Friederike immanuela popp bedrängt und unendlich geborgen begegnungen mit etty hillesum

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Inhalt

Vorwort

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Etty Hillesum: Kaddisch

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1 Schreiben, um zu verstehen

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2 Geb盲rden entdecken f眉r Gott in mir selbst

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3 Widerstehen, sich nicht erniedrigen lassen

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4 Gott suchen in mir und der innere Raum des Gebets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Menschlich bleiben .

6 Sich an den Grenzen verwandeln lassen .

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7 Liebende werden trotz allem 8 Der Sinn: Gott retten .

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Biografie Etty Hillesum Das Lager Westerbork

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Vorwort

Bedrängt und unendlich geborgen – zwei Jahre lang schreibt Etty Hillesum ihr Tagebuch und legt kostbare Spuren ihres in­ neren Weges der Mensch­Werdung in äußerer Bedrängnis. Siebzig Jahre später, in eigener notvoll erlebter Krisenzeit, schreibe ich – ebenfalls über zwei Jahre hinweg – mein Tage­ buch, das eher ein Nachtbuch ist, um der Angst in den Nächten entgegenzutreten. So nenne ich es mein Tage­Nacht­Buch. Auf intensive, geheimnisvolle Weise sind Etty Hillesum und ich verbunden. Ich entdeckte mich in ihren Erfahrungen und fand ein Stückchen von mir wieder, gerade als ich mich sehr verloren glaubte. In Zeiten, in denen mir mein Lebens­ mut versickerte, da entdeckte ich in den Tagebucheinträgen von Etty eine unglaubliche innere Freiheit und Stärke.

Heute früh fuhr ich mit dem Fahrrad über die Stadionskade, genoss den weiten Himmel über dem Stadtrand und atmete die frische, nicht rationierte Luft tief ein. Überall in der Gegend standen Tafeln, die die Wege und die gesamte freie Natur für Juden für gesperrt erklärten. Und doch wölbt sich auch über dem einzigen Weg, der uns erlaubt ist, der weite, freie Himmel!

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Wie konnte Etty Hillesum die täglichen Grausamkeiten und Bedrohungen erfahren, ohne daran zu zerbrechen oder sich im Hass zu verlieren? Welche inneren Kraftquellen hatte sie schon mitbekommen? Oder geschah es ganz anders? Ent­ deckte Etty in der Verzweiflung neu, woraus sie lebte? Woraus schöpfte sie diese unglaubliche Widerstandskraft, die wir heute Resilienz nennen? Ettys sprühender Lebenswille, ihre ungebrochene Hoff­ nung, Mensch zu bleiben, das trägt ganz weit. Sie lässt sich nicht herausreißen, nicht erniedrigen, nicht entfremden – aus einer tiefer wachsenden Zugehörigkeit heraus zu Gott, der sich zu verbergen scheint und den sie entdeckt inmitten der grausamen Wirklichkeit. Ihr jüdischer Name Esther, als hol­ ländischer Rufname Etty, hat eine Bedeutung: Das hebräi­ sche Verb »esther« heißt »sich verbergen« und steht für eine der unfassbaren Wesensseiten Gottes, der sich offenbart und verhüllt: »Esther panim«, das abgewandte und somit verbor­ gene Antlitz Gottes, bleibt die unauflösbare Frage der Theodi­ zee: Wo war Gott in der Shoah, als Sein Volk vernichtet wurde? Von Ettys Heften wurde nur ein Teil gerettet und daraus wie­ derum nicht alles veröffentlicht. Der erste Titel, unter dem ihre Tagebuchnotizen im Jahr 1983 erschienen, trug den Titel: Het verstoorde Leven – Das zerstörte Leben. Die englisch­ sprachigen Ausgaben wurden überschrieben mit The inter­ rupted life, Das unterbrochene Leben. Welchen Klang auch immer die Überschriften vermitteln ob zerstört oder unter­ brochen, abgebrochen – in allem wohnt die Möglichkeit des Zusammenbringens. Einen Faden aufnehmen, einer Spur nachgehen, Gedanken zu Ende führen bis zur Gestalt des Ganzen. ·

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Das Leben bleibt Fragment. Jedes Leben. So will auch die äußere Gestalt dieses Buches, ausgewählte Notizen, heraus­ gelöste Zeilen, Tagebuchfragmente von Etty Hillesum und meine eigenen, davon sprechen, dass alles bruchstückhaft bleibt und erst auf einer ganz anderen Ebene von Sein und Zeit zusammengefügt wird. »Erinnern ist das Geheimnis der Erlösung.« Mögen Leserin­ nen und Leser sich im Erinnern und Lernen einander näher­ kommen und aus dem Geheimnis des Lebens lernen.

