philou. #8 Identität

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philou. THEMA: IDENTITÄT

UNABHÄNGIGES STUDIERENDENMAGAZIN AN DER RWTH AACHEN UNIVERSITY

AUSGABE 8


„Laß mich nachdenken: War ich noch dieselbe, als ich heute früh aufstand? Ich meine fast mich zu erinnern, daß ich mich ein wenig anders gefühlt habe. Aber wenn ich nicht dieselbe bin, erhebt sich als nächste Frage: ‚Wer in aller Welt bin ich?‘ Ja, das ist doch das große Rätsel!“ ALICE IM WUNDERLAND LEWIS CARROLL (1865)


Editorial

Liebe Leser_innen, nicht nur Lewis Carrolls Alice denkt über diese komplexe Frage nach, seit jeher zerbrechen sich zahlreiche Philosoph_innen, Psycholog_innen, Neurowissenschaftler_innen und Soziolog_innen den Kopf darüber, wer wir sind und was Identität überhaupt ist – oder sein kann. René Descartes (1596–1650) schlussfolgert: Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich. Aber was ist das Ich? Und woraus leiten wir dieses Ich ab? Leiten wir dieses Ich aus unseren Empfindungen ab, müsste es doch reichen, dass wir ein Ich fühlen, um zu bestätigen, dass es ein solches gibt. Der Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) schreibt: „Man ist Individuum, ganz einfach als der Anspruch, es zu sein. Und das reicht aus.“ Aber streben wir nicht alle danach, ein Jemand in einem bestimmten Kontext zu sein? Bei der Suche nach der eigenen Identität passen wir uns auch der jeweiligen Gesellschaft an und fühlen uns wohl, wenn nicht sogar bestätigt, einer Gruppe zugehörig zu sein (S. 6).

Identität & Individuum: Ist es nicht gerade die Sprache, die das Individuum mit dem Kollektiv verbindet? Sprache ist unser Werkzeug zur Außenwelt und beschreibt den Schlüssel zum Selbst- sowie Weltverständnis (S. 30). Die Sprache ist aber ebenso der Ausdruck unserer Persönlichkeit. Was geschieht, wenn wir durch unsere Sprache, unsere Kommunikation, ein falsches Bild von uns erzeugen? Inwieweit wirken sich Lügen auf unsere Identität aus und wo ist der Übergang zur Scheinidentität? (S. 34) Letztlich glauben wir doch an uns selbst und sehen den Kern unserer Persönlichkeit. Dahinter steht die Realität hinter dem „Ich“ – ohne diese wankt unser Identitätsgefühl und wir neigen stärker dazu, von anderen abhängig zu werden. Deren Zustimmung oder Ablehnung wird somit zur Grundlage unseres Identitätsgefühls, die uns auch in der Liebe begegnet. In ihr tauschen wir unsere Autonomie gegen die Abhängigkeit von einer anderen Person. Oder ist es nicht vielmehr so, dass Abhängigkeit und Freiheit zwei Seiten der gleichen Medaille sind? (S. 38). Neben dem Glauben und der Überzeugung an die Einzigartigkeit des Individuums bewegen wir uns auf einem schmalen Grat zwischen Selbst- und Fremdbestätigung – erkennen wir uns nicht nur im Austausch und im Vergleich mit anderen als das, was wir sind? (S. 42) Im Lebenszyklus sind wir ständig Krisen und Störungen ausgesetzt, die ein Teil von uns und damit unserer Identität werden können – insofern wir diese reflektieren und aufarbeiten. Sind es dann nicht unsere individuellen Erfahrungen, die uns auszeichnen? (S. 45)

Identität & Kollektiv: Was bedeutet Identität in der heutigen globalisierten Welt? Entscheidet die Herkunft über die Identität und wie findet Identitätsbildung entlang der ethnischen Dimension statt? (S. 12) Und was geschieht mit dem Individuum, wenn es sich in ein Kollektiv begibt? Das Kollektiv vereint die einzelnen und suggeriert ihnen ein Gefühl von Stärke und Verbundenheit – nur wie sieht eigentlich die innere Logik solcher Kollektive aus? (S. 14) Eine solche kollektive Identität birgt jedoch auch die Gefahr, in Oder sagen wir es einfach mit Gertrude Stein (1874–1946): extreme Strömungen zu konvergieren, wie es die Historie „Rose is a rose is a rose is a rose.”? schon so oft gezeigt hat (S. 17). „Ich, wir und die anderen“ – das zeigt auch die Ost-West-Divergenz in Deutschland im Wir freuen uns, diese und weitere Fragen sowie ProblemKontext der Wiedervereinigung (S. 20). Das „Wir-Gefühl“ stellungen mit euch teilen zu können und präsentieren euch ist letztlich auch der Inbegriff kultureller Identität, die trotz nun die achte philou. Durch den Fokus auf die Diversität – oder aufgrund – einschneidender gemeinsamer Erlebnisse und Interdisziplinarität der Themen wollen wir zeigen, dass im Sinne eines kollektiven Gedächtnisses zu Zusammenhalt das inneruniversitäre Gespräch eine der höchsten Prioritäten und Zuversicht führen kann (S. 24). im Studium genießen muss. Wir wollen euch hiermit Anreize zu neuen Überlegungen liefern und hoffen, dass euch Aristoteles schreibt „Das Ganze ist mehr als die Summe sei- die achte Ausgabe genauso gefällt wie uns! ner Teile“. Aber wie bilden sich diese Einzelteile? Und in welchem Verhältnis stehen sie zum Ganzen? Eure philou. Redaktion VERFASST VON ANN-KRISTIN WINKENS

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Inhalt

06

Wer bin ich?

Typologien und Persönlichkeitskategorisierung

Ann-Kristin Winkens

IDENTITÄT &

Kollektiv

12 Herkunft = Identität? Hybride Identitäten als Reaktion auf die globalisierte Welt Sofia Eleftheriadi-Zacharaki

Meine Herkunft ist meine Identität: Eine Gleichung mit unendlich vielen Lösungen

IDENTITÄT &

Individuum

30 Du bist, was du sprichst Cristina García Mata

Der Schlüssel zur Welt: Wie Sprache unser Selbst- und Weltverständnis prägt

34 Lie to me

Svenja Blömeke

14 Schwarmidentität

Thomas Sojer Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile: Über das Identitätsgefühl in Massenbewegungen

17 Von den nationalrevolutionären Denkern Weimars zur Identitären Bewegung und Neuen Rechten

Arno Weiß Kollektive Identität im Zentrum rechtsradikaler Argumentationen

20 Deutsch-deutsche Befindlichkeiten

Jan Korr Ein Exkurs über Identität, Entfremdung und die Frage nach dem Autoritären im Kontext der deutschen Wiedervereinigung

24 Identität und Technik – Küstenschutz als Sinnbild des WirGefühls auf den nordfriesischen Halligen

Christina Krüger Erfahrungen im Kollektiv: Wie gemeinsames Leid gemeinsame Zuversicht erzeugt

Die ganze halbe Wahrheit: Lügen als Drahtseilakt zwischen Unwahrheit und Scheinidentität

38 Im Wir zum Du zum Ich – Versuch über Liebe und Person Caner Dogan

Freiheit und Abhängigkeit: nur zwei Seiten der gleichen Medaille

42 Sich selbst machen – oder auch gemacht werden? Mirko Beckers

„Mach dich zu dem, der du sein sollst“: Der schmale Grat zwischen Selbst- und Fremdbestimmung

45 Ich bin, was ich zu erleiden vermag – Die Konvergenz von Identität und Resilienz Ann-Kristin Winkens

Auf der Suche nach der verlorenen Stabilität: Der Einfluss der Krise auf die Identitätsentwicklung im Lebenszyklus

philou.rwth-aachen.de facebook.com/philoumagazin info@philou.rwth-aachen.de

philou.


Typen

WER BIN ICH?

TYPOLOGIEN UND PERSÖNLICHKEITSKATEGORISIERUNG

B

ereits in der Antike entwickelte sich das Bedürfnis, Menschen besser zu verstehen. Es gibt mittlerweile zahlreiche Modelle von Typologien und Kategorisierungen, die die Diversität und Verschiedenheit menschlicher Persönlichkeitsmerkmale untersuchen und aufzeigen sollen. Neben dem Bedürfnis, Menschen mit ihrem komplexen Denken und Handeln besser zu verstehen gibt es auch das eigene Bedürfnis, sich in eine Kategorisierung zu begeben. Durch die Beschäftigung mit dem eigenen Selbst und der eigenen Identität, dem Versuch, seine Persönlichkeit besser zu verstehen, fühlen wir uns wohl und verstanden, wenn wir einen „Typ“ oder eine Gruppe finden, der wir uns zugehörig fühlen, mit der wir uns identifizieren können. Fraglich ist, inwieweit eine noch so komplexe Typologie den einzelnen Menschen in seiner Individualität erfassen kann.

THEORETISCHE ANSÄTZE (NEUZEIT) TYPENLEHRE NACH C. G. JUNG (1875–1961) Jung untersuchte im Rahmen seiner analytischen Persönlichkeitspsychologie vor allem Persönlichkeitsunterschiede. Im Umgang mit seinen Patienten stellte er fest, dass Menschen abhängig von ihren individuellen Weltansichten unterschiedlich therapiert werden müssen. Aufbauend auf dieser Erkenntnis entwickelte er eine Typologie, die auf der Kombination von vier psychischen Grundfunktionen (Empfinden, Intuieren, Denken, Fühlen) und zwei grundlegenden Einstellungen (extravertiert und introvertiert) basiert. Nach Jung verfügen alle Personen über diese Grundfunktionen und Einstellungen, sie unterscheiden sich jedoch in ihren relativen Ausprägungen.

FUNKTIONEN

DER BARNUM-EFFEKT

EINSTELLUNGEN Extrovertiert

Introvertiert

Empfinden (Sensation)

Realistisch, fantasielos, genießerisch

Kunstlerisch, an eigener Erlebenswelt interessiert

Intuieren (Intuition)

Leicht gelangweilt, Möglichkeiten offenlassend, nicht verharrend

Träumerisch, fantasievoll

Tatsachenorientiert, objektiv, logisch, praktisch

Ideenorientiert, philosophisch, denkerisch

Taktvoll, konservativ, hilfsbereit, emotional, sprunghaft

Non-konform, kühl, reserviert

„A LITTLE SOMETHING FOR EVERYBODY“ Der Barnum-Effekt (oder Forer-Effekt) kennzeichnet die menschliche Tendenz, vage und generische Aussagen über die eigene Person als passende Beschreibung zu akzeptieren. Klassische Barnum-Aussagen beziehen sich auf häufig vorkommende Wünsche und Ängste und sind mehrdeutig zu verstehen.

Denken (Thinking)

Fühlen (Feeling)

Abbildung: Rauthmann, J.F. (2017): Persönlichkeitspsychologie: Paradigmen – Strömungen – Theorien. Wiesbaden: Springer Verlag.

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Identität

MYERS-BRIGGS-TYPINDIKATOR: 16 PERSONALITIES Der Typenindikator von Katherine Cook Briggs und ihrer Tochter Isabel Myers (1958) greift die von C.G. Jung entwickelte Typologie auf und die Forscherinnen führten darauf aufbauend Messreihen durch. Der Indikator beschreibt einen Test, mit dem die Jungschen Typen ermittelt werden sollen. Basierend auf den von Jung festgelegten vier psychologischen Kategorien Empfinden, Intuieren, Denken und Fühlen ergibt sich eine vierstellige Buchstabenkombination, sodass insgesamt 16 Persönlichkeitstypen möglich sind.

INFJ – Advocate (Diplomat) Häufigkeit: selten (weniger als 1% der Bevölkerung) + Kreativ + Inspirierend und überzeugend + Entschlossen + Leidenschaftlich und zielstrebig + Altruistisch – Empfindlich – Perfektionistisch – Hohes Burnout Risiko – Zurückgezogen

https://www.16personalities.com/de

E

Extraversion

I

Introversion

S

Sensoring

N

Intuition

T

Thinking

F

Feeling

J

Judging

P

Perceiving

ESTJ – Executive (Wache) Häufigkeit: häufig (knapp 11% in demokratischen Gesellschaften) + Engagiert + Willensstark + Ehrlich und direkt + Loyal, geduldig und zuverlässig + Organisationstalent – Unflexibel und stur – Voreingenommen und wertend – Bevorzugt bekannte Situationen – Auf sozialen Status fixiert – Schwierig im Ausdruck von Gefühlen – Kann nicht entspannen

INTJ – Architect (Analyst) Häufigkeit: 2% der Bevölkerung (Frauen sind unter ihnen mit 0,8 % besonders selten) + Kreatives und strategisches Denken + Hohes Selbstbewusstsein + Unabhängig und entschlossen + Fleißig und zielstrebig + Aufgeschlossen – Arrogant – Wertend und voreingenommen – Verkopft – Abneigung gegen starre Strukturen – Planlos in der Liebe

ESTP – Entrepreneur (Forscher) Häufigkeit: 4% der Bevölkerung + Mutig + Rational und praktisch veranlagt + Scharfsinnig + Kreativ + Direkt und ehrlich + Gesellig – Unsensibel – Ungeduldig – Risikofreudig – Unstrukturiert – Trotzig – Kein Blick für das„große Ganze“

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EMPIRISCHWISSENSCHAFTLICHER ANSATZ BIG FIVE (FÜNF-FAKTOREN-MODELL) Entgegengesetzt zur Idee, Persönlichkeiten in Typen zu kategorisieren, basiert dieser Ansatz auf der sog. „lexikalischen Hypothese“, d.h. auf der Annahme, dass alle wichtigen Eigenschaften der menschlichen Persönlichkeit durch Eigenschaftswörter einer Sprache repräsentiert sind. Mit Hilfe einer Faktorenanalyse wurden Eigenschaftswörter identifiziert, die gleiche Persönlichkeitsfaktoren beschreiben. In den meisten Untersuchungen betrug die Anzahl fünf – daher die Bezeichnung „Big Five“:

1. Offenheit (O) Neigung zur Wissbegierde 2. Gewissenhaftigkeit (C) Neigung zur Disziplin und hoher Leistungsbereitschaft

o

3. Extraversion (E) Neigung zur Geselligkeit und zum Optimismus

Grafik angelehnt an: Borkenau, P.; Ostendorf, F. (2008): NEOFFI: NEO-Fünf-Faktoren Inventar nach Costa und McCrae, Manual. Göttingen: Hogrefe. 2. Auflage 2008.

4. Anpassungsbereitschaft (A) Neigung zum Altruismus und zur Kooperation 5. Neurotizismus (N) Neigung zur emotionalen Labilität und Traurigkeit Im Englischen wird das Modell auch OCEAN-Modell genannt – entsprechend der Anfangsbuchstaben der fünf Faktoren.

OPENNESS TO EXPERIENCE curious vs. cautious

c

PERSONALITY

n

NEUROTICISM nervous vs. confident

CONSCIENTIOUSNESS organized vs. careless

EXTRAVERSION energetic vs. reserved

e

AGREEABLENESS friendly vs. challenging

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a


Identität

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INTERPERSONAL CIRCUMPLEX

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Grafik angelehnt an: Wagner, C.C.; Kiesler, D.J.; Schmidt, J.A. (1995): Assessing the interpersonal transaction cycle: Convergence of action and reaction interpersonal circumplex measures. In: Journal of Personality and Social Psychology. 69. Jg. 1995/05. S.938–949.

INTERPERSONALER CIRCUMPLEX Bei der Untersuchung zwischenmenschlichen Verhaltens greifen zahlreiche Studien auf den interpersonellen Ansatz zurück. Der Interpersonal Circumplex (IPC) geht zurück auf Timothy Leary (1957) und basiert auf der Annahme, dass menschliche Verhaltensweisen, wie Persönlichkeitsmerkmale, auf einem Kreis darstellbar sind. Anhand eines Fragebogenverfahrens werden interindividuelle Unterschiede persönlichen Verhaltens erfasst. Auf acht Skalen mit jeweils acht Ausprägungen werden alle als problematisch angesehenen zwischenmenschlichen Aspekte entlang der Dimensionen „Dominanz“ (dominant) und „Zuneigung“ (submissive) dargestellt.

ESOTERISCHE TYPENLEHRE STERNZEICHEN Als Grundlage für eine Typologie mit zwölf Typen zählt die astronomische Einteilung eines Jahres nach Tierkreiszeichen. Hierbei determinieren der Sonnenstand bei der eigenen Geburt sowie das Geburtsdatum den Typ.

VERFASST VON ANN-KRISTIN WINKENS

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Identität Stadt &&Mensch Kollektiv

Nur 21% der Deutschen möchten in einer Großstadt leben. Tatsächlich leben allerdings 31% der Deutschen in den Großstädten.

CHARTA VON ATHEN DIE FUNKTIONALE STADT

GRUPPENKOHÄSION

EIGENFREMDGRUPPEN Die ChartaUND von Athen ist ein städtebauliches Manifest, das 1933 im Rahmen des IV. Kongress Die Eigengruppe ist diejenige Gruppe, der man der Congrès Internationaux d‘Architecture Moderselbst angehört. Fremdgruppen sind entsprene (CIAM) in Athen zum Thema „Die funktionachend diejenigen Gruppen, denen man nicht zule Stadt“ verabschiedet wurde. Mit dem Ziel einer gehörig ist. geordneten Stadtentwicklung wird in dem Manifest eine grundsätzliche unterliegt Trennung der urbanen NutzfläDie Wahrnehmung dabei zahlreichen chen nach Wohnen und gefordert. Verzerrungen, indem dieArbeiten Eigengruppe als Maß-

Beschreibt die Stärke des Zusammenhalts bzw. 1,8 Millionen Wohnungen der Beziehungen, die die Mitglieder einer Grupin Deutschland stehen leer, pe an die Gruppe bindet. Die Kohäsion hängt vor allem von der individuellen Menschen Attraktivität ab, in während 860.000 die das Individuum mit der Gruppe verbindet. Deutschland wohnungslos sind. Je größer die eigenen Vorteile wahrgenommen werden, desto höher ist auch das Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe. YUPPIE

stab für die Beurteilung fremder Gruppen gilt. „Stadtbau kann niemals durch ästhetische ÜberleDabei werden positive Eigenschaften häufig gungen bestimmt werden, sondern ausschließlich überschätzt, wohingegen mit der Fremdgruppe durch funktionelle Folgerungen.“ – eine der FordeUnsicherheit und Angst vor dem „Unbekannten“ rungen im Manifest. einhergeht. Dadurch wird die Bildung von Vorurteilen stark begünstigt, die soziale Distanz ist wesentlich stärker ausgeprägt. VITRUV

YOUNG URBAN PROFESSIONAL (PEOPLE)

KOLLEKTIVES GEDÄCHTNIS Junger, karrierebewusster, großen Wert auf seine Teilen Gruppen Erlebnisse oder Geschichten äußere Erscheinung legender Stadtmensch, über die gemeinsame Vergangenheit, die ihr geAufsteiger. (Duden) genwärtiges Selbstbild prägen, spricht man von einem kollektiven Gedächtnis. Anleitung: Wie werde ich ein Yuppie

PRINZIPIEN DER ARCHITEKTUR

https://de.wikihow.com/Sich-wie-einYuppie-kleiden

Vitruv war ein Architekturtheoretiker, dessen Werk FREMDGRUPPENHOMOGENITÄTSDe architectura libri decem im gesamten Mittelalter EFFEKT bekannt war und das seit der Renaissance einen Beschreibt die Tendenz, Fremdgruppe im wesentlichen Einfluss auf eine architektonische KonVergleich zur Eigengruppe als homogener wahrzepte aufwies. Nach ihm gibt es drei Hauptanforzunehmen.an die Architektur: Firmitas (Festigkeit), derungen Utilitas (Nützlichkeit) und Venustas (Schönheit). Diese drei Begriffe galten als die grundlegenden Maßstäbe für die Bewertung von Architektur – sie mussten alle drei gleichermaßen erfüllt sein.

