EXKLUSIVE LESEPROBE
© Mandy Baker
Laura Andersen, Das geheime Turmzimmer
KA P I T E L 2
C
LAURA ANDERSEN hat Englische Literatur mit Schwerpunkt Britische Geschichte studiert. Bücher, Schuhe und Reisen sind ihre Leidenschaft. Sie liebt das Meer (aber nicht den Sand), Wälder (aber nicht das Zel ten), gutes Essen (aber nicht das Kochen) und Shoppen (alles daran). Sie lebt mit ihrem Mann und vier Kindern in Boston, Massachusetts. »Das geheime Turmzimmer« ist ihr erster Roman bei Piper.
arragh Ryan saß kerzengerade auf der Nachbildung eines Stuhls aus dem neunzehnten Jahrhundert, den ihr die Gesprächspartnerin angeboten hatte. Sie war heilfroh, dass ihre Kleiderwahl für das Bewerbungs gespräch auf ihr allerseriösestes Tweedensemble in nüch ternem Graugrün gefallen war. Die Frau ihr gegenüber war mindestens achtzig und gekleidet, als wäre sie auf dem Weg zu einer Beerdigung bei Downton Abbey. Wer trug heutzutage noch Bombasin? In ihrem Kopf jagten sich die Gedanken in wildem Galopp, wie immer, wenn sie nervös war. Und was genau ist Bombasin eigentlich? Will ich den Job überhaupt, wenn ich dann für sie arbeiten muss? Konnte die Frau Gedanken lesen? Sie hatte ihren Namen nicht preisgegeben, nachdem Carragh die ebenso exklusive wie gesichtslose Hotelsuite betreten hatte. Sie stellte nämlich genau diese Frage: »Weshalb bewerben Sie sich auf diese Stelle und wissen gar nicht, worum es sich dabei handelt?« Weil die Stellen, bei denen ich es weiß, so sterbenslang weilig sind, dass ich mir schon bei der Bewerbung am liebsten die Kugel gäbe … Carragh lächelte, auch wenn sie be zweifelte, dass die Frau für Schmeicheleien empfänglich war. »Die Stelle hat mit Büchern zu tun, mehr interes siert mich nicht.« 3
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»Sind Sie sich im Klaren darüber, dass die Anstellung befristet ist? Auf allerhöchstens drei Wochen?« »Durchaus.« »Ihr Arbeitsplatz ist außerdem etwas … isoliert. Sie müssten bei uns Logis beziehen, und wir verfügen weder über nennenswerten Mobilfunkempfang noch über Inter netanschluss.« Wenn sich literarische Anspielungen anboten, konnte sich Carragh nicht beherrschen. »Das klingt ganz nach Victoria Holt oder Daphne du Maurier.« Die Frau blickte sie ausdruckslos an, und Carragh plapperte drauflos. »Schriftstellerinnen, die Schauerromane verfasst ha ben. Geheimnisvolle Herrenhäuser, altbackene Gouver nanten, schwermütige adlige Herren … das ganze Paket. Nicht so wichtig.« »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie mich da in der Rolle der Missis Danvers sehen?« Carraghs Augenbrauen schossen in die Höhe, als der Name der unheimlichen Hausdame aus du Mauriers Rebecca fiel. Ihr Gegenüber musste lächeln. »Ich bin dreimal so alt wie Sie, meine Liebe. Es ist also durchaus denkbar, dass ich ebenso viele Bücher gelesen habe wie Sie.« Die alte Dame überflog Carraghs Lebenslauf und nahm die Brille ab, die ihr an einer Kette um den Hals hing. Ohne Brillengläser wirkte ihr Blick noch stechender. 4
