Frank Höndgen - Herrliche Stadt unseres Gottes! All meine Quellen sind in dir - Die Antiphonen des m

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4

Inhaltsverzeichnis 1.

Quellen, Literatur und Abkürzungsverzeichnis

10

1.1.

Quellen .....................................................................................10

1.2.

Literatur ....................................................................................19

1.3.

Abkürzungsverzeichnis ..............................................................31

2.

Einleitung

2.1.

Hinführung zu Thema und Ziel der vorliegenden Arbeit ...........34

2.2.

Kurzer Überblick über die Situation der Stundenliturgie im 19. und 20. Jahrhundert bis zum 2. Vatikanischen Konzil ...............37

34

2.2.1.

Weltkirchliches Stundengebet im deutschen Sprachraum ...............38

2.2.2.

Monastisches Stundengebet im deutschen Sprachraum ..................51

2.2.3.

Zusammenfassung des geschichtlichen Rückblicks .........................59

3.

3.1.

Als eine Familie beten – Die Entstehungs-geschichte des „Deutschen Antiphonale“ und des „Benediktinischen Antiphonale“

62

Das Deutsche Antiphonale ........................................................62

3.1.1.

Entstehung und Vorgeschichte .......................................................62

3.1.2.

Die Vorboten des Deutschen Antiphonale......................................75

3.1.3.

Die Arbeiten am Deutschen Psalterium (DA 1) .............................82

3.1.4.

Die Fortsetzung der Arbeiten .........................................................96

3.1.5.

„Vollendet ist das große Werk“ – ein Ende der Arbeiten? .............106

3.2.

Das Benediktinische Antiphonale............................................113

3.2.1.

Die Vorarbeiten zur revidierten Neufassung und die Entstehung des neuen Benediktinischen Anti-phonale..........................................113

3.2.2.

Das fertige Werk – das neue Benediktinische Antiphonale ...........119


5 3.2.3.

Rezeption in Münsterschwarzach und in anderen Konventen ......122

3.2.3.1.

Rezeption in Münsterschwarzach

122

3.2.3.2.

Rezeption in der Abtei Königsmünster, Meschede im Sauerland, Kongregation der Missionsbenediktiner von St. Ottilien 127

3.2.3.3.

Benediktinerabtei Disentis/Schweizer Kongregation

130

3.2.3.4.

Kommunität Venio in München

132

3.2.3.5.

Benediktinerinnen-Kloster in Köln-Raderthal

135

3.2.3.6.

Erzabtei St. Peter in Salzburg / Österreich

139

3.2.3.7.

Benediktinerstift St. Lambrecht / Österreich

142

3.2.3.8.

Benediktinerkloster Muri-Gries / Südtirol (Italien)

143

4.

Die Antiphonen – eine Systematisierung

146

4.1.

Aufbereitung und Voruntersuchungen des Antiphonen-Bestandes ...............................................................................................146

4.1.1.

Aufbereitung des Antiphonen-Bestandes ......................................146

4.1.2.

Tonartenverteilung in DA und BA...............................................148

4.1.3.

Sprachliche Struktur der Antiphonen als Schlüssel zur Kategorisierung............................................................................152

4.1.4.

Die Gesetzmäßigkeiten der deutschen Sprache und das „PesProblem“ .....................................................................................155

4.2.

Die Antiphonen im ersten Ton (194 Fälle) ..............................173

4.2.1.

Einteilige Antiphonen (6 Fälle) ....................................................177

4.2.1.1.

Gruppe A1 - ANT ohne echte MK, Text ohne Unterteilung 177

4.2.1.2.

Gruppe A2 - ANT ohne echte MK, Text mit Unter-teilung 178

4.2.2.

Zweiteilige Antiphonen (86 Fälle) ................................................182

4.2.2.1.

Gruppe B1: Halleluja-Coda als zweiter Antiphonenteil (5 Fälle) 182

4.2.2.2.

Gruppe B2: eindeutig zweiteilige Antiphonen (68 Fälle)

4.2.2.3.

Gruppe B3: zweiteilige ANT mit Halleluja-Coda (12 Fälle) 232

185


6 4.2.2.4. 4.2.3.