SUBURBANISIERUNG Suburbanisierung beschreibt den Abwanderungsprozess der Stadtbevölkerung, der Industrie und des Dienstleitungsgewerbes ins städtische Umland. Die Zentralität der Stadt wird in Frage gestellt und nimmt ab.

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Opener

HERKUNFT = IDENTITÄT? Hybride Identitäten als Reaktion auf die globalisierte Welt SOFIA ELEFTHERIADI-ZACHARAKI

LEHRAMT GERMANISTIK/ANGLISTIK

In der Fremde zu sein bzw. dort die oder der Fremde zu sein, zwingt zur Reflexion über die eigene Identität. Das Überqueren von geographischen, politischen oder kulturellen Grenzen und das damit verbundene Nicht-Angehören zu einem bestimmten, gefestigten Territorium bzw. das Aufwachsen in einer Bi- bzw. Multikulturalität, nimmt der Identität ihre Selbstverständlichkeit und führt immer wieder zur Konfrontation mit der Frage nach ebendieser Identität. Deutschlands Bevölkerung ist im Zuge der Gastarbeiteranwerbung der 50er/60er Jahre diverser und bunter geworden. Derzeit haben 23% der Bevölkerung einen sogenannten Migrationshintergrund. Obwohl viele von ihnen bereits in zweiter oder dritter Generation in Deutschland leben, dort geboren, aufgewachsen und sozialisiert sind und noch nie in einem anderen Land gelebt haben, werden sie in Statistiken als Ausländerinnen und Ausländer verzeichnet. Und auch außerhalb statistischer Erhebungen werden Migrantinnen und Migranten, ob wegen ihres Aussehens, ihres Namens, mit ihrer Andersartigkeit konfrontiert und somit impliziert, sie würden noch immer nicht dazugehören, da sie doch anders seien als die Mehrheit. Identität greifbar zu machen, ist schwierig. Bei Migrationserfahrungen erschwert das die Identitätsfindung umso mehr. Migration scheint eine eindeutige Zugehörigkeit unmöglich zu machen. Menschen und Gruppen, die über Generationen hinweg in Deutschland leben und sich dort ein Zuhause und einen Freundeskreis aufgebaut haben, stehen gleichzeitig in engem Kontakt zu ihrer Familie im Heimatland und fühlen sich ihnen verbunden. Sie feiern die hiesigen Feiertage und Feste sowie auch diese, die sie aus Kindheitstagen oder durch ihre Vorfahren kennen. Ihr Leben ist nicht einzig und allein durch eine eindeutige Zugehörigkeit geprägt, sondern durch eine mehrfache und kombinierte Zugehörigkeit – und damit verbunden allen Chancen und Herausforderungen, die diese Zugehörigkeiten mit sich bringen. Abhängig davon, welcher Beweggrund zur Migration geführt hat und welche Erfahrungen Migrantinnen und Migranten 12


Identität & Kollektiv

im Aufnahmeland gemacht haben, wird der Einfluss, den die Heimatkultur auf die Identität von Migrantinnen und Migranten hat, unterschiedlich sein: Die einen leben die Kultur ihres Herkunftslandes auch in ihrem neuen Land offen aus, die anderen wollen diese ablegen, sich assimilieren, deutsch werden. Und dann gibt es noch diese, die ein Mittelmaß beibehalten wollen. Von Generation zu Generation mag sich dies unterscheiden. Aber die Frage lautet, was bedeutet Identität in unserer heutigen schnell wandelnden, globalisierten und multikulturellen Welt? Die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen machen biographische Diskontinuitäten zum Normalfall, gerade im Kontext von Migrationen. Die klassischen Identitätsmodelle können in dieser Postmoderne nicht mehr gelten, Identität ist flexibel, offen und ohne festen Kern zu verstehen, daher ist sie nie abgeschlossen und vollkommen, sondern wandelbar. Die Annahme, dass es einen festen Identitätskern gebe, der sich in der Kindheit und Adoleszenz herausbilde und zum Ende der Adoleszenz weitgehend gefestigt sei, kann im Kontext von Migration nicht gestützt werden. Durch die Auflösung von klaren nationalen und kulturellen Zugehörigkeiten sind die „großen kollektiven Identitäten der Klasse, der ‚Rasse‘, des sozialen Geschlechts und der westlichen Welt“ (Hall 1994) nicht mehr zeitkonform und somit auch nicht mehr als homogene Gruppen zu verstehen. Aus diesem Grund wurden neue und an die gesellschaftliche Wandlung angepasste Identitätsmodelle entwickelt. Hier steht die Verknüpfung einzelner, scheinbar miteinander unvereinbarer Elemente aus diversen Kulturen im Mittelpunkt, wie beispielsweise die „segmentierte Identität“ (Pries), die „Patchwork-Identität“ (Keupp), die „Sowohl-als-Auch-Identität“ (Beck) oder die „hybride Identität“ (Bhabha). All diese Modelle zeichnen sich durch ein nebeneinanderher Existieren vermeintlich widersprüchlicher Elemente aus. Bei der hybriden Identität beispielsweise ist Identität als Konstrukt anzusehen, welches sich aus Diskursen, Interak13

tionen und kulturellen Begegnungen entwickelt. Historische, kulturelle oder politische Erfahrungen gestalten und prägen Identität (vgl. Hall 1994). Hybridität lässt sich daher „re-interpretieren als Fähigkeit, sich aktiv zu verhalten gegenüber den differenzierten Anforderungen ‚ethnischer‘/ kultureller Vielfalt in den gegenwärtigen Gesellschaften“ (Räthzel 1999). Die Chance für jede und jeden einzelne/n liegt hier in der Kompetenz, durch den Rückgriff auf verschiedene kulturelle Erfahrungen mehr Ressourcen für die eigene Handlungsfähigkeit entwickeln zu können und somit flexibler und weitsichtiger auf die Anforderungen des modernen Lebens reagieren zu können. Solche Identitätsmodelle folgen der Auffassung, dass „jeder Mensch an mehreren, sich widerstreitenden, aber koexistierenden Kulturen teilhat, seine individuelle Identität also aus der Verarbeitung unterschiedlicher, koexistierender kollektiver Identitäten erwächst“ (Geiger 1987). Migration kann also als Chance sowohl für die Migrantin und den Migranten selber (im Sinne eines Autonomiegewinns) als auch für die Gesellschaft (im Sinne von Kulturentwicklung) sein.

Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.) (2018): Bevölkerung mit Migrationshintergrund I. Online verfügbar unter: http://www.bpb.de/wissen/NY3SWU,0,0,Bev%F6lkerung_mit_Migrationshintergrund_I.html. [Zugriff: 20.06.2019]. Geiger, K.F. (1987): Kulturelle Identität – Kritische Anmerkungen zur Diskussion über Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik. In: Köstlin, K. (Hg.): Kinderkultur. Bremen. S. 219–236. Hall, S. (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument-Verlag. Räthzel, N. (1999): Hybridität ist die Antwort, aber was war noch mal die Frage? In: Kossek, B. (Hg.): Instruktionen – Interaktionen – Interventionen. Hamburg. S. 204–219.

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Artikel

SCHWARMIDENTITÄT THOMAS SOJER

THEOLOGIE (GRAZ)

Im März 2019 wurde Greta Thunberg für den Friedens- erlebt die_der Einzelne das, was dem digitalen Schwarm auf nobelpreis nominiert. Manch eine_r spekuliert, dass Glanz Instagram und Twitter fehlt, eine Massenseele. (vgl. Han und Ehre der Preisverleihung ihr Anliegen und die dar- 2013: 20) Zwischen, über und in den zahllosen Gesichtern aus erwachsene Bewegung politisch dressieren und letztlich herrscht eine gemeinsame Identität. Eine solche spontane, den ‚Störfaktor‘ streikender Schüler_innen beseitigen wird. kollektive Identität folgt ambivalenten Gesetzen des kollekDie selbstorganisierten Bewegungsteilnehmer_innen sehen tiven Wiederkennens im anderen. Eine seltene Vertrautheit Greta als Initialzündung einer globalen Bewegung und be- beginnt in der Logik des Schwarms ein Eigenleben fernab tonen in den Sozialen Medien, bewusst ohne Führung und jeder äußeren und inneren Kontrolle zu führen. Die soziale übergeordnete Institution zu agieren. Betrachten wir Fri- Macht entfesselt, die ohne Führung im Überhitzungseffekt days for Future deshalb einmal gemäß den Kategorien ei- zu einer einzigen Handlungsmasse zusammenschweißt (vgl. nes Vogelschwarms, der ebenfalls führungslos und dennoch Tarde 2015: 54). Der einzelne Mensch hört in der unzählüberaus elegant seit gut 160 Millionen Jahren funktioniert. baren Masse auf, nur eine eingetragene Nummer zu sein Das oberste Gebot im Himmel heißt Äquilibrium: Fokus- und erfährt gerade dort in der undifferenzierbaren Zugehösieren sich die Vögel zu sehr auf einen ausgewählten Leit- rigkeit zum Wir, im Unter- und Aufgehen des schäumenvogel, zerbricht der Schwarm und das zuvor führungslose den Wellenschlags des Menschenmeers eine neue Freiheit Kollektiv liefert sich im Kampf um Nähe und Distanz zum im Zeitalter allgegenwärtiger Überwachung. Trotz der MaLeitvogel gegenseitigen Rivalitäten und Konflikten aus (vgl. ximierung der Öffentlichkeit und Sichtbarkeit schafft die Horn 2015: 26). Masse in ihrer optischen Relativierung und Musterbildung Anonymität. Dem System nackter Identifizierbarkeit tritt Menschenschwärme irritieren: Eine Masse von Menschen die geschlossene Identität des Schwarms aus Namenlosen ist von außen intransparent. Vor allem, wenn sie spontan entgegen (vgl. Abels 2010: 375). und schwer einordbar auftritt (vgl. König 2017: 26f.). Die Geschlossenheit gibt den Teilnehmer_innen im Bauch des Menschenschwärme sind Spiegelkabinette der Identität: Die kollektiven Wals das Gefühl der Stärke und Sicherheit. An- Bedeutung der Musterbildung resoniert schon im etymodererseits verunsichert sie die, die der Masse gegenüberste- logischen Ursprung des Begriffs Identität. Das lateinische hen. Die Masse der auf dem Platz gegenwärtigen Körper Demonstrativpronomen idem deutet das Wiederauftreten bildet Kohärenz (vgl. Stäheli 2015: 89). Im Schwarm des derselben Person oder Sache an und impliziert damit eine mit ‚echten‘ Körpern gebildeten Wir entsteht ungeplant et- ontologische Kontinuität (vgl. Ricoeur 1996: 151). Die Bewas, das sowohl von innen als auch von außen als ein ‚Mehr deutung des Wiederauftretens desselben bahnt sich schließlich als nur die Summe ihrer Einzelteile‘ erfahrbar wird. Im Wir ihren Weg in die Nationalsprachen und wird vor allem in

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Identität & Kollektiv

der Wissenschaftsgeschichte zum Standardwortschatz dafür, dass verschiedene Dinge als identisch erscheinen. Trotz der Vielfalt an Kontexten und historischen Entwicklungen ist dem Begriff Identität die Bedeutung des Wieder-auftretens, wenn auch meist versteckt und implizit, erhalten geblieben: nicht nur zeitlich als Wiederholung und Wiederkehr, sondern auch räumlich, als dem gleichzeitigen Vorhandensein der immergleichen Sache räumlich oder bildlich nebeneinander. In diesem Sinne zeichnet sich die Identität eines Schwarmes vor allem durch das Wiederauftreten des Eigenen im Anderen aus (vgl. ebd.). Menschenschwärme folgen sozialen Algorithmen: Das statische Konzept eines Musters wird der Wirklichkeit ambivalenter, dynamischer und fragmentierter Verhaltensoptionen des Schwarms wenig gerecht. Eine effektivere Beschreibung erlaubt die Schwarmtheorie von Craig W. Reynolds, der Anfang der 1980er beim Betrachten eines Vogelschwarms den Einfall hatte, ein theoretisches Konzept zu entwickeln, welches Schwarmverhalten von Fischen, Vögeln und Insekten rechnerisch rekonstruiert (vgl. Vehlken 2015: 147f.). Reynolds kam zu dem Schluss, dass es zum längerfristigen Zustandekommen eines Schwarms drei zentraler Faktoren bedarf: I.

Kohäsion: Jedes Subjekt bewegt sich unaufhörlich auf jenen (nicht real vorhandenen) Mittelpunkt zu, den es

in der Gruppe der anderen Subjekte immerzu ausfindig macht. 2. Separation:

Kein Subjekt darf einem anderen Subjekt zu nahekommen und muss gegebenenfalls Distanz suchen.

3. Alignment: Jedes Subjekt bewegt sich bestmöglich in die-

selbe Richtung der anderen Subjekte.

Übertragen wir die drei Faktoren auf das soziale Phänomen von Menschenschwärmen, ergeben sich folgende Vorbedingungen: (1) Kohäsion: Innerhalb der Masse muss sich ein ‚diskursiver‘ Mittelpunkt herausbilden: ein Thema, ein Anliegen, ein geteiltes Problembewusstsein. Im Fall von Fridays for Future: Klimaschutz hat eine Deadline und diese ist heute. Dies gilt als ungeschriebenes Gesetz, das ohne genaue Definition und Erklärung auskommt (2) Separation: Es kommt nicht zur Vergesellschaftung oder nachhaltigen Gruppenbildung, die Teilnehmer_innen nehmen sich als eigenständig und frei wahr: Sie stellen sich der Masse sozusagen als parteilose Individuen für die Dauer der Ansammlung körperlich, visuell und akustisch ‚zur Verfügung‘. Die Zugehörigkeit zum konkreten Schwarm beschränkt sich auf das aktuelle Auftreten dieses einmaligen Ereignisses, eine neue Versammlung bedeutet immer einen vollkommen neuen Schwarm. Fridays for Future ist keine Organisation. Jede_r entscheidet jeden Freitag aufs Neue ob sie_er hinge-

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hen will oder nicht. (3) Alignment: Die ‚agency‘ und folglich auch die Verantwortung wird von den Teilnehmer_innen an den Schwarm übergeben. Niemand im Schwarm agiert, sondern alle re-agieren nach den Gesetzen des Schwarms. Fridays for Future verkörpert diesen Transfer von agency besonders im Selbstverständnis des ‚Streiks‘. Gesellschaften sakralisieren, Schwärme sollten es nicht: Im historischen Regelfall produzieren Prozesse der Kollektivbildung, spontan oder geleitet, auf kurz oder lang eine „Sakralisierung der Führung“ (Moebius 2018: 41f.). Damit soll das Wiedererkennen des Eigenen in der gemeinsamen Heldenfigur ermöglicht werden. Diese_r Held_in übernimmt die ‚agency‘ und in ihrer_seinem Gefolge bilden sich Hierarchien heraus, die im Weiteren eigene Institutionen ausformen. Im Schwarm ist die Trägerschaft der ‚agency‘ hingegen nicht mehr eindeutig feststellbar. Zwar zeigt sich im intransparenten Gesamtbild eine geschlossene ‚Stoßrichtung‘, die im Sinne einer von allen anverwandelten gemeinsamen Identität in den einzelnen Individuen ‚wieder-auftritt‘. Letztlich kann aber kein eindeutiger Ursprung einer ‚agency‘ festgemacht und damit von außen beeinflusst oder kontrolliert werden. Dieser Umstand erklärt, warum spontane Massenbewegungen für traditionelle Institutionen, deren ‚agency‘ klar definiert und ausgeführt wird, als unberechenbare Gefahr gesehen werden. Ohne eine zentrale Führung erlebt unsere Gesellschaft Butterflyeffekte der Mobilisierung: Menschen kommen wie aus dem Nichts und füllen ohne Vorwarnung Straßen und Plätze. Bei Fridays for Future sehen wir zur Zeit, wie die etablierten Institutionen mit einer klaren ‚agency‘ von außerhalb die Sakralisierung der Heldenfigur Greta Thunberg mit Auszeichnungen und Preisverleihungen vorantreiben, um letztlich einen identifizierbaren, verwundbaren und damit lenkbaren Punkt im Schwarm zu erzeugen. Es bleibt abzuwarten, ob der Schwarm abreißt, oder es sogar zum ‚Mushrooming‘ vieler neuer unabhängiger Klimaschutzbewegungen kommt und schließlich ein nicht mehr einzufangender Superschwarm die Wende bringt.

Abels, H. (2010): Identität. Wiesbaden: Springer Verlag. Han, B.-C. (2013): Im Schwarm: Ansichten des Digitalen. Berlin: Matthes & Seitz. Horn, E. (2015): Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung. In: Horn, E.; Gisi, L.M. (Hg.): Schwärme – Kollektive ohne Zentrum: Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information. Bielefeld: transcript. S. 7–26. Moebius, S. (2018): Die Sakralisierung des Individuums. Eine religions- und herrschaftssoziologische Konzeptionalisierung der Sozialfigur des Helden. In: Rolshoven, J.; Krause, T.J.; Winkler, J. (Hg.): Heroes – Repräsentationen des Heroischen in Geschichte, Literatur und Alltag. Bielefeld: transcript. S. 41–67. König, R. (2017): Soziologische Studien zu Gruppe und Gemeinde. Wiesbaden: Springer Verlag. Ricoeur, P. (1996): Das Selbst als ein Anderer. München: Wilhelm Fink. Stäheli, U. (2015): Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie. In: Horn, E.; Gisi, L.M. (Hg.): Schwärme – Kollektive ohne Zentrum: Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information. Bielefeld: transcript. S. 85–100. Tarde, G. (2015): Masse und Meinung. Konstanz: Konstanz University Press. Vehlken, S. (2015): Fish & Chips. Schwärme – Simulation–Selbstoptimierung. In: Horn, E.; Gisi, L.M. (Hg.): Schwärme – Kollektive ohne Zentrum: Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information. Bielefeld: transcript. S. 125–162.