Einen unbehaglichen Moment lang schwiegen beide, dann kam die Lady auf den eigentlichen Grund des Tref fens zu sprechen. »Sie sind also in den USA geboren, haben am Boston College Ihren Abschluss in Englischer Literatur erworben und sich danach für Hibernistik am Trinity College eingeschrieben.« »Ja.« »Und nach Ihrer Zeit am Trinity sind Sie in Dublin geblieben und versuchen sich seither als freiberufliche Redakteurin oder schlagen sich mit Sekretariatsjobs durch.« »Ja.« Carragh fragte sich, ob im Verlauf des Interviews jemals eine echte Frage kommen würde. Oder wenigs tens ein klitzekleiner Hinweis auf die Natur des mysteri ösen Jobs. Erneut bewies die namenlose Frau bemerkenswertes Geschick im Erraten von Carraghs Gedanken und ging augenblicklich dazu über, sie konzentriert und gezielt zu ihren Kenntnissen auf dem Gebiet irischer Balladen und Erfahrungen im Bibliothekswesen zu befragen. Als Carragh zwanzig Minuten später leicht benommen ent lassen wurde, wusste sie nicht, ob ihre Antworten zufrie denstellend gewesen waren. Und sie hatte auch noch im mer keine Ahnung, um welche Arbeit es sich überhaupt handelte. Immerhin hatte sie den Namen erfahren. Bei der Ver abschiedung hatte die Lady ihn ihr genannt. Nessa 5
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Gallagher. Der Nachname klang vage vertraut, doch sie zwang sich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Kein Grund, sich unnötigen Illusionen hinzugeben. Doch nach fünfminütiger Onlinerecherche wurde sie für ihre Selbst beherrschung belohnt. Es handelte sich um Lady Nessa Gallagher, geboren und aufgewachsen auf Deeprath Castle im County Wicklow. Deeprath, so viel wusste Carragh, war eine ur sprünglich von den Normannen erbaute Burg und seit über achthundert Jahren im Besitz der Gallaghers. Hier befand sich eine der wichtigsten Bibliotheken Irlands in Privatbesitz. Die Burg, die der viktorianische Schriftsteller Evan Chase 1879 besuchte, um für ein neues Buch zu recher chieren. Drei Jahre später verließ er sie als gebrochener Mann und veröffentlichte nie wieder auch nur ein Wort. Chase war der Grund, weshalb Carragh schon von Deeprath gehört hatte. Einer ihrer Schwerpunkte an der Uni waren Schriftsteller der viktorianischen Zeit gewe sen, und sie besaß Regale voller Bücher von Dickens und Trollope, Gaskell, den Brontë-Schwestern, Thackeray, Eliot und Hardy. Eine besondere Vorliebe hatte immer Evan Chase gegolten, mit dem ihre Großmutter sie schon vor ihrem zehnten Lebensjahr vertraut gemacht hatte. War es Ironie des Schicksals, Zufall oder ein klei nes Wunder, dass sich ihr diese Gelegenheit gerade jetzt 6
bot, so kurz nach Eileen Ryans Tod? In praktisch genau dem Augenblick, als sie sich einen Ruck gegeben und beschlossen hatte, sich wieder aus der Niedergeschlagen heit herauszukämpfen, in die sie nach dem Verlust ihrer Großmutter verfallen war. Sie glaubte nicht an Zeichen. Oder vielleicht doch. In den vergangenen drei Mona ten hatte sie zumindest etwas dazugelernt – dass sie sich nicht so gut kannte, wie sie immer angenommen hatte. Ein Lernprozess, der alles andere als ein Spaziergang gewesen war. Und nun: Evan Chase. Der Schriftsteller war halb Waliser, halb Engländer ge wesen und gehörte zu den Vertretern der fantastischen Literatur. Seine Schauerromane trieften förmlich von nervenzerrender Beklemmung und übernatürlichen Er scheinungen. Und das zwanzig Jahre, bevor Bram Stoker die Szene betrat. Mit dreißig blickte Chase bereits auf fünf erfolgreiche Romane zurück und konnte sich eines Platzes im Pantheon der englischsprachigen Lieblings schriftsteller sicher sein. Dann war er nach Irland gereist. Er wollte der Legen de der Dunklen Braut nachspüren, einer rachsüchtigen Geistergestalt, und hatte sich stattdessen verliebt. In kurzer Folge heiratete er eine Gallaghertochter, wurde Vater eines Sohnes und verlor seine Frau – vermutlich 7