Gruppe B4 Sonderformen mit abweichender Halleluja-Coda (1 Fall) 241 Ergänzung der Zweiteiligkeit (59 Fälle)........................................242

4.2.3.1.

Gruppe Y: Ergänzung vor der MK (5 Fälle)

242

4.2.3.2.

Gruppe Z: Ergänzung nach der MK (30 Fälle)

246

4.2.3.3.

Gruppe X: Ergänzung vor und nach der MK (24 Fälle)

263

4.2.4.

Drei- und mehrteilige Antiphonen (43 Fälle) ...............................286

4.2.4.1.

Gruppe C1: Echt-dreiteilige Antiphonen (23 Fälle)

286

4.2.4.2.

Gruppe C2: Pseudo-dreiteilige Antiphonen ohne erkennbare MK-Situationen (12 Fälle) 295

4.2.4.3.

Gruppe D: vierteilige Antiphonen (9 Fälle)

309

5.

Work in progress - Veränderungen am Anti-phonenbestand 316

5.1.

Vergleich von Antiphonen zwischen DA und BA ....................316

5.1.1.

Kategorie A, Änderungen im Text, Melodie bleibt unverändert....318

5.1.1.1.

Kategorie A1, Änderungen im Text, keine Veränderung in der Melodie 318

5.1.1.2.

Kategorie A2, Änderungen im Text, keine Veränderung in der Melodie, aber Veränderungen beim Spannungs-verlauf 321

5.1.2.

Kategorie B, Text unverändert, Änderungen in der Melodie.........328

5.1.2.1.

Kategorie B1, geringe Änderungen in der Melodie

328

5.1.2.2.

Kategorie B2, deutliche Änderungen in der Melodie

340

5.1.3.

Kategorie C, Änderungen an Text und Melodie............................346

5.1.3.1.

Kategorie C1, geringe Änderungen an Text und Melodie

346

5.1.3.2.

Kategorie C2, deutliche Änderungen an Text und Melodie

351

5.1.4.

Kategorie D, Änderungen im Notationsbild ................................361

5.1.5.

Kategorie E, gleicher Text, differenter Modus...............................366

5.2.

Einzelne Phänomene bei ausgewählten Anti-phonen...............375


7 5.2.1.

Theologische Bezüge zwischen Antiphonen in unterschiedlichen liturgischen Kontexten .................................................................375

5.2.2.

Der „Erbacher-Doppelpunkt“ ......................................................376

5.2.3.

Besondere textliche Zusammenstellungen - Anti-phonenreihen ...377

5.2.3.1.

Antiphonenreihe in der zweiten Weihnachtsvesper

378

5.2.3.2.

Antiphonenreihe der Vesper am Fest „Kathedra Petri“

379

5.2.3.3.

Antiphonenreihe der Vesper im Commune hl. Frauen

381

5.2.3.4.

Antiphonenreihe der Vesper im Commune Mönche & Nonnen 382

5.2.3.5.

Antiphonenreihe der Laudes im Commune Mönche & Nonnen 383

5.2.3.6.

Antiphonen am Fest der Hl. Scholastika

384

5.2.3.7.

Antiphonen in der Vesper am Karsamstag

386

5.2.4.

Die Antiphonen der Vesper im Ferial-Stundengebet ....................389

5.3.

Aufführungspraxis – die Tonreperkussionen ............................401

6.

Der geheime Vorrat – einige Vergleiche mit dem gregorianischen Offizium

6.1.

403

„Direkte Anleihen“ aus dem lateinischen Repertoire................407

6.1.1.

Die O-Antiphonen ......................................................................407

6.1.2.

Die erste Laudes-Antiphon am Karfreitag ....................................414

6.1.3.

Antiphonen im Protus zur Quart .................................................416

6.1.4.

Antiphonen zum Tonus Peregrinus ..............................................422

6.1.5.

Antiphonen im Urmodus E (sog. Tonus irregularis) .....................427

6.2.

Auffälligkeiten an einzelnen Antiphonen .................................429

6.2.1.

Vierte Antiphon der Osterlaudes, zu Psalm 150 ...........................429

6.2.2.