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Identität & Kollektiv

VON DEN NATIONALREVOLUTIONÄREN DENKERN WEIMARS ZUR IDENTITÄREN BEWEGUNG UND NEUEN RECHTEN ARNO L. WEIß

AUTOMATISIERUNGSTECHNIK

Der Österreicher Martin Sellner ist spätestens seit seiner Festnahme infolge des Christchurch-Attentats der breiteren Öffentlichkeit bekannt. Der Obmann der Identitären Bewegung (IB) hatte Verbindungen zu ebendem Australier, der später 50 Menschen erschoss (vgl. Fiedler 2019). In der rechtsextremen Szene Deutschlands ist er allerdings schon wesentlich länger bekannt und hat mit Guerilla-Marketing, einem YouTube-Kanal und diversen Publikationen von sich reden gemacht. Sellner steht mit seinem modernen Look und aktionistischen Politikstil sinnbildlich für die Neue Rechte, deren Teil die IB ist. Trotz dieses neuen Anstrichs hat der Anschlag offengelegt, dass eine bestimmte Lesart des Identitätsbegriffs als Ausgangspunkt für Gewalt und Terror dienen kann. Deshalb soll hier versucht werden, sich dieser Möglichkeit über eine Betrachtung derer Denker zu nähern, die als Impulsgeber und Vorbilder genannt werden. Martin Sellner selbst hat Philosophie studiert und im Antaios-Verlag des Pegida-Redners und neurechten Aktivisten Götz Kubitschek einen Gesprächsband zu Martin Heidegger herausgebracht. Heidegger wird dort zu einem identitären Denker stilisiert (vgl. Sellner/Spatz 2015). Diese Neigung zu Textarbeit und intellektuellem Habitus ist keine Ausnahme. Inzwischen hat sich innerhalb der Szene ein Kanon etabliert, der hauptsächlich aus der nationalistischen Bewegung der Weimarer Republik stammt und schon 1949 von Armin Mohler unter dem Sammelbegriff „Konservative Revolution“ zusammengefasst wurde (Mohler/ Weissmann 1949). Dass diese Akteure keineswegs konservativ im bewahrenden Sinne dachten und mindestens ideologische Sympathien für den Nazistaat zeigten, wird schon aus ihren Biografien und Schriften klar (vgl. Breuer 1993). Die Linien zur „Konservativen Revolution“ werden heutzutage selbst gezogen: Neben seinem Dasein als Aktivist betreibt Martin Sellner als Unternehmer den Versandhandel „Phalanx Europa“. Dort muss man nach pathetischen Fanartikeln für diese Denker nicht lange suchen. Drei von ihnen sollen im Folgenden exemplarisch porträtiert werden:

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Carl Schmitt Der bereits mit 26 Jahren habilitierte Staatsrechtler Carl Schmitt profilierte sich in der Zwischenkriegszeit vor allem über seine weithin beachteten wissenschaftlichen Arbeiten. Zentral sind dabei die Konzepte von Souveränität, Raum, Volk und Identität. Sein Identitätsbegriff bezieht sich auf die Identität von Volk und Führer, also auf ein Identischsein (vgl. Hacke 2018). Daraus ergibt sich die Möglichkeit einer demokratischen Diktatur, die ohne parlamentarische Komponente funktioniert – antiliberal, aber nicht notwendig antidemokratisch. Der Führer artikuliert und realisiert dabei den politischen Willen, der dem Volk innewohnt und schützt ihn vor Zersetzung durch aus dem Parlamentarismus eingeschleuste, äußere Kräfte. Prämisse für diese Identität und damit für die demokratische Diktatur müsse aber immer eine Homogenität unter „Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“ (Schmitt 1923: 14) sein. Es überrascht also nicht, dass er in Berlin eine Tagung unter dem Titel „Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist“ leitete (Schmitt 1936). Bei der IB hallen diese Ideen wider im Konzept des Ethnopluralismus: Die Völker sollen voneinander abgeschieden existieren und leben nach ihrem inhärenten, eindeutigen und einheitlichen Willen. Aus der Homogenitätsbedingung folgt für Schmitts Demokratieverständnis die strikte räumliche Begrenzung. Er lehnte den Völkerbund und den damit assoziierten Universalismus (vor allem der Minderheitenrechte) grundsätzlich ab. Dem Kontext entspringt auch das Zitat auf Aufklebern im PhalanxShop: „Wer Menschheit sagt, will betrügen“. Als Gegenentwurf zu den Menschenrechten schlug Schmitt ein „Volksgruppenrecht“ vor, das als Ausdruck souveräner Selbstbestimmtheit lokal beschränkt gelten sollte (Schmitt 1941: 306).

Arthur Moeller van den Bruck Ernst Jünger Während des 1. Weltkriegs war Ernst Jünger Offizier und publizierte in der Weimarer Republik die Eindrücke aus seinen Tagebüchern. Sein Stil war dabei weniger autobiographisch als ästhetisch. Er schilderte Eindrücke, Szenen und nahm dabei die Rolle des Beobachters ein. Die Veröffentlichungen „In Stahlgewittern“ und „Der Kampf als inneres Erlebnis“ sind gezeichnet von heroischen Soldatenfiguren: Der Krieg befreit den Menschen von einer als dekadent empfundenen Zivilisation und wirft ihn zurück in archaische ergo natürliche Verhaltensweisen (vgl. Lühe 2018). Jünger wurde aber auch politisch expliziter. 1923 publizierte er im NSDAP-Parteiblatt „Völkischer Beobachter“ und stritt dort für Hakenkreuz und Diktatur (vgl. Jünger/Berggötz, 1921: 33). Den im Phalanx-Shop vertriebenen Aufkleber ziert der Spruch „Weil wir die echten, wahren und unerbittlichen Feinde des Bürgers sind, macht uns seine Verwesung Spaß.“. Bereits diese im September 1929 verfasste Losung zeigt auf, welche Lust am Verfall demokratischer Ordnung Jünger in der Weimarer Republik verspürte (vgl. Kesting 1969). Obschon er im Vorlauf der Machtergreifung an seiner autoritären Haltung festhielt und unzweideutig antisemitische Schriften (vgl. Jünger 1930) verfasste, bleib er auf Distanz zum NS-Staat. Jünger lehnte alle Avancen ab – zu sehr gefiel er sich in der Rolle des Anarchen und Beobachters. Als solcher inszenierte er sich auch nach 1945. Er wurde zu einem allseits angesehenen Literaten, erntete die Bewunderung des Bundeskanzlers Kohl.

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Die zweifelhafte Ehre eigener Aufkleber ist auch Arthur Moeller van den Bruck vergönnt. Der Literaturgeschichte ist er vermutlich eher – ohne Russisch zu können – als der Autor der Vorworte der ersten deutschen Dostojewski-Übersetzungen bekannt (vgl. Voigt 2014: 111). Aber auch politisch hat er relevante Beiträge verfasst. Ähnlich wie Schmitt verachtete er die Weimarer Republik, was er 1923 in seinem Opus Magnum „Das Dritte Reich“ deutlich machte. Der Begriff feierte damit zehn Jahre vor der Machtergreifung sein Comeback. Moeller teilte die Völker in die Kategorien jung und alt ein. Das ist hier weniger auf ein geschichtliches Alter bezogen, sondern auf eine innere Geisteshaltung. Nur aus einem jungen Volk könne ein eigener Stil erwachsen und das Potential sah er in der schicksalhaften Verbrüderung Deutschlands und Russlands (vgl. Lommatzsch 2012). Trotz seiner national-revolutionären Haltung lehnte er den Bolschewismus nicht grundsätzlich ab, sondern sah ihn als Chance für eine deutsche Expansion nach Osten. Ziel bleib damals immer die Errichtung des Reichs, verstanden als Begriff der vom Staat abgegrenzt wurde und zu ihm stand wie die eine Kirche zur Sekte (Moeller 1931: 305). Nach dem Ende der Sowjetunion und mit der Etablierung des System Putin war auch der Widerspruch der intellektuellen Rechten beendet, den man zwischen Russland als antiliberalen Partner und seiner kommunistischen Realität gesehen hatte. Moellers Ideen haben in Russland wie Europa vor allem durch die Popularität des Philosophen Alexander Dugin wieder an Präsenz gewonnen, der die Idee einer eurasischen Identität ins Zentrum seines Handelns stellt. Dugin sieht im Liberalismus amerikanischen Stils einen „Ethnozid“ – Moellers Kernthese heißt: „Am Liberalismus gehen die Völker zugrunde.“ (Weiß 2017: 196ff.)


Identität & Kollektiv

Breuer, S. (1993): Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 2. Auflage 1995. Fielder, M. (2019): Identitären-Chef bekam offenbar Geld von Christchurch-Attentäter. In: Tagesspiegel, 26.03.2019. Online verfügbar unter: https://www.tagesspiegel.de/politik/ hausdurchsuchung-bei-martin-sellner-identitaeren-chef-bekam-offenbar-geld-von-christchurch-attentaeter/24145238.html [Zugriff: 09.05.2019]. Hacke, J. (2018): Carl Schmitt: Antiliberalismus, identitäre Demokratie und Weimarer Schwäche. In: Zentrum Liberale Moderne, 2018. Online verfügbar unter: https://gegneranalyse.de/personen/carl-schmitt/ [Zugriff: 08.05.2019]. Jünger, E. (1930): Über Nationalismus und Judenfrage. In: Süddeutsche Monatshefte. 27. Jg. 1930/12. S. 845. Jünger, E.; Berggötz, S.O. (2001): Politische Publizistik 1919 bis 1933. Stuttgart: Klett-Cotta. 2. Auflage 2013. Kesting, M. (1969): Das Radikale schlechthin. In: Die Zeit, 16.05.1969. Online verfügbar unter: https://www.zeit.de/1969/20/ das-radikale-schlechthin/seite-3 [Zugriff: 08.05.2019]. Lommatzsch, E. (2012): André Schlüter: Moeller van den Bruck. Leben und Werk. In: George-Jahrbuch 2012/01. S. 318–320. Moeller van den Bruck, A. (1916): Der Preußische Stil. Breslau: Korn. 3. Auflage 1931.

Dieser verkürzte Überblick soll illustrieren, welche Denker die intellektuelle Rechte in Deutschland beschäftigt und weshalb Identität ein so zentraler Begriff rechtsradikaler Argumentation geworden ist. Die politischen Konzepte der Konservativen Revolution sind in ihrer Vielfalt natürlich im Laufe der Jahre stetig neu rezipiert und weiterentwickelt worden. So beziehen sich auch zeitgenössische Vordenker der Neuen Rechten wie Alain de Benoist oder Götz Kubitschek immer wieder auf sie. In Deutschland strahlt ihre Faszination bis weit in die AfD hinein. Die politischen Konzepte der Neuen Rechten sind also im Kern nicht neu. Bei aller Widersprüchlichkeit der globalisierten Welt ist es wichtig, klar zu benennen, welch wütende Ablehnung der universellen Menschenrechte, des Judentums und der Moderne ihnen allen im Kern innewohnt.

Mohler, A.; Weißmann, K. (1949): Die konservative Revolution in Deutschland 1918 – 1932. Graz: Ares-Verlag. 6. Auflage 2005. Schmitt, C. (1936): Die Deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist. In: Das Judentum und die Rechtswissenschaft. Ansprachen, Vorträge und Ergebnisse der Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer des NSRB. Berlin: Deutscher Rechts-Verlag. S. 14–18. Schmitt, C. (1923): Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. Berlin: Duncker und Humblot. 8. Auflage 1996. Schmitt, C. (1941): Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Berlin: Duncker & Humblot. 4. Auflage 1991. Sellner, M.; Spatz, W. (2015): Gelassen in den Widerstand. Schnellroda: Antaios. Voigt, S. (2014): Die Akte Moeller van den Bruck. In: Zeitschrift für Ideengeschichte. Heft VIII/01. München: C.H. Beck. S. 111–113. Von der Lühe, I. (2018): Ernst Jünger – Die Amoralität des Ästheten. In: Zentrum Liberale Moderne, 2018. Online verfügbar unter: https://gegneranalyse.de/personen/ernst-juenger/ [Zugriff: 08.05.2019]. Weiß, V. (2017): Die autoritäre Revolte. Stuttgart: Klett-Cotta. 2. Auflage 2017.

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DEUTSCH-DEUTSCHE BEFINDLICHKEITEN Ein Exkurs über Identität, Entfremdung und die Frage nach dem Autoritären im Kontext der deutschen Wiedervereinigung

JAN KORR

POLITIKWISSENSCHAFT

Das „Superwahljahr“ 2019 birgt neben der Europawahl Zwei Idiome, die aber mittlerweile seit 29 Jahren Teil der vor allem drei Landtagswahlen: In Sachsen, Thüringen und gleichen Gesellschaft sind. Ist das heutige Sprechen über die Brandenburg. Alle drei Bundesländer waren einst Teil der diffusen Entitäten Ost und West nicht ein anachronistischer DDR. Die rechtspopulistische AfD gilt in diesen Bundes- Akt, der Gefahr laufen kann, ein stereotypisches Schisma ländern als Konkurrent für die amtierenden Regierungen. aus einer anderen Zeit aufrecht zu erhalten? Diese Frage ist Städte wie Dresden, Chemnitz, Cottbus oder Köthen sind gleichzeitig zu bejahen und zu verneinen. synonym für Hochburgen und Austragungsorte etablierter rechtsextremer Bürger_innenbewegungen (vgl. Rippl et al. 2018: 44). In Gesellschafts- und Demokratiedebatten Struktur des föderalen gilt dies vielen als Beweis vor allem für eins: Der demokra- Selbstverständnisses tisch gewählte Osten Deutschlands ist auch nach bald 30 Jahren Wiedervereinigung immer noch Sinnbild des au- Der föderale Staat Deutschland besteht im Jahr 2019 aus 16 toritäreren Teils der deutschen Nachkriegsidentität. Eine Bundesländern mit regional-historisch gewachsenen IdentiFeststellung, die in Ostdeutschland vor allem als eine west- täten. So finden sich in den Bundesländern unterschiedlich deutsche Erkenntnis wahrgenommen wird: ein Exkurs in geprägte Regionen hinsichtlich ihrer strukturellen, religiösen und sozialen Dimensionen. Trotz dieser Heterogenität ist die deutsch-deutsche Identitätsdebatte. den neuen wie auch den alten Bundesländern gemein, dass in ihnen gesellschaftliche bzw. regionale Konflikte existieren. Um es zu verdeutlichen: Nordrhein-Westfalen ist nicht Der Osten – eine unhaltbare Typologie? Bayern, genauso wenig wie Brandenburg Sachsen ist. In den Die Thematisierung des Ostens im Kontrast zu dem Westen alten Bundesländern werden ebenfalls rechtspopulistische ist an sich bereits der erste Gegenstand dieser Betrachtung: Parteien und Bürger_innenbündnisse gewählt und gegrünWas ist der Osten und was ist der Westen? Es handelt sich det. Parteien wie die NPD (1964), Republikaner (1983) und vorerst um geographische, ökonomische, historische und DVU (1987) entstanden alle in der Bonner Republik (vgl. soziale Einheitsdimensionen, deren Entstehung Teil eines Decker 2007: 12f.). Dennoch waren die Wahlergebnisse der wechselwirkenden Systemkonflikts – des Kalten Krieges – Bundestagwahl 2017 eindeutig: In den Ländern Sachsen waren. Die Begriffe wurden umgangssprachlich im Kontext (25,4%), Sachsen-Anhalt (16,9%), Thüringen (22,5%), Branihrer groben kulturell sozialisierten Eigenarten verwendet. denburg (19,4%) und Mecklenburg-Vorpommern (18,2%) 20


Identität & Kollektiv

erhielt die AfD die höchsten Stimmenanteile bundesweit (vgl. Bundeswahlleiter 2019). Kann diese Wahltendenz als Beweis für eine anhaltende Trennung der politischen Kultur aufgrund der geteilten deutsch-deutschen Vergangenheit angesehen werden? Vergleichbare Gesellschaftskonflikte wurden bereits in den 1970ern durch die Cleavage-Theorie in der Wahlforschung untersucht. Seymour Lipset und Stein Rokkan begründeten diese makrosoziologische Analyse anhand gesellschaftlicher Cleavages (Spaltungen) wie Stadt/Land, Arbeit/Kapital, Kirche/Staat sowie Zentrum/ Peripherie (vgl. Schmitt-Beck 2007: 252f.) und überprüften, inwieweit strukturelle Faktoren das Wahlverhalten beeinflussten und erklärten. Insbesondere die Grundsatzkonflikte Arbeit/Kapital sowie Zentrum/ Peripherie können Aufschlüsse über die Bedingungen für das Wahlverhalten in den neuen Bundesländern liefern.

Protest der Prekarisierten? Das Thema Rechtsextremismus im Osten wird häufig als ein Resultat verschiedener Faktoren gesehen, die nach der verheißungsvollen postsozialistischen und demokratischen Wende ein strukturelles Defizit in den neuen Bundesländern erzeugten: Objektive Deprivation durch Deindustrialisierung und damit verbundene höhere Arbeitslosenzahlen (vgl. Martens 2010a), ausbleibende Lohnangleichung (vgl. Thüringen-Monitor 2017: 25; 198) und ein „Elitenaustausch“ von Westdeutschen in ostdeutsche Entscheidungspositionen (vgl. Vogel 2017: 45f.). Daraus resultierte gleichzeitig eine starke Abwanderung junger qualifizierter Menschen – vor allen von Frauen – in die alten Bundesländer (vgl. Martens 2010b). Die Bilder „posttraumatischer“ Städte mit rechtsextremen Aufmärschen wie in Bautzen und Hoyerswerda, geben der innerdeutschen Identitätsdebatte eine scheinbar offensichtliche Erklärung für rechtes Gedankengut: Soziale Deprivation und Perspektivlosigkeit führen dazu, dass prekäre Milieus rechte Parteien wählen. Diese Erklärung gilt in der Rechtsextremismusforschung in Deutschland durchaus als ein relevanter Faktor für das Wählen dieser Parteien: Sie ist aber nicht als ein spezifisches Ost- oder Westphänomen zu verstehen. So haben prekäre Milieus wie auch Milieus, die der sozialen Mittelschicht zuzuordnen sind, in großen Teilen die AfD gewählt, was eine Verringerung der messbaren 21

sozialen Spaltung zwischen Einkommensgruppen anzeigt (vgl. Vehrkamp/Wegschaider 2017: 17f.).