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durch Selbstmord. Danach kehrte er Irland ebenso den Rücken wie seinem Sohn, dem Erben der gesamt en Besitztümer und des Titels der Gallaghers. Sechs Jahre später starb er, ohne je wieder eine einzige Zeile veröffentlicht zu haben. Von dem Buch, das er nach seiner Ankunft in Irland hatte schreiben wollen, exist ierte nur eine Seite mit einem groben Entwurf, den er an seinen Verleger geschickt hatte. Falls er mehr als dieses Konzept in Deeprath zurückgelassen hatte, war darüber Stillschweigen bewahrt worden. Wenn Nessa Gallagher nun eine Person suchte, die sich mit Büchern auskannte, dann musste das etwas mit der Bibliothek auf Deeprath Castle zu tun haben. Fachleute schätzten, dass sich über die Jahrhunderte von Generation zu Generation fünf- bis sechstausend Bände angesammelt hatten. Carragh war nur auf der Suche nach einem Job gewesen, doch inzwischen war sie bereit, die Wicklow Mountains barfuß zu überqueren, um zu dieser Bibliothek zu gelangen. Immer wieder rief sie sich jede einzelne Frage des bizarren Interviews ins Gedächt nis. Sosehr sie sich aber das Hirn zermarterte, konnte sie doch nicht einschätzen, was Nessa Gallagher von ihr hielt. Als sie am Abend mit dem jüngsten ihrer drei Brüder telefonierte, machte sie ihrem Herzen Luft. »Wie kann jemand nur so hinter dem Berg halten? Mir kam’s so vor, als würde ich von der Polizei vernommen. Ich habe nicht 8
die leiseste Ahnung, ob es noch andere Bewerber gibt, und wenn ja, wie viele. Und worum geht es bei dem Job überhaupt? Das war so, als hätte mich die Regierung ge laden und keine alte Frau, die mich die ganze Zeit nur angestarrt hat.« Francis war wie immer ein Quell des Optimismus. »Wer kann dir schon widerstehen, Carragh?« »Nessa Gallagher«, erwiderte sie düster. »Die würde sich wahrscheinlich sogar der Wiederkunft Christi wider setzen, wenn ihr daran irgendetwas gegen den Strich ginge.« »Deeprath Castle«, grübelte ihr Bruder. Sie sah ihn förmlich vor sich, wie er seine irisch grünen Augen nachdenklich zusammenkniff. »Woher kenne ich den Namen?« »Von Gran. Sie hat uns Bücher von Evan Chase vorge lesen, erinnerst du dich?« »Verschwommen. Geister, Hexen und Vampire …« »Das mit den Vampiren war Bram Stoker. Chase inte ressierte sich für Sagen und Legenden. Für Loreley, die ins Kloster verbannt wurde und sich aus Protest einen Felsen hinunterstürzte, für die Wasserfee Melusine, für die Ritter von Brocéliande. Alles Vorlagen für seine hochromantischen Romane, die er in viktorianischer Zeit verfasste.« »Ich fürchte, du bist die Einzige, die Grans Leiden schaft für alte Romane geerbt hat.« 9
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»Wie auch immer«, fuhr sie ungeduldig fort. »Evan Chase verbrachte vier Jahre auf Deeprath Castle. Er hat sogar die Tochter der Familie geheiratet. Daher kennst du den Namen der Burg. Gran hat immer viel von Chase geredet.« »Gran hat immer viel über alles Mögliche geredet.« Carragh musste lachen. »Stimmt. Jedenfalls musst du bei der heiligen Ceara um Unterstützung für mich bitten. Wenn ich den Job nicht kriege, heißt es zurück zur Zeit arbeit. Die Handwerkerrechnungen wachsen mir über den Kopf.« »Oh. Was macht das Haus?« »Alles noch so, wie Gran es verlassen hat.« »Dunkel, kalt, mit Möbeln aus den Sechzigerjahren?