Vesper am Karsamstag..................................................................430

6.2.3.

Benedictus-Antiphon in der Osternacht.......................................432

6.2.4.

Die Magnificat-Antiphon in der Vesper am Pfingst-fest ...............441


8 6.2.5.

6.3.

Die Unterlegung von lateinischen Antiphonen mit deutschem Text anhand von Beispielen aus dem Antiphonale des Benediktinerinnenklosters Güntherstal / Freiburg i.Br. ................444

Der „eigentliche“ geheime Vorrat - Formeln als Bausteine für die Neuschöpfung eines gesamtes Antiphonencorpus....................449

6.3.1.

Einzeltonneumen, Zweitonneumen Pes und Clivis und das BiPunctum ......................................................................................451

6.3.1.1.

Einzeltonneumen und Pes / Clivis

6.3.1.2.

Das Bi-Punctum in DA/BA und seine möglichen Vorbilder 456

6.3.2.

451

Dreitonneumen ...........................................................................460

6.3.2.1.

Torculus

460

6.3.2.2.

Climacus

463

6.3.2.3.

Quilisma-Scandicus und Porrectus

468

6.3.2.4.

Salicus im Einklang

472

6.3.3.

Formelübernahme in komplexeren Zusammen-hängen................475

6.3.3.1.

Übernahme von Antiphonen bzw. von Antiphonen-teilstücken 475

6.3.3.2.

komplexere Neumengruppierungen

479

6.3.3.3.

Formeln in Binnen-, Mittel- und Schlusskadenzen

481

6.3.3.4.

Adaption von Halleluja-Formeln

483

6.3.3.5.

eine Intonationsformel im ersten Ton und ihre „Verwandten“ 484

6.3.4.

„Plagiat oder Neuschöpfung“ - eine kurze Bewer-tung des Antiphonenbestandes aus DA und BA im Hinblick auf die lateinische Gregoranik..................................................................487

7.

Zusammenfassung

489

8.

Anhänge

496

8.1.

Anhang A - Deutsche Responsoria prolixa und die lat. Vorlagen ...............................................................................................496

8.2.

Anhang B - Fragebogen zum DA, 1973 ..................................500


9

8.3.

Anhang C - Vater unser von P. Michael Hermes OSB .............508

8.4.

Anhang D - Antiphonen aus dem Disentiser Antiphonale.......509

8.5.

Anhang E - Responsoriale Gesänge in den Vigilien der Karwoche ...............................................................................................515

8.6.

Anhang F - die 6 „nicht-Konsens“-Antiphonen DA 2 .............518

8.7.

Anhang G - Die „Prämonstratenser-Psalmtöne“ ......................522

8.8.

Anhang H - Wessenberg-Psalmen............................................526

8.9.

Anhang I - Psalmtonhäufigkeiten in Gesamtdarstellung ..........528

8.10. Anhang J - Gegenüberstellung der lateinischen und deutschen OAntiphonen.............................................................................529 8.11. Anhang K - Gegenüberstellung der Psalmenverteilung im Triduum sacrum zwischen OMH und BA...............................536 8.12. Anhang L - Antiphonen mit dem „Erbacher-Doppelpunkt“....538


31

1.3. Abkürzungsverzeichnis ACi

Analecta Cistercienia

AM

Antiphonale Monasticum

ANT

Antiphon

ANTC

Antiphon zum einem Canticum

ANTinv

Antiphon zum Invitatoriumspsalm

AS

Antiphonale zum Stundengebet

BA

Benediktinisches Antiphonale (Münsterschwarzach)

BK

Binnenkadenz

BzG

Beiträge zur Gregorianik

cf

confer

DA

Deutsches Antiphonale (Münsterschwarzach)

DG

Diözesangesangbuch

DisA

Disentiser Antiphonale

DMA

Deutsches Monastisches Antiphonale (Günterstal)

EH

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift

EuA

Erbe und Auftrag


32

FDA

Freiburger DiĂśzesanarchiv

GL

Einheitsgesangbuch GOTTESLOB

GR

Graduale Romanum

GT

Graduale Triplex

Hall

Halleluja

Hg

Herausgeber

hrsg

herausgegeben

Hl

Heilige (Vita oder Legendentext)