Der blinde Punkt der strukturellen Diskrepanz Seit 1989 haben die neuen Bundesländer teils starke wirtschaftliche und finanzielle Entbehrungen erleiden müssen. Die wirtschaftliche Rehabilitierung ist trotz hoher Stagnationsraten in den meisten dieser Länder dennoch vorangeschritten – auch wenn sie immer noch teilweise weit hinter den alten Bundesländern zurück liegen (vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2019). Langzeitstudien wie beispielsweise des Thüringen-Monitors haben ermittelt, dass die Zufriedenheitswerte bei der gesamtgesellschaftlichen und persönlichen Einkommensstruktur der Befragten in Thüringen zwischen 73% und 93% liegen (vgl. Thüringen-Monitor 2017: 60f ). Zu ähnlichen Ergebnissen kommen neuere Studien wie der vergleichbare Sachsen-Monitor (vgl. Sachsen-Monitor 2018: 14ff.). Gleichzeitig bewerten große Teile dieser Befragten aber eine Unzufriedenheit und Deprivation in Relation zu den alten Bundesländern. Eine scheinbar kollektiv empfundene Abwertung, die nicht zwangsläufig mit persönlicher Einkommens- und Wirtschaftszufriedenheit korrelieren muss.

Ostdeprivation „Unter Ostdeprivation wird eine negative Bewertung der deutschen Einheit sowie die Einschätzung, Westdeutsche behandelten Ostdeutsche als „Menschen zweiter Klasse“, verstanden.“ (Thüringen-Monitor 2017: 81)

Die soziale Deprivation ist somit als einzelne Ursachenerklärung für das Wahlverhalten in den neuen Bundesländern nicht ausreichend. Ein weiterer Faktor ist das negative politische Fazit und der Umgang mit vielen dieser Menschen nach der Auflösung der DDR. Denn mit der Friedlichen Revolution sahen viele Bürger_innen der damaligen DDR die Chance auf eine gemeinsame Neubestimmung mit der damaligen Bundesrepublik. Diese „Prä-Wende-Generation“ hat nach der Wiedervereinigung eine kollektive Abwertung durch die bundesdeutsche Mehrheitsgesellschaft erfahren. Als „Migrant_innen“ eines gescheiterten autokratischen Staates, dessen Zivilgesellschaft ein defizitäres Verhältnis

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zur Demokratie aufweisen sollte, wurden die Ostdeutschen als rückständig betrachtet und waren angehalten sich in die bundrepublikanische Gesellschaft zu integrieren (vgl. Kubiak 2018: 27ff.). In den frühen 1990er Jahren waren die Abwertungserfahrungen gegenüber Ostdeutschen vergleichbar mit den xenophoben Ressentiments gegenüber Migrant_innen (vgl. Pates/Schochow 2013). Sinngemäß des Cleavage Zentrum/Peripherie lagen die finanziellen Ressourcen und politische Deutungshoheit im Zentrum – der alten BRD – und die neuen Bundesländer in der Peripherie. Mit der Rolle der symbolischen Ausländer, den tradierten Stereotypen aus den Zeiten der Blockrivalität, der ökonomischen Disparität sowie dem allgemeinen Wegfall der sozialen Ordnung und ideologischen gesellschaftlichen Norm, resümierten viele Menschen eine kollektive Negativbilanz und Fremdheitsgefühle, die in Teilen bis heute noch anhalten.

Deutsch = Westdeutsch?

(vgl. Kubiak 2018: 31). Diese Ostdeutsche-ex negativo-Identität wird vor allem in gesellschaftlichen Debatten über autoritäre Phänomene wirksam. Die anhaltende Abgrenzung oder auch „Othering“ (ebd.: 25) der Ostdeutschen ist nicht nur Teil der sprachlichen Fortführung von Stereotypen und Klischees aus dem deutsch-deutschen Konflikt: Sie dient gleichzeitig als Beleg für eine Projektionsfläche des Autoritären im Anderen. Ganz nach dem Prinzip: „So wie DIE sind WIR Deutschen nicht!“ (Klein 2014: 53), offenbart sich ein westdeutscher Chauvinismus, dessen Selbstverständnis Rechtsextremismus und autoritären Nationalismus durch die Staatsgründung der BRD hinter sich gelassen haben will. Die BRD sei durch das reflektierte Staatswesen – in Form der Erinnerungskultur – und demokratischer Kultur immun gegen einen gesamtgesellschaftlichen Autoritarismus. Das „bessere“ Deutschland sah die Autoritären demnach immer im Anderen: In den Nationalsozialisten, in politischen Gruppen des Äußeren Randes und im sozialistischen Nachbarstaat. Eine Haltung, die eine selbstkritische Reflexion trüben kann und eine Stigmatisierung der neuen Bundesländer aufrechterhält. Das kollektive Gefühl der mangelnden Anerkennung von politischen Leistungen wirkt bis in die heutige Protestkultur in den neuen Bundesländern. Denn wie eingangs erwähnt, ist die einzige friedliche Revolution in der deutschen Geschichte von den Bürger_innen der DDR ausgegangen (vgl. Richter 2018: 30). Die Protestrufe „Wir sind das Volk!“ werden in einer anlehnenden Tradition an den Topos der Friedlichen Revolution von 1989 skandiert.

Mit Hinblick auf die Wiedervereinigung wurde das Narrativ einer gemeinschaftliche Neugründung Deutschlands für viele Menschen in den neuen Bundesländern somit lediglich formal durchgeführt. In Umfragen antworten überdurchschnittlich viele Menschen in diesen Bundesländern auf die Frage ihrer Nationalität, dass sie sich zuerst als Ostdeutsche und dann als Deutsche verstehen würden (vgl. Klein 2014: 196; Förster 2003). Wenn Ostdeutsch ungleich Deutsch ist, dann lässt es Raum zur Annahme, dass für Menschen mit Die Wahrnehmung vom Osten Deutschlands, als Sinnbild einer Ostdeutschen Identität, das was aktuell unter Deutsch einer autoritären Gesellschaftsdisposition, führt zu einer verstanden wird, als Westdeutsch bewertet wird. Eine Wahr- Verhärtung tradierter gesellschaftlicher Konfliktlinien, die nehmung, die laut dem Soziologen Daniel Kubiak als Erzäh- durch eine unterschiedlich stark ausgeprägte strukturelle lung auch in die Post-Wende-Generation übertragen wird Disparität gefördert wird. Dennoch darf man die etablier-

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Identität & Kollektiv

ten rechtsextremen Strukturen und Parteien deswegen nicht relativieren. Strukturell sind sie im Querschnitt der Gesellschaft vertreten. Aber sie bedienen Narrative der Enttäuschung und missbrauchen ostdeutsche Demokratietradition. In der deutsch-deutschen Identitätsdebatte ist die Beschäftigung mit den Befindlichkeiten und gesellschaftlichen Einbindung der Menschen in den neuen Bundesländern ein relevantes Thema, um gegen autoritäre Gesellschaftsstrukturen vorzugehen. Die politischen Einstellungen und Orientierungen müssen immer wieder neuverhandelt werden, um eine Angleichung der politischen Kultur künftig weiter zu befördern (vgl. Jesse 2014: 294). Die Persistenz von Entfremdungsgefühlen und Vorurteilen können nur durch eine kontinuierliche Auseinandersetzung im innerdeutschen Dialog aufgelöst werden.

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IDENTITÄT UND TECHNIK Küstenschutz als Sinnbild des Wir-Gefühls auf den nordfriesischen Halligen

CHRISTINA KRÜGER SOZIOLOGIE

Für ein Leben, welches derart vom Meer und dem Wechsel der Gezeiten geprägt ist, wie jenes auf den nordfriesischen Halligen, spielt der Küstenschutz eine besondere Rolle. Die vorwiegend technischen Maßnahmen dienen nicht nur dem Schutz von Küste und Natur, sondern auch der Sicherheit der Bewohner_innen. Aufgrund dieses hohen Stellenwertes von Küstenschutzmaßnahmen kann davon ausgegangen werden, dass die entsprechende Technik nicht nur als Mittel zum Zweck dient, sondern auch die kollektive Identität der Halligbewohner_innen nachhaltig geprägt hat. Im Folgenden soll daher versucht werden, das Verhältnis von Küstenschutz und Identität näher zu bestimmen.

erste Sturmflut des Jahres. Doch nicht nur Sturmfluten und Landunter bergen Risiken für das Leben der Menschen auf den Halligen, auch die ärztliche Versorgung ist dort nicht immer gewährleistet. Ebenso stellt der Zugang zum Festland eine Herausforderung dar: Einkäufe, medizinische Untersuchungen und andere Termine müssen frühzeitig geplant werden und selbst dann können die Umweltbedingungen diese Pläne wieder zunichtemachen. Aktuell leben 270 Menschen auf sechs der zehn Halligen (Stand 2017; Biosphäre die Halligen 2017a). Nun stellt sich die Frage, weshalb sich, trotz dieser Extremität und der immanenten Risiken, Menschen bewusst dafür entscheiden, an diesem Ort zu leben. Eine mögliche Erklärung könnte die Idee der kulturellen Identität nach Thomas (1992) bieten. Kulturelle Identität meint

Die Halligen im nordfriesischen Wattenmeer sind ein weltweit einzigartiger, aber auch extremer Lebensraum: Bis zu zwanzig Mal innerhalb eines Jahres, vor allem im März und November, werden die Halligen von der Nordsee überspült. Lediglich die Häuser der Bewohner_ „nicht so etwas wie eine allgemein verDAS PROJEKT: innen liegen in diesem Zeitraum breitete generelle Norm von Lebensnoch oberhalb der Wasseroberflä- Im Rahmen eines dreimonatigen Praktikums stilen, Werten und Verhaltensweisen, (RWTH-UROP) konnte an dem Projekt als Praktiche. Zum Schutz vor einem sol- kantin mitgewirkt werden. Das Vorhaben „Zukunft[sondern vielmehr] die subjektichen Landunter sind diese nämlich Hallig“ wurde vom Bundesministerium für Bildung ven Gefühle und Bewertungen der auf Erdhügeln, den sogenannten und Forschung (BMBF) über das Kuratorium für Menschen in einer Gesellschaft, die Warften, erbaut. Neben den regel- das Küsteningenieurwesen (KFKI) gefördert (Laufüber gemeinsame Erfahrungen verzeit: 01.12.2011–30.11.2013). Das Praktikum fand mäßigen Landuntern stellen auch im soziologischen Teilprojekt am Lehrstuhl von fügen und gemeinsame kulturelSturmfluten eine ernstzunehmende Technik- und Organisationssoziologie der RWTH le Merkmale besitzen“ (ebd.: 67). Gefahr für die Bewohner_innen dar, Aachen University, unter Federführung von Prof. Dr. Roger Häußling sowie Nenja Ziesen, statt. Den bei denen der Wasserpegel mindes- oben genannten Förderern, BMBF und KFKI sowie Thomas beschreibt drei Sphären, weltens 3,50m über Normalnull (NN) den betreuenden Personen am Lehrstuhl gilt beche die Basis für diese kollektiven sonderer Dank! steigt. Allein zu Beginn des Jahres Empfindungen darstellen: das „Ge2017 kam es zu einer ganzen Serie fühl für Kontinuität hinsichtlich der von Sturmfluten vor der schleswig-holsteinischen Küste und Erfahrungen, die aufeinanderfolgende Generationen einer im Januar 2019 sorgte Sturmtief Benjamin bereits für die Gesellschaft gemacht haben“ (ebd.), gemeinsame Erinne25


rungen und das Gefühl von Zusammengehörigkeit. Unter die erste Sphäre fallen unter anderem lokalhistorische Ereignisse und Gebräuche sowie das gemeinsame Überstehen schlechter Zeiten. Gemeinsame Erinnerungen sind all jene Erinnerungen, welche eine Gruppe von Menschen verbinden, wobei hier konkrete Erfahrungen, wie Kriege oder Naturkatastrophen, gemeint sind. Auch solche Personen, die für die Geschichte des Ortes und das dortige Leben eine besondere Bedeutung haben, gehören dazu. Für die dritte Sphäre, das Zusammengehörigkeitsgefühl, wählt Thomas den Ausdruck „Schicksalsgemeinschaft“ (ebd.).

resspiegel und ansteigender Gefahr von Sturmfluten entgegenzuwirken, werden beispielsweise die Warften erhöht (vgl. Biosphäre die Halligen 2017b). Eine traditionelle Küstenschutzmaßnahme auf den Halligen sind Lahnungsfelder. Hierbei handelt es sich um „künstlich angelegte, quadratische bis rechteckige Abgrenzungen mit Feldern unterschiedlicher Größe [zur] Beruhigung des einströmenden Flutwassers und [der] Förderung des Absetzens der Sedimente“ (Spektrum 2019). Zum Schutz vor Erosion dienen Deckwerke und Buhnen (vgl. Bosecke 2005: 65), welche die geböschten Ufer befestigen und als Wellenbrecher dienen, während der sogenannte Igel die Halligkanten sichert (vgl. Biosphäre die Halligen 2017b). Daneben gibt es noch weitere Maßnahmen wie die Verwendung von Sandsäcken, Schotten und Schleusen sowie die Bauweise der Hallighäuser. Eine recht neue Küstenschutzmaßnahme ist Elastocoast. Dabei werden mithilfe von Polyurethan kleinste Schotterkörner miteinander verbunden, um so die Küste zu schützen. Sie dienen als Ersatz für traditionelle Deckwerke (vgl. BASF Polyurethanes GmbH 2014).

Tief verwurzelt im kollektiven Gedächtnis der Halligbewohner_innen sind die schweren Sturmfluten von 1962 und 1976, die zusammen mehr als 420 Todesopfer rund um die norddeutsche Küste forderten und Schäden in Millionenhöhe verursachten. Einige der heutigen Halligbewohner_ innen haben die Flut selbst miterlebt. Aus den Interviews mit den Bewohner_innen, welche im Rahmen des Projektes „ZukunftHallig“ geführt wurden, wird deutlich, dass die Erinnerung an entsprechende Naturereignisse die Menschen dort nicht nur über Generationen hinweg verbindet. Es gibt In den Interviews betonen die befragten Bewohner_innen ihnen außerdem ein Gefühl der Sicherheit: Sie wissen, dass die Relevanz und persönliche Wertschätzung der vorgestellsie gemeinsam auch harte Zeiten überstehen können. Als ten, traditionellen Küstenschutzmaßnahmen (vgl. Jensen et Gemeinschaft zeichne sie deshalb aus, so eine der befrag- al. 2014: 298). Sie zeigen damit an, wie essentiell diese als ten Personen, dass „Halligbewohner […] keine Angst vor Teil ihrer Kultur wie auch ihrer kulturellen Identität sind. dem Wasser haben“ (L–26: 980). Für gewöhnliche Land- Ebenso lässt sich vermuten, dass sich über die Jahre und die unter gelte deshalb auch: „Wir haben uns daran gewöhnt“ Erfahrungen ein Habitus (vgl. Bourdieu 1987) im Umgang (L–28: 72). Hier werden gleich alle drei von Thomas (1992) mit dem Küstenschutz entwickelt hat, der sich nicht mit beschriebenen Sphären deutlich: die Erinnerungen einiger den potentiell neuen Küstenschutzmaßnahmen vereinbaBewohner_innen an die vergangenen Naturkatastrophen ren zu lassen scheint. Dies zeigt sich vor allem an der Abmünden in einem geteilten Bewusstsein für die gemeinsame lehnung der Verwendung von Elastocoast (vgl. Jensen et al. Bewältigung schwieriger Zeiten und die Abgrenzung von 2014: 298, 345ff.), welches mittlerweile auf den Halligen anderen über die fehlende Angst vor dem Meer erzeugt ein nicht mehr verwendet wird. Mobile Schläuche und Wände als zukünftige Alternativen für den Küstenschutz werden Gemeinschaftsgefühl. ebenfalls von den Halligbewohner_innen abgelehnt, z.B. mit Damit kommende Sturmfluten und Landunter möglichst den Worten: „für eine Hallig untypisc[h]“ (H–5: 64). Auch wenig Schaden anrichten und ein Leben auf den Halligen andere der Befragten lehnen beinah rigoros ab, was ihr Bild auch in Zukunft noch möglich ist, werden, wie bereits an- vom Lebensraum Hallig verändern würde: „Aber die Hallig gedeutet, durch das Land Schleswig-Holstein und die Be- […] soll halligtypisch bleiben“ (H–8: 21). Deutlich wird an wohner_innen der Halligen Schutzmaßnahmen ergriffen. Zitaten wie diesen aber auch, wie wichtig den Bewohnern Um den Folgen des Klimawandels, wie steigendem Mee- das äußere Erscheinungsbild der Hallig ist. Obwohl Küsten-

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Identität & Kollektiv

schutz ein wichtiges bis, im Falle einer schweren Sturmflut, existentielles Thema ist, werden (alternative) Maßnahmen nicht nur nach ihrer Funktionalität oder Sinnhaftigkeit bewertet, sondern immer auch nach ihrer Auswirkung auf das Erscheinungsbild der Hallig. Dies lässt vermuten, dass es sich beim Halligbild um einen Identitätsbestandteil für ihre Bewohner_innen handelt. Bereits dieser knappe Überblick über das Verhältnis der Halligbewohner_innen zu den dort praktizierten Küstenschutzmaßnahmen zeigt, wie stark Technik und Identität miteinander verwoben sein können. Wenn technische Maßnahmen zum gelebten Habitus und geteiltem Weltbild werden, kann Technik zum Teil der kulturellen und damit kollektiven Identität werden. Die Besonderheiten des Lebensraums Hallig scheinen eine starke kollektive Identität zu erfordern. Gleichzeitig führt diese Identität dazu, dass Menschen sich trotz Risiken und extremer Lebensbedingungen zu einem Leben auf der Hallig entscheiden.

H–5 (2012/2013): Interview mit Bewohner_in Hallig Hooge. Erhebung im Rahmen des KFKI-Projekts ZukunftHallig. Entwicklung von nachhaltigen Küstenschutz- und Bewirtschaftungsstrategien für die Halligen unter Berücksichtigung des Klimawandels (Laufzeit: 01.12.2011– 30.11.2013). H–8 (2012/2013): Interview mit Bewohner_in Hallig Hooge. Erhebung im Rahmen des KFKI-Projekts ZukunftHallig. Entwicklung von nachhaltigen Küstenschutz- und Bewirtschaftungsstrategien für die Halligen unter Berücksichtigung des Klimawandels (Laufzeit: 01.12.2011– 30.11.2013). L–6 (2012/2013): Interview mit Bewohner_in Hallig Langeneß. Erhebung im Rahmen des KFKI-Projekts ZukunftHallig. Entwicklung von nachhaltigen Küstenschutz- und Bewirtschaftungsstrategien für die Halligen unter Berücksichtigung des Klimawandels (Laufzeit: 01.12.2011– 30.11.2013). L–28 (2012/2013): Interview mit Bewohner_in Hallig Langeneß. Erhebung im Rahmen des KFKI-Projekts ZukunftHallig. Entwicklung von nachhaltigen Küstenschutz- und Bewirtschaftungsstrategien für die Halligen unter Berücksichtigung des Klimawandels (Laufzeit: 01.12.2011– 30.11.2013).

