Petra urban sprudelndes leben strömende zeit frauengeschichten vom älterwerden

Page 1


INHALT

Vorwort

7

Flussgeschichten Zahlen

9

19

Wasserwunder

25

Liebe im Blick

33

Zeit Los – Ein Märchen Gezeiten

43

45

Begegnung am Wasser, oder: Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft Wasser des Lebens Der Schwebende Freudenströme Reiselust

69 77

81

91

Das Leben – ein Bauernhof Das Leben in Fülle

103

115

Ich vertraue mich dem Fluss des Lebens an Sag Ja, sag Nein, getanzt muss sein Meeresrauschen Fließende Zeit

Sprudelndes Leben 006.indd 5

65

129

139

145 153

27.11.2013 16:32:30


Ich vertraue mich dem

Fluss des Lebens an Des Menschen Engel ist die Zeit. FRIEDRICH VON SCHILLER

Älterwerden heißt nicht, vom Leben in die Verbannung oder auf eine einsame Insel geschickt zu werden. Älterwerden heißt einzig und allein, im lebendigen Fluss der Zeit zu schwimmen, sich zu wandeln, zu verändern. Als mein Großvater pensioniert war, brach für ihn eine Welt zusammen. Noch heute sehe ich ihn in der Küche am Fenster sitzen, völlig ratlos und tatenlos. Und während er mit versteinertem Gesicht vor sich hin starrte, kroch das Untier Langeweile in sein Leben. Unter seiner Fuchtel begann er, an irgendeinem seiner endlos langen Tage meine Großmutter zu beobachten. Auf Schritt und Tritt verfolgte er sie plötzlich mit seinen Blicken, ließ nichts außer Acht, kommentierte jeden ihrer Handgriffe, stellte Fragen über Fragen, wollte unbedingt wissen, warum sie die Kartoffeln links und nicht rechts herum schälen würde. Was meinen Bruder und mich, die Jugend — 129

Sprudelndes Leben 006.indd 129

27.11.2013 16:32:32


im Haus, amüsierte, brachte meine Großmutter verständlicherweise auf die Palme. Sie, die sich unentwegt von ihm kontrolliert fühlte, forderte ihn auf, sich gefälligst zu beschäftigen, irgendetwas Sinnvolles mit seiner Zeit anzufangen. Dabei betonte sie vor allem das Wort »anfangen«. Älterwerden heißt, sich immer wieder neu auf das Leben einzulassen. Mitunter auf ein ganz neues Leben. Älterwerden heißt, mit der Zeit zu gehen, mit ihr mit zu gehen. Neues auszuprobieren, wo Altes aufhört. Nicht in Apathie zu versinken, wenn ein Lebensabschnitt zu Ende ist, nicht wie festgeklebt am Küchentisch zu sitzen und darauf zu warten, dass ein Wunder zur Tür hereinspaziert, uns an die Hand nimmt und an den Strand der Glückseligkeit führt. Leben bedeutet, »in die Puschen zu kommen«. Sich aufzumachen. Begegnungen zu haben und Berührungen zu spüren. Und nicht bei jeder Gelegenheit, die uns geschenkt wird, aus Mangel an Courage einen Rückzieher zu machen. Nicht ständig nach Gründen zu suchen, warum wir genau das nicht wollen, genau das nicht können. Mutig zu sein. Ins kalte Wasser zu springen. Festzustellen, dass das Wasser trägt. Und nicht ewig dieselbe Leier zu leiern, diese »Wenn, ja wenn«-Sätze: Wenn wir fitter wären, sportlicher, geschickter, klüger, ausdauernder, flexibler und nicht immer so müde ..., kurz gesagt: wenn wir jünger wären, ja, dann würden — 130

Sprudelndes Leben 006.indd 130

27.11.2013 16:32:32


wir ganz gewiss ...! Das alles sind Ausflüchte, die uns nirgendwo anders hinführen, als ins Land der Tatenlosigkeit. Wenn die Katze ein Pferd wäre, verrät uns eine Zen-Weisheit, könnten wir mit ihr auf Bäume reiten. Stimmt genau. Aber genauso wenig wie die Katze ein Pferd ist, werden wir irgendwann wieder jung sein. Aber, und das ist das Schöne und Spannende am Älterwerden, das Leben – vorausgesetzt, wir gehen ihm mit weit geöffneten Armen entgegen und tragen keine fest zementierten Bilder von uns im Kopf herum – das wunderbare Leben hält immer Überraschungen für uns bereit. Bis zum Schluss dürfen wir zu unbekannten Ufern aufbrechen. Vielleicht fehlt uns für manche Aktivitäten tatsächlich die Kraft, die Ausdauer, das Seh- oder Stehvermögen. Aber die Welt ist groß und bunt, der Kosmos der Möglichkeiten schier unerschöpflich. Und so wie das Leben stecken auch wir voller Möglichkeiten. Wir müssen sie nur entdecken, ausprobieren. Vor einiger Zeit sah ich im Vorbeigehen auf einem Haufen Sperrmüll ein Plüschtier, einen grauen Elefanten, der, auf dem Rücken liegend, unermüdlich in den blauen Himmel grinste. Und zwar so ansteckend und fröhlich, dass ich gar nicht anders konnte, als ihn mitzunehmen und in mein Auto zu setzen. Wenn es mir nicht gut geht, weil ich mich plötzlich, ohne dass es einen Grund dafür gäbe, so erschreckend alt fühle, nehme ich ihn manchmal in — 131