HlD

Heiliger Dienst

IAH

Internationale Arbeitsgemeinschaft fĂźr Hymnologie

Jhd

Jahrhundert

LQF

Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschung

LT

Liturgie

MK

Mittelkadenz

MGG

Musik in Geschichte und Gegenwart

MMMA

Monumenta Monodica Medii Aevi

MS

Musicam sacram

MV

Modale Verlaufsstruktur


33

ÖBS

Österreichische Biblische Studien

OMH

Officium majoris hebdomadae

PsM

Psalterium Monasticum

RB

Regula Benedicti

SÄK

Salzburger Äbtekonferenz

SC

Sacrosanctum Consilium

SK

Schlusskadenz

SL

Schriftleitung

SMGB

Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens

SSA

sekundärer Sinnakzent

SSP

Sinnspitze

TThSt

Trierer Theologische Studien

VHl

Vita der Heiligen

Vulg

Vulgata


34

2.

Einleitung

2.1. Hinführung zu Thema und Ziel der vorliegenden

Arbeit Sine musica nulla religio1 – ohne Musik keine Religion. Keine Liturgie ohne gesungenen Vollzug – so könnte die Ausweitung dieser These lauten. Das diese Aussage auch auf die Liturgia horarum, die Feier der Tageszeiten, seine Anwendung findet, ist mehr als nur folgerichtig – ist doch gerade das gesungene Offizium monastischer Prägung seit Beginn des Mittelalters einer der konstantesten liturgischen Ausprägungsformen der römischen Kirche. Nach über 1400 Jahren der Gesangspraxis im gregorianischen Choral eröffnet die Liturgiekonstitution Sancrosanctum Concilium des zweiten Vatikanischen Konzils allgemein das landessprachlich je eigene Feld der Muttersprache. Und der o.g. These folgend stellt sich nun im Nachgang nicht nur die Frage: „was also singen“, sondern auch die ebenso interessante Frage des: „wie also singen“. Der musikalischen Ausprägung eines deutschsprachigen Offiziums, wie es seit 1968 in der Abtei der Missionsbenediktiner von Münsterschwarzach erdacht, erstellt und weiterentwickelt wurde, soll die vorliegende Dissertation auf den Grund gehen. Sie beschreibt den Werdegang der Arbeiten an den in Münsterschwarzach erstellten Büchern „Deutsches Antiphonale“ und „Benediktinisches Antiphonale“, analysiert paradigmatisch Inhalt und Formen der einzelnen musikalischen Elemente und erstellt einen systematischen Überblick über das Corpus Antiphonarum aller sechs Bücher. Es ist in Zusammenhang mit der Entstehung des Münsterschwarzacher Offiziums auch die Frage nach anderen Ergeb1 MÖDE, 27.


35

nissen oder Versuchen mit dem deutschsprachigen Stunden-gebet zu stellen. Diese Frage ist insofern von Bedeutung, da muttersprachliche Elemente oder Entwicklungen nicht erst mit der Liturgiekonstitution Sancrosanctum Concilium aufgekommen sind. Vielmehr ist bei Betrachtung der Ausprägung des Stundengebets aus Münsterschwarzach auch die Frage nach etwaigen Vorläufern von Interesse – sowohl in der monastischen Familie als auch der weltkirchlichen. Das gesamte Werk einer genauen Analyse zu unterziehen, sprengt sicherlich den zur Verfügung stehenden Rahmen dieser Arbeit. Daher beschränkt sich die Dissertation auf das Corpus Antiphonarum, seine Funktionalitäten in Sachen Modologie und Wort-Ton-Verhältnis. Um einen vergleichenden und analytischen Zugang zur der über 2100 Antiphonen umfassenden Materie zu erhalten, war die Erstellung einer elektronischen Datenbasis erforderlich. Hierzu wurden alle Bücher digitalisiert, die Antiphonen mittels eines Graphikprogramms von mehrzeiligen Vorlagen in einzeilige Vorlagen überführt und dann mit allen verfügbaren Informationen in eine relationale Datenbank eingepflegt. Der daraus resultierende Datenbestand ermöglicht die Erstellung von nach Modi geordneten Tonaren, welche die Grundlage für eine weitere analytische Betrachtung des Antiphonenbestandes darstellt. Die Tonare der einzelnen Modi wurden vollständig sortiert, katalogisiert und nach sprachlich-strukturellen Kriterien kategorisiert. Die im Verlaufe dieser Arbeiten zugrunde gelegten Kategorien sind die Basis für eine Systematisierung des Gesamtbestandes, ähnlich der Antiphonensystematisierung der gregorianischen Antiphonen durch L. Dobszay2 , welcher seinen Arbeiten allerdings eine melodiebasierte Analyse

