INHALT
Vorwort
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Anselm Grün
Spirituelles Vorbild im Spiegel der Jahrhunderte
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Gabriele Ziegler
1. Spuren ͟͡ 2. Hat es diese Frau wirklich gegeben? ͣ͟ 3. Zeitgeschichte und Hintergründe ͦ͟ Ein spiritueller Kanon ͧ͟ Christentum und Islam ͠͠
4. Eine Frau in der Wüste und ein Mann auf der Suche nach Vollkommenheit ͠͡ 5. Biblisch-symbolische Sprache ͦ͠ 6. Grenzenlose Gnade und doch geistlicher Kampf ͟͡ 7. Der Nachhall im Westen: Maria Magdalena ͣ͡ Anmerkungen ͧ͡
Die Legende der Maria aus Ägypten
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Prolog des Verfassers ͥ͢ Ein Mann, erfahren in heiligen Dingen, hat diese unglaubliche Geschichte berichtet ͧ͢ Der Mönch Zosimas ͧ͢ Das Kloster ͣ͟
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Die Zeit der Fasten ͣ͡ Am Jordan ͣͤ Die Begegnung ͣͦ Ihre Geschichte ͤ͠ Jerusalem – Die Wende ͤͤ Die Wüste ͥ͞ Der Auftrag ͥͣ Der Abend des mystischen Mahles ͥͥ Der Tod der Heiligen ͥͧ Schlusswort des Verfassers ͦ͡
Anmerkungen ͦͣ Quellen/Literatur ͧ͠ Abkürzungen ͧ͡ Bildnachweise ͧ͢
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Ein Mann, erfahren in heiligen Dingen, hat diese unglaubliche Geschichte berichtet Ein heiligmäßiger Mann, von Kindheit an darin unterrichtet, das, was Gott und die heiligen Dinge betrifft, zu sagen und zu tun, hat davon berichtet. Sollten auch das wieder gewisse Leute zum Vorwand des Nicht – Glaubens nehmen, weil sie meinen, etwas so Erstaunliches könne unmöglich heutzutage geschehen – ihnen sei gesagt: Die Gnade Gottes des Vaters, die über alle Generationen hinweg in heiligen Seelen Wohnung nimmt, erschafft Freunde Gottes und Propheten (Weish 7,27). Doch jetzt ist es an der Zeit, mit der Erzählung dieser heiligen Geschichte zu beginnen.
Der Mönch Zosimas In einem der Klöster Palästinas lebte ein Mann, bewährt und geachtet in seinem Lebenswandel und in seinen Worten, von Kindheit an in der Lebensform und entsprechend den Regeln des Klosters erzogen. Der Name dieses Altvaters5 war Zosimas. Die Namensgleichheit soll niemanden dazu bringen zu glauben, es handle sich um jenen Zosimas, der wegen seiner Lehren für einen Irrlehrer gehalten wurde. Dieser und jener sind zwei völlig verschiedene Personen und es besteht ein großer Unterschied zwischen beiden, auch wenn sie den gleichen Namen haben. Der Zosimas unserer Geschichte war rechtgläubig. Er lebte solange er denken konnte in einem der alten Klöster, von Kopf bis Fuß ein Asket, zu jeder Selbstbeherrschung fähig. Alle überlieferten Weisungen zum geistlichen Kampf 6 beachtete er. Vieles tat er freiwillig noch darüber hinaus, immer bestrebt, das Fleisch dem Geist zu unterwerfen. Immer war er ʹ.
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auf das Ziel ausgerichtet; er wurde gerühmt als geistgeführter Mann, so dass sehr oft viele Menschen, aus den Klöstern, von nah und fern und sogar von weit her zu ihm strömten, um in der Schule der Askese von ihm geformt zu werden. Obwohl er also den Pflichten von Gebet, Fasten und Menschenliebe7 nachkam, vernachlässigte er niemals das unablässige Nachsinnen über Gottes Wort8, ob er sich niederlegte oder erhob (vgl. Dtn 6,9), wenn er an seine Arbeit ging oder wenn er etwas zu essen zubereitete. Wenn du wissen möchtest, welche Speise er kostete, die ihm ohne Unterlass bereitet war und niemals zur Neige ging: In allem [was er tat] sang er die Psalmen und bewegte ohne Unterlass die heiligen Worte in seinem Herzen. Es gibt Leute, die sagen, der Altvater sei oftmals der Schau der Gottheit gewürdigt worden, indem ihm von Gott her ein Licht kam. So sagt ja der Herr: »Die ihr Fleisch reinigen9 und nüchtern sind, schauen immerfort mit dem wachen Auge ihres Geistes Schauungen des göttlichen Lichts. Sie erhalten damit ein Unterpfand ihrer künftigen Schönheit.« (vgl. 2 Kor 7,1; 1 Thess 5,6) ͵. Zosimas selbst sagte von sich, er sei sozusagen von den Armen seines Vaters weg in das Kloster übergeben worden, und habe darin bis er dreiundfünfzig Jahre alt war gelebt, und die Lebensweise eines Asketen eingeübt10. Dann sei er, so sagte er, von mancherlei Gedanken11 bedrängt worden, ob er nicht doch, um vollendet vollkommen zu werden, noch Unterweisung durch einen anderen nötig hätte. Er überlegte – so sagte er: »Gibt es nicht irgendwo auf der Welt noch einen Mönch, der mir etwas mir bisher Unbekanntes beibringen könnte, das ich noch nicht weiß oder der mich noch stark machen könnte für eine Form der Askese, die ich noch nicht übe. Findet sich womöglich unter den weisen Männern der Wüste noch einer, ͣ͞
