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TANJA HEITMANN ist Literaturagentin und Autorin. Schon als Kind waren Bücher ihre große Leidenschaft, später stand sie selbst mit ihrem Debüt »Morgenrot« monatelang auf den Bestsellerlisten. Seitdem veröffentlichte sie erfolgreich zahlreiche Romane, viele davon in der Phantastik. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Norddeutschland, wo sie ein altes Reetdachhaus mit Monsterspinnen und streunenden Katzen teilt.
STONEHEAVEN Die berühmte Zitadelle von Stoneheaven war nicht mehr als eine Steinnadel, die sich schräg in den sturmgrauen Himmel bohrte. Darunter lag die Steilklippe, ein endloses Grau in Grau. Wie es aussah, gab es keine Farbe im US-Bundesstaat Maine. Nur dort, wo der tosende Atlantik auf den Horizont traf, leuchtete es schneeweiß auf. Allein beim Anblick des schäumenden Meeres bekam man eine Gänsehaut – und das im Wonnemonat Mai. Eigentlich sollte es um diese Jahreszeit nur so um die Wette grünen und blühen. Das tat es zumindest in Mariellas Heimatstadt Barcelona, in der sie vor knapp vierundzwanzig Stunden ihren letzten Cortado getrunken hatte. Der letzte echte Kaffee auf unabsehbar lange Zeit. Die Plörre, die einem die Amis anboten, sorgte kein bisschen für das dringend benötigte »Hallo wach«-Gefühl, nach dem sie sich sehnte. Denn Mariella fühlte sich wie in Trance, obwohl sie fast den gesamten Transatlantikflug verschlafen hatte. Als die Maschine abgehoben und den spanischen Boden hinter sich gelassen hatte, war es ihr anfangs schwergefallen, sich zu entspannen. Die unterkühlte Verabschiedung von ihrer Mutter hing 3
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ihr nach, außerdem wurde im Bordkino der neueste Thor-Film gezeigt, und Mariella hatte eine Schwäche für blonde Nordlichter. Nur leider hatte ihr Aufpasser im Nachbarsitz non-stop versucht, ihr ein Gespräch aufzuzwingen. Inzwischen verfluchte sie ihre Mutter, die ihr diesen vierundzwanzigjährigen Emporkömmling für die Reise an die Seite gestellt hatte. Vermutlich wollte Mercedes ihre widerspenstige Tochter nicht nur überwachen, sondern sie mit Sandros schierer Gegenwart quälen. »Du darfst Stoneheaven nicht als Strafe ansehen, sondern als Chance. Und wer braucht eine Chance dringender als du?«, hatte Sandro gesagt, während er eine Tüte Pistazienkerne leerte. Nicht einfach, indem er sich die Teile in den Mund steckte. Das wäre ja zu leicht gewesen. Ein Kerl wie er schmiss sie hoch und fing sie mit dem Mund. Wie ein gut trainierter Hund. Und genau das war Sandro: der abgerichtete Handlanger von Mariellas Mutter. Nicht einmal für den Job, Mercedes’ nutzlose Tochter in Stoneheaven abzuliefern, war sich der Mallorquiner zu schade. »Hör mal, Kleines.« Sandro ignorierte die Tatsache, dass Mariella ihre Kopfhörer seit der gemeinsamen Abreise aus dem altehrwürdigen Herrenhaus ihrer Familie nicht ein einziges Mal abgesetzt hatte. Sei4
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ner penetranten Stimme entkam eh niemand. »Mir ist klar, dass das hier eine schwierige Sache für dich ist«, heuchelte er. »Ich verstehe das, auch wenn ich natürlich noch nie in einer ähnlichen Situation gewesen bin.« Ja, sicher, doch nicht der wunderbare Sandro! Dass ein Saubermann wie er überhaupt von der Besserungsanstalt in Stoneheaven wusste, grenzte an ein Wunder. Sandro hatte genickt, als wüsste er genau, was Mariella durch den Kopf ging. »Du denkst, dass einer wie ich, der auf der Karriereleiter immer nur auf der Überholspur unterwegs ist, besser den Mund halten sollte. Aber Hand aufs Herz: Ich bin nicht nur einfach ein Rosalike, ein Familienmitglied, das tut, was deine Mutter ihm aufträgt. Ich will dir helfen, dein Freund sein. Deshalb begleite ich dich auch auf deinem schweren Weg. Wenn du in Stoneheaven allein und verzweifelt bist, dann erinnere dich daran, dass es mich gibt und meine Gedanken bei dir sind. Genau wie die deiner Mama, die dich übrigens sehr lieb hat. Trotz der Enttäuschungen, die du ihr bereitest.