« »Ein paar Möbel weniger. Aber die Böden müssen drin gend geschliffen und neu lackiert werden, die Tapeten bereiten mir ernsthaft Kopfschmerzen, und die Küchen schränke haben seit ewigen Zeiten keinen Wischlappen mehr gesehen. Was soll’s?« Carragh betrachtete das Empfangszimmer mit den hohen Decken und der fein gearbeiteten Holzvertäfelung. »Gran hat mir ein kom plett abbezahltes Stadthaus am Merrion Square hinter lassen. Was will ich mehr?« »Ganz genau, Schwesterherz. Mit der Zeit wird’s schon werden, Carr.« Aber niemand aus ihrer Familie ahnte, wie schwierig die Situation tatsächlich war. Eileen Ryan war zwar als 10
wohlhabende Frau gestorben, wie man an den hohen Geldbeträgen ablesen konnte, die sie Carraghs Vater und ihren drei Brüdern hinterlassen hatte. Andererseits hatte sie mindestens dreißig Jahre lang keinen Penny in das Haus gesteckt, nicht einmal für Reparaturen. Die Deckenleisten im georgianischen Stil waren wurm stichig, beim Betätigen der Lichtschalter bestand Brand gefahr, und wenn sie Wasser in die Badewanne einließ, spielte sie mit dem Leben. Das Stadthaus war eins der wenigen im Zentrum von Dublin, das nicht in ein Mehrfamilienhaus umgewandelt worden war, und selbst im derzeitigen Zustand ein kleines Vermögen wert. Carragh wusste, dass sie es vernünftiger weise mit möglichst hohem Gewinn verkaufen sollte. Sie dachte aber gar nicht daran, vernünftig zu sein. »Vielleicht soll mich die Stelle auf Deeprath Castle ja damit trösten, dass normannische Wehrtürme und Säle aus der Tudorzeit im Winter noch schlechter heizbar sind als Grans Haus.« »Das ist nicht der wirkliche Grund, Carr. Im Vergle ich zu einer echten normannischen Burg ist selbst ein georgianisches Haus ein Neubau. Sei ehrlich – je älter ein Gebäude, desto mehr reizt es dich. Und wenn es dann noch geheimnisvoll wird, kannst du endgültig nicht widerstehen.« Francis’ Tonfall änderte sich und wurde eine Spur zu beiläufig. 11
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»Ach, übrigens …« Auf diese Worte folgte zwangsläu fig etwas Unangenehmes. »Mom will dich sprechen.« »Ich weiß.« »Du, ich bin nämlich gerade hier bei Mom und Dad. Ich reiche den Hörer mal weiter …« »Ich muss auflegen, Francis. Da kommt gerade ein an derer Anruf.« Carraghs schlechtes Gewissen wegen dieser Lüge hielt sich in Grenzen, als sie das Gespräch beendete. Sie liebte ihre Mutter. Sie achtete und bewunderte sie. Sie mochte sie sogar, was zwischen Mutter und Tochter gar nicht so selbstverständlich war. Aber sie wollte nicht mit ihr spre chen. Jedenfalls nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Genau genommen seit sie Carragh einen Brief gegeben hatte, den sie nicht wollte. Seither verfolgte sie dieser Brief, legte ihr seine tintenschwarzen Finger um den Hals und flüsterte: Lies mich, lies mich … Zum Teufel damit! Nach dem Telefonat mit Francis zog sie eine Weile ruhelose Kreise durch das Haus. Schließlich trat sie an die IKEA-Bücherregale, in denen die Großmutter ihre Romansammlung aufbewahrt hatte, und zog Evan Chases erstes Buch heraus. Ritter auf Wan derschaft. Sie öffnete es nicht, sondern drückte es an sich, schloss wie eine Zehnjährige die Augen und schick te ihren flammenden Wunsch gen Himmel. Wer wollte nicht herausfinden, was Evan und seiner wunderschönen geisteskranken Frau auf Deeprath Castle zugestoßen 12