BASF Polyurethanes GmbH (2014): Elastocoast – Ein innovatives Verfahren im Küstenschutz. Online verfügbar unter: http://www.polyurethanes.basf.de/pu/Kuestenschutz [Zugriff: 30.08.2017]. Biosphäre Die Halligen (2017a): Die Halligwelt entdecken. Online verfügbar unter: http://halligen.de/ [Zugriff: 02.05.2019].

Spektrum (2019): Lexikon der Geographie. Lahnung. Online verfügbar unter: http://www.spektrum.de/lexikon/geographie/lahnung/4526 [Zugriff: 03.05.2019].

Biosphäre die Halligen (2017b): Küstenschutz. Online verfügbar unter: https://halligen.de/halligleben/halligleben-heute/kuestenschutz [Zugriff: 23.08.2017].

Thomas, A. (1992): Grundriß der Sozialpsychologie. Band 2: Individuum – Gruppe – Gesellschaft. Göttingen: Hogrefe Verlag für Psychologie.

Bosecke, T. (2005): Vorsorgender Küstenschutz und Integriertes Küstenzonenmanagement (IKZM) an der deutschen Ostseeküste: Strategien, Vorgaben und Defizite aus Sicht des Raumordnungsrechts, des Naturschutz- und europäischen Habitatschutzrechts sowie des Rechts der Wasserwirtschaft. Berlin/Heidelberg: Springer-Verlag.

WEITERFÜHRENDE LITERATUR: Kahlke, J. (2012): Die Große Sturmflut von 1962. Eine Hallig-Familie kämpft um ihr Leben. In: Nordfriesland Tageblatt vom 07.02.2012. Online verfügbar unter: https:// www.shz.de/lokales/nordfriesland-tageblatt/eine-hallig-familie-kaempft-um-ihr-leben-id114157.html

Bourdieu, P. (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Jensen, J.; Arns, A.; Schüttrumpf, H.; Wöffler, T.; Häußling, R.; Ziesen, N.; Jensen, F.; von Eynatten, H.; Schindler, M.; Karius, V. (2014): KFKI-Projekt ZukunftHallig. Entwicklung von nachhaltigen Küstenschutz- und Bewirtschaftungsstrategien für die Halligen unter Berücksichtigung des Klimawandels (ZukunftHallig). Abschlussbericht. Siegen: Forschungsinstitut Wasser und Umwelt Universität Siegen, Institut für Soziologie RWTH Aachen University, Lehrstuhl und Institut für Wasserbau und Wasserwirtschaft RWTH Aachen University, Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein und Geowissenschaftliches Zentrum Göttingen.

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INDIVIDUALISMUS (VS. KOLLEKTIVISMUS) HOFSTEDE

Der niederländische Sozialpsychologe Geert Hofstede führte in zahlreichen Ländern Umfragen durch, um verschiedene Wertevorstellungen in unterschiedlichen Kulturen zu vergleichen. Unter anderem etablierte er die Dimension Individualismus vs. Kollektivismus, die die Beziehung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft beschreibt. Eine enge Beziehung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft kennzeichnet Kollektivismus und eine Distanz zu dieser beschreibt Individualismus. SELBSTVERSTÄNDNIS DER EIGENEN PERSON:

Individualistische Kulturen:

• hohe Wertschätzung von Autonomiekennt keine Werte, kein Gut und Böse • Reflexion der eigenen Person und Fähigkeiten • lineare Perspektive Kollektivistische Kulturen: • Fokus auf das Wohl anderer • Reflexion als Teil eines Ganzes • ganzheitliche Perspektive

Ich bin das, was ich scheine, und scheine das nicht, was ich bin, mir selbst ein unerklärlich Rätsel, bin ich entzweit mit meinem Ich! E.T.A . HOFFMANN

1776–1822

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Identität & Individuum

DIE INSTANZEN DER PERSÖNLICHKEIT NACH SIGMUND FREUD (1856–1939) Freud unterscheidet in seinem Persönlichkeitsmodell zwischen drei Persönlichkeitsinstanzen, die Erlebens- und Verhaltensweise von Individuen erklären sollen: das ES, das ICH und das ÜBERICH. Diese Instanzen entwickeln sich nacheinander in der frühen Kindheit und beeinflussen sich ständig gegenseitig.

Das ÜBER-ICH beschreibt die Instanz, die Wertund Normvorstellungen verinnerlicht und das Handeln des ICH im Sinne der Moral leistet: • vertritt die Moralvorstellungen einer Gesellschaft (Moralitätsprinzip). • jede Kultur hat entsprechend ein anderes ÜBER-ICH.

Das ES ist die Instanz der Triebe, der Bedürfnisse und der Wünsche:

• Träger des Ich-Ideals, an dem sich das ICH misst.

• bei Lebensbeginn vorhanden • kennt keine Werte, kein Gut und Böse

ICH-STÄRKE

• einziges Ziel: Befriedung der eigenen Bedürfnisse (Lustprinzip)

Die drei Instanzen stehen miteinander und der Realität im Gleichgewicht.

Das ICH ist die Instanz, die die bewusste Auseinandersetzung mit der Realität beschreibt und steht im Mittelpunkt des Freudschen Persönlichkeitsmodells: • das Kind wird sich bald seiner Grenzen bewusst und erlebt die Außenwelt.

ICH-SCHWÄCHE Die einzelnen Instanzen stehen zusammen mit der Realität in einem Ungleichgewicht.

• das ICH kennzeichnet Denken und Handeln, Werten, Planen und Fühlen. • kognitive Fähigkeiten werden ausgebildet (Realitätsprinzip). • vermittelt zwischen ES und ÜBER-ICH. 29

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Opener

DU BIST,

WAS DU SPRICHST

CRISTINA GARCÍA MATA TECHNIK-KOMMUNIKATION

Die Sprache existiert sowohl außerhalb als auch innerhalb unseres Verstands. Sie ist Kommunikationskanal und gleichzeitig Schlüssel zum Welt- und Selbstverständnis. Sie beeinflusst unsere Art und Weise, die Welt zu erfahren, denn es gibt keine „reinen“ Sinneserfahrungen, die nicht durch (sprachliches) Denken getrübt sind. Es ist deshalb nicht überraschend, dass Sprache wesentlich zur individuellen und gemeinschaftlichen Identitätsbildung beiträgt (vgl. Leiss 2009). Inwiefern diese unvermeidliche Abhängigkeit zutrifft, wird jedoch von Soziolinguisten und Kognitionspsychologen seit dem 19. Jahrhundert viel diskutiert. Für Wilhelm von Humboldt sei Sprache „das bildende Organ des Gedankens“ (Humboldt VII: 53). Wenn man diese Behauptung annimmt, muss man folglich auch akzeptieren, dass unsere individuelle Identität durch unsere (Mutter-) Sprache grundlegend geprägt ist. Denn wenn ihr Einfluss sich über alles erstreckt, was „der Mensch denkt und empfindet, beschließt und vollbringt“ (Humboldt IV: 27), so folgt daraus, dass sich auch unsere eigene, persönliche Identitätskonstruktion im Medium der Sprache bewegen muss. Letztendlich konstruieren wir uns selbst beim Denken in der Einsamkeit, im Gespräch mit diesem Unbekannten, der wir selber sind.

ter-)Sprache beeinflusst und sogar bestimmt (vgl. Werlen 2002). Diese Annahme harmoniert auch mit der Idee von Humboldt, dass jede Sprache „eine spezifische Weltansicht [vermittelt]“ (Humboldt IV 420). Jedoch hat sich beim Prinzip der sprachlichen Relativität die Unterscheidung zwischen einer starken und einer schwachen Form eingebürgert. In der stark deterministischen Version wird behauptet, dass die sprechende Person der Sprache ausgeliefert sei: „Sie kann gar nicht anders, als den Kategorien ihrer Sprache folgen“ (Werlen 2002). Laut der schwach deterministischen Form beeinflusst die Sprache die Wahrnehmung der Welt dagegen so, dass das Individuum sich von dieser Beeinflussung distanzieren kann. Es ist entsprechend verständlich, dass die stark deterministische Version kritisiert wird, da es schon unhaltbar ist zu meinen, dass das Bild der Welt, das ein Individuum hat, von seiner Sprache vollständig bestimmt ist (vgl. Elgin 2000: 51). Nichtsdestoweniger zeigt dieses Prinzip eine interessante Erklärung für die Erlebnisse aller Menschen, die mehr als eine Fremdsprache oder sogar einen Dialekt oder Fachjargon beherrschen. Wie wir sprechen, macht uns auch zu dem, was wir sind – und hat Einfluss darauf, wie wir auf andere wirken.

Wenn das Denken unlösbar von der Sprache ist und die Wenn in jeder Sprache eine charakteristische Weltansicht Sprache in ihrem Wesen in verschiedene einzelne Sprachen steckt, so sollte die „Erlernung einer fremden Sprache aufgespalten ist, heißt das, dass es auch nicht nur „ein“ Den- die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisheriken gibt, sondern dieses durch die eigene Sprache beeinflusst gen Weltansicht sein“ (Humboldt VII 6). Somit lösen wir wird. In diesem Rahmen scheint es sinnvoll, das Prinzip der uns nicht von der Verhaftung an die muttersprachliche sprachlichen Relativität (auch als Sapir-Whorf-Hypothese Weltansicht, sondern treten nur von der einen zur andebekannt) mit in Betracht zu ziehen, auch wenn viele Sprach- ren über. Karl der Große soll gesagt haben: „Eine andere wissenschaftler sich dagegen aussprechen. Laut dieser Hy- Sprache zu sprechen, bedeutet, eine zweite Seele zu besitpothese ist die Art und Weise, wie ein Mensch denkt, durch zen“. Ob wir tatsächlich für jede Sprache eine andere Idendie semantische Struktur und den Wortschatz seiner (Mut- tität übernehmen, ist jedoch empirisch schwierig zu belegen. 30


Identität & Individuum

philou. im Gespräch Prof. Dr. Thomas Niehr lehrt Germanistische Sprachwissenschaft am Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft der RWTH Aachen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Politolinguistik, der Diskursanalyse und der Sprachkritik. Seit 2011 ist er Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Sprache in der Politik.

N.: Ich weiß es nicht, ich kann das nicht beantworten. Man kann sicherlich – das wäre dann eine kulturpolitische Angelegenheit – versuchen, zu unterstützen, dass möglichst viele Sprachen erhalten bleiben. Beispielsweise indem man in Brüssel die Niehr: Das ist keine einfache Frage. Aber Sprache ist sicherlich Sprachen der EU-Länder gleichberechtigt behandelt. Das wäre ein wesentlicher Bestandteil oder Baustein der persönlichen sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Aber wenn Sie Identität und auch – wenn es so etwas gibt – der Identität jetzt an irgendwelche Sprachen denken – und ich meine das eines Volkes. gar nicht abwertend, sondern rein quantitativ –, die von einem kleinen Bergvolk gesprochen werden, das vielleicht noch 8000 p. Inwiefern kann Sprache die nationale Identität eines Sprecher hat, da weiß ich nicht, welche Wege es geben kann, Volkes bestimmen? Wie wichtig ist Sprache für ein Volk? diese Sprache wirklich zu retten. Was man natürlich tun kann, ist Aufzeichnungen zu machen, um noch etwas von derartigen N.: Ich glaube schon, dass Sprache zentral ist, weil es eben diesen engen Zusammenhang zwischen Sprache und Denken Sprachen zu konservieren. Aber dass sie dann wirklich auch noch aktiv gesprochen werden, da weiß ich nicht, welche gibt. Sprache ist etwas Kognitives oder Geistiges und damit Maßnahmen man dazu ergreifen müsste. Und ich befürchte etwas anderes als z.B. Essen. Ich weiß nicht, ob ich mich jetzt zu weit hervorwage, aber ich denke, dass es leichter ist, auf auch, selbst wenn man hierfür das Patentrezept hätte, dass es die heimische Küche zu verzichten, als auf die Muttersprache. für solche Maßnahmen kein Geld geben würde. Ich sehe also nicht, dass wir das hinbekommen könnten. Also, da sieht man, dass Sprache schon noch eine größere Bedeutung hat als andere Dinge, die natürlich auch mit einer p. Angelehnt an die Theorien von Wilhelm von Humboldt Kultur oder Identität verbunden sind. in einem Unternehmen sein, ein anderes Mal Bewohnerinnen und Bewohner eines – finden Sie, dass Sprache verschiedene Weltansichten Quartiers oder einer ganzen Region, oder auch Anwohner bestimmt oder Sprachen verschiedene Weltansichten sind? entlang einer in Planung befindlichen Straßenbahntrasse. N.: Ich glaube sehr wohl, dass Sprache verschiedene Weltansichten bildet. Humboldt sagte „Sprache ist das bildende p. In unserer globalisierten Welt bevorzugen wir immer mehr Organ des Gedankens“, und es scheint mir offensichtlich, dass Mehrheitssprachen, wie z.B. Englisch. Dadurch ist fast die wir nicht sprachunabhängig denken können. Wie es ein Kollege Hälfte der existierenden Sprachen vom Aussterben bedroht. einmal so schön ausgedrückt hat: „Beim Denken redet die Folglich gehen natürlich auch Volksgemeinschaften verloren, Sprache immer ein Wörtchen mit“. Das trifft es, glaube ich, ganz was man auch als Identitätsverlust bezeichnen könnte. Gibt es gut, und insofern würde ich Humboldt zustimmen. Außerdem Ihrer Meinung nach einen Weg, um diesen Sprachenverlust zu ist Humboldts Gedanke auch für die Idee einer sprachlichen stoppen? Identität ganz wichtig. philou. Welche Beziehung gibt es Ihrer Meinung nach zwischen Sprache und Identität?

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p. Es gibt „grundlegende“ Identitätszüge (Persönlichkeitszüge), die trotz der verschiedenen Sprachen vorhanden sind. Im Deutschen kann meine Äußerung beispielsweise rassistisch sein, im Spanischen hingegen nicht. N.: Ja, dem würde ich zustimmen. Ich würde das auch auf einer abstrakteren Ebene sehen. Beispielsweise werden allein durch den Wortschatz teilweise andere Perspektiven eingenommen. Es gibt so eine naive Vorstellung bei Laien: Es gibt die Dinge in der Welt, und wir müssen ihnen nur einen Namen geben. Sozusagen, ein Label draufkleben. Und damit räumt die Humboldt-These auf. Weil ich durch Sprache erst Welt konstituiere. Das ist der eigentlich spannende Gedanke, der auch schon bei Humboldt in Grundzügen zu erkennen ist. Außerdem sind sich Sprachwissenschaftler_innen darin einig, dass die kontextfreie Betrachtung von Wörtern zu wenig aussagekräftigen Ergebnissen führt. p. Jahrelang wurde Mehrsprachigkeit als Belastung und teilweise als Bedrohung für die Entwicklung eines Menschen gesehen. Heutzutage wird durch die Globalisierung unter anderem Mehrsprachigkeit eher als Chance betrachtet. Würden Sie sagen, dass ich auf eine Weise meine Identität verliere oder zumindest einen Verschleiß meiner Identität erlebe, wenn ich Fremdsprachen lerne? N.: Ich glaube, da muss man ziemlich streng unterscheiden. Ich denke, dass jede Fremdsprache sozusagen ein Gewinn ist, jede Fremdsprache, die ich lerne. Davon muss man aber streng unterscheiden, ob ich das freiwillig tue oder ob ich dazu gezwungen werde. Das kennen wir von Kolonisierungsbewegungen, wenn Gebiete, Völker oder Länder erobert werden. Will man dann den Leuten auch noch ihre Identität nehmen, dann verbietet man ihnen, ihre (Mutter-) Sprache zu sprechen. Und das ist natürlich etwas ganz anderes, als freiwillig eine neue Sprache zu lernen, um den eigenen Horizont zu erweitern. Das muss man klar trennen. Und ich halte es für ein Verbrechen, jemandem zu verbieten, seine Sprache – seine Muttersprache – zu sprechen.

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LUDWIG WITTGENSTEIN (1889–1951)

N.: Jein. Ich stimme eher Humboldt als Sapir und Whorf zu, denn die ursprüngliche Sapir-Whorf-Hypothese, in ihrer Urform, die vertritt heute, glaube ich, niemand mehr. Es gibt einfach zu viele empirische Belege, die das in Frage stellen. Aber ich denke schon, und das kann jeder bestätigen, der mehrere Sprachen spricht, dass je nach dem, in welcher Sprache Sie sich bewegen, unterschiedliche Weltansichten oder Weltsichten stärker zu Tage treten als andere.

Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.

p. Würden Sie also sagen, dass Sie der Sapir-WhorfHypothese zustimmen?

UNIVERSALGRAMMATIK Genauso wie ein körperliches Organ entwickelt sich für den Linguisten Noam Chomsky (1928) das Organ der Sprache. Seine Theorie nimmt an, dass die Grammatik eine angeborene menschliche Fähigkeit ist, die biologisch bestimmt sei: eine genetisch vorprogrammierte Unvermeidlichkeit (genauso z.B. wie der Milchzahnverlust in der Kindheit). Jedoch akzeptiert er, dass sich unser sprachliches Organ an die Struktur unserer Muttersprache anpasst. Genauso wie er die Struktur des englischen Dialekts seiner Heimatstadt Philadelphia (Pennsylvania) aufgesaugt hat, könnte er sein Organ an die Mundarten anderer Städte wie New York oder Boston angepasst haben. Deshalb existiert für Chomsky eine Universalgrammatik, die allen Mensch gemein ist. Es handelt sich um einen vordefinierten Mechanismus, der als Basis für den Erwerb jeglicher Sprache funktioniert. So lässt sich zum Beispiel erklären, dass gehörlose Kinder trotz Taubheit eine Sprache erwerben können.


Identität & Individuum

Humboldt, W.v. (1963): Schriften zur Sprachphilosophie. In: Flitner, A.; Giehl, K. (Hg.): Werke in fünf Bänden, Bd. III. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Leiss, E. (2009): Sprachphilosophie. De Gruyter Studienbuch. Berlin, New York: de Gruyter. Werlen, I. (2002): Sprachliche Relativität: Eine problemorientierte Einführung. Basel: Francke.

