammen von einer jungen Frau, die 1980 in Te heran geboren wurde. Ihr Vater ist der bekannte Filmemacher Mohsen Makh malbaf, über den die Tochter sagt: «Ist es nicht das Verdienst des Lehrers, wenn der Schüler sein Wissen aus der Schule trägt? Als Tochter blicke ich auf meinen Vater, und mit dem Auge mei ner Kamera will ich die Welt begreifen.» In ihrem ersten mit 17 Jahren ge drehten Film The Apple gibt Samira Makhmalbaf einen Einblick in das Le ben von zwei jungen Mädchen, die von ihrem streng gläubigen Vater zuhause ohne jegliche Schulbildung eingesperrt werden. Der Vater möchte seine Töchter durch diese Isolation vor den Versu chungen des säkularen Wissens schüt zen. In ihrem Beitrag zum Film 11’09“01, in dem sich elf namhafte Re gisseure aus aller Welt wie Claude Le louch, Ken Loach oder Sean Penn mit dem Attentat des 11. September befas sen, ist die Hauptperson eine Lehrerin, die mit unendlicher Geduld versucht, afghanischen Flüchtlingskindern zu er klären, was in New York passiert ist. Lehrerinnen und Lehrer spielen in den Filmen von Samira Makhmalbaf eine wichtige Rolle; Wissensvermittlung und individuelle Bildung sind essenzielle Themen. Im Alter von 23 Jahren wurde Sami ra Makhmalbaf von der Zeitung Guardian als eine der 40 besten Regisseure der
Welt gewählt. Für den Film Blackboards erhielt sie als Zwanzigjährige am Film festival Cannes den Prix du Jury. Heute wird sie – gemäss einem Artikel in der Zeit – von der internationalen Filmsze ne als «cineastische Symbolfigur eines jungen aufgeklärten Islam» gepriesen. Als bekannt gewordene Regisseurin hat sie gelernt, mit eigenartigen filmreifen Alltags-Szenen, die von Fellini erfun den sein könnten, umzugehen. Wäh rend der Filmfestspiele in Cannes stand sie zufällig auf dem roten Teppich ne ben Sharon Stone: der älter gewordene Hollywoodstar im tief dekolletierten Leopardenkleid neben der jungen irani schen Regisseurin mit schwarzem Kopf tuch. Zwei Frauen – zwei Welten – zwei Weltanschauungen.
Berühmt ist nicht immer gut Good to know: Neben Hollywood-Main stream-Thrillers im Basic-Instinct-Style gibt es unbekannte, irritierend-faszi nierende Filme aus einer anderen Welt. Filme, die mit dem Auge der Kamera diese Welt begreifen wollen – und an deren begreifbarer machen. Für Lehre rinnen und Lehrer ist es spannender und herausfordernder, nicht nur LehrerHelden-Filme aus unserer mehr oder weniger vertrauten Welt zu sehen – oder ganz aktuelle wie Bad Teacher, die mit Millionen-Werbebudgets und dem Power-Hollywood-Glamour-Faktor Diaz– Tim ber lake den kommerziellen Erfolg zum Ziel haben. Good to know, dass bekannt und berühmt nicht unbedingt gut ist – und unbekannt gut sein kann. Good to know, dass besser Vermitteltes nicht notwendigerweise gut ist. Good to know, dass Teures nicht a priori besser ist. Hans Berner ist Dozent für Pädagogik an der PH Zürich. hans.berner@phzh.ch
Filmhinweis Samira Makhmalbaf Blackboards (Die schwarze Tafel) 2000, Iran, 85 min.
In einer vierteiligen Serie stellen wir an dieser Stelle besonders gelungene und sehenswerte Filme aus den letzten 25 Jahren zum Thema Schule vor. Im kommenden Heft: «Dangerous Minds» aus dem Jahr 1995.
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Welche Veränderungen bringt der Lehrplan 21?
«Der Unterricht wird sich neu ausrichten» In zwei Jahren soll der neue Lehrplan 21 eingeführt werden. Was wird sich für die Lehrpersonen ändern? Lehrplanexperte Rudolf Künzli beantwortet die wichtigsten Fragen. | Christoph Hotz
Welche Bedeutung hat ein Lehrplan für die einzelne Lehrperson? Er kann ihr beispielsweise am Anfang des Schuljahres bei der Jahresplanung helfen. Der Lehrplan ist für die Lehrper son insofern wichtig, als sie wissen sollte, wie weit sie mit dem Stoff im Unterricht kommen sollte und welche Kenntnisse und Fähigkeit sie erarbeiten muss. Und er ist wichtig für die Abstim mung auf die nächstfolgende Stufe. Und welche Rolle spielt der Lehrplan im Unterrichtsalltag? Es ist ein grosser Irrtum zu denken, dass Lehrpläne für den Unterricht der Lehre rinnen und Lehrer gemacht sind. Lehr pläne sind Reglemente. Im Unterschied zu angelsächsischen Lehrplänen (Curri cula) sind unsere gebräuchlichen Lehr
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Grundelemente unterscheiden sich über haupt nicht.
Foto: zVg
Herr Künzli, sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit Lehrplänen: Welche primäre Funktion kommt einem Lehrplan zu? Rudolf Künzli: Ein Lehrplan soll in erster Linie den Auftrag der Gesellschaft an die Schule klären, der in der Verfassung und in den Schulgesetzen formuliert ist. Er dient als Orientierung für Schulen, Lehrer, Eltern, Schüler und Öffentlich keit und ist ein verbindlicher Rahmen für Schulverwaltungen, Administrati onen und Lehrerschaft, für Unterrichts planung, Lehrmittelzulassung, Schul entwicklung, Prüfungs- und Promoti onsordnungen und Ressourcenzuteilun gen. Zudem ist der Lehrplan für die Klärung von Schnittstellen ein wichti ges Referenzdokument – Schnittstellen zwischen Schulen und Schulen, Schulen und Eltern und der Berufswelt.
Lehrplanexperte Rudolf Künzli.
pläne keine Lehrmittel, es sind keine Arbeitsinstrumente für den Unterricht. Sie sind eher mit der Strassenverkehrs ordnung vergleichbar als mit einem Kochbuch: So wie der Autofahrer die Strassenverkehrsordnung kennen muss, muss der Lehrer den Lehrplan kennen. Rezepte für den Unterricht enthält er jedoch nicht. Mit welchem Aufwand ist die Einführung eines neuen Lehrplans im Schulfeld verbunden? Das hängt vom Lehrplan ab. 80 bis 90 Prozent der Ziele und Inhalte des Volks schulunterrichts bleiben bei Neuerun gen von Lehrplänen gleich. Deshalb hält sich der Aufwand in diesen Fällen in Grenzen. Vergleiche zwischen Lehr plänen verschiedener Kantone zeigen auch, dass die Inhalte überall mehr oder weniger deckungsgleich sind. Die
Wie unterscheidet sich der Lehrplan 21 von anderen Lehrplänen? Der Lehrplan 21 bringt eine erhebliche Präzisierung der Vorgaben, welche Fä higkeiten die Schülerinnen und Schüler in den verschiedenen Altersstufen er werben sollen. Diese werden als zu er reichende Kompetenzen explizit ge macht und systematisch auf die Niveaus abgestuft. Beschrieben die Lehrpläne früher, was Lehrerinnen und Lehrer un terrichten sollen, beschreibt der Lehr plan 21, was Schülerinnen und Schüler können sollen. Mit der Kompetenzori entierung richtet sich der Unterricht ganz neu aus. Dies wird erhebliche Kon sequenzen haben auf den Unterrichts stil der Lehrerinnen und Lehrer. Die Umstellungen für die Lehrpersonen werden also sehr gross sein. Ja, das werden sie, wenn die Kompe tenzorientierung wirklich ernst genom men wird. Doch die Erwartungen dür fen meiner Ansicht nach nicht zu hoch gesteckt werden. Der Unterrichtsstil von Lehrpersonen entwickelt sich in der Re gel aus gemachten Erfahrungen. Das Wissen erwerben sich die Lehrpersonen im Verlaufe der Jahre. Selbst wenn ein Lehrer oder eine Lehrerin es wollte, kann dieser Stil nicht von heute auf morgen umgestellt werden. Deshalb sind nachhaltige Weiterbildungen un abdingbar. Es wird eine umfassende Schulung der Lehrpersonen brauchen. Nur durch eine intensive Betreuung können wir den Anforderungen von
kompetenzorientiertem Unterricht ge recht werden und eine Verbesserung der Unterrichtsqualität erreichen. Wie stellen Sie sich diese Weiterbildungen konkret vor? Die Weiterbildungen müssen möglichst schulnah stattfinden, das heisst, ganz nah am Unterricht positioniert sein. Weiterbildungen sind immer dann wirksam, wenn sie schulnah passieren, das gilt nicht nur für die Umsetzung ei nes Lehrplans. Wer wird für die Umsetzung zuständig sein? Die Weiterbildung wird Sache der Schul leitungen sein müssen. Unterstützung erhalten sie dabei von traditionellen Einrichtungen für Weiterbildungen wie den Pädagogischen Hochschulen. Zu dem wird es an den Schulen weitere Verantwortliche für Umsetzung und zeitliche Spielräume geben müssen. Al le diese Anstrengungen werden teuer sein, weil sie nicht im Rahmen des bis herigen Auftrages zu bewältigen sind. Da Umsetzung und Einführung in der Kompetenz der Kantone liegen, werden
wohl Unterstützung und der Einsatz der Mittel sehr unterschiedlich erfolgen. Wenn die Umsetzung erfolgt ist, wie wird danach die Einführung im Unterricht ablaufen? Das passiert stufenweise. Die Einfüh rung wird nicht gleichzeitig in allen Klassen vom ersten bis zum neunten Schuljahr stattfinden. In einer ersten Phase beginnt man wahrscheinlich auf der Unterstufe. Da Schulen jedoch orga nische Institutionen sind und damit durchlässig, werden einzelne Elemente auch auf anderen Stufen eingeführt werden. Diese Durchlässigkeit gilt im Übrigen auch für die verschiedenen Entstehungsstadien des Lehrplans: Ent wicklung, Umsetzung und Einführung können nicht messerscharf voneinan der getrennt werden. Wovon wird der Erfolg des neuen Lehrplans abhängen? Es gibt zwei entscheidende Bedingun gen: Erfolg haben wird das Projekt nur dann, wenn der damit verbundene Ent wicklungsauftrag zur Qualitätsentwick
lung von Unterricht ernst genommen und entsprechend finanziert wird. Und zweitens wird der Erfolg wesentlich da von abhängen, wie Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler evaluiert werden und wie mit den Ergebnissen umgegangen wird. Die Schweiz hat noch keine breite Erfahrung mit verglei chenden Leistungskontrollen. Eine ent sprechende Evaluationskultur aufzu bauen, wird eine der sensibelsten Auf gaben sein. Ihre Lösung wird das Bild und die Wirkung des Lehrplans 21 massgeblich bestimmen. Die Erwartun gen an den neuen Lehrplan vonseiten Politik, Lehrerschaft, Administrationen, Eltern und Verbänden sind sehr hoch. Damit auch nur ein kleiner Teil davon eingelöst werden kann, braucht es eine intensive Einführungsphase. Rudolf Künzli ist Lehrplanexperte und Titularprofessor für Pädagogik an der Universität Zürich. Von 2001 bis zu seiner Pensionierung 2006 war er zuerst Direktor der PH Aargau, später der PH FHNW.
Christoph Hotz, Redaktion ph|akzente
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Forschungsreise nach Yad Vashem – Studierende berichten über ihre Erleb
«Immer wieder überlief mi
Links: Klagemauer in Jerusalem am Sabbat. Mitte: Die Studierenden mit Stadtführer Uriel vor der Grabeskirche in Jerusalem. Rechts: Holocaust-Museum in Yad Vashem - es symbolisiert die offene Zukunft.
