Sabine demel spiritualität des kirchenrechts

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Sabine Demel

Spiritualit채t des Kirchenrechts

Vier-T체rme-Verlag


1. Auflage 2009 © Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2009 Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Dr. Richard Reschika Umschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld Umschlagmotiv: Hildegard Morian, Coesfeld Gesamtherstellung: Vier-Türme GmbH, Benedict Press, Münsterschwarzach ISBN 978-3-89680-573-7 ISSN 0171-6360 www.vier-tuerme-verlag.de


Inhalt

Spiritualität und Kirchenrecht – ein Blitzlicht vorweg .................................. 9

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Schutzmantel der Freiheit und Zwangsjacke der Mächtigen – Chancen und Gefahren von Recht (in der Kirche) ........... 12

1.1 Frieden und Freiheit als Aufgabe und Funktion von Recht ................................. 13 1.2 Die Ausrichtung an der Offenbarung als Eigenart des kirchlichen Rechts .............. 15 1.3 Moral und Zwang als notwendige Begleiter des (kirchlichen) Rechts .......................... 20 1.4 Verantworteter Ungehorsam im Dienst einer gerechten Rechtsordnung (der Kirche) .............................................. 25

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Zwischen Rechtspositivismus und Kirchenspiritismus – eine theologische Grundlegung des Kirchenrechts ........... 30


2.1 Positivismus und Kasuistik – die Merkmale des Kirchenrechts zu Beginn des 20. Jahrhunderts ..................................... 32 2.2 Das Wesen der Kirche ist geistlich, das Wesen des Rechts ist weltlich – die evangelische Schlussfolgerung ....................... 34 2.3 Die Kirche fordert kraft ihres Wesens das Kirchenrecht – die katholische Gegenthese ........................................................ 36 2.4 Kirchenrecht ist eine ekklesiale Wirklichkeit und aus dem Glauben heraus zu erfassen – die Vertiefung durch das II. Vatikanische Konzil .......................................... 43 2.5 Theologische Grundlagen des Rechts und rechtliche Dimensionen der Offenbarung – der kirchenrechtliche Blick von heute ..... 47 2.6 Theologisches Recht und rechtliche Theologie – ein Blick in die Werkstatt kirchenrechtlicher Fragestellungen ..................... 53

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Der Zusammenhang von Recht und Glauben, persönlichem Heil und Gesetzen der Kirche ...................................... 60

3.1 Religiöse Freiheit, personale Gottesbeziehung und Rechtsnormen ......................... 61


3.2 Rechtliche Normen über die personale Gottesbeziehung ..................................... 66 3.3 Rechtliche Aspekte im personalen Glaubensvollzug ..................................... 68 3.4 Sinn und Ziel der Normierung im Bereich der personalen Gottesbeziehung ............. 71

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Vom Hindernis zur Hilfe für den Glauben – Plädoyer für ein funktionierendes Recht in der Kirche ............................... 73

4.1 Kirchenrecht in der Dauerkrise ................ 74 4.2 Rahmenbedingungen für ein Kirchenrecht als Hilfe für den Glauben ................ 78 a) b) c)

Die Dispens (cc.85–93) ................................ 82 Die kanonische Billigkeit ............................... 83 Die Epikie ..................................................... 83

4.3 Auswirkungen der theologisch rückgebundenen Rechtsauslegung – eine Probe mit der Lehre vom Glaubenssinn des ganzen Gottesvolkes ............................... 88 a) b) c)

Die Lehre des II. Vatikanischen Konzils ........ 89 Die Aufnahme im kirchlichen Gesetzbuch von 1983 ....................................................... 93 Notwendige rechtliche Reformen ................... 96


4.4 Die Anwendung von Recht zur Hilfe und zum Hindernis für den Glauben – zwei konkrete Beispiele ................................. 103 a) b)

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Kommunionempfang von wiederverheirateten Geschiedenen ........................................ 103 Kirchliche Schwangerschaftskonfliktberatung ..................................................... 109

Freiheits(t)räume in der Kirche, oder: Von der Verantwortung aller für eine Rechtsordnung der christlichen Spiritualität – ein Schlussgedanke ............. 115

Anmerkungen .............................................. 120


Spiritualität und Kirchenrecht – ein Blitzlicht vorweg Hilfe! Kirchenrecht! – ein Hilferuf nach dem Kirchenrecht oder ein Hilferuf vor dem Kirchenrecht? Die Antwort auf diese Frage soll an dieser Stelle lieber offen bleiben. Denn an negativen Assoziationen gegenüber dem Phänomen des Rechts in der Kirche mangelt es nicht: lebensfern, skurril, lästiger Fremdkörper, das Gegenteil von Liebe und Barmherzigkeit, Herrschaftsinstrument der Mächtigen, ... – das sind die gängigen Vorwürfe. Angesichts dieser Tatsache wird der Gedanke für viele ungewohnt, wenn nicht sogar befremdlich sein, das positiv besetzte Phänomen der Spiritualität mit Kirchenrecht in Verbindung bringen zu wollen. Wie soll das gehen? Wie soll das starre Korsett der Rechtsordnung das »ImGeiste-Sein«, was Spiritualität schließlich wörtlich bedeutet, aufnehmen können? Kann es 9