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der mir in Praxis und Theoria12 überlegen ist?« Während der Altvater sich noch darüber Gedanken machte, stand da plötzlich jemand bei ihm und sagte zu ihm: »Zosimas, du hast ganz gut und soweit menschliche Kräfte es vermögen, den Kampf der Asketen [den geistlichen Kampf ] gekämpft. Kein Mensch jedoch kann vollkommen sein. Größer ist der Kampf, den du vor dir hast, als der Kampf, der hinter dir liegt, auch wenn du es nicht weißt.13 Aber damit du erkennst, wie viele unterschiedliche Wege zum Heil es gibt: ›Gehe weg von deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters‹ (Gen 12,1) wie einst Abraham, der hochverehrte Patriarch, und geh dorthin in das Kloster, das nahe am Jordan steht.«
Das Kloster Kaum hatte der Altvater diesen Befehl gehört, befolgte er ihn auf der Stelle, und verließ das Kloster, in dem er solange er denken konnte gelebt hatte. Er kam zum hochheiligen Jordanfluss und unter Führung dessen, der ihm den Befehl gegeben hatte, zu jenem Kloster, in das zu gelangen Gott für ihn bestimmt hatte. Als er nun mit der Hand an das äußere Tor klopft, begegnet er zuerst dem Türhüter14. Dieser führt ihn zum Vorsteher15 des Klosters. Der empfängt ihn und sieht, wie sich Zosimas, demütig in Haltung und Blick, vor ihm zu Boden wirft, wie es die Mönche tun, die ein Leben der Umkehr16 führen, und wie er ihn um den Segen bittet. Dann fragt er ihn: »Woher kommst du, Bruder, und weswegen bist du zu uns einfältigen alten Männern gekommen?« Zosimas antwortet: »Woher ich komme, ist nicht wichtig und tut nichts zur Sache. Weshalb ich gekommen bin? Weil ich [mehr] Gnade will, Abbas. Ich habe Ͷ.
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nämlich viel Rühmliches und Ehrenwertes über euch gehört, das die Seele zur Gefährtin Christi, unseres Gottes, machen kann.« Da antwortet ihm der Vorsteher: »Gott allein, Bruder, heilt die menschliche Schwachheit. Er wird dich und uns lehren, was sein Wille ist. Er wird uns den Weg führen, zu tun, was jetzt gut und richtig ist. Kein Mensch kann einem anderen helfen, wenn nicht jeder in allem beständig auf sich selbst acht hat, mit nüchternem Geist tut, was zu tun ist, und dabei Gott als seinen Helfer hat. Doch da, wie du sagst, die Liebe Gottes dich bewog, uns geringe Greise sehen zu wollen: Bleibe bei uns um dessentwillen, weswegen du zu uns gestoßen bist. Uns alle aber behüte in der Gnade des heiligen Geistes der gute Hirte, der sein Leben als Lösegeld (Joh 10,11f ) für uns dahingegeben hat und jedes seiner Schafe mit Namen kennt.« So spricht der Vorsteher des Klosters zu Zosimas. Der aber wirft sich wieder zu Boden und bittet um den Segen. Und nachdem er »Amen« gesagt hat, bleibt er in diesem Kloster. ͷ. Zosimas sieht die Altväter, hell leuchtend in Praxis und Theoria17, und brennend im Geist (Röm 12,11) dem Herrn dienen: Psalmengesang ohne Unterbrechung und Nachtwachen; jeder arbeitet zu jeder Zeit mit seinen Händen, einen Lobgesang auf den Lippen. Kein unnützes Wort kommt aus ihrem Mund. Keiner sorgt sich um vergängliche Güter. Die Einkünfte werden einmal im Jahr berechnet, Sorgen um den Leib werden mit keinem Wort erwähnt. Darüber, was man morgen essen oder trinken oder womit man sich kleiden solle, grübelt man nicht nach, als wäre man verheiratet18. Ein jeder von ihnen hat nur ein einziges Ziel: Wie ein Leichnam zu sein19 für die Begierden des Fleisches, in gleicher Weise der Welt und allem, was in der Welt ist, gestorben und nicht untertan zu sein. ͣ͠
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Sie haben eine Speise, die nicht verdirbt: Die Worte, die der Geist Gottes eingibt. Den Leib nähren sie nur mit dem Nötigsten, mit Brot und Wasser, so dass ein jeder von ihnen durchglüht ist von der göttlichen Liebe. Als er das alles sah, so erzählte Zosimas, wurde er sehr gefestigt und streckte sich aus nach dem, was vor ihm liegt. Er beschleunigte seinen Lauf, hatte er doch Mitstreiter gefunden, die den Weg in das göttliche Paradies wieder freimachten.