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Etty Hillesum: Kaddisch

Mich beschäftigen sehr die tiefen Zusammenhängen von Glauben wagen und Leben lernen. Immer wieder werde ich zurückgeworfen auf die Erfahrungen des jüdischen Volkes. Die Entstehung der Hebräischen Bibel wird mir zu einem gro­ ßen Erfahrungsfeld. Wie auf einer tiefen Folie im Hintergrund ahne ich ein Verständnis von einzelnen Geschehnissen in meiner Biografie und im Leben von Esther Hillesum. Als Jüdin folgt sie den Spuren ihrer Schicksalsgemeinschaft, wie sich das jüdische Volk selbst nennt. Auch die Entstehung der heb­ räischen Bibel, der heiligen Schrift des Judentums, bekommt im Exil, in der babylonischen Gefangenschaft eine faszinie­ rende Entwicklung: Der Tempel in Jerusalem ist niederge­ brannt, alle geltenden Rituale sind zerstört, die Menschen deportiert, das Glaubensleben erloschen: Da geschieht in­ mitten der Bedrängnis und Heimatlosigkeit etwas ganz An­ deres und Neues. Die Judäer beginnen im Exil, sich der die alten Verheißungen zu erinnern, und sie deuten sie neu. Die Verlorenen sammeln überlieferte Erzählungen und über­ arbeiten die religiösen Schriften. Die Thora bleibt die un­ erschöpfliche Quelle die Weisungen Gottes für gelingendes Leben. Aus diesem Schatz ihrer Heiligen Schrift empfangen glau­ bende Jüdinnen und Juden die Kraft, um dennoch, um trotz­ dem in Leid und Angst Ja zum Leben zu sagen. ·

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Darf ich Kaddisch sagen für Esther? Esther Hillesum wollte leben, schreiben, lieben und sich ver­ schenken. Sie wurde ermordet von deutschen SS­Männern und Lageraufseherinnen, die in ihrem menschenverachten­ den Wahn zu Tätern und Handlagern wurden. Die Genera­ tion meiner Großeltern steht wie eine dunkle Wand am Rand meiner Lebensgeschichte. Wie viel Dunkles gehört zu mir? Wie lange wird Schuld weitergegeben und wann endet sie? Ist Gottes Erbarmen größer als Hass? Darf ich beten für Esther Hillesum – heute, siebzig Jahre nach ihrem gewaltsamen Tod, der ihr Leben abgeschnitten hat? Darf ich das als Christin – oder ist Schweigen die einzige erlaubte Haltung? Wenn aber niemand in Auschwitz­Birke­ nau Kaddisch sprechen konnte, weil niemand aus ihrer Ver­ wandtschaft überlebte – darf ich, auch wenn aus Scham mir die Stimme versagt? Ich will leben wie Etty, ich gehe ihren Spuren nach und kann mich nicht entziehen. Mitfühlend will ich gedenken lernen von den jüdischen Frauen und Män­ nern, ich will horchen auf das tiefe Wissen, wie Leben weiter­ getragen wird in »Wortherbergen«. Das Kaddisch, das jüdi­ sche Gebet zu Ehren der Toten, birgt einen Raum für das vergangene und das zukünftige Leben. Jedes Wort des Ara­ mäischen ist durchgetragen, durchgebetet und durchgeweint seit Hunderten von Jahren. Ich habe keine anderen Worte und werde mich einfinden in den Raum einer Sprache, die nicht meine ist. Aramäisch klingt in meinen Ohren kehlig und sehr weich zugleich. Wenn ich im jüdischen Gottesdienst zu Gast bin, dann wird das Kaddisch viel zu schnell für meine Zunge gebetet, so kann ich nicht mitsprechen. Diese heilige alte Gebetssprache klingt und springt für meine Ohren wie ein wilder Bach über Stromschnellen. ·