Im Rahmen ihrer Ausbildung können Studentinnen und Studenten verschiedener Pädagogischer Hochschulen an einer Studienreise nach Yad Vashem (Jerusalem) teilnehmen. In einem Tagebuch schildern Teil nehmerinnen ihre Eindrücke und Erlebnisse. | Martina Jermann, Nicole Meier
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ie können wir angehenden Lehr personen das komplexe Thema «Holocaust» gewinnbringend in die Schule einbringen? So lautete die zent rale Frage unserer Studienreise, die uns während des gesamten Aufenthalts in Yad Vashem begleitete. Ziel war es, ein Projekt für Schulen und Hochschulen zu gestalten, das den Schülerinnen und Schülern die Vergangenheit und Gegen wart verständlich macht, sie aber auch anhält, die Zukunft verantwortungsvoll zu gestalten. So soll ein Beitrag zur po litischen Bildung und zur Verpflichtung «Nie wieder» geleistet werden. Während zehn Tagen im letzten Sep
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tember lernten wir Jerusalem und Tel Aviv kennen und arbeiteten am «Inter national Institute for Holocaust Re search» in Yad Vashem an unseren Pro jekten. Die Gedenk- und Forschungs stätte umfasst verschiedene Mahnmale, ein Museum zur Geschichte des Holo caust sowie die weltweit bekannte Al lee der Gerechten. Für die Forschungen stehen ein Archiv mit unzähligen Doku menten und eine grosse Bibliothek zur Verfügung. Im Rahmen des Aufenthalts hatten wir die Möglichkeit, verschiedene Work shops zum Thema «Erinnern, erfor schen, vermitteln: der Holocaust» zu
besuchen, eigene Nachforschungen im Archiv und in der Bibliothek des Insti tutes anzustellen und uns mit Forsche rinnen und Forschern auszutauschen. Tag 1: Reise nach Jerusalem «Los gings frühmorgens mit dem Abflug nach Tel Aviv. Nach der Busreise nach Jerusalem konnten wir noch kurz die Gegend entdecken. Mein erster Eindruck der Stadt ist äusserst vielfältig und gar nicht so, wie ich ihn erwartet hatte. In den Medien wird Jerusalem oft als dicht besiedelte Stadt dargestellt. Präsent wa ren mir Bilder von orthodoxen Juden, die sich durch die engen Gassen quet schen. Aber die Gegend scheint wegen des anstehenden Sabbats beinahe men schenleer. Ich merke, dass ich wohl mit einigen Vorurteilen aufräumen muss.» Tag 2: Führung durch die Altstadt von Jerusalem «Ich konnte die Stadtführung kaum er warten, und sie stellt für mich auch das erste grosse Highlight in Israel dar. Un ser Stadtführer leitete uns sehr kompe
nisse
Fotos: zVg
mich ein kalter Schauer»
tent und doch auch humorvoll durch die Altstadt mit all ihren unglaublichen Geschichten. Sie erschien mir wie ein grosses Museum, so herausgeputzt und strahlend ist sie.» Tag 3: Vertraut werden mit Yad Vashem und seinem Konzept «Der erste Schwerpunkt lag heute in ei ner Führung durch die Anlage von Yad Vashem: die Halle der Erinnerung, der Garten der Gerechten unter den Völkern und das Tal der Gemeinden. Ich war mir bis anhin der vielseitigen Grup pen, derer man in Bezug auf den Holo caust gedenken kann, nicht bewusst. Ausserdem besuchten wir eine Vor lesung zum Ausbildungskonzept der ‹International Schools for Holocaust Studies› und erhielten eine Einführung in das Archiv und die Bibliothek für die individuelle Recherche. Die Vorlesung war sehr lehrreich und interessant. Sie brachte viele Ansichten zur Sprache, die ich mir noch nie so genau überlegt hatte – beispielsweise die Wichtigkeit, die Juden nicht nur als Opfer darzustel
len, sondern auch ihre Lebenswelt vor der Verfolgung zu betrachten und sie in ihrer Selbstwahrnehmung darzustel len. Immer wieder überlief mich bei den Ausführungen ein kalter Schauer. Es erstaunt mich, wie betroffen mich solche Schilderungen machen, obwohl ich schon so viel zu dem Thema gele sen und darüber gehört habe.» Tag 4: Das neue historische Museum von Yad Vashem «Neben einer dreistündigen Führung durch das neue historische Museum von Yad Vashem standen heute Work shops und eine Vorlesung zum Thema ‹Die Entstehung der Endlösung› auf dem Programm. Die Führung durch das ‹New Historical Museum› war grossar tig. Die Architektur des Museums und die vielfältigen Verbindungen zwischen Inhalt und Gestaltung beeindrucken mich. Ich lerne, wie wichtig es ist, Ge schichte durch den Blick auf Einzel schicksale zu veranschaulichen und ihr so eine individuelle Perspektive zu ver leihen.»
Tag 5: Den Holocaust im 21. Jahrhundert unterrichten «In einem Workshop am Morgen ging es darum, wie die Thematik Holocaust heute in der Schule unterrichtet werden kann. Anschliessend hielt Professor Ye huda Bauer, ein israelischer Historiker, eine spannende Vorlesung zum Thema Holocaust und Genozid. Mir bleibt da von besonders in Erinnerung, dass Ge nozid nichts Neues sei, da Menschen seit prähistorischen Zeiten andere Men schen umbringen, und dass der Völker mord mit dem Holocaust kein Ende ge nommen hat, sondern nach wie vor stattfindet. Nach dem Mittagessen hat ten wir Zeit für die Arbeit an unseren eigenen Projekten. Der heutige Tag war so intensiv wie kein anderer. Wir haben sehr viel über den Holocaust erfahren. Jetzt merke ich: Das Thema Holocaust und die ganzen Eindrücke machen auch sehr müde. Körper und Geist müssen ständig Verar beitung leisten. Ich beende den Tag sehr nachdenklich, aber auch froh, das alles erleben zu dürfen.»
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Fotos: zVg
In Jerusalems Untergrund: Führung zu den verborgenen Teilen der Klagemauer.
Reise ins Nichts: Mahnmal im Gedenken an die Opfer des Holocaust.
Auf Erkundungstour, im Hintergrund Jerusalems Altstadt.
Tag 6: Auswirkungen des Holocaust auf Einzelpersonen «Der heutige Tag stand ganz im Zeichen von persönlichen Schicksalen. Überle bende schilderten in Videos ihre Erfah rungen im Holocaust. Ein weiteres Rei se-Highlight war der Besuch von Ehud Loeb, einem Zeitzeugen. Er erzählte uns seine bewegende Geschichte und wir konnten ihm Fragen stellen. Er ist ein sehr sympathischer und bescheidener Mann. Er definiert sich nicht als Überle bender, sondern als gerettete Person. Mich beeindrucken die Identitätspro bleme, mit denen Ehud Loeb zu kämp fen hatte. Von Herbert wurde er zu Hu bert und schliesslich zu Ehud und von Odenheimer wurde er zu Loeb. Die Be gegnung mit Ehud Loeb kann in ihrer Bedeutung für unseren Aufenthalt in Yad Vashem meiner Meinung nach nicht hoch genug eingeschätzt werden.»
vermitteln: der Holocaust› rückte heute etwas in den Hintergrund, und wir konnten uns voll und ganz auf die Ei genheiten der Stadt Tel Aviv konzentrie ren. Mir fiel auf, wie anders diese pul sierende, moderne Stadt im Vergleich zu Jerusalem ist. Wir haben den Sabbat in Tel Aviv und in Jerusalem miterleben dürfen und gemerkt: Die beiden Städte unterscheiden sich diesbezüglich grund legend. Jerusalem wirkt wie ausgestor ben, alle Geschäfte sind geschlossen und wir begegneten nahezu nieman dem. In Tel Aviv hingegen geht das Le ben weiter wie immer.»
Tag 7: Bildungsarbeit in Yad Vashem «In Workshops konnten wir erfahren, welche Bücher sich für unsere Zielstufe eignen. Am Abend ein weiterer Höhe punkt: das Konzert «Kaddish» in Yad Vashem, in dem die Worte von Holo caust-Überlebenden gesungen und von einem Orchester begleitet wurden. Wir hatten Plätze in den vordersten Reihen.
Unglaublich! Wir sassen mit super Sicht auf die Bühne inmitten all dieser Men schen, die dieses Konzert vermutlich besuchten, weil die Shoah Teil ihrer Ver gangenheit ist. Nur schon beim Gedan ken daran bekomme ich eine Gänse haut.» Tag 8: Die Schweiz und Israel «Wir haben Jerusalem verlassen. Die letzten drei Tage verbringen wir in Tel Aviv. Dort trafen wir heute den Schwei zer Botschafter. Er beantwortete unsere Fragen zu seinem Beruf, dem Leben in Israel und dem Nahostkonflikt. Es war ein überaus spannendes Gespräch. Den Nachmittag hatten wir frei zur Verfü gung. In kleinen Gruppen bummelten wir durch Tel Avivs Einkaufsstrasse, legten uns an den Strand, führten Ge spräche mit Einheimischen, badeten im klaren Wasser und genossen die Wellen und die Sonne.» Tag 9: Bauhaustour, Arbeit am Projekt, Tel Aviv entdecken «Der zweitletzte Tag. Wir machten eine Bauhaustour und lernten Tel Avivs Ar chitekturstil kennen. Anschliessend ar beiteten wir an unserer Projekten und entdeckten die Stadt. Das Thema unse rer Studienreise ‹Erinnern, erforschen,
Tag 10: Rückreise «Vor dem nervenaufreibenden Check-In am Flughafen ging’s noch kurz auf den Markt für die letzten Besorgungen. Ich denke, wir Teilnehmenden sind uns al le einig: Die vielen Kontakte, Emotio nen und Diskussionen auf dieser Reise werden bei uns bleibende Eindrücke hinterlassen.» Martina Jermann und Nicole Meier sind Studentinnen an der PH Zürich. martina_jermann@stud.phzh.ch nicole_meier@stud.phzh.ch
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Masterstudiengang Fachdidaktik der Naturwissenschaften
«Ein hohes Niveau schon auf der Primarstufe»
Fotos: zVg
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ie ist Gymilehrerin in Winterthur, er arbeitet als Sekundarlehrer und Do zent an der PHZ Luzern. Gemeinsam ist den beiden Lehrpersonen Christina Nef und Gilbert Stalder, dass sie ihre fach didaktischen Kompetenzen verstärken möchten. Dies war denn auch der ent scheidende Grund für ihre Teilnahme am Masterstudiengang. «Ich möchte noch mehr darüber erfahren, wie man kompetent unterrichtet. In meiner Aus bildung zur Biologielehrerin ist die wis senschaftliche Auseinandersetzung mit der Fachdidaktik meiner Ansicht nach zu kurz gekommen», erklärt Christina Nef ihre Motivation. Gilbert Stalder hat ähnliche Beweggründe: «In meiner Stu dienzeit entstand zur Fachdidaktik so etwas wie eine Hassliebe. Ich interes sierte mich dafür, allerdings entsprach die Qualität des Unterrichts nicht mei nen Bedürfnissen.» Inzwischen haben die beiden Lehr personen das erste Semester erfolgreich absolviert. Ihre Zwischenbilanz fällt positiv aus. «Ich kann sehr viel profitie ren von den einzelnen Modulen, die Dozierenden sind motiviert, und mit der Organisation bin ich auch zufrieden», fasst Stalder die Erfahrungen zusam men. Christina Nef profitiert vor allem vom Austausch mit anderen Lehrperso nen. «Gewinnbringend war für mich auch das Praktikum in einer Sek-B/C.» Und auch sie schätzt das grosse Engage ment der Dozierenden. Da die Teilneh
Das gleiche Ziel vor Augen: die Studierenden Christina Nef und Gilbert Stalder.
menden unterschiedliche Vorbildungen und Kenntnisse vorweisen, sei es nicht immer einfach, allen inhaltlichen Be dürfnissen gerecht zu werden.
Begeisterungsfähige Kinder Da der Studiengang berufsbegleitend absolviert wird, ist die zeitliche Belas tung der Studentinnen und Studenten gross. Christine Nef ist in einem 80-Pro zent-Pensum angestellt und bringt Be ruf und Studium gut unter einen Hut. Gilbert Stalder jedoch stösst hin und wieder an seine Grenzen. Das liegt vor allem an der relativ langen Anreise zu den Vorlesungen und an seinen beruf lichen und privaten Verpflichtungen. Er überlegt sich deshalb, das Studium um ein Semester zu verlängern. Das Hauptziel des Masterstudien gangs ist es, die Kompetenzen der Lehr personen in den naturwissenschaftli chen Fächern zu stärken, um so mehr Schülerinnen und Schüler für ein natur wissenschaftliches Studium zu begeis tern. Diesen Weg erachten die beiden Pädagogen als sinnvoll. «Ich habe die
Foto: flickr_fdecomite
Die Naturwissenschaften verstärkt zu fördern − so lautet das Ziel des ersten Masterstudiengangs Fachdidaktik der Naturwissenschaften. Zwei Studierende berichten über ihre Erfahrungen im ersten Semester – und über ihre Motivation, sich fachdidaktisch weiterzubilden. | Christoph Hotz
Erfahrung gemacht: Je mehr Kompeten zen ich als Lehrperson aufweise, desto grösser ist die Begeisterung bei den Kin dern», so Gilbert Stalder. Christine Nef vertritt ähnliche Ansichten: «Ich erach te es als wichtig, schon auf der Primar stufe ein hohes Niveau zu erreichen. In diesem Alter sind die Kinder noch sehr begeisterungsfähig.» Christina Nef möchte den Masterab schluss allenfalls dazu nutzen, an einer Uni, PH oder an der ETH in der Lehrer bildung arbeiten zu können. Auch für Stalder ist es eine Option, sein Pensum an der PHZ Luzern nach dem Abschluss zu erhöhen, obwohl er betont, dass ihm die Arbeit als Lehrer sehr gut gefällt. Christoph Hotz, Redaktion ph|akzente
Der Masterstudiengang Fachdidaktik der Naturwissenschaften wird als Joint Master der PH Zürich, der Universität und der ETH Zürich angeboten. Voraussetzung für die Zulassung ist ein Bachelor- oder Masterabschluss in einem naturwissenschaft lichen Fach, ein Bachelor- oder Masterabschluss einer PH, ein universitärer Mas terabschluss in Erziehungswissenschaft oder ein gleichwertiger Abschluss. Die Absolventen erhalten den «Master of Arts in Fachdidaktik Naturwissenschaften», jedoch kein Lehrdiplom. Weitere Infos: www.phzh.ch > Ausbildung > Sekundarstufe II > FachdidaktikMaster Naturwissenschaften
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Inserat ph akzente Januar 2012 Aktuell | Inserate
Judentum Christentum Islam
Exkursionen So lernen wir.