Die Zeit der Fasten Die Tage vergingen, und es kam die Zeit, für die den Christen überliefert ist, die heiligen Fasten zu vollziehen, um sich vorzubereiten auf die Verehrung des göttlichen Leidens und die Auferstehung Christi [von den Toten]. Das Tor des Klosters wurde niemals geöffnet, sondern war immer verschlossen, auf diese Weise konnten die Mönche ungestört den geistlichen Kampf führen. Das Tor wurde nur geöffnet, wenn ein Mönch aus zwingenden Gründen das Kloster verlassen musste. Denn der Ort war einsam und für die meisten Mönche der Gegend nicht nur unerreichbar, sondern ihnen sogar unbekannt. Doch wurde in diesem Kloster ein bestimmter Brauch befolgt, um dessentwillen, so glaube ich, Gott den Zosimas dorthin führte. Um welchen Brauch es sich handelte, und wie er ausgeführt wurde, will ich daher berichten: Am Sonntag, nach dem die erste Fastenwoche benannt wird, vollzog man die Feier der göttlichen Geheimnisse20, wie es die Überlieferung vorschreibt. Jeder der Armen bekam Anteil an den lebenspendenden Geheimnissen. Wie üblich erhielt dann jeder noch etwas zu essen. Dann kamen alle Väter im Oratorium zusammen, beteten lange und beugten häufig die Knie. .
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Danach gaben sie einander den Friedenskuss; ein jeder umarmte den Vorsteher des Klosters, warf sich ihm zu Füßen und bat um den Segen für den bevorstehenden geistlichen Kampf und um einen bewährten Mitstreiter. . Dann wurde das Tor des Klosters geöffnet und wie aus einem Mund sangen alle den Psalm: »Der Herr ist mein Licht und mein Retter, wen sollte ich fürchten? Der Herr ist der Schutzschild über meinem Leben, wovor sollte ich zittern?« (Ps 27,1) Indem sie den Psalm Vers für Vers sangen, verließen alle das Kloster. Nur einer, manchmal auch ein zweiter, blieb als Wächter im Kloster zurück, nicht um dort angesammelte Güter zu bewachen – es gab dort nichts zu stehlen, sondern damit das Oratorium21 nicht ohne Gottesdienst zurückgelassen wurde. Jeder nahm sich etwas an Nahrung für die Bedürfnisse des Leibes mit, wie er konnte und wollte: Einer Datteln, ein anderer Feigen, einer in Wasser eingeweichte Bohnen, ein anderer gar nichts außer dem eigenen Leib und den Mantel, der ihn umhüllte. Sooft die Natur es forderte, nährte er sie mit den Pflanzen, die in der Wüste wuchsen. Für jeden von ihnen galt als Regel und unumstößliches Gesetz, dass keiner vom anderen wusste, worin sein Fasten bestand oder wie einer diese Tage verbrachte. Sobald sie nämlich auf die andere Seite des Jordan gelangt waren, trennte sich jeder von den anderen und ging tief in die Wüste hinein; keiner begegnete mehr einem anderen. Und wenn es doch einmal geschah, dass einer von weitem sah, wie ein anderer auf ihn zuging, verließ er sofort den eingeschlagenen Weg und ging anderswohin in der Wüste, nur bei sich selbst und bei Gott lebend, immerdar Psalmen singend, als Nahrung das, was gerade vor Händen wuchs. ͺ. So verbrachten sie alle Tage der Fasten. Am Sonntag vor dem Fest der lebenschaffenden Auferstehung des Erlösers von ͣ͢
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den Toten, den die Kirche befiehlt, mit Palmzweigen zu feiern, kehrten sie in das Kloster zurück. Ein jeder kam also wieder, und hatte zum Ackerland seiner Absicht22 nur das eigene Gewissen, das wusste, wie er den Acker bestellt und Samen welcher Mühen er hineingelegt hatte. Kein einziger nämlich fragte den anderen, ob oder auf welche Art er den vorgenommenen Kampf durchgekämpft hatte. Dies war die Regel im Kloster und so wurde sie vortrefflich erfüllt: Jeder Mönch, der in die Wüste ging, kämpfte [allein] unter Gott als Kampfrichter und wie die eigenen Kräfte es zuließen, nicht um Menschen zu gefallen oder um seine Askese zur Schau zu stellen. Was nämlich um der Menschen willen geschieht oder mit dem Ziel, Menschen zu gefallen, nützt – das muss einmal gesagt werden – dem, der es tut, überhaupt nichts, sondern wird für ihn zur Ursache für großen Schaden.
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