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Ein syrischer Christ, mit dem ich im Krankenhaus als Kollegin zusammenarbeitete, sprach daheim mit Frau und Kindern diese Sprache. Er war stolz auf seine Sprache, die Mutterspra­ che Jesu, und lehrte sie seine Kinder. Ich versuche das Kaddisch zu sprechen, der rhythmische Wortklang ist mir fremd und nah zugleich. Behutsam höre ich tiefer und hindurch, ob der Klang der Sprache das Geheimnis enthüllt. Es begegnet mir manchmal, wenn ich zu Gast bin in einem Schabbatgottesdienst – und die wiederholte Aufforde­ rung im Gebet erreicht auch mich. Dreimal werden wir aufge­ rufen: »Darauf sprecht!« Und alle antworten: »Amen!« Amen ist gültig, macht mich fest in der Wahrheit, die auch in der hebräischen Wortwurzel wohnt: Amen ist verbunden mit emet und emuna. Emet ist die Wahrheit und Emuna die Treue, wir dürfen nicht auseinanderreißen, was zusammen­ gehört. Amen, das ist gewisslich wahr! Das Kaddisch ist kein trauriges Gebet, sondern ein großer, tie­ fer Lobgesang. Es entstammt der Tempelliturgie, so auch der Name: ein Lied der Heiligung, ein heiliger Gesang. Als Ab­ schlussgebet nach einem rabbinischen Vortrag galt es der Ehre Gottes, wenn es für den lehrenden Rabbiner gesprochen wurde. Seit dem Mittelalter wird es als Trauergebet rezitiert und verbunden mit einer wichtigen Weisung zu den Trauer­ ritualen im jüdischen Leben: Ein Jahr lang spricht es der nächste Angehörige für seinen Verstorbenen. In den Schab­ bat­Gottesdiensten und Gebetszeiten wird der Trauernde aufgerufen, laut Kaddisch zu sprechen – mit der und für die ganze Gemeinde. Er ist nicht allein. Es ist Pflicht und Schutz für den Sohn, den Ehemann, den Enkel. Liberale Gemeinden übergeben auch Frauen diesen Auf­ ·

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trag des Gedenkens. Für gläubige Juden, die im Sterben lie­ gen, wird diese religiöse Pflicht zum Trost und Hoffnung: Die Kinder werden Kaddisch sprechen, so werden sie weiterleben in ihrem Gedenken und Gebeten. In der Shoah war es den verfolgten und vom Tode bedrohten Jüdinnen und Juden ein entsetzlicher Gedanke, dass ihr Name nicht aufgeschrieben und genannt werden würde, dass niemand Kaddisch für sie sprechen könne, wenn ihr Leben sich auflösen würde in Asche und Rauch. Die unermüdliche Arbeit der Gedenkstätten, vor allem die Archive von YadvaShem, dienen dem Leben durch Erinne­ rung: Den Toten wird die Würde und Identität zurückge­ geben, ihre Namen werden genannt, gesprochen, geschrie­ ben und erinnert. Und Menschen, die sich verbunden und verpflichtet fühlen, auch wenn sie nicht unmittelbar ver­ wandt sind, sagen Kaddisch. So wird das alte Gebet zur Brü­ cke zu denen, die aufgehoben sind im Bündel des Lebens. Mir kommen Gespräche mit Rabinnerinnen und Rabbi­ nern in den Sinn, ich taste mich hinüber mit meinen Fragen. Kaddisch sagen ist heilige Pflicht, verstehe ich, und wenn es niemand tut, wird der Toten nicht gedacht. Kaddisch darf ich sagen im Rahmen einer Gedenkveranstaltung, in einem Gottesdienst. Kaddisch gehört niemandem als Gott allein, denn es ist ein großer Lobgesang auf den Ewigen, gepriesen ist Sein Name. Es gibt mehrere Bücher, deren Ende ich auswendig kenne und deren letzte Sätze mich jedes Mal zum Weinen bringen. Ju­ gendbücher, Romane mit traurigem Ende und solche, die er­ zählen: Alles ist gut. Dennoch weine ich und weiß nicht wirklich, warum. ·