Sprache und Identität zu reflektieren, ohne dabei auch über einzelne Nationen bzw. die eigene Herkunft nachzudenken, erscheint wenig sinnvoll – insbesondere im globalisierten 21. Jahrhundert. Denn eine Sprache lässt sich „nur in Verbindung mit einem Volke denken“ (Humboldt VI 189). „Seine Sprache ist sein Geist, und sein Geist seine Sprache“ (Humboldt VII 42). Jedoch leben wir in einer Welt, in der Englisch als globale Vernetzungssprache gilt; daher ist es wenig verwunderlich, dass die eigenen Sprachen der einzelnen Völker und Gemeinden zu einem Zeichen von Authentizität und kultureller Identität geworden sind, die man verteidigen und zurückerhalten muss (vgl. Fishman 2001). Wir bewegen uns also in die Richtung einer Sprachrealität, in der die Muttersprache (oder Identitätssprache) mit der beruflich-sozialen und der globalen Sprachen zusammenleben muss (vgl. Esteban Guitart et. al. 2007)

MALEK HADDAD (1927–1978)

Grosjean, F. (1996): Living with two languages and two cultures. In: Parasnis, I. (Hg.): Cultural and Language Diversity and the Deaf Experience. Cambridge: University Press. S. 20–37.

RUMJANA ZACHARIEVA (1950)

Fishman, J.A. (2001): El nou ordre lingüístic. Digithum. Revista digital d’humanitas, 3. Online verfügbar unter: https:// www.uoc.edu/humfil/articles/cat/fishman/fishman.html [Zugriff: 09.06.2019].

Französisch ist mein Exil

Ein Deutsch sprechender und in Deutschland lebender, gebürtiger Spanier wird offensichtlich durch seinen Akzent als Spanier wahrgenommen, mit der unbeabsichtigten Folge, dass ihm auch die typischen Stereotypen aus Spanien zugeordnet werden, obwohl er sich in seinem eigenen Land vielleicht nie bewusst als Spanier identifiziert hat. Der Sprachwissenschaftler François Grosjean (1996) behauptet in diesem Zusammenhang: „What is seen as a change in personality is most probably simply a shift in situation or context, independent of language”.

Esteban Guitart, M.; Nadal, J.M.; Vila, I. (2007): El papel de la lengua en la construcción de la identidad: un estudio cualitativo con una muestra multicultural. In: Glossa. 2. Jg. 2007/02. S. 1–20.

solange ich in der eigenen Muttersprache denke, bin ich unbefangen

Elgin, S.H. (2000): The Language Imperative. Cambridge, MA: Perseus Books.

Es ist nach wie vor und trotz allem fraglich, inwieweit Sprache die Identität beeinflusst. Dennoch ist unbestreitbar, dass es einen grundlegenden Zusammenhang zwischen Identität und Sprache gibt. Vielleicht liegt genau in der Omnipräsenz der Sprache das Problem der Definition dieser Grenzen. Jedoch hat 2014 eine Untersuchung zum Thema Wirkung von Mehrsprachigkeit am Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ der Freien Universität Berlin gezeigt, dass über die Sprache kulturelle Konzepte, Werte und Rollen im Geiste aktiviert werden. Auch wenn wir womöglich keine komplett andere Identität in jeder Sprache übernehmen, kann es sein, dass wir durch die verschiedenen Sprachen andere Facetten der eigenen Persönlichkeit hervortreten lassen.

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Artikel

LIE TO ME LIE TO ME LIE TO ME Der Psychologe Carl Rogers (Rogers 1981: 66) prägte mit seiner Persönlichkeitstheorie des Humanismus maßgeblich die moderne Persönlichkeitsforschung. So wird dem Menschen ein hohes Potential zur Selbstverwirklichung und Selbstentwicklung zugeschrieben. Annahme ist auch, dass der Mensch in seinem Wesen grundsätzlich aufrichtig und gut ist. Doch seien wir mal ehrlich: Wir alle lügen hin und wieder. Von kleinen Unwahrheiten, die unseren Alltag komfortabler gestalten, über den Lebenslauf, der völlig selbstverständlich ein wenig „gebügelt“ wurde, bis hin zu gefälschten Dokumenten oder Betrug. Ob nun gute Absichten, Scham oder Manipulation das Motiv sind. Lügen sind Lügen. Doch ist das wirklich so? Was passiert mit der Psyche eines Menschen, wenn er aus unterschiedlichen Gründen regelmäßig zu kleinen Lügen greift oder sich gar ein ganzes Konstrukt einer falschen Identität über lange Zeit hinweg aufbaut? Ist es in Ordnung, zugunsten der Gefühle anderer nicht völlig aufrichtig zu sein, oder verleitet uns das dazu, immer häufiger unehrlich zu sein, weil es einfacher erscheint? Der Artikel soll anhand aktueller Erkenntnisse psychologischer und sozialwissenschaftlicher Forschung darstellen, wie Menschen die Fähigkeit zum Lügen entwickeln und worin sich kleine Unwahrheiten von einer Pathologie abgrenzen lassen. Zudem soll erörtert werden, wie sich Unwahrheiten auf unsere Identität auswirken und welche Folgen es mit sich bringen kann, große Teile der eigenen Person dauerhaft geheim zu halten oder gar verschweigen zu müssen.

SVENJA BLÖMEKE

LEHR- UND FORSCHUNGSLOGOPÄDIE

al. 2010: 2). Nur wenige Menschen sind dabei in der Lage, intuitiv aufgrund verbaler und nonverbaler Merkmale zu entscheiden, wann das Gegenüber tatsächlich lügt. Je nach Disziplin oder Perspektive gibt es unterschiedlichste Definitionen der „Lüge“. Nach Jaune Masip et al. (2004) enthalten all diese Definitionen mindestens eine der drei folgenden Komponenten: Objektive Falschheit eines Sachverhaltes, Bewusstsein für die Falschheit und Intention der Täuschung. Entscheiden wir uns also bewusst für eine Lüge, kommunizieren wir dem Gegenüber eine Unwahrheit, derer wir uns bewusst sind und damit beabsichtigt einen Betrug vollziehen.

Lügen in der kognitiven Entwicklung Schon in der frühen Kindheit wird das Konzept der Lüge relevant und repräsentiert einen wichtigen Teil der kognitiven Entwicklung. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen moralischer, emotionaler und sozialer Entwicklung. Mit einem Lebensalter von 2 Jahren erlernen Kinder ein erstes Bewusstsein dafür, dass sie in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt stehen und ihr Verhalten für andere Menschen im Umfeld eine bestimmte Bedeutung einnehmen kann. Die sogenannte „Theory of Mind“ (vgl. Kümmerling 2011) wird darüber definiert, inwiefern sich ein Mensch in Gedanken-, Imaginations- und Gefühlswelten anderer hineinversetzen und dies mit dem eigenen Handeln verknüpfen kann. Diese Fähigkeit entwickelt sich ab einem Alter von ca. 4 Jahren und nimmt bis ins Jugendalter an Komplexität zu. Mit zunehmenden kognitiven Fähigkeiten steigt auch die

Was ist eine Lüge? Forschende aus dem Bereich der Psychologie sind sich in einem Punkt einig: In unserem Alltag wird viel gelogen, eigentlich täglich (vgl. Schmid 2000). Obwohl Lügen in Kulturkreisen weltweit eher negativ besetzt ist, so scheinen gewisse Unehrlichkeiten an einigen Stellen unvermeidbar, sei es aus Höflichkeit oder zum Selbstschutz (vgl. Serota et

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Identität & Individuum

Komplexität für das Verständnis von Unwahrheiten sowie die eigenen Möglichkeiten, andere Menschen anzulügen. Werden Lügen von Kleinkindern zunächst als „schlecht“ bewertet, erkennen Schulanfänger, dass sogenannte „Prosoziale Lügen“ in bestimmten Kontexten angemessen erscheinen (Kümmerling/Meibauer 2011).

Lügen in der psychologischen Forschung Auf neuropsychologischer Ebene verlangen Lügen eine hohe Kapazität von Gedächtnisleistung, Selbstbeherrschung und Einfühlungsvermögen ab, sodass viele kognitive Prozesse involviert sind (vgl. Sun et al. 2013: 349). Jeffrey Walczyk et al. (2003) beschreiben einen dreistufigen Prozess bei der Konstruktion einer Lüge. Wir bekommen von unserem Gegenüber eine Frage gestellt (1), treffen eine Entscheidung bezüglich der Ehrlichkeit/Unehrlichkeit (2) und konstruieren schließlich die Lüge (3). Zudem sind wir in der Lage, den Impuls zur Unehrlichkeit zu unterdrücken, wenn eine Lüge als erfolglos eingestuft werden könnte. Mithilfe moderner bildgebender Verfahren wie beispielsweise der Magnetresonanztomographie (MRT) ist die Forschung in der Lage, Einblicke in die neurophysiologischen Prozesse bei unterschiedlichen Formen des Lügens zu erhalten. So zeigen Studien, dass bei der Generierung einer Lüge vor allem der präfrontale Kortex unseres Gehirns hohe Aktivitätsmuster zeigt. Dieser Teil des menschlichen Gehirns ist unter anderem für willentliche Entscheidungen und komplexe Planungsvorgänge in sozialen Kontexten relevant. Kommt es in der Kommunikationssituation zur konkreten Täuschung des Gegenübers, so lassen sich ebenfalls erhöhte Aktivitäten im Bereich der Amygdala abbilden (vgl. Karim/Fallgatter 2012: 5). Als Teil des limbischen Systems beeinflusst diese Hirnregion maßgeblich unsere Emotionen. Neben der Relevanz einzelner Hirnregionen und für Konstruktion und Kommunikation von Unwahrheiten stellt sich weiterführend die Frage, inwiefern häufiges Lügen sich auf Psyche und Kognition auswirken kann. Spannend erscheint hier die Arbeit von Garrett et al. (2016). Die Studie zeigt, dass die Anzahl an produzierten Lügen bei regelmäßiger Täuschung in einem experimentellen Szenario stetig zunimmt, sodass es Menschen nach und nach einfacher fällt, zu

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lügen. Diese Veränderungen können auch im MRT sichtbar gemacht werden. Sind Personen häufiger unehrlich, reduziert sich die Aktivität um das Gebiet der Amygdala signifikant. Profitiert jemand primär selbst von einer Lüge, verstärkt sich dieser Effekt sogar noch. Eine mögliche Interpretation ist die sinkende emotionale Erregung, wenn Täuschungen für das Individuum routinierter werden.

Lügen als Pathologie Tatsächlich geht aus der Forschung hervor, dass ein Großteil der Menschen durchaus einen „moralischen Kompass“ in sich trägt und selbst regulieren kann, sich bewusst gegen das Lügen zu entscheiden. Kleine Unwahrheiten stellen also noch keine Pathologie dar. Eine ernstzunehmende Persönlichkeitsstörung beginnt, wenn permanente Unwahrheiten ein konkretes Verhalten bei den Betroffenen hervorrufen sollen und dabei seitens der lügenden Person keinerlei Schuldbewusstsein existiert. Das krankhafte Lügen, in der Psychologie „Pseudologia Fantastica“ genannt, ist eine extreme Form der Konstruktion von Unwahrheiten und kann als Symptom der narzisstischen Persönlichkeitsstörung auftreten. In der Alltagssprache wird häufig auch die Begrifflichkeit „Münchhausen Syndrom“ verwendet. Im Zentrum der Problematik steht der ständige Drang der Selbstinszenierung und der Befriedigung des Geltungsbedürfnisses. Häufig enthalten die aufwendigen Lügengeschichten einen wahren Kern und die Betroffenen konstruieren über Jahre hinweg Unwahrheiten um die eigene Identität, die sie mitunter irgendwann selbst für korrekt halten. Vor allem auf sozialer Ebene kann der Schaden für enge Kontaktpersonen hoch sein, wenn das Gegenüber bezüglich prägender Lebensereignisse oder beruflichem Werdegang derart komplexe Lügengeschichten produziert (Lexikon der Psychologie). Doch nicht nur auf zwischenmenschlicher Ebene kann Lügen eine große Problematik darstellen. „Identitätsdiebstahl“ nimmt seit über einem Jahrzehnt weltweit stetig zu und bedeutet beispielsweise für die USA einen jährlichen finanziellen Schaden in Milliardenhöhe (vgl. Wang et al. 2006: 30). Ge-

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meint sind hiermit Vergehen, für welche sich eine Person Daten wie Namen, private Nummern oder auch Konten anderer Menschen zu eigen macht und damit beispielsweise illegalerweise Dokumente ausstellt. Doch auch die Flucht vor dem eigenen Leben, hinein in eine neue Identität, womöglich in ein anderes Land, erscheint häufig als einziger Ausweg aus der persönlichen Misere.

Fazit Obwohl Unehrlichkeit gesamtgesellschaftlich eher negativ bewertet ist und intuitiv zunächst als „schlecht“ oder „falsch“ assoziiert wird, sind Lügen ein fester Bestandteil unseres alltäglichen Miteinanders. Die Grundlagen für das Verständnis von Unwahrheiten und die Fähigkeit zur willentlichen Täuschung entwickeln sich dabei bereits in der frühen Kindheit. Bei der Diskussion über Lügen sollten Ursprünge und Formen differenziert werden. Handelt es sich um alltägliche Unwahrheiten, einen Akt der Höflichkeit oder pathologischen Betrug im Sinne einer Persönlichkeitsstörung? Letztlich scheinen die meisten von uns in der Lage zu sein, eigene Entscheidungen bezüglich der Grenzen unserer Ehrlichkeit zu treffen und danach im besten Interesse für die Mitmenschen zu entscheiden. Zukünftige Forschung wird sich noch stärker mit den Auswirkungen von Lügen auf unsere Psyche auseinandersetzen und möglicherweise Ansätze erarbeiten, ob ein ehrlicherer zwischenmenschlicher Umgang wünschenswert und erreichbar wäre.

Karim, A.; Fallgatter, A. (2012): Die Wahrheit über das Lügen: Neurophysiologische Korrelate und psychopathische Persönlichkeitszüge. In: Müller, J.; Rösler, M.; Briken, P. (Hg.): Empirische Forschung in der forensischen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. S. 3–12. Kümmerling-Meibauer, B.; Meibauer, J. (2011): Lügenerwerb und Geschichten vom Lügen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. 41. Jg. 2011/02. S. 114–1344. Lexikon der Psychologie (Hg.) (2017): Krankhaftes Lügen. Online verfügbar unter: https://www. psychomeda.de/lexikon/krankhaftes-luegen.html [Zugriff: 03.06.2019]. Masip, J.; Garrido, E.; Herrero, C. (2004): Defining Deception. In: Anales de psicologia. 20. Jg. 2004/01. S. 147–171. Rogers, C.R. (1981): Der neue Mensch. Stuttgart: Klett-Coda. Schmid, J. (2000): Lügen im Alltag – Zustandekommen und Bewertung kommunikativer Täuschungen, Zugl: Heidelberg, Univ., Habil.-Schr., 1996, Lit, Münster, Hamburg. Serota, K.B.; Levine, T.R.; Boster, F.J. (2010): The Prevalence of Lying in America: Three Studies of Self-Reported Lies. In: Human Communication Research. 36. Jg. 2010/01. S. 2–25.

So, that's what they

Sun, S.-Y.; Mai, X.; Liu, C.; Liu, J.-Y.; Luo, Y.J. (2011): The processes leading to deception: ERP spatiotemporal principal component analysis and source analysis. In: Social Neuroscience. 6. Jg. 2011/04. S. 348–359.

wanted: lies. Beautiful lies. That's what they

Walczyk, J.J., Roper, K.S., Seemann, E.; Humphrey, A.M. (2003): Cognitive mechanisms underlying lying to questions: response time as a cue to deception. In: Applied Cognitive Psychology. 17. Jg. 2003/07. S. 755–774.

needed. People were fools. It was going to be easy for me.

Wang, W.; Yuan, Y.; Archer, N. (2006): A contextual framework for combating identity theft. In: IEEE Security & Privacy Magazine. 4. Jg. 2006/02. S. 30–38.

CHARLES BUKOWSKI (1889–1951)

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IM WIR ZUM DU ZUM ICH Versuch über Liebe und Person

CANER DOGAN

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Nach der Erzählung des Aristophanes in Platons Gastmahl gab es einst ein ganz anderes Geschlecht unter den Menschen: „Denn zunächst einmal gab es drei Geschlechter unter den Menschen, während jetzt nur zwei, das männliche und das weibliche; damals kam nämlich als ein drittes noch ein aus diesen beiden zusammengesetztes hinzu, von welchem jetzt nur noch der Name übrig ist, während es selber verschwunden ist.“ (Platon 189C–190B)

Güte bedeutet nicht entsagen WISŁAWA SZYMBORSKA (1923–2012)

für die Liebe. Sie überwindet keine Grenzen, sie zerstört sie. Sie lässt Individuen nicht Individuen sein und kann daher nur enttäuschen, weil wir als Menschen gleichsam dazu verurteilt sind, Individuen zu sein.