war? Welcher Büchernarr hätte nicht zugegriffen, wenn ihm die Möglichkeit geboten wurde, sich auf die Suche nach einem verlorenen Roman zu machen? Ihr unausgesprochenes Stoßgebet musste auf offene Ohren gestoßen sein, denn zwanzig Minuten später klingelte das Telefon, und Nessa Gallaghers unver wechselbare Stimme drang herrisch durch den Hörer. »Miss Ryan, Sie können die Stelle antreten.« Diese Frau hielt offensichtlich nichts von überflüssi gen Höflichkeitsfloskeln. Zum Glück konnte Nessa nicht sehen, wie Carragh der Mund offen stand. Rasch schloss sie ihn wieder und antwortete mit einem schlichten »Danke«, das wohl leider nicht annähernd so gleichmütig klang, wie sie es eigentlich beabsichtigte. »Ich lasse Ihnen eine Zugfahrkarte sowie alle notwen digen Informationen zu Ihrem Aufenthalt auf Deeprath Castle zukommen. Sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass die Burg seit über zwei Jahrzehnten nicht mehr bewohnt ist. Dieser Umstand, verbunden mit der Lage des Anwesens, bedeutet mithin, dass Sie weder eine ver lässliche Internetverbindung noch Zugang zum Mobil funknetz erwarten können. Ich gehe davon aus, dass sich jemand, der sich für Bibliotheken interessiert, auch ohne derlei Dinge zu beschäftigen weiß.« »Kein Problem.« Carragh war bereit, für eine solche Chance auf alles Mögliche zu verzichten. Allerdings hätte sie eine reelle Aussicht auf warmes Wasser durchaus begrüßt. 13
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»Technisch gesehen unterstehen Sie meinem Großnef fen Lord Gallagher, obwohl es möglich ist, dass Aidan während Ihrer Zeit auf Deeprath Castle gar nicht anwe send ist. Für den Fall, dass er sich vorher mit Ihnen in Kontakt zu setzen wünscht, habe ich ihm dennoch Ihre Daten weitergeleitet. Wahrscheinlich wird er sich aber nicht melden. Aidan hat stets volles Vertrauen in meine Entscheidungen.« Carragh stieß einen Laut aus, der hoffentlich Zustim mung oder Interesse signalisierte. »Darüber hinaus hoffe ich, dass Sie keine Angst vor Gespenstern haben«, fügte Nessa ohne Übergang hinzu. Betretene Stille. »Wie bitte?« Zu ihrer Überraschung lag ein Hauch Humor – oder zu mindest eine Spur von Belustigung – in der Antwort der alten Dame. »Deeprath Castle ist über siebenhundert Jahre alt. Eine Örtlichkeit mit einer derart langen Geschichte ist ohne Gespenster kaum denkbar. Die unseren sind durchaus umgänglich, zumindest solange man sie nicht reizt.« Carragh versicherte ihr eilig, dass sie keinerlei Absicht en habe, während ihres Aufenthalts auf Deeprath Castle irgendjemanden zu reizen – ob es sich um Lebende oder Tote handeln mochte. Als sie aufgelegt hatte, starrte sie eine Weile ungläubig auf das Telefon, bis der Inhalt des Gesprächs allmählich zu ihr durchdrang. Sie hatte die Stelle. Sie würde drei Wochen auf Deep rath Castle wohnen. Sie durfte den lieben langen Tag 14
damit verbringen, eine Bibliothek zu erforschen, die über viele Jahrhunderte hinweg entstanden war. Die selbe Bibliothek, in der Evan Chase während seines kurzen Aufenthalts wahrscheinlich gelesen, recherchiert und geschrieben hatte. Einem Impuls folgend, kehrte sie zu den Regalen zurück und nahm die übrigen ChaseRomane heraus. »Ihr kehrt nach Deeprath zurück«, informierte sie sie stellvertretend für den Schriftsteller. Vielleicht finde ich tatsächlich heraus, weshalb du nie wieder etwas geschrieben hast, fügte sie in Gedanken hinzu. Und so etwas wie ein instinktiver Aberglaube hielt sie davon ab, den Wunsch zu äußern, den sie im Innersten hegte – in den Tiefen der alten Bibliothek ein Fragment der verloren gegangenen Erzählung Die Dunkle Braut zu finden.