Sprudelndes Leben 006.indd 131

27.11.2013 16:32:32


die Hand, diesen kauzigen kleinen Kerl, der auch nicht mehr taufrisch ist, den das aber im Gegensatz zu mir in keinster Weise zu stören scheint. Und wenn ich ihn dann betrachte und er partout nicht die Lust verliert, mich so fröhlich anzugrinsen, höre ich ihn fragen: Heute schon gelacht? Heute schon neugierig gewesen? Heute schon gestaunt? Heute schon geträumt? Je älter wir werden, umso intensiver sollten wir uns fragen, ob es Sehnsüchte gibt, unerfüllte Herzensdinge, die wir bisher noch nicht gelebt haben, deren Zeit uns aber gekommen zu sein scheint. Und wenn es etwas gibt, das irgendwo im nirgendwo auf uns wartet: sofort nachhaken, dranbleiben, nicht gleich wieder wegschieben. Lieber fragen: Wie kann ich es anfangen, dass dieser Traum Wirklichkeit wird? Welchen ersten Schritt sollte ich tun? Ich kenne eine Frau im Rollstuhl, die seit einiger Zeit mit Begeisterung Boule spielt, weil es ein geselliges Miteinander ist, keinen Anspruch auf Höchstleistungen stellt, sie sich so herrlich ärgern und so wunderbar freuen kann. Es vermittelt ihr beim »Rumkugeln« ein gelassen-heiteres Lebensgefühl. »Savoir-vivre« eben. Sie spielt es im Kreis einiger Zufälliger, die sie bei ihren regelmäßigen Spazierfahrten durch den Park kennengelernt hat: — 132

Sprudelndes Leben 006.indd 132

27.11.2013 16:32:32


Ruheständler, die die Ruhe weghaben. Es gibt keinen Antreiber unter ihnen, keinen Nörgler. Gemeinsam sorgen sie für heitere, gelöste Stimmung. Wenn ich die Gruppe spielen sehe, bleibe ich gern stehen und schaue ihnen eine Weile zu. Die Freude, die sie miteinander teilen, springt wie ein Funke über. Es wird gelacht, gewitzelt, geworfen, geschaut und geschwiegen, vielleicht auch gemessen, diskutiert und debattiert. Kurz gesagt: Alle sind bei der Sache. Der Kampfgeist ist geweckt. Es gilt, den Gegner aus dem Spiel zu werfen. Geschicklichkeit ist gefragt. Wenn die Schatten des Nachmittages länger werden, packt die kleine Gruppe die Picknickkörbe aus. Gläser und Teller kommen ins Spiel, kleine Leckereien und immer eine Flasche Wein. Und dann wird angestoßen. Auf das Leben! Auf die Freude! Auf das Beisammensein! Es gibt ein Gedicht von Günther Kunert, in dem ein Ehrgeiziger es schafft, den Fischen das Fliegen beizubringen, anschließend aber mit seiner Leistung mehr als unzufrieden ist. Da heißt es sehr eindringlich in diesem Gedicht: »Sie getreten wegen des fehlenden Gesangs.« Bevor wir uns selbst treten, weil wir nicht so sind, wie wir uns das vorgestellt haben, sollten wir Geduld haben und ein Gefühl dafür entwickeln, welche Beschäftigung, welches Hobby, welches Wirkungsfeld für uns das Richtige ist. Es gibt Dinge, die passen zu uns, die sitzen auf Anhieb wie im Märchen der Schuh am Fuß der — 133

Sprudelndes Leben 006.indd 133

27.11.2013 16:32:32


Richtigen. Andere sind vielleicht weniger geeignet. Und wenn wir, möglicherweise nach einigem kreativen Herumexperimentieren, den richtigen Platz für uns gefunden haben, sollten wir nicht gleich wieder Leistung erwarten. Keinen übertriebenen Eifer an den Tag legen. Keine Meisterwerke zustande bringen müssen, sondern eher den Spaßfaktor beachten. Leben darf Freude machen. Eine Bekannte von mir, die zeit ihres Lebens Handarbeiten verabscheut hatte, begann irgendwann zum Erstaunen des gesamten Freundeskreises zu quilten. Eine alte Tradition, bei der – grob gesprochen – Stoffstücke zu kunstvollen Decken und Wandbehängen verarbeitet werden. Das Wort »Quilt«, so habe ich es von ihr gelernt, kommt vom lateinischen »culcita« und bedeutet wörtlich übersetzt »Steppdecke«. Obwohl ihre Decken alles andere als Kunstwerke waren, hatte sie doch einen unglaublichen Spaß an der Sache. Und bereits nach kürzester Zeit – und das ist das eigentlich Faszinierende daran – begann dieses Hobby sie zu verändern. Auf einmal interessierte sie sich auch für Malerei, besonders für moderne Malerei. Sie abonnierte eine Kunstzeitschrift, besuchte Ausstellungen, sammelte Kataloge. Und bei all diesem Tun veränderte sie sich auch äußerlich. Sie kleidete sich plötzlich viel farbenfroher und trug auffälligen, ungewöhnlichen Schmuck. Sie war eine reizvolle Erscheinung, eine schillernde Bohemienne. — 134