« Das war der Moment gewesen, in dem Mariella beschlossen hatte, für den Rest des Flugs die Augen zu schließen, obwohl Thor gerade sein Wahnsinnslächeln in die Kamera hielt. 5
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Ihre Totstellnummer hatte Sandro nicht davon abgehalten, weiterhin Weisheiten zu verkünden. Über echte Mutterliebe, den Mut, den man in der Einsamkeit fand, und ähnlichen Unsinn. Entweder entging ihm, dass Mariella lediglich körperlich anwesend war, oder er glaubte, man müsse nur eindringlich genug auf sie einreden, dann würde sie es schon begreifen. Dabei waren bereits ganz andere Kaliber daran gescheitert, Mariella zu bekehren. Ob das auch für Stoneheaven galt … Nun, das würde sich bald he rausstellen. Auch jetzt stand Sandros Mund nicht still – und das nach einer mehrstündigen Autofahrt durch schroffes Niemandsland. »Wahnsinn, wie weit man hier gucken kann!«, jubelte er. »Wir sind noch ein ganzes Stück vom Meer entfernt, und trotzdem kann ich sein Blau schon sehen.« Mariella spielte mit den pinken Katzenohren ihrer Handyhülle. »Die Stille«, schrie Sandro gegen den Motorlärm ihres Jeeps an. »Nur Wind und Möwenkreischen. Und keine Menschen- seele weit und breit. Das muss dich als Großstadtkind doch beeindrucken. In Barcelona gibt es schließlich nicht ein stilles Plätzchen, 6
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da sind ständig Leute unterwegs. Also mich haut das echt um.« Leise vor sich hin summend reinigte Mariella ihre Fingernägel mit den spitzen Plastikkatzenohren. »Und die Luft, einfach großartig! So richtig gehaltvoll, man schmeckt die Natur auf der Zunge. Atme mal ganz tief ein. Na los, mach schon.« »Es riecht wie eine Schale Miesmuscheln, die zu lange rumsteht.« Mariella schlug sich die Hand vor den Mund, doch es war zu spät. Bislang hatte sie Sandro höchstens mit einem Murmeln geantwortet, und selbst das war schon zu viel Aufmerksamkeit gewesen. Typen wie ihn konnte man nur durch komplettes Ausblenden auf Abstand halten, sonst dockten sie sofort an. So wie jetzt. Sandros Miene drückte kummervolles Verständnis aus, als er Mariellas Knie tätschelte. »Ich verstehe ja deine Abwehrhaltung, Herzchen. Aber du musst dich frei machen von negativen Gefühlen wie Frust und Hoffnungslosigkeit. Sonst wird es in Stoneheaven für dich noch schwerer werden, als es eh schon ist.« Mariella starrte auf Sandros Hand auf ihrem Oberschenkel. Scheinbar fühlte sie sich dort sehr wohl. Sie verdrehte die Augen, holte tief Luft und schrie: 7
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»Was zur Hölle ist das?« Dabei zeigte sie nicht auf die anhängliche Hand ihres Aufpassers, sondern direkt an seiner Nase vorbei. Sofort ruckte Sandros Kopf herum, und er verriss das Lenkrad, sodass der Geländewagen auf der unbefestigten Straße einen Schlenker machte. »Verflucht!«, schrie er, dann hatte er den Wagen wieder unter Kontrolle. »Bist du blind? Das war doch bloß ein Reh.« »Ein Reh? Ungelogen?« Mariella machte große Augen. »Und ich habe mich fast eingemacht, weil ich es für ein gehörntes Monster gehalten habe, ich Dummerchen. In Stoneheaven soll es ja angeblich nur so vor Verwandelten wimmeln.