Islam in Zürich Ein eintägiger Stadtrundgang Die kulturelle und religiöse Vielfalt, die Probleme und Hoffnungen der hiesigen Muslime aus erster Hand. Leitung: Rifa’at Lenzin Fr, 1. Juni 2012, Kosten (inkl. Mittagessen) Fr. 150.–
Zeugnisse jüdischen Lebens Exkursion zu den jüdischen Friedhöfen am «Friesenberg»
Bei uns herrscht ein Klima der Wärme, in dem wir leistungsorientiert arbeiten, lehren und lernen. Möchten Sie als Lehrperson bei uns Ihre Ideen einbringen und selbstverantwortliches Lernen in den neuen Lernlandschaften gestalten? Bewerben Sie sich spontan oder auf unsere Ausschreibungen: www.fesz.ch/fes/offene-stellen Wir freuen uns darauf, Sie kennen zu lernen. Freie Evangelische Schule Waldmannstrasse 9, 8024 Zürich www.fesz.ch, Telefon 043 268 84 84 Kontakt: Peter Scheuermeier, Rektor
Jüdische Gräber werden nicht aufgehoben und bleiben jahrhundertelang erhalten. Was erzählen sie? Leitung: Ralph Weingarten Mi, 6. Juni 2012, Kosten Fr. 45.–
The Jewish Mile Jüdischer Alltag in Zürich Wollishofen – Enge – Wiedikon: Ein halbtägiger Streifzug durch das jüdische Zürich. Leitung: Michel Bollag, Ralph Weingarten Mi, 13. Juni 2012, Kosten Fr. 100.–
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Schulforum: Im Spannungsfeld zwischen Standardisierung und Eigenständigkeit
Zukunftsthema Profilbildung In der Deutschschweiz arbeiten erst wenige Schulen mit einem eigenen Profil. Dies könnte sich in Zukunft vielleicht bald ändern: Nahezu alle Teilnehmenden des letzten Schulforums der PH Zürich und des Schulamtes des Fürstentums Liechtenstein erachten es als wichtig, die Profilbildung in der Schule zu thematisieren. | Christoph Hotz
haben in der Schweiz nicht die Freiheit wie sie andere Länder kennen, bei spielsweise Holland.» Trotzdem ist es seiner Ansicht nach möglich, ein Schul programm zu gestalten, das auf die lo kalen Bedürfnisse abgestimmt ist und so den unterschiedlichen Anliegen der Kinder gerecht wird. «Schulen mit ho her Migrationsrate stellen sich bei spielsweise ganz andere Herausforde rungen als Schulen mit vielen Kindern ohne Migrationshintergrund.»
Foto: zVg
Coachings als Unterstützung
Meilens Schulleiter Jörg Walser (ganz rechts) erklärt den Teilnehmenden sein Schulmodell.
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er Weg zum eigenen Profil ist lang, stellenweise steinig – und trotzdem lohnenswert. Das zeigen Aussagen von Schulen, die sich in den letzten Jahren mit einem Schwerpunkt eigenständig positionieren konnten. Neben dem gros sen Zeitaufwand erschweren bil dungspolitische Vorgaben die Bemü hungen um ein eigenes Profil. Das im letzten November unter finanzieller Unterstützung der Stiftung Mercator Schweiz durchgeführte Schulforum zum Thema «Schulprofil» nahm sich dieser Problematik an und stellte die Frage in den Mittelpunkt: Wie bewegen sich Schulen im Spannungsfeld zwi schen Standardisierung und Eigenstän digkeit? Im Zentrum der Veranstaltung stand die Präsentation von sechs Schulen aus den Kantonen Zürich, Solothurn und Basel sowie dem Fürstentum Liechten stein. In Workshops berichteten Vertre terinnen und Vertreter der einzelnen Schuleinheiten über ihre Erfahrungen auf dem Weg zum eigenen Profil. Einge rahmt wurden die Praxisbeispiele durch Vorträge von Fachpersonen aus Deutsch land, Österreich und den Niederlanden,
die im Thema Profilbildung grosse Erfah rung aufweisen.
Optimismus und Kritik Die jetzt vorliegende Evaluation der Ver anstaltung zeigt: Praktisch alle Teilneh menden finden es wichtig, die Profilbil dung in der Schule zu thematisieren. Frank Brückel, Dozent an der PH Zürich, spürte am Forum denn auch bei vielen Lehrpersonen und Schulleitern ein Be dürfnis, einen eigenen Schwerpunkt zu setzen. Ein Teilnehmer etwa schrieb in der Befragung zur Evaluation: «Ich bin bestrebt, viele gewonnene Impulse an meiner Schule bald umzusetzen.» Es wurden jedoch auch Stimmen von Teilnehmenden laut, die auf die bildungspolitischen Vorgaben hinwie sen, die für Schulen gelten: «Eine Profi lierung der Schule (neben Leitbild und Schulprogramm) im Sinne einer klaren Strategie ist im Kanton Zürich meiner Meinung nach gar nicht möglich. Heute hat man Leitbilder und Schulprogram me, die sich alle in etwa gleichen, weil man doch nicht die nötige Autonomie hat zur Individualisierung.» Frank Brü ckel ist sich dieser Kritik bewusst: «Wir
Frank Brückel ist davon überzeugt: Sind Schulen bereit, sich eigenständig zu po sitionieren, können sie dieses Ziel errei chen. Wichtig erscheint ihm, dass sie dabei möglichst viel Unterstützung er halten − vor allem durch Supervision oder Coaching. Mehrere kommende Angebote der PH Zürich rücken das Thema Profilbil dung ins Zentrum, so beispielsweise der CAS «Schulentwicklung International: Schweiz/Holland/Fürstentum Liechten stein», der ebenfalls gemeinsam mit dem Schulamt Fürstentum Liechten stein und mit Unterstützung der Stif tung Mercator Schweiz durchgeführt wird. Das holländische Schulsystem sieht traditionell vor, dass öffentliche Schulen eigene Profile entwickeln. Auch im CAS «Schule verstehen – pä dagogisch gestalten» bilden die Themen Bildungsstandards und Standardisie rungstendenzen einen Schwerpunkt. Darüber hinaus stehen folgende Aspek te im Mittelpunkt: Standardisierung und Eigenständigkeit in verschiedenen Weiterbildungsmodulen («Projektma nagement und Veränderungsprozesse», «Schulen der Zukunft», «Alternative Schulmodelle»), auf Studienreisen («Be such an der Primarschule Kleine Kiel strasse Dortmund», «Bildungsreise nach Finnland») und in Kursen («Aktuelle Trends der Schulentwicklung»). Weitere Informationen zu den ewähnten Weiterbildungsangeboten: www.phzh.ch/weiterbildung
Christoph Hotz, Redaktion ph|akzente
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Aktuell |
+++ PHZH in den News +++ Tages-Anzeiger, 19.1.2012 Ruggenacher erhält Anerkennung Individuelles Lernen wird im Schulhaus Ruggenacher grossgeschrieben. Die Pädagogische Hochschule Zürich verleiht der Regensdorfer Sekundarschule einen Preis: Zusammen mit vier weiteren Schulen wird das Regensdorfer Sekundarschulhaus für seine Bemühungen bei der Neugestaltung der dritten Sekundarstufe ausgezeichnet. Im Rahmen des Projekts «Schulen lernen von Schulen» erhalten die fünf Gewinner Fördergelder. Sie wurden aus sieben Bewerbern auserwählt, weil ihre Innovationen mit wenig Aufwand und Anpassungen von anderen Schulen übernommen werden können ganz nach dem Motto: Nicht jede Schule soll das Rad neu erfinden. Neue Zürcher Zeitung, 21.12.2011 Gewinnbringende Praxis Kritiker der Lehrerbildung rufen immer wieder nach praxisnäheren Ausbildungsgängen für Lehrer. Dass die Studierenden der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) einen Viertel ihrer drei- oder vierjährigen Ausbildungszeit im Klassenzimmer verbringen, wird dabei kaum zur Kenntnis genommen. Die näher an die Berufswelt führenden Teile der Ausbildung sind verstärkt und überarbeitet worden. Zu den Neuerungen gehört ein siebenwöchiges Praktikum. Im Frühling haben erstmals 250 Studierende der Kindergarten- und Primarstufe dieses so genannte Quartalspraktikum absolviert. Eine Auswertung der ersten Erfahrungen gibt ein überwiegend positives Bild dieses Praktikums. St. Galler Tagblatt, 27.1.2012 Schulbuch zur Umweltbildung Das kürzlich erschienene Buch «Umweltbildung Plus - Impulse zur Bildung für nachhaltige Entwicklung» setzt neue Schwerpunkte. Der Fokus liegt auf systemischem Denken, Umgang mit Emotionen, Kultur der Achtsamkeit und Verbundenheit. Praxisbezogene Beispiele und Vorschläge ermutigen zur Umsetzung im Unterricht auf allen Stufen und im Schulalltag. Herausgeberinnen sind Ursula Frischknecht-Tobler, Dozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen, und Barbara Gugerli-Dolder, Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Zürich.
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Diskussion unter Berufskollegen über anstehende Veränderungen.
Älter werden im Beruf
Konstruktiv mit Veränderung Ab dem 50. Altersjahr setzen sich viele Lehrpersonen mit dem Älterwerden im Beruf intensiv auseinander. Die einen reagieren mit Gelassenheit, andere hingegen fühlen sich zunehmend überfordert. Eine neue Veranstaltungsreihe der PH Zürich nimmt sich dem aktuellen Thema an. | Christoph Hotz
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er Anteil älterer Lehrerinnen und Lehrer wird in den nächsten Jahren stark ansteigen – bald hat jede dritte Lehrperson das 50. Altersjahr erreicht. Ab diesem Zeitpunkt nimmt das Thema «Älter werden im Beruf» eine besondere Bedeutung ein. Dieser Veränderungspro zess nimmt für jede Lehrperson einen individuellen Verlauf und wird unter schiedlich wahrgenommen. Die einen bewältigen den Alltag wie bisher mit Ruhe, für andere hingegen wird der Beruf zunehmend zur Belas tung: Die Altersdifferenz zu den Schüle rinnen und Schülern und den Eltern wird grösser, die permanenten Verände rungen und Reformen zehren an den Nerven, der tägliche Umgang mit den Kindern ermüdet. «Mit zunehmendem Alter werden Menschen dünnhäutiger, sie möchten und brauchen mehr Ruhe. An einer Schule gibt es jedoch wenig
Rückzugsmöglichkeiten. Dies kann zu Überforderung bis hin zur Erschöpfung führen», sagt Barbara Dangel, Bereichs leiterin «Person und Profession» an der PH Zürich. Hinzu kommt die Angst, mit den jüngeren Kolleginnen und Kollegen nicht mehr mithalten zu können und nicht mehr gebraucht zu werden. «Wer den Lehrpersonen aufgrund ihrer beruf lichen Erfahrung und ihres Fachwissens geschätzt und fühlen sie sich neuen Herausforderungen gewachsen, können sie besser mit Veränderungen umge hen», so Barbara Dangel.