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Eines dieser oft gelesenen Bücher ist der authentische Ro­ man von Lothar Schöne mit dem Titel: Das jüdische Begräb­ nis. Als die Mutter von Lothar Schöne stirbt, hinterlässt sie testamentarisch den Wunsch, neben ihrem christlichen Mann, also in christlicher Erde, begraben zu werden. Sie war Jüdin, Überlebende der Shoah, psychisch schwerstkrank und gezeichnet für ihr Leben. Der Sohn und sein Vetter Fred aus Israel ringen um ein würdiges Begräbnis und tauchen noch einmal ein in die schrecklichen Erfahrungen der Verfolgungszeit. Am Grab steht der Sohn Lothar, der sich deutlich von religiösen Tra­ ditionen distanziert hatte. Der evangelische Pfarrer wählt respektvoll Worte aus der Hebräischen Bibel. »Hörst du, Mama?«, fragt der Sohn leise. Und wieder muss ich weinen. Der Roman endet mit diesen Sätzen: »Fred tritt ans offene Grab und spricht das Kaddisch auf heb­ räisch. Als er fertig ist, mache ich plötzlich einen zaghaften Schritt nach vorn, und als ich mich sprechen höre, da ist es ein Flüstern: »Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die einst erneuert wird. Er belebt die Toten und führt sie zu ewigem Leben empor …« Wieder weint es in mir aus der Tiefe, und jetzt erkenne ich das verborgene, alte Gefühl: Ich bin nach Hause gekommen, end­ lich nach Hause!

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1 Schreiben, um zu verstehen


Samstag, 9. März 1941 An das Werk nun endlich! Dies ist für mich ein fast unüberwindlicher Augenblick, mein befangenes Innenleben auf unschuldigem Linienpapier preiszugeben. Meine Gedanken sind oft ganz hell und die Gefühle sehr tief, das Aufschreiben jedoch will noch nicht gelingen. Vielleicht ist mir da etwas peinlich?

Samstag, abends 8 Uhr Ich muss unbedingt mit dem Schreiben in Kontakt bleiben, genauer gesagt: mit mir selbst, denn sonst läuft etwas schief. Jeden Augenblick kann ich mich verirren, verlieren. So jedenfalls fühlt es sich gerade an. Oder ist das die Übermüdung?

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Montag, morgen, 20. Oktober Manchmal habe ich Lust, mit allem, was in mir steckt, in Worte zu fliehen. Einen Unterstand bauen aus wenigen Worten für mein Inneres. Jedoch gibt es die Worte noch nicht, die mich aufnehmen wollen. Genau das ist es: Ich bin auf der Suche nach einer Unterkunft für mich selbst. Das Haus aber, in das ich einziehen möchte, werde ich selbst erst bauen müssen, mit Herzblut errichten, Stein auf Stein. So suchen alle nach einem Haus, einer Zuflucht für sich selbst. Und ich suche immer nur nach ein paar Worten.

September 1942 Das eine ist mir jetzt ganz klar: Nie werde ich etwas so aufschreiben können, wie es das Leben selbst in lebenden Buchstaben vorschrieb. Ich habe alles mit eigenen Augen gesehen, mit vielen Sinnesorganen aufgenommen, doch werde ich es nie so treffend wiedergeben können.

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August Mir geht es in dieser ersten Augustwoche nicht gut, es ist et­ was in mir passiert, wie zerbrochen, das fühlt sich an wie ein Leck im Gefäß für meine Lebenskraft. Ich bin vom Urlaub wieder zu Hause und nicht wirklich erholt. Ich hatte mir um drei meiner jungen Schwestern so sehr Sorgen gemacht: ein bedrohlicher Unfall, eine schwere Lungenentzündung und ein Rezidiv einer chronischen Erkrankung. Da hat mich selbst etwas erschreckt, so unerwartet getroffen – wie Schicksals­ schläge brechen tiefe Ängste über mich herein, das Leben ist so zerbrechlich! Manchmal ist mein medizinisches Fachwis­ sen belastend, ich weiß zu viel, ich sehe nur noch Komplika­ tionen. Das bekomme ich nicht getrennt. Ich bin so verletz­ lich und habe Angst: Die alte Angst vor der Depression ist da, plötzlich, heftig, absolut bedrohlich. Ist die Angst vor der Angst schon ein erstes Symptom? Ich verkrampfe mich und atme ganz flach. »Sprich, hol dir Hilfe!«, sagt mein eintrainiertes Über­ lebensprogramm. Ich rufe meinen Lehrtherapeuten an. Ich stehe am Anfang einer Weiterbildung in systemischer Aufstel­ lungsarbeit, die mich fasziniert und bisher beflügelt hat. Tröstende warme Stimme am Telefon: »Das ist etwas sehr Großes«, sagt er und ich spüre, es ist wahr. »Es geschieht, da­ mit du lernst, dein Leben zu leben. Das Leben selbst, nicht deine Bilder davon. Bleib da und schaue: Sieh deine Hilflosig­ keit und erkenne die Wirklichkeit. Ohnmacht erfahren ist Leben, und Aufstehen gegen die Ohnmacht ist Leben. Sprich davon, predige oder schreibe!« Da trifft es mich plötzlich wie ein längst versunkenes altes Wissen. Schreibe! Da war etwas Wichtiges: Schreiben, um zu ·

