Bertold ulsamer schuld verstehen und heilen

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Inhalt

Einleitung: Schuld als Herausforderung . . . . . . . . . . . . 7 1 Schulden . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2 Einen anderen Menschen verletzen . . . . 13 Schuld gehört zur menschlichen Existenz . . . . 15 Der Kern von Schuld . . . . . . . . . . . . . . 19 Beispiel Abtreibung . . . . . . . . . . . . . . . 23 Schuldgefühle abwehren . . . . . . . . . . . . . 28 3 Nach der Tat: Die Suche nach dem Ausgleich . . . . . . 36 Rache, Strafe und Gerechtigkeit . . . . . . . . . 36 Das Opfer hat ein Recht auf Zorn . . . . . . . . 40 Die Begegnung des Opfers mit dem Täter . . . . 42 Vergebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 »Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein« . . 52 4 Der Verstoß gegen ein inneres Gebot . . . 57 Moral und schlechtes Gewissen . . . . . . . . . 57 Niemand ist eindimensional – ein Modell verschiedener Ich-Zustände . . . . . 60 Der innere Kritiker und Richter oder: Wie Schuldgefühle entstehen. . . . . . . . . . . 64 Wie Schuldgefühle die Begegnung mit der eigenen Schuld verhindern. . . . . . . . . . 66 Verantwortlich den eigenen Weg finden . . . . . 70 Sich selbst vergeben . . . . . . . . . . . . . . . 72


5 Die in der Familie weitergegebene Schuld . 75 6 Schuld als Barriere gegen Gefühle . . . . 79 Schutzschild gegen Schmerz und Hilflosigkeit . . 79 Wut, Schuld und nicht gelebte Trauer . . . . . . 85 7 Die Überlebensschuld . . . . . . . . . . . 89 Überlebensschuld bei Geschwistern . . . . . . . 89 Überlebensschuld nach Katastrophen . . . . . . 93 8 Schuld zwischen Eltern und Kindern – Schuld zwischen Kindern und Eltern . . . 97 Eltern fühlen sich verantwortlich für die Leiden des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Selbstvorwürfe der Eltern, nicht genug gegeben zu haben . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Das Geschenk des Lebens an das Kind . . . . . 101 Nachteile für Eltern durch die Geburt

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Den eigenen Weg durchs Leben finden . . . . . 105 Die Parteinahme gegen einen Elternteil . . . . 110 Kinder wollen ihre Eltern retten . . . . . . . . 113 Mangelnde Liebe der Eltern . . . . . . . . . . 114 Schluss: Unmenschlichkeit und Menschlichkeit . . . . . 117 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

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1 Schulden Der Austausch, der Wechsel von Geben und Nehmen ist ein Kern menschlicher Beziehungen. Hier begegnen wir einer archaischen Form von Schuldgefühl: Wer etwas bekommt, hat etwas zurückzugeben. Und wer einem anderen etwas gibt, weiß, dass er damit einen Anspruch auf eine Gegenleistung hat. Jeder Mensch hat im Inneren ein feines Gefühl dafür, was ein fairer oder gerechter Ausgleich ist. Wer also etwas bekommt, schuldet dem anderen etwas, solange, bis er etwas annähernd Gleichwertiges zurückgegeben hat. Es ist eine Art Vergeltungsregel, die uns unterschwellig ganz stark im Inneren bestimmt. Wie stark dieser Mechanismus wirkt, ist uns meist gar nicht bewusst, weil er so selbstverständlich das Handeln bestimmt. Viele anschauliche Beispiele dazu lassen sich in dem inzwischen zum Klassiker gewordenen Buch Überzeugen im Handumdrehen des Sozialpsychologen Robert Cialdini finden. So beobachtete er vor einigen Jahrzehnten in amerikanischen Flughäfen, wie die Hare-Krishna-Sekte die Vergeltungsregel einsetzte, um Spenden zu erhalten: Ein Fluggast, der es eilig hat, hastet durch die Halle. Ein Hare-Krishna-Werber tritt 10