Bereicherung statt Belastung Sich als vollwertiges Teammitglied zu fühlen, ein tragendes und wertschät zendes Arbeitsumfeld, empathische Vor gesetzte und eine positive innere Ein stellung zu Veränderungsprozessen sind denn auch die wichtigsten Vorausset zungen, damit der Lehrberuf ab dem 50. Altersjahr als Bereicherung und nicht als Belastung empfunden wird. Spüren Lehrerinnen und Lehrer, dass sie beruf lich immer unzufriedener werden, kön nen Gespräche helfen, mit Veränderun gen konstruktiv umzugehen. «Sei es mit Kolleginnen und Kolle gen, mit Vorgesetzten, im Freundeskreis oder in der Familie: Mit anderen über die Schwierigkeiten reden kann ein wichtiger Schritt zur Entlastung sein»,
stutzen und staunen
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«Deshalb bin ich Lehrperson und Sie Laie»
en umgehen sagt Ursina Anliker, Dozentin und Bera terin an der PH Zürich. Zudem sei es wichtig, dass Betroffene Gelungenes be wusst wahrnehmen, Neugier erhalten und pflegen, Visionen entwickeln und einen Ausgleich zur täglichen Arbeit fin den. Wenn sich die Situation nicht ent spannt, rät Ursina Anliker, professionel le Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die neue Veranstaltungsreihe «Älter werden im Beruf» der PH Zürich gibt Lehrerinnen und Lehrern die Chance, sich mit anderen Personen über Verän derungsprozesse im Berufsalltag auszu tauschen und über Möglichkeiten zu diskutieren, konstruktiv damit umzuge hen. Ziel ist es, die letzten Berufsjahre befriedigend zu gestalten. Das Thema wird an neun Abenden unter verschie denen Aspekten beleuchtet. Geleitet werden die Veranstaltungen von Fach personen der PH Zürich. Die Veranstal tungsreihe richtet sich an alle Akteure aus dem Schulfeld sowie an weitere in teressierte Personen. Im Anschluss an diese Themenreihe wird ab Juni 2012 vom Zentrum für Be ratung eine Supervisionsgruppe zur gleichen Thematik angeboten. Vollständiges Programm «Älter werden im Beruf»: http://kurse.phzh.ch > Themenreihe > Älter werden im Beruf
Christoph Hotz, Redaktion ph|akzente
«Nein, das sehen Sie falsch, deshalb bin ich Rennfahrer und Sie Journalist», ent gegnete Bode Miller in einem Interview. Der Journalist hatte ihn mit der Aussage «Sie fuhren aufrecht weiter, wenn Sie in die Hocke gegangen wären, wäre sogar eine Medaille möglich gewesen» zu be lehren versucht. Der Sport ist das bevorzugte Feld, in dem sich mehr oder weniger dilet tantische Experten lautstark als Fach leute aufspielen. Sie haben im Nach herein genau vorausgesehen, wie sich die Sache entwickeln würde und wie man richtig hätte reagieren müssen. In einem von der öffentlichen und veröffentlichten Meinung fast so stark beachteten Feld gibt es auffällige Pa rallelen. Im Themenfeld Schule und Erziehung wissen es viele auch um vieles besser – ganz unbelastet von Er kenntnissen und Zusammenhängen –, von Theorien ganz zu schweigen. Da wird an Elternabenden mit lockerer Selbstverständlichkeit und demonstra tiver Selbstsicherheit Lehrpersonen er klärt, wie zeitgemässes erfolgreiches Unterrichten aussehen würde. Da wird in Fernsehdiskussionssendungen zu Bildungsfragen Bildungsforschern munter auf der Basis des gesunden Menschenverstands interessierter Laien widersprochen. Mitschuldig an dieser verbreiteten po pulistisch-di lettantischen Entwicklung sind Bil dungs-Fachper sonen.
Sie wagen es kaum, auf ihre Pro fessionalität zu pochen – aus Angst, distanziert-belehrend zu wirken oder als praxisfeindlich-kompliziert wahr genommen zu werden. Sie scheuen Konfrontationen und ziehen es vor, zu vermitteln und bei den Gesprächspart nern durch ihre Kompromissbereit schaft gut anzukommen. So werden in pädagogischen Dis kussionen von Fachleuten immer wie der gerne und bereitwillig kunden freundliche Puffer angewendet und Er munterungen wie «Es gibt keine dum men Fragen» postuliert. Durch diese lediglich gut gemeinte pädagogisieren de Wildcard werden munter-selbstbe wusst Fragen im Stil von «Wie würden Sie als Theoretiker Ihre Erkenntnisse in einer Klasse mit 90 Prozent Verhaltens originellen umsetzen?» provoziert. Und manchmal wird auf eine solche Suggestiv-Frage mit «Ich bin froh, dass Sie diese Frage gestellt haben» reagiert – um ja keine Zeichen des Unverständ nisses aufkommen zu lassen. Damit es klar ist: Selbstverständlich gibt es dumme Fragen! Ebenso wie dumme Antworten! Bode Miller hat mit seiner dezidier ten Aussage etwas Entscheidendes vorgemacht. Seine Antwort «Nein, das sehen Sie falsch» weist das selbstherr liche Laien-Besserwissertum in die Schranken, indem er selbstbewusst klarstellt, wer Experte und wer Laie, wer Professional und wer Amateur ist. In einer Zeit mehrheitstauglicher kundenfreundlicher Unverbindlichkeit braucht es auch dezidierten Wider spruch, selbstbewusste Berufung auf Professionalität, klares Zurückweisen unverschämter Fragen. «Nein, das se hen Sie falsch! Deshalb bin ich Lehr person und Sie Laie.» Punkt.
Hans Berner ist Dozent für Pädagogik an der PH Zürich. hans.berner@phzh.ch
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Medientipps |
Umfassende Perspektive – konkret umgesetzt Barbara Gugerli und Ursula Frischknecht Tobler beweisen Mut – Mut, über kon ventionelle Themenfelder hinauszuden ken und neue Perspektiven auf die Um weltbildung zu werfen. Ihren integrati ven Ansatz entwickeln sie auf der Fest stellung, dass nachhaltiges Denken und Handeln in einer systemischen Denk weise sowie in einer entsprechenden emotionalen, motivationalen und spirituellen Haltung wur zelt. Nur wenn Kinder in ihrer Ganzheit angesprochen wer den, nur wenn sie mit sich selbst und ihren Emotionen acht sam umzugehen lernen, sind sie auch fähig, ihre Verbunden heit mit der Mitwelt wahrzunehmen. Verbundenheit wird gefördert durch das Erkennen systemischer Vernetztheit un serer Welt. Im konkreten Handeln – da, wo wir sind – bietet
sich die Chance, Selbstverantwortung und Sinn zu erfahren. Konkrete Unterrichtsbeispiele zeigen auf schöne, immer wie der überraschende und kreative Weise, wie sich diese Anlie gen spielerisch im Unterricht umsetzen lassen. In weiteren Kapiteln wird der Ansatz theoretisch fundiert und es werden Konsequenzen für das Schul- und Bildungswesen formuliert. Das Buch – enorm reichhaltig und mit einem umfassenden Anspruch – hätte von mehr Selektion und Fokussierung pro fitiert. Dennoch: Wer sich von einer visionären Denkweise anstecken lässt, findet hier viel Inspiration und Anregung für die eigene Lehrtätigkeit. | Yuka Nakamura Barbara Gugerli-Dolder, Ursula Frischknecht-Tobler (Hrsg.) Umweltbildung Plus Impulse zur Bildung für nachhaltige Entwicklung Zürich: Verlag Pestalozzianum, 2011. 192 Seiten. CHF 32.–; € 26.–
Mehr erzählen, weniger aufzählen Wir lesen lieber Geschichten als Aufzäh lungen von Fakten. Weil Geschichten von Menschen und Schicksalen handeln, sprechen sie die Gefühle an und bleiben besser haften. Marie Lampert und Rolf Wespe zeigen in ihrem Handbuch, was das für Journalisten beim Realisieren von Texten, Radio- und TV-Beiträgen be deutet. Mit einem relevanten Thema und einem attraktiven Titel mag man die Aufmerksamkeit des Publikums kurzfristig gewinnen. Doch damit die Leserin dranbleibt und der Zuschauer nicht wegzappt, braucht es mehr. Eine gute Story eben. Eine durchdachte Dramaturgie mit Spannung, Höhepunkt, Auflösung und Läuterung. Ge schichten mit Anfang, Mitte und Schluss. Storys mit Handlun gen, Schauplätzen und Helden, denen wir unser Mitgefühl
schenken. Neben den erzählerischen Aspekten darf das The ma nicht untergehen. Es will auf eine klare Aussage hin zu gespitzt werden. Zum Szenischen gesellt sich so das Fakti sche, das in die Geschichte verwoben wird und den Hinter grund ausleuchtet. Von Aristoteles bis Tom Wolfe trägt das Autorenduo viel Wissen über Wesen und Wirkung von Ge schichten zusammen. Beispiele von aktuellen Reportagen beziehungsweise narrative nonfiction aus der Schweiz und aus Deutschland illustrieren die Punkte trefflich. Es ist, als läse man eine gute Zeitung, und als Zugabe – ohne es zu merken – ein Fachbuch obendrein. | Thomas Hermann Marie Lampert, Rolf Wespe Storytelling für Journalisten Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2011. 262 Seiten. CHF 35.50; € 25.—
Im Auge des Betrachters Optogramme sind Spuren auf der Netz haut – Bilder, die sich bei Sterbenden auf der Retina erhalten. Wahrheit oder Fik tion? Ab Mitte des 19. Jahrhunderts, als das junge Medium Fotografie erste Tri umphe feiert, geistern die Optogramme immer wieder in Berichten durch die Presse und regen Forschung und Fantasie gleichermassen an. Wenn durch den Schreck des plötzlichen Todes der letzte Blick wie der Abdruck auf einer daguerrotypischen Platte im Auge eingefroren wird, könnten anhand solcher Bilder Tatorte identifiziert und Mör der ihres Verbrechens überführt werden. Grausame Tierver suche sollen den wissenschaftlichen Beweis für die «retinale Augenzeugenschaft» liefern, aber die Netzhautbilder sezierter Frösche und Kaninchen sind kaum aufschlussreicher als die
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Glanzlichter auf Gemälden und Fotografien. Dennoch hält sich der Mythos bis in die späten 1920er-Jahre und das Phan tasma taucht weiterhin als Motiv in skurrilen Kriminalroma nen, Science-Ficiton-Filmen oder Mysteryserien auf. Bernd Stiegler, Literaturwissenschaftler und Kenner der Fotografie, erzählt die kuriose Karriere des Optogramms ent lang detaillierter Quellen und mit einer Fülle kulturhistori scher Einsichten und Querverweise. Ein faszinierender Gang durchs Gruselkabinett der Wissenschaften und zugleich ein erhellendes Stück Mediengeschichte. | Daniel Ammann Bernd Stiegler Belichtete Augen Optogramme oder das Versprechen der Retina Frankfurt/M.: S. Fischer, 2011. 250 Seiten. CHF 28.50; € 19.95
Die Avantgarde des kreativen Schreibens Der Band Schreiben unter Strom ver spricht nichts weniger, als ein «Schreib verführer neuen Typs» zu sein. Der Autor bricht mit den traditionellen gedruckten Formen des Schreibens und setzt auf die ganz neuen Medien. Hier wird mit Face book, Blogs, Twitter und Co. literarische Kunst produziert. Gegliedert ist das Buch in drei Teile mit jeweils etwa sechs Ka piteln, die konkrete Schreibaufgaben und Beispiele beinhal ten. Im ersten Teil lernt man, die digitalen Medien kreativ zu nutzen. Mit Hilfe von zufälligen Textfragmenten aus dem In ternet werden Gedichte kreiert, literarische Hypertexte herge stellt oder poetische SMS und Twitter-Nachrichten gedichtet. Der zweite Teil zeigt, wie sich Schreibprojekte mit digitalen Medien realisieren lassen. Man wird angeleitet, Romane ins
Twitter-Format zu transferieren oder gemeinsam mit unbe kannten Personen einen E-Mail-Roman zu verfassen. Der drit te Teil stellt Projekte vor, die auf das «echte» Leben über greifen. Man lernt, in die Welt der Blogger einzutreten, auf Facebook literarische Figuren zu konstruieren oder erfundene Geschichten über die medialen Grenzen hinweg zu inszenie ren. Die digitalen Medien funktionieren nach eigenen Geset zen und bringen neue Formen des Schreibens hervor. Wer in diese Welt eintauchen möchte, dem ist Schreiben unter Strom ein guter Wegweiser, der aber eine Affinität für neue Medien erfordert. | Alex Rickert Stephan Porombka Schreiben unter Strom. Experimentieren mit Twitter, Blogs, Facebook & Co. Mannheim: Dudenverlag, 2012. 160 Seiten. CHF 14.95; € 24.90
Filmbildung reloaded Film ist in unserem Alltag in verschie densten Formen präsent und jederzeit und überall verfügbar: auf dem Handy, im Internet, ab DVD, im Fernsehen. Da der Film längst nicht mehr nur im Kino stattfindet, ist es höchste Zeit, darüber nachzudenken, wo die Orte des Films heute sind und wie sich das Verständnis des Mediums gewandelt hat. Der vorliegende Band Orte filmischen Wissens: Filmkultur und Filmvermittlung im Zeitalter digitaler Netzwerke widmet sich diesen grundlegenden Fragen, die sich angesichts digita ler Netzwerke und Medienkonvergenzen aufdrängen. Darüber hinaus wird damit sehr einleuchtend die für die heutige Film- und Medienwissenschaft wesentliche Fragestellung ver knüpft, wie sich die Filmvermittlung unter den neuen Bedin
gungen weiterentwickeln soll. Dabei wird mit den Texten ein sehr breites Spektrum von Bereichen der Filmvermittlung un tersucht (Filmprogramme, Archive, Schule, DVD-Editionen) und verschiedene filmpädagogische Ansätze in Frankreich, England und Deutschland vorgestellt. Auch das Potenzial des Films, sich selbst zu vermitteln, wird in einigen Aufsätzen eingehend thematisiert. Es ist zu hoffen, dass dieser anregen de Band zu weiterführenden Studien und Diskussionen im bislang weitgehend vernachlässigten Feld der Filmvermitt lung Anlass gibt. | Jan Sahli Gudrun Sommer, Vinzenz Hediger, Oliver Fahle (Hrsg.) Orte filmischen Wissens Filmkultur und Filmvermittlung im Zeitalter digitaler Netzwerke Marburg: Schüren Verlag, 2011. 390 Seiten. CHF 40.90; € 29.90
Lesen in Nahaufnahme Literatur lehrt uns Aufmerksamkeit. Da durch werden wir nicht zu besseren Menschen, aber gewiss zu besseren Be obachtern. In seinem Buch mit dem doppeldeutigen Originaltitel How Fiction Works führt der renommierte Literatur kritiker James Wood an Textbeispielen vor, wie das funktioniert, wenn uns die Prosa eines Romans in Bann zieht und mit subtilen Mitteln unseren Blick einstellt. Wie ist das ge macht? Welche Kräfte sind da am Werk? Wood versteigt sich nicht in poetologische Belehrungen und verzichtet weitge hend auf erzähltheoretische Ausführungen. Er hält ganz ein fach die Lupe über den Text. Wie der Begleitkommentar im Bonusmaterial einer DVD lenkt er unser Augenmerk auf De tails, auf den Rhythmus eines Satzes, auf den kaum spürba
ren Wechsel zwischen Figuren- und Autorensprache. Wir wer den Zeuge, wie Flaubert den modernen Realismus erfindet und Prosa in Poesie verwandelt. Wir schauen Joyce über die Schulter, wenn er mitten im Satz den Blickwinkel ändert, oder wir entdecken bei Henry James und Virginia Woolf «die besten Wörter in der besten Reihenfolge». Anders als bei der Enthüllung eines Zaubertricks schlägt unsere Neugier dabei nicht in Ernüchterung oder Enttäuschung um. Woods Verfah ren des «Close Reading» schärft vielmehr unsere Sinne und lässt Genuss und Bewunderung wachsen. | Daniel Ammann James Wood Die Kunst des Erzählens Aus dem Englischen von Imma Klemm Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2011. 237 Seiten. CHF 28.50; € 19.95
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Bildungsforschung |
Bescheidene Effekte beim altersdurchmischten Lernen
Nicht alle Kinder profitieren vom altersdurchmischten Lernen.