2 DOBSZAY.


36

zugrunde legte. Abweichend von diesem Ansatz wurde in dieser Arbeit ein sprachlicher Zugang zur Kategorisierung der Antiphonen gewählt Diese Kategorisierung dient mehreren Zwecken: zum einen soll sie aufzeigen, ob die Antiphonen eines jeweiligen Modus bestimmten Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Zum anderen ist eine vergleichende Betrachtung zwischen Erstling und Weiterentwicklung möglich und der Frage nach Kriterien bei der Weiterentwicklung bzw. Veränderung der Melodien. Letztlich ist man aufgrund der vorliegenden Datenbasis in die Lage versetzt, den Vergleich zu anderen Corpora anzustellen (entweder von ebenso muttersprachlichen Entwürfen oder auch den gregorianischen Vorlagen). Der dieser Arbeit zugrunde liegende Ansatz einer Kategorisierung der Antiphonen über deren sprachlichen Aufbau ist anhand der Antiphonen im ersten Psalmton ausführlich und exemplarisch dargestellt. Eine ebenso ausführliche Darstellung aller anderen Psalmtöne sprengt den Rahmen einer Dissertation bei weitem. Die Antiphonen der restlichen Psalmtöne sind nach der gleichen Systematik analysiert, zugeordnet und in einem Supplementband mittels verschiedener Register zugänglich gemacht. Die Analyse des Antiphonenbestandes bildet die Grundlage für die Betrachtung möglicher zugrunde liegender Kompositionsprinzipien der deutschen Antiphonen auch im Vergleich zu den lateinischen Vorbildern des gregorianischen Offiziumschorals. Es wird aufzuzeigen sein, ob in den Arbeiten von Joppich und Erbacher (und auch der anderen Protagonisten Göschl und Hofer) die Grundprämisse „Textakzent erzeugt Melodieakzent“ und „Spannungsverlauf Text bedingt Spannungsverlauf Melodie“ das „Prinzip Gregorianik“3 für die deutsche Sprache beweisbar umsetzen kann. Das Beschreiten eigener Wege bei der Vertonung muttersprachlicher Texte in Gegenüberstellung zum bekannten Repertoire des Mittelalters bildet 3 Vgl. HARNONCOURT 1971 und HARNONCOURT 1987.


37

einen wesentlichen Schwerpunkt dieser Arbeit. Der als Supplementband zur Verfügung stehende Tonar mit allen Antiphonen bildet die Grundlage für weiterführende Arbeiten, z.B. einem detaillierteren Formelvergleich zum lateinischen Repertoire. Er kann für die wissenschaftliche Community in elektronischer Form bereitgestellt werden. Die vorliegende Arbeit verfolgt neben den o.g. aufbereitenden, vergleichenden und analysierenden Gebieten noch einen anderen wesentlichen Zweck. Durch die nicht sehr ergiebige Literatur- und Quellenlage zum gesamten Gebiet der Vertonung deutschsprachigen Stundengebets kommt der Sicherung von bisher nur mündlich tradierter Informationen zu Entstehung und Intention der vorliegenden Vertonungen im Sinne der „oral history“ eine immense Bedeutung zu. Alle an der Entstehung beteiligten Protagonisten leben zum Zeitpunkt dieser Arbeiten noch und stehen somit für Auskünfte aus „erster Hand“ zur Verfügung. Daher nimmt das Fachgespräch mit Prof. Dr. Godehard Joppich und P. Rhabanus Erbacher OSB sowie dessen Aufarbeitung einen wichtigen Platz in der vorliegenden Arbeit ein.