***
Es gab nur zwei denkbare Anlässe, die Aidan Gallagher zur Rückkehr nach Irland hätten bewegen können. Da einer dieser Anlässe die Wiederauferstehung der Men schen von den Toten gewesen wäre, lebte er im Allge meinen ohne besondere Befürchtung, dass es so weit kommen könne. 15
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Er hätte es besser wissen sollen. »Nein.« Aidan hatte das nun schon dreimal gesagt, allerdings ohne besonderen Eindruck auf seine Schwest er zu machen. Sie redete weiter. »Die Urkunden müssen noch vor dem dreißigsten April unterzeichnet werden«, wiederholte sie abermals. »Der Irish National Trust besteht ausdrücklich auf dein er Unterschrift. Wahrscheinlich sind es eher zwanzig Unterschriften, wenn ich bedenke, wie viele Dokumente für die Schenkung eines Anwesens wie Deeprath nötig sind.« »Schick sie mir einfach! Ich unterschreibe und lasse sie hier in London notariell beurkunden.« »Ich dachte, du könntest es gar nicht erwarten, dein Erbe loszuwerden«, bemerkte Kyla ungerührt. »Sag bloß, du willst die Burg auf einmal behalten! Dich hat doch nicht plötzlich ein Anflug von Verantwortungsgefühl für die Familie erwischt.« »Ich habe nicht das geringste Problem mit der Schen kung.« »Wenn du es dir noch einmal überlegen willst … Es ist immer noch Zeit, zum Beispiel eine Stiftung für leben diges Kulturerbe zu gründen. Ich könnte aus der Burg ein Besucherzentrum machen.« Viermal hatte er den Vorschlag seiner Schwester schon abgelehnt. Aidan hatte weder ein Interesse daran, Deeprath in ein Gästehaus noch in ein Zentrum für his 16
torische Studien zu verwandeln. Sollten die vom Nation al Trust damit anfangen, was sie wollten. Er trug gerade noch so viel Familienstolz in sich, beim Gedanken an die Touristenhorden zu erschaudern, die dann durch das Castle trampeln würden. »Kyla, schick mir doch einfach die Unterlagen …« »Nessa will, dass die Sache hier erledigt wird.« »Nessa hat mir gar nichts zu sagen«, gab Aidan knapp zurück. Egal, wie alt er war, seine Großtante würde ihn immer wie einen kleinen Jungen behandeln und ihm vorschreiben, was er zu tun hatte. Seit achtundachtzig Jahren betrachtete sich Nessa Gallagher als eisernes Rückgrat der Familie. Wer es freundlich ausdrücken wollte, hätte ihr Wesen als beharrlich beschrieben. Die treffendere Bezeichnung war starrköpfig. Es wurde still am anderen Ende der Leitung, und Aidan hoffte, dass Kyla seine Ablehnung endlich akzep tiert hatte. Und dann erwähnte sie den zweiten Anlass, der ihn zum Nachgeben bewegen konnte. »Die Bibliothek wird der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sobald der Trust übernommen hat. Nessa engagiert eine Kraft, die den Bestand vorher in groben Zügen katalogisiert. Bist du sicher, dass du das ganz und gar einem Fremden überlas sen willst?« Oh verdammt, verdammt, verdammt! Schließlich hatte er gewusst, dass die Bestände der Bibliothek durchgeseh 17
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en werden würden. Um die Schenkung durchzuführen, mussten sie Leute hereinlassen, die sich durch die Büch ersammlung, die Dokumente und Familiengeschichte arbeiteten. Aber diese Tatsache hatte er völlig verdrängt, wie so vieles Unangenehme in seinem Leben. »Also, der Notartermin ist für den neunundzwan zigsten April angesetzt, kleiner Bruder. Das heißt, uns bleibt noch fast ein Monat. Ich fahre nächste Woche hin. Du solltest so bald wie möglich kommen.