Altersdurchmischtes Lernen (AdL) boomt in verschiedenen Kantonen. Nicht selten wird es als Schulentwicklung schlechthin verstanden. Dabei sind die Effekte eher bescheiden. Wird AdL im Fachunterricht umgesetzt, sollte zudem einiges berücksichtigt werden. | Esther Brunner
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icht wenige Schulen geben ihre Jahrgangsklassen zugunsten von altersdurchmischten Abteilungen auf. AdL boomt und wird vielerorts zu ei nem neuen ideologisch aufgeladenen Feld. Die Rede ist von «richtigem AdL» oder von «AdL als pädagogischer Grund haltung». Aus wissenschaftlicher Pers pektive fragt sich, ob dieser Boom ge rechtfertigt ist. Lernen Kinder und Ju gendliche in AdL-Klassen besser, effek tiver oder einfach anders? Und wie soll AdL im Fachunterricht umgesetzt wer den?
Keine Leistungsunterschiede Die bisherigen empirischen Befunde
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machen es deutlich: In den Schulleis tungen gibt es keine Unterschiede zwi schen AdL-Klassen und Jahrgangsklas sen (vgl. z.B. Hattie, 2009; Kadivar et al., 2005; Rossbach, 2003). Allerdings muss berücksichtigt werden, dass diese Ergebnisse mehrheitlich aus innovati ven Versuchsschulen stammen, die oft nicht nur besonders engagiertes Perso nal, sondern auch spezielle Rahmenbe dingungen aufweisen. Ebenfalls bekannt ist, dass AdL nicht für alle Lernenden günstig ist. Speziell die Jüngeren profitieren, nicht aber die Älteren. Der Altersunterschied der Kinder sollte zudem weniger als drei Jahre betragen (Pratt, 1983). Für die
Schulleistungen ist AdL dann erfolg reich, wenn flexible und fächerspezi fisch leistungshomogene Gruppen ge bildet werden, nicht aber dann, wenn es «einen Rahmen für die Individuali sierung der Lernprozesse darstellt» (Rossbach, 2003, S. 85). In den sozialen Kompetenzen schneiden Kinder aus Mehrjahrgangs klassen zwar etwas besser ab als Gleichaltrige aus Jahrgangsklassen. Ins gesamt fällt der Vorteil aber marginal aus (Kadivar et al., 2005). Ob die Mehr klassenschule aufgrund von administ rativen Gründen gebildet wurde oder aus pädagogischer Überzeugung, macht weder leistungsmässig noch im sozial-
Foto: Svilen Milev
AdL – ein total überschätzter Boom?
emotionalen Bereich einen Unterschied (Veenman, 1995). Für die schulischen Leistungen macht es also keinen Unterschied, ob man eine AdL-Klasse oder eine Jahr gangsklasse besucht. Bei den sozialen Kompetenzen gibt es leichte Vorteile für AdL. Es werden allerdings auch Voraus setzungen für erfolgreiches AdL deut lich: z.B. der Altersunterschied und die leistungshomogenen Lerngruppen. AdL ist in vielen Schulen Realität. Am Beispiel des Mathematikunterrichts soll gezeigt werden, wie dieser in AdLKlassen gestaltet werden kann und wo rauf besonders geachtet werden muss.
Lehrmittel sehr gut kennen Die vorliegenden fachdidaktischen Kon zepte zu AdL beziehen sich auf das Zu sammenlegen von zwei Jahrgängen im Grundschulbereich (1.–4. Kl.) und ge hen nur von punktuell gemeinsamem Arbeiten am gleichen Inhalt aus (z.B. Rathgeb-Schnierer und RechtsteinerMerz, 2010). Weder das einsame Abarbeiten von mehr oder weniger individualisierten Arbeitsplänen, noch das vollständige «gemeinsame Lernen am (gleichen) Ge genstand» sind deshalb angemessene Umsetzungen, wenn es um die Gestal tung von mathematischen Lernprozes sen geht. Vielmehr muss überlegt wer den, welche offenen Problemstellungen sich für gemeinsames Arbeiten in lern standsheterogenen Gruppen eignen, und welche Inhalte einen gemeinsa men thematischen Einstieg bei nachfol gend verschiedener Umsetzung erfor dern oder ganz in lernstandshomoge nen Gruppen umgesetzt werden sollen (z.B. Einführung in neuen Stoff). Dazu ist es notwendig, sowohl Lehr plan wie Lehrmittel der eigenen und der angrenzenden Stufen sehr gut zu kennen. Ein spiralförmig aufgebautes Lehrmittel leistet zudem eine gute Über sicht über gemeinsame Themen, die jahrgangsbezogen oder leistungshomo gen unterschiedlich bearbeitet werden Welche Erfahrungen machen Sie mit AdL? Profitieren Ihre Schülerinnen und Schüler davon – oder eher nicht? Welche Schwierigkeiten treten Ihren Erkenntnissen nach auf? Was sind die positiven Aspekte? Schreiben Sie uns eine E-Mail: phakzente@phzh.ch
können. Innere Differenzierung ist aber in jeder Klasse notwendig und kann nicht durch AdL ersetzt werden. AdL ist also auch in Mathematik machbar. Aber wenn die Qualität des Unterrichts hoch sein soll, muss sorgfäl tig überlegt werden, welche Inhalte sich dafür eignen und welche nicht.
Inhalt vor Form! Zu glauben, dass AdL zu einer Verbesse rung der Unterrichtsqualität führt, ist naiv, denn AdL ist in erster Linie eine Weiterentwicklung der Unterrichtsorga nisation. Und wie bei jeder Reform be steht die Gefahr, dass stärker auf die Organisation als auf den Inhalt geachtet wird. Denn nicht jeder Inhalt eignet sich für die gemeinsame Bearbeitung in heterogenen Lerngruppen. Der Inhalt bestimmt die Form, nicht umgekehrt. Das gilt auch für AdL! Guter Mathema tikunterricht ist in vielen Settings mög lich – und kann auch AdL beeinhalten, muss aber nicht! Literatur Hattie, J. (2009). Visible learning. A synthesis of over 800 Meta-Analyses relating to achievement. London: Routledge. Kadivar, P. et al. (2005). Effectiveness of MultiGrade Classes: Cooperative Learning as a Key Element of Success. Proceedings of world academy of science, engineering and technology, 8, 169-172. Pratt, D. (1983). Age segregation in schools. Paper presented at the Annual Meeting of the American Educational Research Association, Montreal 1983 (ERIC ED 231 038). Rathgeb-Schnierer, E. & Rechtsteiner-Merz, C. (2010). Mathematiklernen in der jahrgangsübergreifenden Eingangsstufe. München: Oldenbourg. Rossbach, H.-G. (2003). Empirische Vergleichsuntersuchungen zu den Auswirkungen von jahrgangsheterogenen und jahrgangshomogenen Klassen. In R. Laging (Hrsg.), Altersgemischtes Lernen in der Schule (2. korr. Aufl.) (S. 80-91). Hohengehren: Schneider. Veenman, S. (1995). Cognitive and Noncognitive Effects of Multigrade and Multi-Age Classes: A Best-Evidence Synthesis. Review of Educational Research, 65, 319-381.
Esther Brunner ist Dozentin für Mathematikdidaktik, Pädagogik und Sonderpädagogik an der PH Thurgau. esther.brunner@phtg.ch
Neues aus der Forschung Wirkungen und Wirksamkeit der externen Schulevaluation: Zum Stand der Forschung In den vergangenen Jahren ist das traditionelle Schulinspektorat zugunsten eines Systems externer Schulevaluation aufgegeben worden. Die hier vorgestellte Studie gibt eine Übersicht über Wirksamkeitsmodelle und Forschungsarbeiten zur Thematik der externen Evaluation von Schulen. Sie kommt zum Schluss, dass die Erforschung von Wirkungen und Wirksamkeit externer Schulevaluation noch in ihren Anfängen steckt, dass es sich dabei um eine komplexe Materie handelt und dass somit den Forschenden, die die Wirksamkeit der externen Evaluation nach weisen möchten, die Arbeit in absehbarer Zeit nicht ausgehen wird. FHNW, PH Aarau, vera.husfeldt@fhnw.ch
Schulsport und Persönlichkeitsentwicklung Dass der Sportunterricht in den öffentlichen Schulen einen substanziellen Beitrag an die Bildung der Persönlichkeit leiste, bleibt eine Behauptung und konnte bisher empirisch nicht belegt werden. Dies versucht eine Studie mit einem neuartigen Ansatz zu ändern. In einer dynamisch-interaktionistischen Perspektive wur den Einflüsse schulsportbezogener Interventionen auf die Selbstkonzeptentwicklung elf- und zwölfjähriger Schülerinnen und Schüleraus 17 Berner Primarschulklassen untersucht. Die Ergebnisse haben gezeigt, dass spezifische Facetten des Selbstkonzepts der Jugendlichen durch einen persönlichkeitsfördernden Sportunterricht positiv beein f lusst werden können. Universität Bern, achim.conzelmann@ispw.unibe.ch
Vom Arbeitgeber unterstützte Weiterbildung für Teilzeitkräfte: nur für Frauen? Diese Studie überprüft, ob der TeilzeitNachteil Frauen und Männer im gleichen Mass betrifft. Die Studie gelangt zum Schluss, dass teilzeitarbeitende Männer in dieser Hinsicht deutlich härter bestraft werden als Frauen. Für Männer ist es klar schwieriger, ein Arrangement zu finden, das ihnen eine ausgeglichenere Verbindung von Arbeit und Familie erlaubt. Universität Zürich, yvonne.oswald@business.uzh.ch www.skbf-csre/neuste_informationen 5/11
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PHZH live |
Aus der Hochschulleitung
Neues Hochschulgesetz – Auswirkungen auf die PH Das neue Hochschulförderungs- und Koordinationsgesetz (HFKG) des Bundes will im Rahmen einer zukunftsgerichteten Hochschulpolitik die Qualität und Wettbewerbsfähigkeit des Schweizer Hochschulsystems fördern. Was bedeutet dies für die Pädagogischen Hochschulen? | Walter Bircher
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Foto: Peter Ruggle
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ie Eidgenössischen Räte haben am 30. November 2011 das neue Hoch schulförderungs- und Koordinationsge setz (HFKG) verabschiedet. Es löst das Universitätsförderungsgesetz und das Fachhochschulgesetz ab und regelt die Grundlagen, damit Bund und Kantone gemeinsam für einen wettbewerbsfähi gen und koordinierten gesamtschweize rischen Hochschulbereich von hoher Qualität sorgen können. Wenn das Ge setz frühestens 2014 in Kraft treten wird, wird es auch Auswirkungen auf die Pädagogischen Hochschulen in der Schweiz haben. fl Es soll eine für alle Hochschulen ver bindliche Rahmenordnung über Studienrichtzeiten und über die Aner kennung von Studienleistungen und Studienabschlüssen geschaffen wer den, die der Schweiz erlaubt, weiterhin aktiv am Ausbau des europäischen und weltweiten Bildungsraums teilzuneh men. Für die Pädagogischen Hochschu len bedeutet dies auf Grund ihrer noch sehr heterogenen Strukturen eine Har monisierung in der Organisation als Hochschule und in zentralen Bereichen ihrer Leistungen (z. B. Lehrdiplome, Zu lassung). fl Für alle Hochschulinstitutionen wer den einheitliche und international kompatible Vorschriften über die Quali tätssicherung und die Sicherstellung der Qualitätssicherung (Akkreditierung) gel ten. Alle Pädagogischen Hochschulen haben demnach eine institutionelle Akkreditierung zu realisieren. Heute ist durch die Diplomanerkennungsregle mente der EDK eine minimale Qualitäts sicherung gegeben.