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überleben. Um zu verstehen, was geschieht. Schon als Novi­ zin hatte mich das Tagebuch von Etty Hillesum berührt und tief getroffen. Es gehört zu meinem Noviziat, und inzwischen habe ich so oft darin gelesen, dass es schon ganz abgegriffen ist. Mir ist der innere Weg von Etty sehr nah und das Wesen von ihr wie das einer »Seelenschwester«. Mir ist es wie eine Art Auftrag, ich traue mich kaum, das Wort niederzuschrei­ ben, doch: ein innerer Auftrag, weiterzuschreiben daran, dass das Leben von Etty Hillesum nicht verloren, abgeschnitten ist! Ihre Erfahrungen und Worte werden weiterleben, mich im­ mer wieder berühren, andere Menschen erreichen: Nichts geht verloren! Ich nenne es »Tage­Nacht­Buch«. Ich werde schreiben von mir und von Etty. Es wird sich verweben und fortschreiben.

27. Februar Pierre Stutz hält demnächst in unserer Nähe einen Kurs. Ich schätze ihn sehr als Autor und Kursleiter und vor allem als Mensch. Seit Jahren begegnen wir einander immer wieder und freuen uns daran. Er gestaltet seine Kurse mit Texten von geistlichen Menschen, ich erinnere mich an Kurse mit ihm zu Thomas Merton oder Teresa von Ávila. Einführende Sätze in die Biografie und dann viel Stille mit wenigen Worten – da sin­ ken die Worte ein wie Samenkörner in offenes Land. Sein Meditationskurs im März wird zu Worten aus dem Tagebuch von Etty Hillesum gestaltet werden! Auf einer Autorenlesung in der Abtei Münsterschwarzach haben wir beide ein wenig Zeit miteinander: Ja, Etty ist seine und meine »Seelenschwes­ ·

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ter« – auch wenn wir beide nicht dieses Wort benutzen. Doch die besondere Verbindung ist zu spüren. Pierre zitiert in seiner Lesung einen Wüstenvater: »Nur ein zerbrochener Leib ist ein ganzer Leib!« Der holländische Titel von Ettys Tagebuchheften hat diesen Klang: Das zerstörte Leben. Ich will eine ehemalige Schwester der Communität fragen, die jetzt in den Niederlanden lebt und die Sprache spricht. Ich habe ihr erzählt vom meiner Geschichte mit Etty und ihr das Tagebuch empfohlen: Nun ist sie mit mir »darin«. Auf diese zarte, nicht von mir gemachte Weise finde ich See­ lenschwestern, von denen ich nicht wusste, wie nahe sie mir sind. Bärbel hat mich eingeladen, zu ihr nach Holland zu kommen, wir können das Etty­Hillesum­Center in Deventer besuchen und sie will mit mir auch nach Westerbork fahren, das heute eine Gedenkstätte ist. Eine Reise zu den Orten, wo Etty gelebt hat? Ins Lager? Es macht mir Angst !

Samstagabend, 15. Dezember Es ist spät, aber ich muss noch schreiben, sonst quillt meine Seele über. Ich werde nicht einschlafen können, weil mein Herz so voll ist – voller Dankbarkeit. Ich halte übers Wochen­ ende einen Meditationskurs im Advent. Wir schweigen und lernen, mit unseren Sinnen das Unfassbare zu berühren. Wir tanzen. Dichte Erwartungszeit und Gestaltung in Texten und Musik, die ich liebe. Eine Gebärde hat es mir besonders an­ getan, und sie rührt mich selbst sehr an.

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