« Mit gespielter Fröhlichkeit, aber unbarmherzig, sprach sie weiter. »Ellie und Kate werden auch für einige Tage kommen. Da könntest du doch einmal so tun, als seist du ein normaler Onkel, der nicht jedes andere Mitglied der Familie auf diesem Planeten hasst.« Er war wütend und erschöpft. Die erdrückende Vorstel lung, nach Hause zurückkehren zu müssen, reizte ihn zu einem seiner beißenden Kommentare. »Aber Ellie und Kate sind keine echten Gallaghers. Sie sind Grants wie ihr Vater.« Die Antwort seiner Schwester war scharf und eiskalt kontrolliert wie ein Degenstoß. »Ein Grund mehr, nach Deeprath zu fahren und dafür zu sorgen, dass sie dein kostbares Gallagher-Erbe nicht besudeln und so tun, als würden sie dazugehören. Du kannst ja deine herrschaft liche Stimme einsetzen, Viscount Gallagher … Ich bin hier der Herr im Haus. Ich zeige mich dann angemessen eingeschüchtert.« 18
Vor zwanzig, dreißig Jahren hätten beide den Hörer auf die Gabel geknallt, um sich abzureagieren. Aidan war kurz ver sucht, sein Handy durch den Raum zu schleudern, scheu te aber dann den Aufwand, ein neues kaufen zu müssen. Stattdessen widmete er sich den Akten auf seinem Tisch und machte sich eine Notiz, den Super-intendent am nächsten Morgen um ein Gespräch zu bitten. Unter normalen Umständen wäre es für einen Detec tive Inspector bei Scotland Yard kaum möglich gewesen, so kurzfristig einen längeren Urlaub zu nehmen. Aidan stand jedoch kurz vor seiner Versetzung von der Abtei lung für Kunstdelikte, die verkleinert werden sollte, zum Sittendezernat. Er sollte den Posten eines Beamten über nehmen, der noch nicht ganz im Ruhestand war. Zwei Wochen konnte er sich während dieser zeitlichen Über lappung sicher für Irland freinehmen. Das bedeutete allerdings, dass er die letzten Akten auf seinem Schreibtisch schneller als geplant abarbei ten musste. Äußerlich wirkte Aidan gewohnt tatkräftig und konzentriert. In seinem Innern jedoch nahm er ein dumpfes Brausen wahr, das aus der Tiefe seines Schädels kam und in den Augen und Ohren vibrierte. Deeprath, wallte es wie ein unerbittlicher Zapfenstreich, Deeprath, Deeprath. Und darunter das Echo, Tod, Tod, Tod. Seine Stimmung war tiefschwarz, als er nach Hause kam und Pen in der Küche antraf, die sich gerade Curry 19
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reste warm machte. Für eine Frau, die fünf Jahre lang als Profimodel gearbeitet hatte, bevor sie ihren Abschluss in Psychologie erwarb, konnte sie erstaunliche Mengen an Essen verdrücken. Ab und zu nahm sie immer noch Gelegenheitsjobs in der Modewelt an … Wie genau ihre Aufgaben dann aussahen, wusste Aidan nicht, außer dass sie an Events teilnahm, bei denen sie schick und mondän auftreten musste. Ein Leichtes für eine Lon donerin, deren Wurzeln in Spanien und Jamaika lagen, die mit der gleichen Selbstverständlichkeit Bikini oder Ballkleid trug und drei Sprachen fließend beherrschte. Sie warf einen Blick auf seinen Gesichtsausdruck und seufzte. »So viel zum Thema ein gemütlicher Abend zu Hause.« Zu Hause traf es nicht so ganz, denn Penelope wohnte nicht bei Aidan in seinem Stadthaus. Er hatte noch nie mit einer Frau zusammengelebt und hatte nicht die Ab sicht, dies in naher Zukunft zu ändern. Sie war aber die Erste, der er einen Schlüssel und damit die stillschwei gende Erlaubnis gegeben hatte, nach Belieben zu kom men und zu gehen. »Ich muss nach Irland«, stieß er unvermittelt hervor, zerrte die Krawatte vom Hals und schenkte sich ein Glas aus der Flasche mit dem Weißwein ein, die auf der Marmorarbeitsfläche stand. »Irland?«, fragte Penelope und mimte übertriebene Überraschung. »Deine Familie wird in den Gräbern ro tieren.« 20