« »Natürlich tut es das, wegen der Zitadelle. Aber dieses Pack lässt sich im offenen Gelände nicht blicken, vor allem wenn unsereins unterwegs ist. So verrückt sind nicht mal die Verwandelten.« Sandro entspannte sich. Mariella mit ihrer einfältigen Art war eine angenehme Abwechslung zu ihrer Mutter, nach deren Pfeife er sonst tanzte. Sein Gesichtsausdruck bekam glatt etwas Gönnerhaftes. »Du bist in Sicherheit, Engelchen«, sagte er, »du musst keine Angst haben, solange du bei mir bist.« »Vielleicht ist es aber trotzdem besser, wenn du beide Hände am Lenkrad behältst«, schlug Mariella 8
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zuckersüß lächelnd vor. Einen Moment lang sah es so aus, als würde Sandro ihr Spiel durchschauen und begreifen, dass er es keineswegs mit einer naiven Sechzehnjährigen zu tun hatte. Dann verschleierte sich sein Blick erneut, und sie war für ihn wieder die gute alte Guck-indie-Luft-Mariella, die am JFK-Airport kurz auf das Gepäck aufpassen sollte und plötzlich verschwand, weil sie einfach nicht kapierte, was von ihr erwartet wurde. Oder auf dem Weg zur Autovermietung, wo Sandro sie in letzter Sekunde aus einem Fernbus zerren musste, weil sie das irgendwie missverstanden hatte, das verpeilte Gör. Oder beim Drive-in, wo sie anstelle eines Toilettenbesuchs bei einigen Teenagern auf dem Autorücksitz gelandet war und albernes Zeug über eine Partyeinladung erzählt hatte. Stoneheaven war wirklich der perfekte Ort für Mariella. In der Zitadelle, tief unter der Erde eingesperrt, konnte sie wenigstens nicht verloren gehen und ihre Mutter, das Oberhaupt der mächtigen Rosaliken, nicht länger in den Wahnsinn treiben. »Hör mal«, sagte Sandro, obwohl Mariella vollauf damit beschäftigt war, ihr lockiges Haar zu einem Zopf zu binden. »Du solltest dich im Griff haben, bevor wir die Zitadelle erreichen. Nicht, dass ich dir 9
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Angst machen will. An den Horrorgeschichten, die man sich über diesen Ort erzählt, ist auf keinen Fall was dran. Stoneheaven ist zwar berüchtigt für seine Gefängnisebene, aber die ist ausschließlich für verurteilte Gefangene reserviert. Damit hast du nichts zu schaffen, du bist zusammen mit den anderen … Nun ja, wie soll ich es sagen?« Mariella grinste. Zum ersten Mal seit ihrer Abreise gab Sandro etwas Interessantes von sich. »Mit den anderen Losern? Psychos? Dem Teenagerabfall, der dringend in irgendwelchen unterirdischen Tunneln entsorgt werden muss? Sprich dich ruhig aus, nur keine Hemmungen.« Sandros Wangen leuchteten rot unter seiner Bräune. »Den Kids mit besonderen Bedürfnissen«, rettete er sich. »Wobei ›besonders‹ nicht schlecht bedeutet, nur eben speziell. Wir Tannin lassen keinen der Unseren im Stich. Deshalb ist es auch verkehrt, wenn es immer heißt, Stoneheaven sei ein unterirdischer Teenie-Knast.« Er lachte, allerdings nicht sehr überzeugend. »Danke, jetzt fühle ich mich besser.« Mariella stellte die Musik auf ihrem Handy lauter, doch anstatt dass die Bassline ihr Trommelfell zum Platzen brachte, herrschte plötzlich Funkstille. »Mein Handy ist tot.« 10