Dieser Beitrag soll zeigen, dass die Liebe das Versprechen Ein solches „Mannweib“ (ebd.) zeichnete sich durch seine einer Haltung erfordert, die Personen Person sein lässt. Es runde Form und dadurch aus, dass es alle Gliedmaßen dop- geht dabei nicht darum, die Entstehung von Liebe zu erpelt besaß. Da sie gegen die Götter aufbegehrten, beschloss klären oder Formen der Liebe zu untersuchen, sondern daZeus, die Körper der mannweiblichen Menschen zu zertei- rum zu verstehen, was Liebe überhaupt bedeutet. Was wir len. In Folge fanden sie ihre andere Hälfte „mit sehnsüch- dabei versuchen müssen zu verstehen, ist, dass Liebe nicht tigem Verlangen“ (Platon 190E–191D) und „schlangen die nur Einheit und Verschmelzung bedeutet. Sie benötigt auch Arme umeinander und hielten sich umfaßt, voller Begierde, eine Form von Trennung und ist damit eine Erfahrung der wieder zusammenzuwachsen…“ (ebd.). Sie bedrängt der radikalen Fremdheit des Anderen, die in der Liebe anerWunsch nach Verschmelzung einerseits, die Rückkehr zu kannt und zugleich überwunden wird. Der wohl klarste und einem ursprünglichen Zustand andererseits. Hierin finden zugleich komplizierte Ausdruck dieser Haltung findet sich wir zwei problematische Haltungen der Liebe, die meines in dem Augustinus zugesprochenen Satz amo: volo ut sis – Erachtens auch heute noch maßgeblich unser Verständnis ich liebe: ich will, dass du bist. So verstanden ist die Liebe von Liebe prägen. Der Wunsch nach Wiedervereinigung kein Gefühl, sondern eine Form von Beziehung, im Unterbeschreibt die Sehnsucht nach der Rückkehr zu dem, was schied zu allen Gefühlen, die in der Liebe auftauchen. Hiewar, weil das, was war, als gut und wünschenswert erachtet raus ergibt sich ein anderes Verständnis der Zweiheit, das wird gegenüber dem, was kommen könnte. Er verhindert einem Seiltänzer gleicht in empfindlicher Balance zwischen Entwicklung. Denn Liebe bedeutet hier entweder Stagna- Verschmelzung und Trennung. Liebe ist damit die einzition oder den Wunsch nach der Rückkehr zur unmöglich ge Form menschlichen Miteinanders, die den Anderen als erreichbaren Vergangenheit. Letzteres wird in der psycho- ganz Anderen anerkennt und die Kluft zwischen dir und logischen Literatur als Regression bezeichnet (vgl. Freud mir gleichzeitig überwindet. Es ist damit nicht gesagt, dass 1920: 247; auch Küchenhoff 1999: 190). Darüber hinaus ist Liebe als Vorbild aller Formen menschlicher Vergemeindie Verschmelzung eine nicht minder problematische Figur schaftung herhalten sollte. Das wäre nicht nur schlechthin 38


Identität & Individuum

unmöglich und damit ein beklagenswerter Umstand, sondern geradezu ein Unheil für die Welt. Hannah Arendt beschreibt das ikonisch in einem Interview: „wenn man also die Liebe an den Verhandlungstisch bringt, um mich mal ganz böse auszudrücken, so halte ich das für ein ganz großes Verhängnis.“ (Arendt 2005: 65) Das Verhängnis liegt allerdings nicht im Bösen, das die Liebe produzieren kann, in der Leidenschaft, dem Hass, der Eifersucht, sondern in ihren ethischen Implikationen: Die Anerkennung der radikalen Fremdheit der Person überwindet alle Grenzen und trübt damit nicht nur das eigene Urteil, sondern verhindert die Vorstellung des Bösen im Anderen überhaupt. Die meisten Formen der Vergemeinschaftung brauchen diese Grenzen allerdings. Salopp formuliert: Man kann den Nazi lieben, ein Akteur im politischen Geschehen sein sollte er allerdings nicht. Gleichzeitig kann die Liebe „in ihrer existentiellen Hingabe […] durch die Übergabe in andere gesellschaftliche Sphären überfordert werden“ (Tömmel 2016: 355). Wir sollten also die Liebe nicht als die Beziehung schlechthin verstehen, doch können wir etwas von ihr lernen.

und das Göttliche in jedem. Die Liebe zu Gott kommt in der Sache aber dem Verhältnis nahe, das die Liebe bezeichnet, da sich Gott als der ganz Andere unserem Zugriff immerzu entzieht. Der Preis dafür, Gott in allen zu lieben, ist allerdings die absolute Trennung und die völlige Aufgabe meiner selbst; ein Verhältnis, dass für Menschen kaum vorstellbar ist. Alle zu lieben bleibt das Privileg Gottes. Das sind Komplikationen, die hier nicht vertieft werden können. Wesentlich ist, dass die christliche Nächstenliebe eine Vorstellung von Liebe nahe legt, die dem Menschen qua Menschsein Auf der Suche nach Antworten darauf, was Liebe eigent- zukommt und nicht aufgrund seiner jeweiligen Individualilich bedeutet, ist es lohnenswert, die christliche Tradition zu tät. Liebe aber gilt der je einzigartigen Person, die weit mehr befragen, begreift sich doch das Christentum als Religion ist als der Mensch als Gattungswesen. Sie beruht auf dem der Liebe. In der Bergpredigt interpretiert Jesus das Gebot Grund einer freien Gabe an die Person und ist wählerisch. der Nächstenliebe radikal: „Liebet eure Feinde und betet für Was wir im Folgenden verstehen müssen, ist, dass der scheindie, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters […] bare Widerspruch zwischen Freiheit und Individualität eiim Himmel werdet; […] Seid also vollkommen, wie euer nerseits und Abhängigkeit andererseits eigentlich nur zwei himmlischer Vater vollkommen ist!“ (Mt. 5, 44–45, 48) Die Seiten der gleichen Medaille meint. Aus der Psychoanalyse einfache Formulierung der Nächstenliebe trügt. Denn sie wissen wir zwar, dass jede Liebe auch „Übertragungsliebe ist erzwungen; sie ist nicht wählerisch (vgl. Bultmann 1930: sei, weil sie immer auch den verlorenen Objekten der Kind244) und gilt jedem, insofern jeder göttlichen Ursprungs ist. heit gelte“ (Küchenhoff 2013: 129f.) bzw. eine „WiedergutEs ist nicht die Person, die liebenswürdig ist, sondern Gott machung“ (vgl. Klein: 1937) der unbewussten Aggressionen 39


des Kindes gegen die Eltern; doch auch die Einsicht, dass wir nicht Herr im eigenen Haus sind, kann nicht das Ende von Freiheit bedeuten. Das Verhältnis von Freiheit, Individualität und Abhängigkeit findet in dem bereits oben erwähnten Satz von Augustinus seinen klarsten Ausdruck: amo: volo ut sis – ich liebe: ich will, dass du bist. Arendt interpretiert den augustinischen Satz, indem sie das Sein des du bist nicht als Wesen und damit als zeitlos begreift, sondern als Identität einer Person, die historisch und damit notwendig kontingent ist. Identität kann dann nur in der Rückschau erinnert und erzählt werden; in letzter Konsequenz also: nach dem Tod der Person. Identität bedeutet demnach für die Lebenden im Wesentlichen Potential. Sinngemäß ist volo ut sis dann nicht ‚ich will, dass du bist, wer du wirklich bist‘, sondern:

„Love is the revelation of the other person’s freedom. The contradictory nature of love is that desire aspires to be fulfilled by the destruction of the desired object, and love discovers that this object is indestructible and cannot be substituted.“ (Kernberg 1995: 44)

Der Wille macht den Anderen zum Objekt und wird ihn in letzter Konsequenz zerstören. Unersetzbar ist der Andere, weil er mir im anhaltenden Dialog verstehend Heimat ist; auch, weil er mir in der Berührung zeigt, dass mein Körper liebenswert ist wie er ist. „Die Unmittelbarkeit sinnlicher Begegnung ist, soll sie erfüllt sein, eine, die Abstand schafft, dort wo die Nähe am größten ist… [und zwar C. D.] im Sinne einer Befreiung der Sinnlichkeit von Zielen, Zwecken und Verwendung.“ (Küchenhoff 2007: 126) Mit anderen Worten: unersetzbar ist er auch, weil er unser Bedürfnis nach Verschmelzung befriedigt.

„Ich will, daß Du seist – wie immer Du auch schließlich gewesen sein wirst. Nämlich wissend, daß niemand ‚ante mortem‘ [dt. vor dem Tod C. D.] ist, der er ist, und vertrauend, daß es gerade am Ende recht gewesen sein wird“ (Arendt 2003: 276f.).

Damit öffnet sie einen Raum für Entwicklung in der Liebe, der immer die Individualität des Anderen berücksichtigt. „Liebe ist die Bejahung von Sein und Werden.“ (Tömmel 2013: 316) Im volo ut sis sind dabei zwei scheinbar widersprüchlichen Motive enthalten, die die Liebe ausmachen: volo (dt. ich will) und ut sis (dt. dass du bist). Das ich will ist nicht das bloße Versprechen, sondern durchaus ambivalent. Als mein Wille kann er niemals unser oder dein Wille In dem Gedicht Verliebte von Wisława Szymborska wird sein. Der Wille kann das Wir wollen, aber nicht sagen: ‚Wir die Trennung bereits im Moment des Verliebens gedacht. wollen‘. Er ist in letzter Konsequenz immer übergriffig, da Das Trennen spielt hier also schon in der frühen Begegnung er das meinige auf den Anderen projiziert. In der Sprache eine Rolle und kehrt uns als Verdrängtes im Traum wieder: der Psychologie: Der Andere ist immer Objekt meiner Be- „Und wenn wir einschlafen, / sehn wir im Traum die Trendürfnisse, insofern ich sie auf ihn projiziere (vgl. Küchenhoff nung. / Doch dieser Traum ist gut, / ja dieser Traum ist gut, 2013: 150). Gleichzeitig ist der Wille auch immer Preisgabe / weil wir davon erwachen.“ Es ist nicht die Angst vor der meiner Selbst, denn er ist „das innere Vermögen, mit dem Trennung, die hier heraufbeschworen wird; auch nicht die Menschen entscheiden, ‚wer‘ sie sein werden“ (Arendt 2008: Hoffnung, dass wir die Trennung überstehen. Das davon 210). Bedürftigkeit und Selbstsein drücken sich gleicherma- des letzten Verses bezeichnet nicht bloß ein Heraustreten ßen im volo aus. Im ut sis passiert nun etwas anderes. Der aus dem Traum, sondern eine Konsequenz. Der Traum ist Andere wird in seiner für mich unerreichbaren Andersheit gut. Denn die Trennung lässt uns erwachen. Sie ist es, die anerkannt. Die Bindung des Willens an das Bestehen der uns den Anderen als unerreichbar Anderen vergegenwärtigt Kontingenz des Anderen geschieht kraft der Liebe, ja sie und erst dadurch, dass uns der Andere die Liebe in Freiheit ist Liebe. Diese paradoxe Bewegung hat Otto Kernberg in schenkt, sind wir. Im Wir suchen wir nach Du und durch die schönen Worte gekleidet: Du wird uns Ich vergegenwärtigt. Wie zu Beginn erwähnt, können wir etwas aus der Liebe lernen: nämlich dass nicht Einflussnahme, sondern das sein-lassen-Können des Anderen Grund der Humanität ist, mit anderen Worten: volo ut sis – ich will, dass du bist.

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Identität & Individuum

Wo Liebe geht, bleibt Trauer Wo Trauer geht, bleibt Leere Was Leere ist, weiß der Geist Dir ist mein Grund

Arendt, H. (2003): Denktagebuch. 1950–1973. München: Piper.

Wo Grund ist, gedeiht es

Arendt, H. (2005): Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. München: Piper.

Leere will nicht gefüllt

Arendt, H. (1998): Vom Leben des Geistes. München: Piper. 9. Auflage 2016.

Werden, sie nährt Neues

Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament. Stuttgart: Herder 2016.

Du bist Neues

Bultmann, R. (1930): Das christliche Gebot der Nächstenliebe. In: Glauben und Verstehen. Erster Band. Gesammelte Aufsätze. Tübingen: Mohr. S. 229–244.

Du kommst und wächst

Freud, S. (1920): Jenseits des Lustprinzips. In: Psychologie des Unbewußten. Freud-Studienausgabe Band III. Frankfurt am Main: S. Fischer. S. 213–272.

Du blühst und bleibst Bis du bist und frei

Kernberg, O.F. (1995): Love Relations. Normality and Pathology. New Haven: Yale University Press.

Und du gehst

Klein, M. (1937): Liebe, Schuldgefühl und Wiedergutmachung. In: Gesammelte Schriften. Band 1. Schriften 1920–1945. Stuttgart: fromann-holzboog. S. 106–155.

Gehen ist Leben

Küchenhoff, J. (1999): Verlorenes Objekt, Trennung und Anerkennung. Zur Fundierung psychoanalytischer Therapie und psychoanalytischer Ethik in der Trennungserfahrung. In: Forum der Psychoanalyse. 15. Jg. 1999/03. S. 189–203.

Durchweg bin ich Im Weg bist du Und ich bei dir

Küchenhoff, J. (2007): …dort, wo ich berühre, werde ich auch berührt. In: Forum der Psychoanalyse. 23. Jg. 2007/02. S. 120–132.

CANER DOGAN

Küchenhoff, J. (2013): Der Sinn im Nein und die Gabe des Gesprächs. Psychoanalytisches Verstehen zwischen Philosophie und Klinik. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Platon (o. J.): Das Gastmahl. In: Sämtliche Werke. Erster Band. Berlin: Lambert Schneider. Szymborska, W. (1996): Hundert Freuden. Gedichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Tömmel, T.N. (2013): Wille und Passion. Der Liebesbegriff bei Heidegger und Arendt. Berlin: Suhrkamp.

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Artikel

SICH SELBST MACHEN – ODER AUCH GEMACHT WERDEN? MIRKO BECKERS

INTERDISZIPLINÄRE ANTHROPOLOGIE (FREIBURG)

Wer bin ich? – um sich mit dieser Frage überhaupt beschäftigen zu können, muss davon ausgegangen werden, dass es so etwas wie ein „Jemand“ oder eine Individualität überhaupt gibt. Und die Erfahrung, ein Jemand zu sein oder eine Individualität zu haben, entsteht im Kontrast zu anderen. Welche besonderen Eigenschaften oder Wesenszüge zeichnen mich aus, die andere nicht haben? Die wenigstens wollen ein homme moyen sein, ein absoluter Durchschnittsmensch. Unauffällig und nicht besonders. Deswegen arbeiten wir auch ständig an unserer Identität und unserer Individualität, feilen fleißig an unseren rauen Stellen oder versuchen gar, durch neue Erfahrungen ungeahnte Seiten an uns zu entdecken und hervorzuheben. Wir wollen an uns selbst wachsen, wollen fast schon aufklärerisch aus der selbstverschuldeten Un-Persönlichkeit hervortreten und uns eine einzigartige Gestalt geben, auf die wir stolz sein können. Vertikalspannung nennt Peter Sloterdijk das. Und als ein Wesen, das ständig mit sich selbst in dieser Spannung lebt, müssen wir den Menschen begreifen: „das heißt als ein Wesen, das von einem Differenzstress in Bezug auf sein eigenes Sein- und Werdenkönnen beansprucht ist. Der Mensch ist, wie man sagt, nie mit sich selbst identisch, er steht immer in einem Gefälle zu sich, in einem Mehr oder Weniger, in einem Hinaus oder Hinunter, er ist von vertikalen Kräften berührt und durchdrungen“ (Sloterdijk 2017: 210). Nach diesem Mehr und Hinaus in seiner Identitätsbildung zu streben, dieser Akt, klingt nach einem heroischen Heraustreten aus sich selbst in die Welt. Als könne man sich bewusst dazu entscheiden, dieses – und nur dieses spezielle – Ich zu sein. Kann Identität so verstanden werden? Als

schöpferisches Projekt der reinen Selbstschaffung? Bin ich nur der, weil ich mich zu dem gemacht habe? Habe ich alle Entscheidungen, die mein Ich prägen, so bewusst und radikal autonom getroffen, dass ich von mir als Selbst-Kreation sprechen kann? In Zeiten von Selbst-Optimierung, Selbst-Inszenierung und unbegrenzten Möglichkeiten, in denen immer alles so souverän, selbstbewusst und positioniert oder entschieden erscheint, muss man sich diese Fragen erneut stellen. Und es scheint nur allzu oft, als käme das alles aus der Person selbst. Als müsse man sich bei den ganzen Angeboten nur rational und selbstbewusst genug entscheiden und dann einfach zu diesem Ich, zudem man sich dann gemacht hat, bekennen. Wenn das wirklich so wäre, warum tut man sich dann manchmal so schwer damit, zu wissen, wer man ist und wer man sein will? Doch bestimmt nur deshalb, weil man sich nicht genug anstrengt. Hadern mit sich selbst und seinen Selbstentwürfen gehört aber fundamental zu dem, was letztlich ein Ich werden will. So schreibt der Philosoph Hans Blumenberg: „Der Mensch ist das Wesen, das sich, so wie es sich mißlingen kann, als mißlungen zu empfinden vermag“ (Blumenberg 2014: 681). Dem Menschen ist es nicht nur möglich, diesen heroischen Moment der Selbsterkenntnis

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Identität & Individuum

zu vollziehen, indem er einem Ideal seiner Selbst hinterher rennt und sich schöpferisch zur bestmöglichen Version seiner Selbst macht, sondern ebenso ist es dem Menschen auch möglich, „das von sich wahrgenommene Spiegelbild nicht wahrhaben zu wollen, weil es entweder dem inneren Selbstbild nicht entspricht oder dem Willensbild nicht genügt, das man verwirklichen wollte“ (ebd.). Mit sich selbst zu hadern, wer man ist und sein will, gehört zur Identität dazu. Dadurch wird Identität mehrdimensional. Sie definiert sich nicht nur aus dem Prozess heraus, selbst ein bestimmter Jemand sein zu wollen, sondern bildet sich gleichsam als Effekt aus der Anstrengung, sich selbst zu definieren. Wir selbst sind immer auch Projektionen. Und diese Projektionen sind sozial konstruiert und damit kontingent. Daher können wir nicht einfach naiv werden, was wir immer schon sind, sondern müssen uns zu dem machen, der wir sein wollen. Das verläuft aber nicht linear, sondern entwickelt sich, erleidet Rückschläge, Verunsicherungen oder auch manchmal Sprünge nach vorne. Eine Identität zu entwickeln, stellt sich uns daher als eine fortwährende Aufgabe dar, die nie abgeschlossen werden kann. Und überhaupt: Wer wir sein wollen, das kommt nicht genuin nur aus uns selbst. Es braucht die Stimmen der anderen, in deren Spiegelbild wir eine Ahnung davon gewinnen, wer wir sein wollen oder sein können. So münzt der selbsternannte Gelegenheitsphilosoph Günther Anders das alte Credo Descartes um: „Als unbezweifelbar da erfährt sich jeder von uns allein dann, wenn er von anderen als daseiend in Anspruch genommen wird. Im Unterschied zum Cartesischen Cogito ergo sum müßte der im Leben faktisch geltende Seinsbeweis lauten: Cogitor ergo sum – ‚man denkt an mich, also bin ich‘“ (Anders 1985: 70). An uns wird aber nicht nur gedacht, sondern auch konkret adressiert. Gesellschaftliche Normen und kulturelle Ansprüche schaffen Erwartungshaltungen, die wir verinnerli-