»Blöd von mir, verzeih!«, fügte sie hinzu, nachdem sie gemerkt hatte, was ihr da herausgerutscht war. Ihre Entschuldigung war knapp, aber ernst gemeint, sodass Aidan einfach darüber hinweggehen konnte, wenn er wollte. Und er wollte. »Deeprath geht an den Irish Trust, den Inhalt der Bibliothek übernimmt die National Library. Aber da sind noch jede Menge persönliche Unterlagen und Bücher, und ich will nicht, dass sie in die Hände von Fremden gelangen. Die richtige Archivierung erledigen dann die Profis, aber vorher brauche ich einen allge meinen Überblick über den Bestand.« Pen blieb stehen, als Aidan sich an die Küchentheke setzte. Ihr Gesicht war besonders schön, wenn der ge wohnte ironische Ausdruck fehlte – so wie jetzt. »Dann wird es wohl Zeit, dir den hier zurückzugeben.« Sie zog den Hausschlüssel aus der Jackentasche und legte ihn auf die Theke. Aidan starrte erst den Schlüssel, dann sie an. »Warum?« »Weil ich von Anfang an wusste, dass Irland uns aus einanderbringt. Jetzt, da der Moment gekommen ist, hat es keinen Sinn, das Unausweichliche hinauszuzögern.« »Ich verstehe nicht … bist du gekränkt, weil ich dich nicht einlade, mitzukommen? Das wird kein Höflich keitsbesuch, Pen. Außerdem würdest du meine Familie ohnehin nicht mögen.« Sie bedachte ihn mit einem zärtlichen Blick. »Ich mag dich, Aidan. Ich werde dich immer mögen. Aber ich 21
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habe es vermieden, mich in dich zu verlieben. Du lebst zwar in London, aber du gehörst nicht hierher. Dein Herz ist in Irland geblieben.« Die Kopfschmerzen, die ihn schon den ganzen Tag lang quälten, trieben ihm fast Tränen in die Augen. Er biss die Zähne zusammen. »Da täuschst du dich vollkommen.« Mit einer eleganten Bewegung hob Pen die Schultern – alles, was Pen tat, war elegant. Dann ging sie um die Theke herum und legte ihm eine kühle Hand an die Wange. »Du bist ein wundervoller Mann, Aidan Gallagher. Das heißt, du wirst es sein, wenn du dich eines Tages deinen Dämonen gestellt hast. Es kommt der Tag, an dem du mit einer Frau in deinen irischen Bergen spazie ren gehst, und diese Frau wird die Frau sein, die du liebst. Ich glaube, ich mag sie schon jetzt.« Er drehte den Kopf und berührte ihre Hand mit den Lippen. »Bleibst du?«, fragte er. »Eine letzte Nacht?« Sie lachte. »Lieber nicht. Warum sollte ich dir den Ab schied noch schwerer machen als nötig?« Doch sie küsste ihn, bevor sie ging, und Aidan blieb mit dem trostlosen Gefühl zurück, wieder einmal versagt zu haben.
»In der Bibliothek gab es eine Fülle von Geheimnissen zu lüften … Man musste nur wissen, wo man suchen sollte.« Hinter düsteren Mauern verbirgt sich ein tragisches Schicksal. Als die bücherliebende Carragh den Auftrag erhält, die Bibliothek einer alten irischen Burg zu katalogisieren, kann sie ihr Glück kaum fassen. Und als sie dort dem jungen Lord Aidan Gallagher begegnet, schlägt ihr Herz noch schneller ... Doch etwas stimmt nicht mit Deeprath Castle und seinen Bewohnern. Ist es wahr, dass ein Geist im Turmzimmer umherirrt? Und was hat es mit dem mysteriösen Tod von Aidans Eltern auf sich, die vor zwanzig Jahren ermordet in der Bibliothek aufgefunden wurden? Carragh stößt auf ein altes Tagebuch, das sie der Wahrheit näherbringt. Dabei ahnt sie noch nicht, dass ihr eigenes Schicksal mit dem der Gallaghers eng verwoben ist …
EAN: 4043725003617
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