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»Das Teil kannst du einmotten, hier gibt es keinen Empfang. Nicht mal Radio kriegt man in diesem Landstrich rein.« Entsetzt starrte Mariella ihr Handy an, ihre einzige Verbindung zur Außenwelt in dieser Einöde. »Du machst Witze.« »Es ist eine Sicherheitsmaßnahme. In der Sperrzone rund um die Zitadelle wird nicht telefoniert, und es werden erst recht keine Selfies mit ihr im Hintergrund verschickt. Deshalb gibt es einen Störsender, der Fotodaten löscht. Hatte ich das nicht erwähnt?« Sofort checkte Mariella ihr Archiv, doch es war leer. Sämtliche Fotos mit ihren Bekannten, Party erinnerungen und Aufnahmen von Orten, die ihr am Herzen lagen, waren verschwunden. Man hatte sie innerhalb weniger Tage nicht nur aus ihrem alten Leben gerissen, sondern auch sämtliche Brücken dorthin gekappt. Fluchend warf sie das Handy in ihre Beuteltasche. Sandro seufzte. »Sorry, ich hätte dich warnen sollen. Aber mal ehrlich: Hast du dich denn vorab nicht ein bisschen schlaugemacht über das Leben in Stoneheaven?« »Irgendwie bin ich nicht davon ausgegangen, dass ich wirklich in dieser Ödnis lande.« »Das ist ein Scherz, oder? Wohin hättest du denn sonst gehen sollen, nachdem der Kreis extra deinet11
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wegen zusammengekommen ist und beschlossen hat, dich nach dieser gewissen Sache, die du angestellt hast, nach Stoneheaven zu schicken?« »L. A. stand ganz oben auf meiner Wunschliste, dicht gefolgt von Bangkok und Sydney«, gab Mariella bereitwillig zu. »Städte, in denen das Leben boomt und wo es vor allem warm und sonnig ist. Also das genaue Gegenteil von Stoneheaven.« Sandro schüttelte ungläubig den Kopf. »Was du dir so zurechtspinnst.« Für einen waschechten Tannin wie ihn war es unvorstellbar, dass Mariellas Wunschliste mehr als nur ein Tagtraum war, dass sie tatsächlich vorgehabt haben könnte, sich bei der erstbesten Gelegenheit abzusetzen. »Nun, in Stoneheaven werden sie dir schon beibringen, eine Tannin zu sein. Oder wenigstens so zu tun, als ob. Das ist deine letzte Chance, Mariella. Also nutze sie.« Beim Näherkommen verwandelte sich die Felsnadel in einen Turm, der aus roh geschlagenen Steinquadern erbaut war. Seine Spitze sah aus, als habe der Wind sie in einer stürmischen Nacht abgebrochen, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie wiederaufzubauen. Auch die Bauten, die sich um den Turm in den steinigen Grund duckten, machten ei12
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nen verlassenen Eindruck. Falls es jemals Wanderer an die Steilklippe von Stoneheaven verschlug, kamen sie bestimmt nicht auf die Idee, hier ein Picknick zu veranstalten. Mariella hingegen wusste es besser. Auch wenn sie sich nicht groß über ihr künftiges Zuhause informiert hatte, war ihr wie allen Tannin bekannt, dass von der Zitadelle lediglich die Spitze aus der Steilküste herausragte. Die eigentliche Festung befand sich im Gestein verborgen – ein Hunderte Meter tiefer Termitenstock voller schwer bewaffneter Wächter, streng bewachter Gefangener und einem als Besserungsanstalt getarnten Loch, in das die Tannins ihren missratenen Nachwuchs warfen. »Hast du deine Sachen?«, fragte Sandro. Den Jeep hatten sie in einem Schuppen geparkt, dessen Tore zur Begrüßung offen gewesen waren. Nun stand ihr Wagen neben einer Reihe anderer Offroad-Fahrzeuge, die nur äußerlich nach Schrott aussahen, während Motor und Fahrwerk im Topzustand waren. Die Tannin verbargen nicht nur, wer sie waren, sondern auch, welche Mittel ihnen zur Verfügung standen. Eine Lektion, die Mariella bereits mit jungen Jahren gelernt hatte: Wer seit Generationen über Reichtum und Macht verfügte, konnte jedes noch so große Geheimnis vor der Welt verbergen. 13