2.2. Kurzer Überblick über die Situation der

Stundenliturgie im 19. und 20. Jahrhundert bis zum 2. Vatikanischen Konzil Der nachfolgende Überblick stellt die Situation des Stundengebets in Weltkirche und monastischem Raum am Vorabend des Konzils dar. Er legt dar, aus welchem Nährboden heraus in der Benediktinerabtei Münsterschwarzach die dort seit 1968 gefundenen Lösungen entstanden


38

sind, welche dann in den Buchreihen Deutsches Antiphonale4 bzw. Benediktinisches Antiphonale5 publiziert wurden.

2.2.1.

Weltkirchliches Stundengebet im deutschen Sprachraum

Das Stundengebet wird auch 40 Jahre nach der Liturgiereform durch des 2. Vatikanischen Konzils noch immer nicht als spirituelle Aufgabe der Gemeinden wahrgenommen. Durch die Jahrhunderte lange Breviertradition in privater Ausübung der Kleriker und die parallel dazu entstandenen Formen der Volksfrömmigkeiten wie z.B. das Rosenkranzgebet, Andachten, die sonn-tägliche Christenlehre etc., wähnten die Gemeinden das Offizium stets im klösterlichen Raum beheimatet. Dass allerdings, wahrscheinlich befördert durch die muttersprachlich gehaltenen Andachten, eine spezielle Form des deutschen Stundengebets in vielen Gemeinden Fuß fasst, ist bei der Betrachtung der Entwicklung im späteren 19. Jahrhundert interessant. Namentlich ist dies bei der sog. „Deutschen Gemeindevesper“ der Fall.6 So lobt der Konstanzer Generalvikar und spätere Diözesanadministrator von Wessenberg im Jahr 1805 eine Preisaufgabe für die Bereitstellung neuer Vesperandachten aus, deren Ordnung auch das Kirchenjahr berücksichtigen soll.7 Als 1812 das von Wessenberg initiierte Diözesangesangbuch erscheint, enthält es als erstes seiner Art deutsche Vesperandachten. Eine Vielzahl 4 DEUTSCHES PSALTERIUM und DEUTSCHES ANTIPHONALE. 5 BENEDIKTINISCHES ANTIPHONALE. 6 Vgl. hierzu auch GERHARDS / KRANEMANN, 94, zur stärkeren Gewichtung der Gemeindevespern. 7 Vgl. Erlasse vom 10.5.1805 und 30.08.1808, in: Sammlung bischöflicher Hirtenbriefe und Verordnungen für das Bisthum Konstanz. Von dem Jahr 1801 bis 1808. Konstanz 1808, 264,269, hier zitiert nach: KÜPPERS, 37.


39

deutscher Bistümer übernimmt entweder die Konstanzer Modelle oder stellt den Gläubigen eigene deutsche Gemeindevespern zur Verfügung.8 Das Freiburger Diözesangesangbuch Magnificat hat noch bis 1960 in fast unverändert Form die Wessenberg‘schen Vespern in seinem Repertoire und selbst der Diözesananhang des GOTTESLOB9 in der Diözese Rottenburg - Stuttgart enthält unter den Nummer 912-917 die sog. Konstanzer Psalmen.10

8 Vgl. dazu auch den Artikel von POPP. 9 GOTTESLOB. 10 Diese Psalmen sind Paraphrasen, die sich an die biblischen Psalmen anlehnen; teilweise sind sie Kompilationen aus mehreren Psalmen.