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chen und nach denen sich auch unsere Selbstbewertung im Spiegel misst. Es entstehen gesellschaftliche Kraftfelder, die sich überlagern und – oft auch gegenläufige – Erwartungen schaffen, zwischen deren Kräfte wir uns zerrieben und zerrissen fühlen können. Mit Georg Simmel könnte man das die Kreuzung sozialer Kreise nennen, Niklas Luhmann würde die Person als Konglomerat verschiedener Systemerwartungen bestimmen und Ralf Dahrendorf vom homo sociologicus sprechen, der die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft sei. Dabei ist die Gesellschaft ärgerlich, „weil sie uns zwar durch ihre Wirklichkeit entlastet und vielleicht überhaupt erst die Ausdrucksmöglichkeiten des Lebens gibt, weil sie aber andererseits uns stets und überall mit unübersehbaren Wällen umgibt, in denen wir uns einrichten, die wir bunt bemalen und bei geschlossenen Augen fortdenken können, die jedoch unverrückbar stehen bleiben“ (Dahrendorf 1974: 50). Wir machen uns also nicht nur selbst, sondern sind auch durch über-individuelle Kräfte formbar. Und weil wir darüber hinaus auch formungsbedürftig sind, befindet sich Identität immer in der Spannung, sich im richtigen Grad zu unterwerfen: „Was später ‚ich‘ heißen wird, ist in seiner Verletzbarkeit angewiesen auf die Unterwerfung unter die ‚Welt der anderen‘, und es muss diese Unterwerfung noch aktiv bejahen, weil die einzige Alternative dazu die Preisgabe der eigenen Existenz wäre“ (Bröckling 2017: 64). Werde, was du bist? – das ist wohl kaum so einfach, denn: man wird zu dem, der man ist, weil man als solcher angesprochen wird und es gleichsam werden muss, weil man sich zu gewissen Teilen dem identitätsbildenden Sog der Gesellschaft unterwirft. Nicht in einem konkreten Moment werden wir zu uns selbst, sondern in einem sich ständig wiederholenden Prozess sind wir Selbst-Schöpfer und Fremd-Geschöpf. Der Anspruch lautet daher vielleicht: „Mach dich zu dem, der du sein sollst. Sei Puppenspieler, obwohl du so oft ungeahnte Marionette bist.“ Das heißt nicht, dass wir uns selbst als repressiv wahrnehmen sollen. Es geht darum, weg von einem Gedanken zu kommen, der zu viel von uns in Form bewusster Entscheidungen abverlangt. Es geht darum, den Prozess in den Fokus zu rücken, der die Balance zwischen der gefragten Selbst-

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verwirklichung einer vertikalen Spannung hält und gleichzeitig um die Unterwerfungen weiß, denen Menschen als soziale Wesen unterliegen. Menschen entwickeln keine Identität nur deshalb, weil sie sich bewusst dazu entscheiden, dieser Jemand zu sein. Auch wenn der Zeitgeist den Anschein erwecken mag, sich nur souverän genug entscheiden zu müssen, um mit sich im Reinen zu sein, ist die Entwicklung einer Identität weder ein linearer Selbstentscheidungsprozess noch in dieser Form transparent. Stattdessen sind wir Jemande, weil wir uns austauschen, weil wir mit Freunden und andere Menschen ein Selbst erarbeiten, weil andere an uns denken und weil über-individuelle Kräfte uns Werte vorgeben, nach denen wir uns richten. Dazu braucht es auch immer wieder ein reflexives Moment, indem wir den Kreuzpunkt verschiedener identitätsgebender Kraftfelder hinterfragen. Dadurch sind Identitäten auch niemals stabil, sondern können sich ändern – und wir Menschen können uns misslingen oder als misslungen empfinden. Anders, G. (1985): Post festum. In: Tagebücher und Gedichte. München: C.H. Beck. S. 64–93. Blumenberg, H. (2014): Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Manfred Sommer. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bröckling, U. (2017): Der Mensch ist das Maß aller Schneider. Anthropologie als Effekt. In: Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste. Berlin: Suhrkamp. S. 45–70. Dahrendorf, R. (1974): Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie. München: Piper. 3. Auflage 1988. Sloterdijk, P. (2017): Menschenverbesserung. Philosophische Stichworte zum Problem der anthropologischen Differenz. In: Nach Gott. Berlin: Suhrkamp. S. 210–228.


Identität & Individuum

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ICH BIN, WAS ICH ZU ERLEIDEN VERMAG Die Konvergenz von Identität und Resilienz ANN-KRISTIN WINKENS

UMWELTINGENIEURWISSENSCHAFTEN

„‚Risiko‘ ergo sum: Ich wage, also bin ich. Ich leide, also bin ich. Wer bin ich? Warum bin ich? Warum bin ich der, der ich bin, und nicht der, der ich auch sein könnte, also auch bin?“

keit eines Körpers oder Materials, nach einer elastischen Verformung durch Krafteinwirkung in die ursprüngliche Form zurückzukehren – hat sich das Verständnis dessen in den letzten Jahrzehnten bedeutend gewandelt und wird auf zahlreiche Disziplinen übertragen. (vgl. Scharte/Thoma 2006: 125f.)

– Ulrich Beck (2008)

„Bedrohung und Unsicherheit gehören schon immer zu den Bedingungen menschlicher Existenz“, schreibt Ulrich Beck (2008) in seinem Werk „Weltrisikogesellschaft“. Das menschliche Leben ist zahlreichen Krisenerfahrungen und Belastungen ausgesetzt, sodass einschneidende Lebensereignisse, Risiken und aversive Lebensbedingungen als unvermeidbare und teilweise inhärente Bestandteile sowohl individueller als auch gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse gelten (vgl. Fooken 2016: 14). In diesem Kontext gibt es verschiedene Vorstellungen und Theorien darüber, inwieweit der Mensch auf Belastungen und unerwartete Störungen reagiert oder reagieren kann. Wie können Menschen einschneidende Erlebnisse oder sogar existentielle Gefahren bewältigen, sodass sie nicht nur widerstandsfähiger werden, sondern auch positiv aus den Erfahrungen hervorgehen? Im fachübergreifenden Diskurs ist Resilienz der Begriff, der sich dieser Frage annimmt. Ausgehend von der ursprünglichen Bedeutung des Resilienzbegriffes (Lateinisch resiliere = „zurückspringen“ oder „abprallen“) aus den Naturwissenschaften – hier beschreibt er die Fähig-

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“Resilience is not only about being persistent or robust to disturbance. It is also about the opportunities that disturbance opens up in terms of recombination of evolved structures and processes, renewal of the system and emergence of new trajectories. In this sense, resilience provides adaptive capacity that allow for continuous development, like a dynamic adaptive interplay between sustaining and developing with change.” (Folke 2006)

Im wissenschaftlichen Kontext wurde der Resilienzbegriff erstmalig in der Entwicklungspsychologie verwendet und insbesondere in den 1970er Jahren verstärkte sich das Interesse an Fragestellungen zu menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Durch die bereits in dieser Zeit durchgeführte resilienzorientierte Kauai-Studie von Werner und Smith (2001) wurde der Einfluss widriger Lebensumstände in der Kindheit auf den Erfolg im späteren Leben untersucht. Die grundlegende Erkenntnis dieser Studie war, dass trotz widriger Umstände eine positive Entwicklung des Kindes möglich sein kann. Demnach implizieren negative Voraussetzungen nicht zwangsläufig eine negative Entwicklung. (vgl. ebd.; Fooken 2016: 37f.; Scharte/Thoma 2016: 125f.) Wichtig ist hierbei die Abgrenzung zur Traumabewältigung: Resilienz und Trauma


verhalten sich komplementär zueinander – Trauma basiert auf einer Verletzbarkeit, die bereits erlebt wurde, während Resilienz die Kompetenz beschreibt, Traumata zu verhindern. (vgl. Graefe 2016) Ähnliche positive Implikationen zu dem Resilienzkonzept sind in einigen psychodynamischen Ansätzen der Persönlichkeitspsychologie zu finden, wie beispielsweise nach Carl G. Jung (1875–1961) oder Erik H. Erikson (1902– 1994). Entgegengesetzt zu den Freudschen Lehren wurden hier soziale Beziehungen und die Autonomie des Ichs in der Persönlichkeitsentwicklung fokussiert – Determinismus sowie Pessimismus verloren somit ihre Bedeutung, was hinsichtlich des Resilienzbegriffes zentral ist. Für Jung war die entscheidende Triebkraft menschlichen Verhaltens eine allgemeine psychische Energie. Weiterhin geht sein Ansatz von einem seelischen Wachstumspotential aus, das sich in einem lebenslangen Individuationsprozess entfalten kann. Die Menschen seien nicht dauerhaft von frühkindlichen Ereignissen determiniert, sondern ebendiese haben ein erhebliches Potential für Entwicklungsprozesse. (vgl. Rauthmann 2017; vgl. Fooken 18f.) Erikson konzentrierte sich in seiner entwicklungspsychologischen Forschung auf das Ich bzw. auf die Suche sowie Ausgestaltung der Ich-Identität. Nach Erikson sei eine Person dann gesund, wenn sie eine starke Ich-Identität ausgebildet habe und diese aufrechterhalten könne. Seine psychosoziale Entwicklungstheorie basiert auf acht potentiellen psychosozialen Krisenerfahrungen, die die Ich-Ent-

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wicklung über die Lebensspanne kennzeichnen. Jede der acht Phasen beschreibt eine Krise zwischen zwei miteinander in Konflikt stehenden Polen (z.B. Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen), die bewältigt werden muss, da sie die Lösungsmöglichkeit für die nächste Krise darstellt. Jede Krise ergibt sich aus neu gewonnenen Fähigkeiten und Einsichten sowie sich daraus ergebenden neuen Möglichkeiten. Die Phasenfolge (s. Tabelle 1) hat dabei universelle Gültigkeit. In diesem Ansatz ist ebenfalls eine Bedrohung der psychischen Stabilität festzustellen – die entweder eine entwicklungsfördernde oder entwicklungshemmende Wirkung aufweisen kann. (vgl. Rauthmann 2017; vgl. Fooken 18f., 37f.) Wesentlich für die Ausbildung von Resilienz ist die fünfte Krise und Phase der Adoleszenz nach Erikson: Identität vs. Identitätsdiffusion – Ich bin, was ich bin. Nach dem Ende der Kindheit beginnt die Jugend und damit eine entscheidende Lebensphase: „Alle Identifizierungen und alle Sicherungen, auf die man sich früher verlassen konnte, [werden] erneut in Frage

DEFINITIONEN NACH C.G. JUNG (vgl. Rauthmann 2017) Psyche

Gesamtheit aller psychischen Vorgänge

Selbst

Zentrum, das psychische Systeme integriert und Persönlichkeit stabil und einheitlich macht

Individuation

Ständige (Weiter-)Entwicklung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und Individualität


Identität & Individuum

gestellt. […] Die Integration, die nun in der Form der Ich-Identität stattfindet, ist mehr als die Summe der Kindheitsidentifikationen. Sie ist das innere Kapital, das zuvor in den Erfahrungen einander folgender Entwicklungsstufen angesammelt wurde. [...] Das Gefühl der Ich-Identität ist also das angesammelte Vertrauen darauf, daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität aufrechtzuerhalten.“ (Erikson 1973)

ICH-IDENTITÄT NACH E. H. ERIKSON

Es bedarf eines Selbstwertgefühls, das nach jeder Krise erneut bestätigt werden muss. Insbesondere in dieser Phase muss sich eine Überzeugung ausbilden, dass der eigene Weg und die Zukunft erreichbar sind. Das Kind in der Phase der Adoleszenz muss aus jedem Lebensschritt ein aktives Realitätsgefühl entwickeln, das ihm bestätigt, dass sein individueller Weg der Bewältigung ein erfolgreicher ist. (vgl. Erikson 1973) Begreifen wir nach Jung und Erikson Identität also nicht als Zustand, sondern als Prozess, folgt daraus, dass Identität sowohl gestaltet werden kann als auch niemals im Leben abgeschlossen ist (vgl. Sautermeister 2018: 132). Wie

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(vgl. Rauthmann 2017)

Ich bzw. Selbst, das bewusst erlebt wird und sich aus Interaktionen mit anderen Menschen entwickelt

philou.


Psychosoziale Krise

Psychosoziale Modalitäten

I.

Vertrauen vs. Misstrauen

Ich bin, was man mir gibt

II.

Autonomie vs. Scham und Zweifel

Ich bin, was ich will

III.

Initiative vs. Schuldgefühl

Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann

IV.

Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl

Ich bin, was ich lerne

V.

Identität vs. Identitätsdiffusion

Ich bin, was ich bin

VI.

Intimität und Solidarität vs. Isolierung

Ich bin, was ich liebe

VII.

Generativität vs. Stagnierung und Selbstabsorption

Ich bin, was ich bereit bin, zu geben

VIII.

Integrität vs. Verzweiflung

Ich bin, was ich mir angeeignet habe Tabelle 1: Psychosoziale Krisen im Lebenszyklus nach Erikson (1973)

bereits erläutert, basiert Resilienz auf zu bewältigenden Störungen und Krisen – Resilienz ist per se auf Krisen angewiesen. Erst in dem Moment, in dem das Individuum mit Störungen und Krisen konfrontiert wird, kann es auch die eigene Identität erkennen und darauf aufbauend weiterentwickeln. (vgl. Graefe 2016) Denn Krisen haben zwei Perspektiven: Einmal die Verdrängung und die Hinterfragung meiner selbst, sprich die Selbstreflexion. Ersteres führt zu Pathologien, letzteres bedeutet Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Der Begriff Resilienz kann entsprechend eine „vulnerabilitätsbewusste und krisensensible Perspektive für Identitätsbildung und Identitätsarbeitsfähigkeit“ bieten (Sautermeister 2018: 136). Ebenso basiert er auf der Annahme, dass Menschen grundsätzlich Mechanismen besitzen, auf unvorhergesehene Störungen reagieren zu können: indem sie durch Anpassungs- oder Transformationsprozesse nicht nur funktionsfähig bleiben (oder werden können), sondern vor allem Impulse für eine Entwicklung erlangen, um letztlich die eigene Anpassungsfähigkeit zu stärken. (vgl. ebd.; vgl. Folke et al. 2010)

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Ausgehend von der Annahme, dass die Verletzbarkeit und Zerbrechlichkeit konstitutionell im Leben des Menschen und im Menschen selbst verankert sind, ist fraglich, inwieweit wir unerwarteten Störungen angemessen entgegentreten (vgl. Sautermeister 2018: 129f.). Die meisten Ereignisse der Kindheit scheinen unverarbeitet (und sind schlimmstenfalls verdrängt), da uns niemand dabei geholfen hat, uns ihnen anzunehmen, sie zu reflektieren und daraus zu lernen. Eine aktive Aufarbeitung und Reflexion der eigenen Entwicklung kann uns jedoch letztlich dabei helfen, resilienter zu werden und die eigene Identität mitzugestalten. Auf der Suche nach einem Leben ohne Verletzlichkeit, verlieren wir uns bei der zwanghaften Suche nach Schutz und Stabilität. Die illusorische Vorstellung eines stabilen und krisenfreien Lebens hält uns am Ende davon ab, Krisen und Belastungen entgegenzutreten und sie zu bewältigen. Auf diese Art verneinen wir das Leben selbst – eine Bejahung des Lebens heißt, es mit all seinen Widrigkeiten anzunehmen und zu lieben.


Identität &

Individuum

Beck, U. (2008): Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 5. Auflage 2017.

„Resilience is not only about being persistent or robust to disturbance. It is also about the opportunities that disturbance opens up in terms of recombination of evolved structures and processes, renewal of the system and emergence of new trajectories. In this sense, resilience provides adaptive capacity that allow for continuous development, like a dynamic adaptive interplay between sustaining and developing with change.“

Erikson, E.H. (1973): Identität und Lebenszyklus. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 28. Auflage 2017. Folke, C. (2006): Resilience: The emergence of a perspective for social–ecological systems analyses. In: Environmental Change 16. Jg. 2006/03. S. 253–267. Folke, C.; Carpenter S.R.; Walker, B.; Scheffer, M.; Chapin; T.; Rockström, J. (2010): Resilience Thinking: Integrating Resilience, Adaptability and Transformability. In: Ecology and Society. 15. Jg. 2010/04. Fooken, I. (2016): Psychologische Perspektiven der Resilienzforschung. In: Wink. R. (Hg.): Multidisziplinäre Perspektiven der Resilienzforschung. Wiesbaden: Springer Verlag. S. 13–45. Graefe, S. (2016): Grenzen des Wachstums? Resiliente Subjektivität im Krisenkapitalismus. In: psychosozial. 39. Jg. 2016/143. S. 39–50. Rauthmann, J.F. (2017): Persönlichkeitspsychologie: Paradigmen – Strömungen – Theorien. Wiesbaden: Springer Verlag. Sautermeister, J. (2018): Selbstgestaltung und Sinnsuche unter fragilen Bedingungen. Moralpsychologische und ethische Anmerkungen zum Verhältnis von Resilienz und Identität. In: Karidi, M.; Schneider, M.; Gutwald, R. (Hg.): Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation. Wiesbaden: Springer Verlag. S. 127–140. Scharte, B.; Thoma, K. (2016): Resilienz – Ingenieurwissenschaftliche Perspektive. In: Wink. R. (Hg.): Multidisziplinäre Perspektiven der Resilienzforschung. Wiesbaden: Springer Verlag. S. 123–149.

CARL FOLKE (2006)

Werner, E.E.; Smith, R.S. (2001): Journeys from Childhood to Midlife: Risk, Resilience, and Recovery. New York: Cornell University Press.

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philou.


Impressum

philou.

AUSBLICK: AUSGABE 9

Das Prinzip

Das unabhängige wissenschaftliche Studierendenmagazin an der RWTH Aachen University.

VERANTWORTUNG

Kontakt http://philou.rwth-aachen.de https://www.facebook.com/philoumagazin info@philou.rwth-aachen.de

Hans Jonas (1903–1993) begründet mit seinem Imperativ der Verantwortung Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen mit der Permanenz menschenwürdigen Lebens verträglich sind.

Ausgabe 8, 2019 Auflage: 3.000 Mitwirkende Bendler, Karl Dogan, Caner Eleftheriadi-Z., Sofia Falter, Frédéric García Mata, Cristina Heinrichs, Katja

das Prinzip der Verantwortung (1979). Wir sind entsprechend nicht nur für unsere Handlungen verantwortlich, sondern auch für die unterlassenen Handlungen. Im Rahmen des Studiums, der Forschung, der Lehre und der Wissenschaft befinden wir uns in einem Sammelsurium von zahlreichen Disziplinen, in denen verantwortungsvolles Handeln eine zentrale Rolle spielt. Was haben unsere technologischen Fortschritte für Folgen? Wie wirken sich unsere Taten auf die Umwelt und zukünftige Generationen aus? Welche ethischen Implikationen birgt dies in den Ingenieur- und Naturwissenschaften, der Medizin, Pädagogik, Politik und Wirtschaft? Und wer trägt überhaupt Verantwortung? Was ist „Verantwortung“?

Hilker, Sarah Korr, Jan Lentzen, Nina Neu, Sabrina Winkens, Ann-Kristin

Layout García Mata, Cristina Credits S. 29: Originalbild Jon Tyson via Unsplash S. 45: Originalbild Freepik.com S. 48f.: Originalgrafiken von vectorpouch via Freepik.com Texturen: texturefabrik.com

Mit diesen und vielen weiteren Aspekten soll sich die nächste Ausgabe beschäftigen – dabei geht es um einen interdisziplinären und inneruniversitären Diskurs.

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