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»Erde an Mariella. Ich habe gefragt, ob du alles hast.« Sandro rieb sich demonstrativ die Schläfen. Er hatte ihre ewige Geistesabwesenheit satt, so viel stand fest. Hastig überprüfte Mariella den Gurt ihrer Umhängetasche, in der sie ihre persönlichen Dinge verstaut hatte, dann tastete sie nach ihrem nutzlosen, aber trotzdem geliebten Handy. »Alles da.« »Deinen Koffer brauchst du also nicht. Fein.« »Meinen Koffer …« Mariella sah sich suchend um, dann entdeckte sie ihn direkt hinter sich. Sandro schüttelte den Kopf. »Sie sollten dir eine Fußfessel verpassen, damit du im Höhlensystem der Zitadelle nicht verloren gehst.« »Ich streue einfach Brosamen, wenn ich allein und verlassen durch die Dunkelheit wandle.« »Oh, der erste geistreiche Kommentar von Fräulein Braindead. Nun ist es leider zu spät, um mit dem Small Talk anzufangen.« »Und wieder eine verpasste Chance.« Mit theatralischem Seufzen hob Mariella ihren Koffer hoch, da er sich über den unebenen Boden nicht rollen ließ. Sie gab sich Mühe, ordentlich angestrengt auszusehen, damit Sandro ihr das Gepäck abnahm. »Lass gut sein, ich nehme das Teil«, gab er wie erwartet nach. »Obwohl es mordspeinlich ist, dass 14
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nicht der kleinste Funke Astrallis durch deine Muskeln powert.« Mariella zuckte die Schultern. »Was soll ich sagen? Wozu brauche ich künstlich aufgemotzte Muskeln, wo ich nachweislich eh nicht fürs Kämpfen gemacht bin.« Dieses Geständnis ließ Sandro in sich zusammensinken. »Mädel, also echt …« Nun musste Mariella gegen ihren Willen grinsen. »Glückwunsch. Soeben hast du aus eigener Kraft das Enttäuschungsniveau erklommen, zu dem ansonsten nur meine Mutter befähigt ist. Jetzt weißt du, wie es der großen Mercedes mit ihrem einzigen, leider völlig missratenen Spross ergeht. Kein Wunder, dass sie mich nach Stoneheaven abgeschoben hat.« Mariella wendete sich ab, bevor Sandro sie umarmen und ihr versichern konnte, dass ihre Mama sie dessen ungeachtet super lieb habe. Trotz des schweren Koffers schloss er zu ihr auf, und sie musste ihren Schritt beschleunigen, damit er nicht genug Luft bekam, um auf sie einzureden. Während die schräg in den Angeln hängende Doppeltür des Turms näher kam, überschlug Mariella ihre Chancen, einen unvermittelten Haken zu schlagen, zum Jeep zurückzulaufen und davonzubrausen. 15
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Der Autoschlüssel steckte jedenfalls schon in ihrer Manteltasche, sie hatte ihn Sandro geklaut, als er ihren Koffer übernommen hatte. Wenn aus ihrer großen Karriere bei den Tannin nichts werden sollte, konnte sie sich zumindest als Taschendiebin durchschlagen. Ehe Mariella es auf einen Versuch ankommen lassen konnte, trat eine Frau mit raspelkurzen weißen Haaren ins Freie. Hinter ihr tauchte ein junger Mann auf, der sie trotz ihrer beachtlichen Größe überragte. Er trug eine Wollmütze, unter deren Rand dunkles Haar hervorlugte. Obwohl beide verschlissene Wanderkleidung anhatten, war sofort klar, dass sie nicht einfach nur Naturliebhaber waren. Die begabteren unter den Tannin umgab eine hoheitliche Aura, die sich hinter abgetragenen Klamotten nicht verbergen ließ. Obwohl Mariella dank ihrer Mutter im Schein dieser Ausstrahlung aufgewachsen war, reagierte sie darauf nach wie vor mit einem Prickeln zwischen den Schulterblättern. Vermutlich, weil sie selbst nicht einmal den Hauch von Erhabenheit ausstrahlte. Etwas, worauf sie persönlich besonders stolz war. Alles, was sie von den wehrhaften Tannin unterschied, war in ihren Augen ein Pluspunkt. 16