40

Der deutlichste Unterschied zum Antiphonale Monasticum und auch zum Antiphonale Romanum ist das Fehlen der Psalmenantiphon.11 Die Beliebtheit und Eingängigkeit der „Konstanzer Psalmen“ rührt v.a. von der „schönen Sprache“ her.12 In ihren Strukturen liegt den Vesperandachten des beginnenden 19. Jahrhunderts ein leicht reduziertes und modifiziertes monastisches Schema zugrunde. Sie bestehen aus 3 deutschen Psalmen, Lesung, Hymnus, Magnificat, Oration und einem Schlusslied (!). Damit weisen die pfarrlichen Ordnungen der deutschen Vespern und der lateinischen Vespern nach römischer13 wie monastischer Ordnung14 in dieser Zeit große Gemeinsamkeiten auf. Vor allem die Stellung des Hymnus nach der Schriftlesung und dem nachfolgenden Responsorium ist Beleg für eine starke monastische Prägung des Offiziums auch in der Weltkirche. Die älteren Ordnungen des Kathedraloffiziums, welche den Hymnus gleich hinter der liturgischen Eröffnung vorsehen, werden erst mit der Liturgiereform des Zweiten Vatikanums wiederhergestellt. Dass bereits einige Jahrzehnte später mit Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Pendel in die entgegen gesetzte Richtung ausschlägt, ist nur mit dem Zusammenfallen zweier starker innerkirchlicher Bewegungen erklärbar. Zum einen ist in der römischen Kirche eine sehr ausgeprägte Restaurationsbewegung zu beobachten. Nicht nur die politisch prekäre Situation von Papsttum und Kirchenstaat in der 11 Ein bis heute zu beobachtendes Faktum auch in der Liturgie der anglikanischen Kirchen. Bei den beiden Hauptgebetszeiten (Mattins und Evensong) werden die Psalmen in kursorischer Reihenfolge und in mehrstimmiger Vertonung durch den Chor vorgetragen, allerdings auch ohne Psalm-Antiphonen. Vgl. hierzu „THE BOOKE OF COMMON PRAYER“ von 1549 bzw. „THE ALTERNATIVE SERVICE BOOK 1980“. 12 Vgl. GOTTESLOB Freiburg, 995. 13 Vgl. VESPERALE ROMANUM, 1-6. 14 Vgl. ANTIPHONALE MONASTICUM 1934


41

zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (die Unabhängigkeits- und Einheitsbestrebungen Italiens, die Proklamation von Vittorio Emmanuele zum König 1861, die Eroberung Roms am 20. September 1870 und das faktisches Ende des Kirchenstaates) sind Ursache für restaurative Tendenzen in der römisch-katholischen Kirche. Gerade die innerkirchlichen Ereignisse dieser Zeit prägen das Bild der Kirche in besonderer Weise und liefern die Erklärungen für bestimmte Phänomene. Am 8. Dezember 1854 erklärt Papst Pius IX. die unbefleckte Empfängnis Mariens zum Dogma. Exakt zehn Jahre später legt Pius in seiner Enzyklika „Quanta cura“ den Bischöfen eine Liste von 80 „Zeitirrtümern“ vor, den sog. „Syllabus“ und das 1869 begonnene Erste Vatikanische Konzil bringt mit seiner Zustimmung zur vierten Konzilskonstitution „Pastor Aeternus“ die Entscheidung über den Primat und die Unfehlbarkeit des Papstes. Einen Tag später beginnt der Deutsch-Französische Krieg. Der Ultramontanismus beginnt sich in Frankreich auszubreiten und die römische Kirche sieht sich in der Abtrennung der „Altkatholischen Kirche“ im Juni 1873 mit der ersten Kirchenspaltung seit der Reformation konfrontiert.15 Zum anderen beginnt die kirchenmusikalische Ausrichtung des Cäcilianismus spätestens seit dem ersten Generalkongress 1868 in Bamberg eine Entwicklung einzuläuten, welche die „musica sacra“ in Deutschland nachhaltig prägen sollte. Ein Zitat von Heinrich Bone (1813-1893), Verfasser bzw. Herausgeber des Gesangbuches „Cantate“ (1847), zeigt die Richtung an: „Die Vesper und Complet gehören zu den feierlichsten Nachmittags- und Abendandachten; es gibt dem stillen Gebete des Volkes einen wunderbaren Schwung, wenn droben die Psalmentöne wallen.“16 Die Teilnahme des Volkes beschränkt 15 Vgl. FRANZEN, 336-349. 16 CANTATE!, Vorrede, zitiert nach KÜPPERS, 45.


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