auf ihn zu und überreicht ihm eine Blume. Der Empfänger möchte sie nicht annehmen, weil er schon weiß, was dann auf ihn zukommt. »Aber es ist ein Geschenk von uns für Sie«, bekommt er dann zu hören, während ihm die Blume aufgedrängt wird. Allerdings würde der Werber gerne eine Spende für seine Bewegung als Dank annehmen. Erneut will der Angesprochene die Blume zurückgeben. Der Werber lehnt wiederum ab. »Das ist unser Geschenk an Sie.« Anschaulich schildert Cialdini darauf den inneren Kampf und Konflikt der unfreiwillig Beschenkten. Sie weichen mit dem Körper zurück und wollen sich aus der Situation herauswinden. Sollen sie die Blume behalten und einfach weitergehen, oder sollen sie dem Zwang der tief verwurzelten Vergeltungsregel nachgeben und etwas spenden? Schließlich resignieren die meisten Angesprochenen irgendwann, zücken den Geldbeutel und spenden ein oder zwei Dollar. So stark ist dieses Gefühl, sich selbst für eine ungewollte Gabe revanchieren zu müssen! Die Blume landet dann oft im nächsten Abfalleimer. Die Kraft dieser Vergeltungsregel kennen auch all die Verbände und Vereine, die einem gern um die Weihnachtszeit – unverlangt – irgendwelche Geschenke, von der Weihnachtskarte bis zum Adressaufkleber, zusenden und dann die Bitte um eine kleine Spende anhängen. Selbst wenn wir solche geschäftlichen Mechanismen durchschauen, ist es trotzdem lästig, das Gefühl zu haben, in der Schuld eines anderen zu stehen. 11


Diese Regel ist so stark in unserem Inneren verwurzelt, dass jemand deshalb manchmal als Erster dem anderen zuliebe ein Opfer bringt, um ihn so zu einer Gegenleistung zu verpflichten. Beim anderen entsteht automatisch ein Bedürfnis nach Ausgleich, denn sonst bliebe der Empfänger in der Schuld des anderen. Und das möchte niemand. Bert Hellinger formuliert das so: »Wenn wir von anderen etwas bekommen – und sei es auch noch so schön −, verlieren wir unsere Unabhängigkeit und Unschuld. Denn wenn wir nehmen, fühlen wir uns dem Geber verpflichtet und bei ihm in Schuld. Diese Schuld erleben wir als Unlust und als Druck, und wir versuchen, sie wieder loszuwerden, indem wir selber geben.« Diese Form von Schuld könnten wir auch mit dem Begriff »schulden« fassen. Wir schulden dem anderen etwas für das Gute, das er uns gegeben hat – und das versetzt uns in Spannung und Unwohlsein. Wenn wir der Geber sind, dann geht es uns zunächst gut, denn der andere schuldet uns nun etwas. Dann warten wir darauf, dass wir etwas zurückbekommen oder fordern es vielleicht irgendwann sogar ein. Unbewusst ist damit klar, dass eine Beziehung nicht beendet ist, solange etwas nicht ausgeglichen ist. Wir bleiben verbunden, ob wir wollen oder nicht. Das ist das soziale Ergebnis dieser Regel. Das Ungleichgewicht und diese Verbundenheit erleben wir auch bei vielen anderen Formen der Schuld, die im Weiteren beschrieben werden.

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das Frauen zu tragen haben, und die besondere Verbindung, die sie zu ihren Kindern haben. Ein Kind kann das nur annehmen und sich mit Dankbarkeit vor seiner Mutter verneigen.

Den eigenen Weg durchs Leben finden Mit jedem Kind tritt eine neue Kraft ins Leben. Die Welt, so wie wir sie kennen, ist nur deshalb so modern und fortgeschritten, weil junge Menschen nicht alle Traditionen akzeptiert haben, sondern weiter gegangen sind als ihre Eltern und über das bisher Übliche hinausgewachsen sind. Wer erwachsen ist, bahnt sich seinen eigenen Weg durchs Leben. Da gibt es Ziele, Ideen und Wünsche, nach denen sich jemand ausrichtet. Diese Schicht ihres Wesens scheint für die meisten Erwachsenen die einzig vorhandene zu sein. Aber darunter gibt es eine tiefe Schicht, auf der die Loyalität von Kindern gegenüber ihren Eltern eine große Rolle spielt. Ein Kind will ursprünglich voll und ganz zu seiner Familie gehören. Es ist eine archaische, ursprüngliche Liebe. Wer den anderen gleich ist, gleich fühlt, sich gleich verhält, der gehört dazu. Dieser Drang in uns ist unbewusst, hat aber eine enorme Kraft. Aus dieser unbewussten Loyalität heraus, die ich einmal den »Apfel-Faktor« nach dem bekannten Sprichwort (Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm) genannt habe, hält es ein Kind schlecht aus, auf Dauer erfolgreicher oder glücklicher zu 105