Walter Bircher, Rektor PH Zürich.
fl Zur Entwicklung eines zukunftsge richteten Hochschulraumes Schweiz soll ten alle Hochschultypen strukturell die gleiche Ausgangslage haben. Gegenwär tig aber fehlt den Fachhochschulen und den Pädagogischen Hochschulen die Möglichkeit, Doktorate zu vergeben. Da durch fehlen dem Mittelbau die Dokto randen, und der eigene Nachwuchs kann nur über Umwege gefördert wer den. In den nächsten Jahren sollte die se Ungleichheit angegangen und gelöst werden. Dabei steht nicht das uneinge schränkte Promotionsrecht für Fach hochschulen und Pädagogische Hoch schulen im Zentrum. Es geht vielmehr darum, alternative Modelle zu entwi ckeln. Referenz könnte da das norwegi sche Modell sein: Dort können Hoch schulen für einzelne Fächer oder Berei che von einer nationalen Akkreditie rungsagentur das Promotionsrecht zu gesprochen erhalten. Pädagogische Hochschulen könnten allenfalls in Ko operationen Themencluster bilden und für diese dann das Promotionsrecht er werben. fl Durch die Einführung des HFKG wird auf kantonaler Ebene das eidgenössi sche Fachhochschulgesetz wegfallen. Es
bedarf im Zuge der Neuformulierung ei ner Neuregelung der Governance zwi schen den Pädagogischen Hochschulen und den kantonalen Bildungsverwal tungen. fl Der schweizerische Hochschulrat wird neu die Zulassung zu den Pädago gischen Hochschulen festlegen. Damit greift er in die bisherige Kompetenz der Schweizer Erziehungsdirektorenkonfe renz ein. Die Zulassungsvoraussetzun gen zu den Pädagogischen Hochschulen sind aktuell in den Diplomanerken nungsreglementen der EDK definiert. Eine harmonisierende Regelung der Zu lassung durch das Bundesgesetz hat im Einklang mit den Kantonen zu erfolgen. fl Die Steuerung der schweizerischen Hochschulpolitik bedingt mehrjährige Entwicklungs- und Finanzplanungen. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Pädagogischen Hochschulen mit Pro dukten, die den oft rasch wechselnden kantonalen Bedürfnissen unterliegen, an der schweizerischen hochschulpoli tischen Koordination beteiligt werden können. Das HFKG stellt ein geeignetes Koor dinationsinstrument zur Entwicklung des Schweizer Hochschulsystems und zur Qualitätssicherung dar. Es ist wich tig, dass die Pädagogischen Hochschu len darin als eigenständiger Hochschul typus eingebettet sind. Auf Grund der spezifischen Aufgaben und Strukturen der Pädagogischen Hochschulen werden in der Umsetzung des Gesetzes entspre chende Differenzierungsverfahren an gewendet werden müssen. Walter Bircher ist Rektor der PH Zürich.
Stiftung Pestalozzianum − Stiftungsrätin Marion Heidelberger im Porträt
«An mir kommt man nicht so leicht vorbei»
Foto: zVg
Lehrerin, Gewerkschafterin, alleinerziehende Mutter. Ihre Arbeitsstunden will Marion Heidelberger gar nicht zählen. Sie setzt sich lieber für die Frühförderung ein, bemüht sich um die Integration von Jugendlichen und macht ihren unter ADHS leidenden Söhnen Mut. | Franziska Agosti
«Schule ist Leben»: Marion Heidelberger.
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arion Heidelberger sitzt im Lehrer zimmer in Niederhasli. Seit einem Jahr ist sie Lehrerin. Ihre Kollegin steht am Kopierer und sagt: «Du, ELK, (Ele mentarlehrerinnen- und Lehrerkonfe renz, Kanton Zürich), das wäre doch was für dich.» Marion Heidelberger geht zu einer Sitzung. Danach weiss sie: «Das ist meins». Das war 1990. Es gab noch keine Schulleitungen. Eine Schule, die vom Stundenplan her den Müttern entge genkommen sollte, war eine Art Hirnge spinst, die ersten Schulreformen aber wurden bereits lanciert. Genug Arbeit also für Marion Heidel berger. Und genau die richtige, denn sie liebt den Austausch unter engagierten Kolleginnen und Kollegen. «ELK war
fachlich anspruchsvoll, aber auch eine Oase im manchmal erdrückenden All tag mit einem depressiven Mann», er klärt sie. Marion Heidelberger ist direkt. Sie trinkt gleichzeitig einen Latte Macchiato und eine Cola Light und erzählt über ihre bevorstehende Magenoperation. «Ja, Sie können persönliche Sachen über mich schreiben. Das bin alles ich.» Ent spannt sitzt sie da, ihr dichtes schwar zes Haar perfekt gescheitelt, der schwar ze Mantel, die Bluse, alles passt. «Ich bin authentisch», sagt sie, angespro chen auf ihren Mut.
Jedes Kind will Erfolg Authentizität hat ihr geholfen. Denn als sie ihr zweites grosses Engagement ne ben der Schule annahm als Mitglied der Geschäftsleitung beim Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH), gab es Kritik. Warum sie so viel mache, ob sie nicht genug hätte als mittlerwei le alleinerziehende Mutter. Doch sie wollte etwas bewirken. Denn jedes Kind will lernen, jedes Kind will gefallen und jedes will Erfolg, ist sie überzeugt. Ihre Kinder sind das bes te Beispiel. Beide leiden unter ADHS. Als der Ältere, der in der Sek B war, Helikop terpilot werden wollte, hiess es, das ginge niemals. Heidelberger half, eine Schnupperlehre als Polymechaniker zu suchen. Der Sohn erhielt die Lehrstelle prompt. Der Arbeitgeber war von seinen sozialen Kompetenzen beeindruckt. «Ich weiss, was in meinem Sohn steckt und habe die negativen Kommentare
über ihn und mich weggesteckt», er zählt sie. Sie lernte, für sich einzustehen, denn ihre Visionen über eine gute Schu le lagen nicht immer auf der Linie der Mehrheit der Mitglieder von ELK und LCH. Doch sie ist eine Kämpferin. «An mir kommt man nicht so leicht vorbei», sagt sie und lacht. «Aber als Vizepräsi dentin des LCH setze ich mich immer für demokratisch gefällte Entscheide ein, auch wenn sie nicht meiner innersten Überzeugung entsprechen.» Loyalität ist für Heidelberger Gesetz. Trotzdem freute sie sich, als die An frage kam, bei der Stiftung Pestalozzia num im Stiftungsrat mitzuwirken: «Hier bin ich niemandem verpflichtet.» Der Auftrag der Stiftung, den Bildungsdialog zu fördern, interessiert sie brennend. «Schule ist nicht begrenzt, Schule ist Le ben, es muss viel mehr darüber gespro chen werden.»
Mutter, Lehrerin, Politikerin Neben der Arbeit in verschiedenen Äm tern ist Marion Heidelberger nach wie vor Lehrerin und unterrichtet integrati ve Förderung in Kloten. Integrativ ist nicht nur ihr Unterricht, sondern auch ihr Leben. «Vieles war schwierig», sagt sie im Rückblick. «Aber meine Mama hat mich unterstützt, und heute ergän zen sich meine Rollen als Mutter, Leh rerin und Schulpolitikerin bestens.» Franziska Agosti ist Mitarbeiterin in der Stiftung Pestalozzianum. franziska.agosti@phzh.ch
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Unterstützung der bosnischen Minderheit in Kosovo
Gymnasiasten ermöglichen Weiterbildung für Lehrpersonen Das Zentrum für pädagogische Entwicklungszusammenarbeit (IPE) an der PH Zürich engagiert sich mit diversen Projekten in Kosovo. Eines davon bezieht sich auf die Situation von Minoritäten. Ziel ist es, Lehrpersonen der bosnischen Minderheit mit didaktischen Materialien zu unterstützen.
| Rolf Gollob
M
it der Fokussierung auf die Bosni er in Kosovo greift das IPE-Projekt ein Kernanliegen der Schweizer Ent wicklungszusammenarbeit auf: Der Schutz und die Unterstützung der Mino ritäten ist für jedes Land ein zentraler Gradmesser für Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung der Menschenrechte. Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo vor vier Jahren hat im Bereich des Schutzes der nationalen Minderhei ten ein Vakuum geschaffen, das − auch begründet durch die fehlenden finanzi ellen Mittel des Staates − nicht einfach aufgefangen werden kann. Immer wie der verlassen Angehörige der Minder heiten (Aschkali, Bosnier, Kroaten, Ägypter, Roma, Serben und Türken) Ko sovo, weil sie trotz der Fortschritte nebst einer Einschränkung der Bewe gungsfreiheit vor allem mit wirtschaft lichen Schwierigkeiten konfrontiert sind. Zudem haben diese sprachlichen Minderheiten nur einen eingeschränk ten Zugang zu den notwendigen Infor mationen sowie zur Bildung in der je weiligen Muttersprache. Hier setzt das Projekt des IPE ein.
Netzwerk als Projektbasis Bereits Ende der 90er-Jahre wurden in der Lehrerbildung des Kantons Zürich didaktische Materialien für die Lehrer schaft in Bosnien erarbeitet. Diese konnten nun durch Edisa Adzovic in Sarajevo angepasst und neu übersetzt werden. Damit sollen die bosniakischen
Lehrpersonen Kosovos unterstützt und weitergebildet werden. Die Erarbeitung dieser Handrei chung ist von den Ministerialvertretern in der Region Prizren vorgeschlagen worden und soll in den kommenden Wochen fertiggestellt und in die Weiter bildungsprogramme des Bildungsmi nisteriums offiziell eingewoben wer den. Dafür setzt sich Raim Mustafi ein, der an der PH Zürich als Leiter der Ar beitsstelle für Lehrplan und Lehrmittel arbeitet und selber bosnisch-kosovari sche Wurzeln hat. Finanziell unterstützt wird das Pro jekt durch eine Gruppe von Gymnasias tinnen und Gymnasiasten des Schu bart-Gymnasiums Ulm (Schüler-Mitver antwortung, SMV) und deren Lehrer Peter Krapf. Diese SMV vertritt die Inte ressen der rund 800 Schülerinnen und Schüler gegenüber der Schulleitung, den Lehrern sowie in der Öffentlichkeit und hat die Kompetenz, einen Teil der ihnen zur Verfügung stehenden Gelder gemeinnützig einzusetzen. Ihr Beitrag wird den Druck der Handreichung für alle bosniakischen Lehrpersonen in Ko sovo ermöglichen.
Positive Rückmeldungen Die Handreichung erhält in Absprache mit den bosniakischen Bildungsvertre tern Kosovos den Titel «Skola danas! Planiranje i realizacika nastave» (Schule heute! Planung und Umsetzung von Un terricht). Das Titelbild wurde durch den
«Schule heute»: Umschlag der Handreichung des Künstlers Peti Wiskemann.