Sprudelndes Leben 006.indd 134

27.11.2013 16:32:32


Wenn wir beginnen, uns für Neues zu interessieren, dann ist es, als würden wir einen Stein ins Wasser werfen. So, wie der Stein konzentrische Kreise zieht, weitet sich unsere Neugier, unser Wissen, unsere Inspiration. Mit Freude älter werden, das heißt auch, zu ertragen, dass die jungen Leute uns ins vielen Situationen nicht unbedingt bei ihren Gesprächen und Aktivitäten dabei haben wollen. Und über solche Ausgrenzungen nicht zu verbittern, die Lippen nicht verbissen aufeinanderzupressen, dass sie schmale Striche werden, sondern sie vielmehr weit aufreißen, um verständnisvoll zu lachen. Denn in wichtigen Situationen sind wir für die Jugendlichen garantiert gefragte, heiß begehrte Gesprächspartner. Älter werden heißt auch, nicht dem Lockruf der Vergangenheit zu erliegen. Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes. LUKAS 9,62

Im Hier und Jetzt spielt die Musik! Leben ist immer neue, einmalige Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die es wert ist, mit allen Sinnen wahrgenommen zu werden. Und deshalb heißt es: achtsam sein! Nicht dem Ehrgeiz nachgeben, mehrere Dinge gleichzeitig zu schaffen, vielmehr Wert darauf zu legen, all — 135

Sprudelndes Leben 006.indd 135

27.11.2013 16:32:32


unsere Aufmerksamkeit auf nur eine einzige Sache zu richten. Mich selbst und meine Energien zu fokussieren und damit achtsamer dem Leben gegenüber zu sein. Ganz bei der Sache zu sein, wie es so schön heißt. Mit ungeteiltem Herzen. Eine Seminarteilnehmerin erzählte mir vor einiger Zeit, dass sie diese modernen schnurlosen Telefone nicht für einen Segen halte. Sie brauche so etwas nicht, sagte sie. Ihr Apparat sei uralt und stehe nach wie vor in der Diele, auf einer Konsole. Wichtig allein sei ihr der Stuhl daneben. »Denn wenn ich telefoniere«, sagte sie, »dann telefoniere ich. Dann will ich in Ruhe reden und zuhören und nicht gleichzeitig Fenster putzen oder die Wäsche bügeln.« Älter werden, mich selbst und mein Leben mit neuer Achtsamkeit und immer neuen Überraschungen belohnen. Nicht plötzlich nur noch als Statistin, als Zuschauerin am Leben beteiligt sein. Vielmehr aktiv bleiben. Aufgehen im Leben. Die Fülle der Möglichkeiten ausschöpfen. Sich jeden Wunsch, jeden Traum, jede Extravaganz erlauben. Wir alle sind ein »Ackerfeld Gottes«. Und ein bestelltes Feld bringt Früchte der unterschiedlichsten Art. Früchte, die unseren Kräften und Fähigkeiten entsprechen, die aber allesamt »voll Saft und Frische« (Psalm 92,15) sind. Nicht jede von uns mag Boule spielen, nicht jede mag handarbeiten oder eine Leidenschaft für moderne Kunst entwickeln. — 136

Sprudelndes Leben 006.indd 136

27.11.2013 16:32:32


Mein Bruder hat einmal im Spaß festgestellt, dass alle Frauen über fünfzig, die er kennt, malen, und die Yoga-Dichte in dieser Altersgruppe sei auch enorm. Na und? Wenn es uns guttut! Ran an die Farbtöpfe! Rauf auf die Matten! Dankbar sein für alle die wunderbaren Möglichkeiten, die das Leben uns schenkt. Dankbarkeit ist gelebte Liebe zum Leben. Ich habe einmal in einer Straßenbahn ein Gespräch zwischen zwei alten Damen mit angehört, die über die Mühen des Alters sprachen. »Ich muss jede Nacht mehrmals raus auf die Toilette«, sagte die eine. »Ich auch«, sagte die andere, »aber ich habe einen Trick, der mir das Aufstehen leicht macht.« »Und der wäre?« »Ich danke Gott dafür, dass ich aufstehen kann.«

— 137

Sprudelndes Leben 006.indd 137

27.11.2013 16:32:32


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.