sein als seine Eltern. Denn mit seinem Glück verliert es eine wichtige Verbindung. Es ist so, als ob ein Kind untreu würde, wenn es den bisherigen Rahmen der Familie verlässt. Es fühlt sich dann schuldig, wie eine Art Verräter. Der geheime Wunsch, die Verbindung aufrechtzuerhalten, kann manchmal so groß sein, dass jemand sich sabotiert, nur um nicht anders zu sein. Er ahmt beispielsweise die Scheidung seiner Eltern nach, indem er selbst seine Ehe ruiniert oder seine Beziehung ins Unglück stürzt. Auch wer beruflich weit erfolgreicher ist als seine Eltern, kann diese Art von Schuldgefühl empfinden. Manchmal ist das ein Grund, warum jemand den eigenen Erfolg blockiert. Diese Behauptungen mögen auf Widerstand stoßen. Scheitert deshalb heute jemand, weil er seinem Vater oder seiner Mutter gegenüber loyal ist, ihnen also sozusagen ins Unglück nachfolgt? Das klingt weit hergeholt. Auf der Ebene der Alltagswahrnehmung hat der Zweifler recht. Aber diese Ebene ist nicht die einzige zwischen Eltern und Kindern. Es gibt eine tiefere Schicht, in der stärkere, oft auch vergessene Gefühle wohnen. Man stelle sich ein neugeborenes Kind vor, das in den ersten Lebenswochen in den Armen der Eltern liegt. Das Kind ist noch ganz und gar offen und schwingt mit jedem Gefühl seines Gegenübers mit. Ein Neugeborenes hat noch nicht die Schutzmauern errichtet, mit denen das Kind und der Heranwachsende sich später abgrenzen. Und ein Baby ist sehr liebevoll. So nimmt es alles auf, was es 106


von seinen Eltern und seiner Umwelt her spürt. Wenn es den Menschen, die um es herum sind, ähnlich ist, dann gehört es dazu. Wenn deshalb Mutter und Vater unglücklich sind, dann übernimmt das Kind das auch ein Stück weit. Später legt sich dann durch die Enttäuschungen, die nicht ausbleiben können, eine Schutzschicht über die ursprüngliche rückhaltlose Zuneigung. Das Kind verschließt sich. Darunter leben aber nach wie vor die ursprünglichen Gefühle weiter. Je mehr man sich dagegen wehrt, seiner Familie, seinen Eltern ähnlich zu sein, desto ähnlicher wird man ihnen oft insgeheim. Manche entdecken diese Ähnlichkeit, wenn sie eigene Kinder bekommen. Sie benehmen sich ja oft genauso wie ihre eigenen Eltern, gar nicht so viel besser, wie sie es eigentlich vor hatten. Andere werden vierzig oder fünfzig Jahre alt und kommen dann zu der Einsicht: So viel anders bin ich gar nicht geworden. Ich ähnele viel mehr meinen Eltern als ich es je vor hatte. Diese Nachfolge ergibt sich aus dieser alten und sehr versteckten Liebe. Es ist die Liebe des kleinen Kindes in jedem von uns. Je verhärteter, je unglücklicher die Eltern sind, desto mehr schmerzt dieses Mitgefühl und die Verbundenheit. Deswegen ist es leichter, zornig und vorwurfsvoll zu sein. Diese Liebe in sich selbst zu entdecken und zu spüren, fällt nicht leicht. In Notsituationen tauchen diese versteckten Gefühle der Zusammengehörigkeit wieder auf, bei Eltern wie bei Kindern. Das können Unfälle und 107


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