Zürcher Grafiker und Künstler Peti Wis kemann gezeichnet, für das Layout ist die Hausgrafikerin der PH Zürich, Nadja Kümin, verantwortlich. Vier Kapitel strukturieren die Planungshilfe: – Lehr- und Lernbedingungen klären – Ziele setzen und Inhalte auswählen – Lernprozesse gestalten und Methoden wählen – Lernprozesse evaluieren Zu Beginn jedes Kapitels stehen Schlüs selfragen, die die Lehrperson leiten und die helfen, die eigene Planungs- (und Auswertungsarbeit) zu reflektieren. Da nach folgen in jedem Kapitel Anhänge in Form von Merkblättern zu Themen wie «Aufbau einer demokratischen Klassenatmosphäre», «Stufen des Lern prozesses» oder «Hinweise zur selbstän digen Lernkontrolle für Schülerinnen und Schüler». Die Handreichung wurde mehrfach getestet und die Rückmeldungen waren jeweils sehr positiv. Das Projekt zeigt beispielhaft den Ansatz der pädago gischen Entwicklungszusammenarbeit, der vom IPE verfolgt wird: jede Koope ration ist kontextabhängig, soll zur Stärkung bestehender Ressourcen bei tragen und sich an den Kriterien der Nachhaltigkeit orientieren. Zudem zeigt das Beispiel, wie intensiv die internati onale Kooperation auch für kleine Pro jekte sein muss. Rolf Gollob ist Co-Leiter des IPE an der PH Zürich. rolf.gollob@phzh.ch
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Spannungsfelder im Schulalltag
Führungspersonen in der Zwickmühle Führungspersonen werden in ihrer täglichen Arbeit manchmal mit unlösbaren Spannungsfeldern konfrontiert. Es sind dies so genannte Führungs-Dilemmata. Der weiterführende Weg geht über das Erkennen der Misere und die Anwendung spezifischer Vorgehensweisen. | Annemarie Waibel
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robleme und Konflikte sind Chan cen, und dank proaktivem, ressour cen- und lösungsorientiertem, positi vem Führungsdenken und Führungsin terventionen werden sie alle aus der Welt geschafft, am liebsten mit einem Win-win-happy-end. Ist dieses Postulat Teil einer unerreichbaren, aber gut ver markteten Utopie? In der ManagementLiteratur und -Weiterbildung grassiert das Lösungsfieber. Aber auch bei differenzierterer Be trachtungsweise fehlt oft eine wichtige Unterscheidung bei Problemen und Kon flikten: Viele belastende Themen, die uns im Alltag beschäftigen, sind in Wirklichkeit nicht lösbar und werden im Führungsalltag unsere Weggefähr ten bleiben. Insbesondere ist dies bei den Führungs-Dilemmata der Fall. Ob wohl sie seit einigen tausend Jahren Führungspersonen herausfordern und teilweise enorm beschäftigen, werden sie in der modernen Management-Lite ratur und in den Aus- und Weiterbil dungsangeboten für Führungskräfte erst seit ca. dem Jahr 2000 thematisiert oder teilweise noch immer nicht be rücksichtigt.
Unvereinbare Ansprüche Führung bedeutet immer, in einem Feld von widersprüchlichen Interessen und Zielen seinen Weg zu finden. Dilem mata gehören unausweichlich zum Führungsalltag. Fächert man die Defini tionen für Führungs-Dilemmata auf,
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ergeben sich folgende drei Merkmale: – Eine schwierige Situation mit zwei zu einander widersprüchlichen, gegen sätzlichen, unvereinbaren Zielen, An sprüchen oder Handlungslogiken. – Die Führungsperson steht durch einen Entscheidungszwang in einem Hand lungsdruck. – Für beide Wahlmöglichkeiten spre chen wichtige Gründe, sind gleichzei tig erforderlich, aber man kann sich nur für eine entscheiden und dies wird zu unerwünschten Resultaten führen. Für Führungspersonen ist es wichtig, zwischen Problemen, Konflikten und Dilemmata zu unterscheiden und je un terschiedliche Handlungs-Strategien zu entwickeln.
Dilemmata im Schulalltag Eine häufige dilemmatische Situation für Führungspersonen im Schulbereich ist die Zwickmühle, ob die Gleichbe handlung aller und somit die Standar disierung entscheidungsleitend sein soll oder das individualisierte Eingehen auf den Einzelfall. Die Frage, ob Fairness, Gerechtigkeit, keinerlei Bevorzugung durch das An wenden von allgemeinen Regeln oder die Rücksichtnahme auf die Besonder heiten der Einzelperson angezeigt sind, kann eine Führungsperson in Bedräng nis bringen. Verwandt damit ist auch das Dilemma zwischen Fremdbestim mung durch Führungsentscheide, die
Unterordnung und Kontrolle bedeuten, versus Selbstbestimmung, die Hand lungs- und Entscheidungsspielraum be inhaltet. Entscheidungen zwischen Nachhal tigkeit und Effizienz können Führungs kräfte in eine missliche Lage bringen, ebenso die oftmals unlösbare Aufgabe, trotz Sparmassnahmen die Qualität zu halten oder sogar zu steigern. Eine be klemmende Zwangslage kann auch ein treten, wenn Schulleitung und Schulbe hörde bei einer älteren Lehrperson mit gravierenden Leistungs- und Qualitäts defiziten entscheiden muss, ob als letz ter Weg nur noch die Kündigung bleibt. Oder sind Menschlichkeit einer älteren Lehrperson gegenüber und das Ersparen eines tragischen Endes einer Jahrzehnte dauernden Schullaufbahn stärker zu ge wichten? Häufig bilden sich Lager von Befür wortern und Gegnern der zwei wider sprüchlichen Ziele oder Handlungslogi ken. So kann eine Führungsperson zu sätzlich einer belastenden Situation ausgesetzt sein, wenn sie in einem Lo yalitäts-Dilemma zwischen Personen oder Berufsgruppen eingeklemmt ist. Zudem besteht die Gefahr einer Eskala tion. So kommt es leider immer wieder vor, dass eine Schulbehörde sich mit der misslichen Frage konfrontiert sieht, ob sie mit der Schulleitungsperson, die vom Lehrerkollegium immer stärker un ter Beschuss gerät, Gespräche über eine allfällige Trennung führen soll.
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In Situationen mit zwei unvereinbaren Zielen können Führungspersonen durch den Entscheidungszwang unter Handlungsdruck geraten.
Zentrale Kompetenzen Das Konzept der Ambiguitäts-Kompe tenz beinhaltet die Fähigkeit, die Span nungen, welche durch Ambiguität (Mehrdeutigkeit, Doppelsinnigkeit, Wi dersprüchlichkeit) entstehen, wahrneh men und ertragen zu können. Ambigui tätsintolerante Menschen reagieren in widersprüchlichen Situationen mit Spannungen und Stress – während am biguitäts-kompetente Personen die glei che Situation z.B. als interessante Her ausforderung sehen können. Damit ver wandt ist das Konzept der AmbivalenzKompetenz: Wenn ein innerpsychischer Zwiespalt mit sich widerstrebenden Gefühlen oder Interessen («zwei Seelen in der Brust») emotional konstruktiv ausgehalten werden kann, spricht man von Ambivalenz-Kompetenz. Zusammen mit der Dilemma-Kompe tenz werden diese Fähigkeiten immer mehr als zentrale Schlüsselkompeten zen von Führungspersonen erkannt. Dilemma-Kompetenz umfasst Fähigkei ten, Dilemmata zu erkennen, Bewälti gungsformen zu kennen, dilemmati sche Prozesse konstruktiv gestalten zu können sowie über Ambiguitäts- und Ambivalenzkompetenz zu verfügen. Da Dilemmata als konstruktionsbe dingte Eigenheiten des Systems weder zu beseitigen noch abschliessend zu lösen sind, geht es darum, einen mög lichst konstruktiven Umgang mit ihrer Unausweichlichkeit zu entwickeln. Die folgenden drei Denk- und Handlungs
weisen stellen Möglichkeiten dar, mit Dilemmata umgehen zu können: – Der Regenmacher-Effekt: Die in Regio nen Afrikas weit verbreiteten Regen macher vermögen keinen Regen her beizuzaubern. Trotzdem generieren die Regenmacher einen Nutzen: Dank ihnen hat die Gemeinschaft die Mög lichkeit, darüber zu diskutieren, ob ihnen die Götter und Geister wohlge sinnt seien. Wird das RegenmacherPhänomen auf das Konzept der ler nenden Organisation übertragen, scheint die Möglichkeit auf, dass viele Führungs-Strategien und zur Zeit ge handelte Management-Konzepte zwar nicht die beabsichtigten Ziele errei chen, dafür aber zu anderem, sinn vollem, nicht sofort erkennbarem Nut zen führen. – Dynamische Synthese: Wird bei einem Entweder-Oder-Entscheid einseitig nur ein Pol verfolgt, besteht die Gefahr ei ner «Überdosierung». Auch eine aus gewogene Mittelposition kann die po tenzielle Energie der Polarität verwäs sern. Stattdessen kann ein zirkuläres und kontinuierliches Hin- und Her pendeln zu einer dynamischen Syn these und einem Sowohl-als-auch führen. – Mehrstufiger Prozess: Wie bei sonsti gen Entscheidungsverfahren für kom plexe Problemstellungen müssen aus dem übergreifenden Dilemma mehre re kleine und eigenständige Problem lösungsprozesse abgeleitet werden,
die ev. auf verschiedenen Ebenen zu einem Entwicklungsprozess führen. Für diese Teilschritte können je nach Situation die vorhin beschriebenen Strategien in sinnvoller Kombination angewendet werden.
Erwünschte Förderer? Im Zen-Buddhismus findet sich ein be sonderes Verständnis von Harmonie, das nicht auf Widerspruchsfreiheit basiert. Sondern im Gegenteil lebt Harmonie von der Akzeptanz und dem immer neuen inBeziehung-Setzen der Gegenpole. Wenn nur ein Gegenpol berücksichtigt wird und der andere beseitigt werden soll, kann keine Harmonie entstehen. Westli chen Kulturen fällt es schwerer, nicht gegen Gegensätze anzukämpfen. Dilemma-Kompetenz beinhaltet also auch die alte Weisheit, dass in vielen Belangen Wandel, Fortschritt oder Ad aption nur dank Widersprüchen mög lich sind, weil die gegenseitigen Nega tionen zu neuen Entwicklungsebenen vorantreiben. Weiterführende Literatur Kühl, Stefan: Das Regenmacher-Phänomen. Widersprüche und Aberglaube im Konzept der lernenden Organisation. Frankfurt/Main: Campus-Verlag, 2000. Neuberger, Oswald: Führen und geführt werden (6.Aufl.). Stuttgart: Lucius& Lucius Verlag, 1995.
Annemarie Waibel ist Beraterin und Dozentin am Zentrum für Beratung (ZfB) der PH Zürich. annemarie.waibel@phzh.ch
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Umsetzung neues Volksschulgesetz
Die Umsetzung des neuen Volksschulgesetzes war für die PH Zürich ein äusserst bedeutendes Projekt. Rund 175 Mitarbeitende arbeiteten tatkräftig mit. Mit einer Veranstaltung Ende Januar wurde die Reform nun offiziell beendet. Fünf Beteiligte unserer Institution werfen einen Blick zurück auf die letzten sechs Jahre. | Christoph Hotz
Positive Stimmung an der Schlussveranstaltung Alois Suter, Abteilungsleiter Weiterbildung, Karl
N
ach der Annahme des neuen Volks schulgesetzes im Juni 2005 erging vom VSA der Auftrag an die PH Zürich, die Gemeinden und Schulen bei der Umsetzung zu supporten. In der Folge wurden entsprechende Weiterbildun gen, Beratungen und Coachingangebote im Schulfeld durchgeführt und so die Umsetzung der pädagogischen und schulentwicklerischen Vorgaben der Ge setzesreform unterstützt. Einige Elemente der Reform waren für den Auftrag an die PH Zürich von besonderer Relevanz: Einrichten von Schulleitungen und Setzen pädagogi scher Schwerpunkte, Elternmitwirkung und Schülerpartizipation, Einführung von Tagesstrukturen, Neugestaltung der sonderpädagogischen Massnahmen, Aufbau einer Qualitätssicherung, Kanto nalisierung des Kindergartens sowie Einführung einer externen Evaluation. Wie haben beteiligte Personen diese intensive Zeit erlebt? Welches waren die grössten Herausforderungen? Ein Rück blick auf die letzten sechs Jahre von fünf Projektmitwirkenden der PH Zü rich.
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Fotos: Martin Kilchenmann
«Die Arbeit war eine interessante Herausforderung»
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Enikö Zala-Mezö, Forschungsgruppenleiterin MINT-Didaktik & System Schule beteiligt an der Evaluation der Unterstützungsleistungen der PH Zürich Bedeutendste Neuerung: Die Datenauswertung hat gezeigt, dass die Unterstützungsleistungen methodisch und didaktisch gut aufgebaut waren und die Leistungen der Dozierenden geschätzt wurden. Die Fachlichkeit konnte in vielen Themenbereichen weiterentwickelt werden - in den Schulen und an der PH Zürich. Grösste Herausforderung: Die Evaluation im zeitlich engen Rahmen durchzuführen. Wichtigste Erfahrung: Die Erwartungen der Schulen betreffend Weiterbildungen lassen sich in verschiedenen Typen beschreiben: einige möchten Praxisrezepte, andere interessieren sich für den neuesten Stand der Forschung, dritte legen Wert auf eine gute Moderation. Mein Highlight: Die wertschätzenden Bemerkungen von Dozierenden über die Schulen und die positiven Rückmeldungen der Lehrpersonen.