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»Willkommen in Stoneheaven.« Die Frau mit den weißen Haaren ging ihnen entgegen. Ihre harten Gesichtszüge ähnelten denen eines Adlers. »Ich bin Eleonore aus dem Familienzweig der Provencalen und die Marschallin der Zitadelle«, sagte sie mit einem starken französischen Akzent in der gemeinsamen Sprache der Tannin, die deren Kinder noch vor ihrer jeweiligen Landessprache lernten. »Herzlichen Dank für den Empfang.« Sandro war trotz Dauerlauf mit einem vollbepackten Koffer nur leicht außer Atem. »Ich bin Sandro Vincent Alonso aus dem Familienzweig der Rosaliken«, sagte er und hielt sich damit an die Regel, dass man sich in der Reihenfolge des gesellschaftlichen Status vorstellte. Das klappte erstaunlicherweise sogar dann, wenn man sich noch nie zuvor begegnet und entsprechend ahnungslos war, wen man vor sich hatte. Tannin hatten eben ein angeborenes Gefühl für Rangordnung. Eleonore nickte salbungsvoll, dann deutete sie auf den jungen Mann neben sich, der sich bei näherer Betrachtung als Junge von etwa neunzehn Jahren he rausstellte. Seine imposante Statur hatte über seine Jugend hinweggetäuscht. »Das ist Lyon, ein Sohn meiner Blutlinie.« Was bedeutete, dass sie blutsverwandt waren, vermutlich Tante und Neffe. Der bittere Zug 17
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um Eleonores Mund verriet, dass Lyon genau wie Mariella nicht freiwillig zu Besuch in Stoneheaven war. »Lyon wird unseren Neuzugang in der Zitadelle einführen und sie mit ihren Aufgaben und Pflichten vertraut machen. Ich habe Mercedes’ Tochter seiner Einheit zugeteilt, damit ich einen besseren Blick darauf habe, wie sich das Mädchen entwickelt. Das bin ich meiner alten Kameradin Mercedes schuldig.« »Zu großzügig.« Sandro verbeugte sich vor der Marschallin. Dann stieß er Mariella mit dem Ellbogen an, die gerade ihr nutzloses Handy checkte, um Lyons neugierigem Blick auszuweichen. Mariella legte den Kopf schief, als wisse sie nicht, was er von ihr erwartete. Notgedrungen richtete Sandro sich wieder auf und deutete mit dem Daumen in ihre Richtung. »Wenn ich meine Begleitung vorstellen darf: In meiner Obhut befindet sich Maria-Aurora Mercedes Auguste Clementine aus dem Familienzweig der Rosaliken.« Wie immer, wenn ihr voller Name ausgesprochen wurde, verzog Mariella das Gesicht. Dagegen konnte sie nichts tun. Lyon war da geschickter, er tat so, als lächelte er aus reiner Gastfreundschaft von einem Ohr bis zum anderen – und nicht etwa, weil er sich auf ihre Kosten bestens amüsierte. 18
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Unterdessen küsste Eleonore den von der Marschallin merklich beeindruckten Sandro auf die Wangen, wie es sich für die offizielle und zugleich familiäre Begrüßung unter den Tannin gehörte. Dann war Mariella dran – bevor sie ausweichen konnte, landete die Marschallin zwei harte, gut platzierte Lippenhiebe auf beiden Seiten ihres Gesichts. Als Lyon sich zur Begrüßung runterbeugte, bog Mariella ihren Oberkörper so weit nach hinten, dass sie sich fast das Rückgrat brach. »Ein kleiner Tipp«, flüsterte Lyon, während seine Lippen Mariellas Wange streiften. »Heb dir die Rebellion für später auf. Meine Tante hasst Formalitäten, aber noch mehr hasst sie es, störrischen Teenagern wegen so einem Mist die Leviten lesen zu müssen.« Mariella widerstand dem Bedürfnis, ihre Wange zu betasten, wo eine kühle Spur von Lyons Lippen zurückgeblieben war. Er grinste sie an, sie grinste zurück. So leicht ließ sie sich nicht in die Ecke drängen, auch wenn ihr Magen sich nervös zusammenzog. »Dann wollen wir mal.« Die Marschallin deutete auf die offen stehende Tür, die in die Zitadelle führte. Das war Mariellas letzte Chance zur Flucht. »Mist! Das darf doch nicht wahr sein!«, rief sie. »Ich habe meinen Siegelring verloren.« 19
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Wie erwartet zuckten die drei Tannin unisono zusammen. »Das ist unmöglich dein Ernst.« Sandro schnappte sich Mariellas linke Hand und starrte ungläubig auf ihren nackten Ringfinger. »Was hast du mit dem Siegelring unserer Familie angestellt, du Spatzenhirn?« »Herumgespielt, denke ich.« Als Sandro vor Entsetzen der Mund aufklaffte, setzte Mariella ihre beste Unschuldsmiene auf. »Was soll ich sagen? Mir war während der endlosen Autofahrt langweilig.« »Genug«, schaltete Eleonore sich ein. In ihrer Stimme schwang der Unglaube mit, dass jemand tatsächlich so idiotisch war, seinen Ring abzunehmen. Das tat man nur, um ihn von spezialisierten Goldschmieden weiten zu lassen – und selbst dann blieb sein Besitzer in unmittelbarer Nähe, als hielte der Juwelier seine Seele in den Händen. »Wann hast du den Ring abgenommen?« »Vielleicht auf dem Weg vom Schuppen zur Zitadelle.« Sofort begannen alle den steinigen Grund abzusuchen. Nur Mariella setzte unauffällig einen Schritt zur Seite. »Oder ich habe ihn im Jeep vergessen. Ich schau mal schnell nach.« Sie schaffte es bis zum Scheunentor, dort holte Sandro sie ein. 20
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»Warte, ich habe doch den Autoschlüssel.« Sandro klopfte seine Lederjacke ab. »Wo ist er denn bloß?« Unglaublich. Der Kerl kam wirklich nicht eine Sekunde auf die Idee, dass Mariella ihn austricksen und abhauen könnte. Warum sollte Sandro so etwas auch denken? Ein Tannin würde sich niemals von seiner Familie abwenden und fliehen, nur weil sie ihn in ein unterirdisches Verlies sperrte. Man beugte sich den Entscheidungen der Familie, gleichgültig, was sie für einen bedeuteten. Dass Mariella so sehr aus der Spur schlug, war schlicht unmöglich. Ergeben klimperte Mariella mit den Autoschlüsseln. »Die hast du mir vordem in die Hand gedrückt, als du meinen Koffer genommen hast«, log sie. »Schon vergessen? Die weitere Suche können wir uns ohnehin sparen: Mein Siegelring steckt ebenfalls in meiner Tasche.« Sandro musterte sie eindringlich. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du versuchst mich übers Ohr zu hauen.« »Ausgerechnet ich, das Lämmchen unter den Rosaliken?« Mariella legte eine Hand auf ihre Brust, als habe seine Verdächtigung ihr eine Wunde beigebracht. Sofort tauchte der Nebel vor Sandros Blick wieder auf. »Stimmt, bescheuerte Idee. Wenn jemand keine Ahnung von nichts hat, dann du.« 21
Zu seinem Glück verzichtete er darauf, ihr liebevoll durchs Haar zu wuscheln. Mariella hätte der Marschallin nur ungern erklärt, warum sie ihrem Begleiter das Knie zwischen die Beine gerammt hatte. Die Frau sah nicht aus, als ob sie sich mit den üblichen Ausreden, die Mariella auf Lager hatte, abspeisen ließ. Allem Anschein nach war die Zeit, in der sie mit ihrer Masche durchgekommen war, nun vorbei. ––––
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piper.de/ivi
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STONEHEAVEN IST DEINE LETZTE CHANCE Mariella will bloß eins: Spaß haben. Nur ihre Familie will das nicht, da sie die Infantin der mächtigen Rosaliken ist. Nach einem Fehltritt landet sie in der Zitadelle Stoneheaven, wo der in Ungnade gefallene Nachwuchs geradegebogen werden soll. Für Mariella ist es die Hölle, alles muss erkämpft werden, sogar der Platz in ihrer Einheit, die aus dem von Schuldgefühlen zerfressenen Lyon, dem mental begabten Xiu, der Attentäterin Syke und dem unnahbaren Aidan besteht. Ausgerechnet letzterer weckt Mariellas Interesse, obwohl er einen schweren Verrat begangen hat. Aber als Mariella tatsächlich die Gelegenheit zur Flucht erhält, ist sie unsicher, ob sie noch aus Stoneheaven fort will. Vielleicht ist die Zitadelle ja doch die Chance, die sie braucht? 24