Johannes Breitschaft, Dozent beteiligt als Teilprojektleiter, zuständig für die Schulleitungsausbildung Bedeutendste Neuerung: Neben der Einführung von Schulleitenden die Qualitätssicherung intern (Schulprogramme) und extern (Fachstelle für Schulbeurteilung) sowie die Partizipation von Eltern und Schülerschaft. Grösste Herausforderung: Die Lernsettings im Grossgruppenformat und den Lernprozess als solchen in diesem Grossgruppenformat zu steuern sowie alle Dozierenden auf ein einheitliches Verständnis zu bringen. Wichtigste Erfahrung: Das Grossgruppenformat fördert die Vernetzung unter Teilnehmenden, erfordert aber starke Strukturierung in Bezug auf Prozess- und inhaltliche Gestaltung; ein gut aufgegleistes Projekt fördert das Engagement aller Beteiligten. Mein Highlight: Ehemalige Teilnehmende, die mir mitteilen, dass die Netzwerkgruppen immer noch freiwillig aktiv sind.
Für die im VSA
Marianne Sigg, Dozentin Leiterin von DaZ-Zertifikatslehrgängen
zur VSG-Umsetzung (oben); Mäder, Leiter Zentrum für Beratung (unten).
Reto Kuster, Berater beriet Lehrpersonen, Schulleitungen, und Schulbehörden im Bereich Schulprogramme, Jahres- und Prozesseplanung
Bedeutendste Neuerung: Die Ablösung von der Vorstellung, für den DaZ-Unterricht genüge es, Deutsch als Muttersprache zu sprechen und ein Lehrerpatent zu haben. Das wichtigste also: die Weiterbildung zu DaZ-Fachlehrpersonen.
Bedeutendste Neuerung: Die flächendeckende Einführung von Schulleitungen und die damit verbundene Neuverteilung von Aufgaben.
Grösste Herausforderung: Aus dreissig Personen eine interagierende gemeinsam lernende Gruppe zu bilden. Dazu kommt die Zusammensetzung der Gruppe aus DaZ-Lehrpersonen aller Schulstufen - die Weiterbildung muss den vier Stufen gerecht werden.
Grösste Herausforderung: Die optimale Abstimmung der Unterstützungsleistungen auf die Schulen war für mich der grösste Knackpunkt. Es galt in kurzer Zeit die Ausgangslage in den Schulen einzuschätzen und die Angebote inhaltlich entsprechend anzupassen.
Wichtigste Erfahrung: Der DaZ-Unterricht verlor dank der Absolventinnen und Absolventen der Zertifikatslehrgänge sein Mauerblümchendasein. Die Schulleitungen geben dem DaZ-Unterricht einen höheren Stellenwert als vor 2006.
Wichtigste Erfahrung: Dass die Suche nach einem optimalen Führungsmodell Zeit braucht. In vielen Gemeinden ist dieser Prozess noch nicht abgeschlossen.
Mein Highlight: Wenn Teilnehmerinnen und Teilnehmer von den Inhalten professionell berührt werden, sind sie motiviert, Neues zu lernen.
Mein Highlight: Die vielen Begegnungen mit Lehrpersonen, Schulleitungen, Behörden. Wenn alle Beteiligten die Arbeiten mit ihrer Funktion optimal verbinden und einen Gewinn daraus ziehen konnten, machte die Tätigkeit besonders Spass.
Erika Stäuble, Abteilungsleiterin Personal zuständig für die Personalbedarfsplanung und die Personaleinsatzplanung Grösste Herausforderung: In die Planung Entwicklung und Durchführung der über 40 Unterstützungs-Angebote sowie der neun CAS und zwei Modulgruppen waren rund 160 Dozierende mit den entsprechenden Kompetenzprofilen und Erfahrungen involviert. Insgesamt fanden über 1000 Durchführungen der Unterstützungsleistungen statt und die PH Zürich hat während 1185 Tagen rund 1200 Teilnehmende weitergebildet. Stets waren die Angebote auf die Bedürfnisse der jeweiligen Schule ausgerichtet. Diese Arbeit war eine interessante Herausforderung. Wichtigste Erfahrung: Der Einsatz einer so hohen Anzahl Mitarbeitender einer Institution in einem einzelnen Projekt ist nur mit ausserordentlich grossem Engagement aller Beteiligten möglich.
Unterhaltung sorgte das Eidgenössische Improvisationstheater (oben); Harry Koch, zuständig für die Umsetzung VSG bei seiner Ansprache (unten).
Mein Highlight: Wie die Dozierenden in kurzer Zeit die verschiedenen Angebote entwickelt und in den Schulen umgesetzt haben.
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Vom Selbstwertgefühl eines Eiskristalls Felix wird in einer Höhe von 10 000 Metern und bei Temperaturen unter -12°C auf Wolke Cululi geboren. Er ist etwas kleiner als die anderen Eiskris talle, weshalb er oft an sich zweifelt. Eines Tages nimmt er all seinen Mut zusammen und stürzt sich mit vielen weiteren seinesgleichen aus der Wolke. Gemeinsam mit Bliz und Blanc, zwei wunderschönen Kristallen mit sechs armigen Sternen, bildet er eine Flocke und macht sich auf den Weg zur Erde. Die Reise ist lang und Felix unsicher über die Richtigkeit seiner Entschei dung. Geht er als kleiner Winzling in der Masse dieser wunderschönen Pris men und Dendriten nicht unter? Ist er der Aufgabe, welche ihn auf der Erde erwartet, gewachsen? Schliesslich sollte er gemeinsam mit seinen Mit kristallen die Landschaft in ein glit zerndes Schneeparadies verzaubern ... Felix beobachtet den Wind und sieht diesen mit Bliz und Blanc flir ten. Er staunt über ihre graziösen Be wegungen. Traurig darüber, dass er noch nie bewundert wurde, wendet er seine Aufmerksamkeit ab. Plötzlich verdunkelt sich der Himmel. Dicke
Judith Leumann, Studentin.
Regentropfen überholen die feinen Schneekristalle, welche vom Wind nervös in der Luft umhergewirbelt werden. Felix fürchtet sich vor den mächtigen, schnellen Tropfen. Was wäre, wenn er von einem getroffen werden würde? «Ich bin doch viel zu leicht, um der Kraft eines Tropfens standhalten zu können!» jammert er leise vor sich hin und schaut erneut zu Bliz und Blanc, welche nicht den
Anschein machen, als hätten sie Angst vor dem Unwetter. Felix ist froh, als der Schneeregen vorbei ist und er die Bäume auf dem Boden er kennen kann. Doch schon wird er von weiteren Ängsten geplagt. Wie fühlt sich die Landung auf der Erd oberfläche an? Tut es weh, wenn er zu Schneeballen geformt wird und gegen Hauswände klatscht? Zum Glück bleibt Felix nicht noch mehr Zeit, um sich Gedanken zu ma chen, denn seine Schneeflocke hat die Erde erreicht ... Es ist Sonntag und Felix liegt mit Millionen von Schneekristallen auf einem verschneiten Kornfeld. Da hört er eine sanfte Mädchenstimme sagen: «Papa, schau, wie die weisse Pracht in der Sonne funkelt!» Felix lächelt und ist glücklich. Er ist Teil des Gan zen und sein Zweifeln Schnee von gestern. Judith Leumann, judith_leumann@stud.phzh.ch Die Autorin ist Tutorin im Schreibzentrum der PH Zürich.
Impressum ph | akzente Erscheint viermal jährlich 19. Jahrgang, Nr. 1, Februar 2012 ISSN 1662-4750
Rudolf Isler, Dozent für Pädagogik rudolf.isler@phzh.ch
Grafische Gestaltung und Layout Vera Honegger, Pädagogische Hochschule Zürich
Martin Kilchenmann, Leiter Kommunikation martin.kilchenmann@phzh.ch
Druck FO-Fotorotar, Egg
Herausgeberin Pädagogische Hochschule Zürich
Heinz Moser, Dozent für Medienbildung heinz.moser@phzh.ch
Redaktion Christoph Hotz, Redaktionsleitung Redaktor Kommunikation christoph.hotz@phzh.ch
Michael Prusse, Abteilungsleiter Sek II/ Berufsbildung, michael.prusse@phzh.ch
Daniel Ammann, Dozent für Medienbildung daniel.ammann@phzh.ch Bettina Diethelm, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, bettina.diethelm@phzh.ch Susan Gürber, Wissenschaftliche Mitarbeiterin susan.guerber@phzh.ch Thomas Hermann, Dozent für Medienbildung thomas.hermann@phzh.ch Vera Honegger, Redaktorin Kommunikaton vera.honegger@phzh.ch
Adresse Pädagogische Hochschule Zürich Redaktion ph | akzente Christoph Hotz Hirschengraben 28 8090 Zürich phakzente@phzh.ch www.phzh.ch/phakzente Illustrationen Daniel Lienhard (Spektrum) Donat Bräm (Cartoons)
Inserate IEB Ihr externes Büro Frau Rösli Konrad-Menzi Industriestrasse 6 8627 Grüningen Tel. 043 833 80 40, Fax 043 833 80 44 info@ieb.ch, www.ieb.ch Abonnemente Jahresabonnemente Fr. 40.-, inkl. Porto Einzelhefte Fr. 12.- plus Porto Pädagogische Hochschule Zürich Veronika Capaul, 043 305 55 28 veronika.capaul@phzh.ch Gedruckt auf FSC-zertifiziertem Papier Fotos Inhaltsverzeichnis: iStock, zVg, Vera Honegger
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Cartoon: Donat Bräm
Der Effekt-Effekt
Schmetterling und Lotusblume, so erzählt eine altindische Fabel, gerieten darüber in Streit, wer von ihnen mehr Bewunderung verdiene. «Selbst im dunkelsten Morast er hebe ich meine makellose Blüte gleich einem funkelnden Juwel», verkündete die Lotusblume voller Stolz. «Nicht umsonst verehrt mich alle Welt als Symbol höchster Zier und göttlicher Reinheit.» – «Papperlapapp!», erwiderte der Schmetterling und entfaltete die filigrane Farbenpracht seiner Flügel. «Ich bin zweifellos das erhabenste Geschöpf auf Erden. Anmutig und leicht tanze ich durch die Lüfte und vermag doch mit einem einzigen Flügelschlag einen Wirbelsturm zu entfachen.» Die Zänkerei hätte bis in die Abendstunden fortgedau ert, wären die prahlerischen Protagonisten nicht in die sem Augenblick von einer endzeitlichen Schlammlawine erfasst und unter der Geschichte begraben worden. «Hochmut kommt vor dem Fall», wird sich der Stein gedacht haben, als er sich am Berghang löste und mit stetig wachsender Masse talwärts rollte. Der Knalleffekt hat dem Ruhm der fabulösen Maulhel den kaum geschadet. Im Endeffekt zählt die Wirkung der Effekte. Die Nanotechnologie versucht die selbstreinigende Kraft wasserabweisender Oberflächen zu kopieren (Lotus
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effekt) und die Chaosforschung findet im Schmetterlings effekt ein Sinnbild dafür, dass geringste Änderungen in einem System ungeheure Auswirkungen haben können. Geblendet von prägnanten Effekten übersehen wir glatt, dass der bunte Falter bloss ein Insekt und die Lotus blume eine krautige Wasserpflanze ist. Wir achten die beiden für Eigenschaften, die sie gar nicht besitzen, und fallen dem Haloeffekt zum Opfer. Der Effekt-Effekt hat uns fest im Griff. Häufiges Auftre ten von Effekten verleitet dazu, sie in positivem Licht zu sehen (Mere-Exposure-Effekt). Wir beginnen, uns ernst haft mit dem Phänomen zu befassen (Agenda-Setting-Ef fekt) und halten die behauptete Wirkung am Ende gar für Wirklichkeit (Realitätseffekt). Kaum wenden wir uns ei nem Ereignis zu, hat das schon Auswirkungen auf den Gegenstand der Betrachtung (Heisenberg-Effekt). Diese Einsicht bringt uns aber nicht weiter, denn wir tendieren dazu, Einflüsse auf andere höher einzuschätzen als auf uns selber (Third-Person-Effekt). Reine Einbildung, behauptet der Placeboeffekt. Eine Fabel zu zitieren, die es in Wahrheit nicht gibt, ist zwar Effekthascherei – aber der Verfremdungseffekt zeigt volle Wirkung. | Daniel Ammann