überhaupt gehen? Was soll der tote und damit geistlose Buchstabe des Gesetzes mit dem lebendigen und damit unberechenbaren Geist Gottes zu tun haben? Sehr viel! Denn wer spirituell sein will, muss auch kirchenrechtlich sein! Ebenso wie umgekehrt spirituell sein muss, wer kirchenrechtlich ist! Einzige Voraussetzung dafür: Spiritualität wird nicht als ein ausgesparter Sonderbereich der Innerlichkeit oder als ein paar Stunden der Muße fernab des Alltagsgeschehens verstanden, sondern als gläubiger Umgang mit der Realität1 bzw. als Verwirklichung des (christlichen) Glaubens unter den konkreten Lebensbedingungen. Spiritualität im christlichen Sinn ist somit die Gestaltung des konkreten Lebens und seiner Herausforderungen aus der gelebten Beziehung mit Gott. Dass christliche Spiritualität so verstanden werden kann, vielleicht sogar muss, hat Gott in der Menschwerdung Jesu Christi offenbart. »Seit der Inkarnation Gottes in Jesus Christus ist der menschliche Alltag zum Ort der gnadenhaften Begegnung geworden. Mitten im Alltagsgeschehen erfahren wir Gottes Gegenwart und seine ruach. Diese Mystik des Alltags als Chance, Gott in allen Dingen zu finden, ist eine sehr stille und nüchterne Mystik. Sie braucht und kann meist auch keine besonderen emotionalen Erlebnisse vorweisen. Ihre eigentliche Erfahrung ist die des Angenommenseins von Gott, des Vertrauens, des Freiseins, der Hoffnung.«2 Es ist eine Spiritualität, die sich auf das Leben und die realen Gegeben10


heiten einlässt und sie gestaltet. Oder wie es der frühere Bischof von Aachen Klaus Hemmerle einmal auf den Punkt gebracht hat: »Spiritualität ist, wie Glauben im Leben geht.«3 Und zum Leben – auch zum Leben in der Kirche – gehört nun einmal das Recht als der ständige (über)lebensnotwendige Versuch der Gemeinschaft, die Beziehungen ihrer Glieder zueinander so weit wie möglich von Willkür und der Macht des Stärkeren freizuhalten, also gerecht zu gestalten. Weil zwar jede(r) über Gerechtigkeit im Leben spricht und für Gerechtigkeit eintritt, es aber fast so viele Gerechtigkeitsvorstellungen wie Menschen gibt, ist es für Christen und Christinnen unerlässlich, sich hier ganz besonders vom Geist Christi auf den rechten Weg der Gerechtigkeit Gottes führen zu lassen. So kann auch von dieser Seite her noch einmal zugespitzt formuliert werden: »Der Einsatz für Gerechtigkeit ohne Spiritualität ist blind, Spiritualität aber, welche betend und handelnd nicht für die Gerechtigkeit eintritt, ist leer.«4

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Schutzmantel der Freiheit und Zwangsjacke der Mächtigen – Chancen und Gefahren von Recht (in der Kirche)

Schafft Recht Frieden? Was für eine Frage! Was denn sonst! Denken Sie nur daran, was wäre, wenn es nicht das Recht auf Leben, das Recht auf Eigentum, das Recht auf religiöse Freiheit gäbe und deshalb jeder Mörder, jede Diebin und jede religiöse Zwangsausübung unbestraft bliebe? Was für ein Unfriede würde herrschen! So dachte offensichtlich schon der alte Grieche Sophokles und verkündete daher voller Überzeugung: »Hab ich das Recht zur Seite, schreckt dein Droh’n mich nicht!«5 Das klingt gut, aber stimmt das wirklich? Zumindest in unserer Zeit habe ich da meine Zweifel. Denn mir fällt ein, dass seit einigen Jahren höchstrichterlich ein Kind zu einem Schadensfall erklärt wurde mit dem Anspruch, für seine Geburt Schadensersatz zu verlangen, dann nämlich, wenn seine geplante Abtreibung missglückt ist – ein Kind per Gerichtsurteil zu einem Schadensfall erklärt! Deshalb kommt mir 12


hier eher der Ausruf Ciceros in den Sinn: »Höchstes Recht ist höchstes Unrecht!«6 Das ist nur die Ausnahme – mögen einige einwenden! Richten wir den Blick weg von dieser Ausnahme hin auf das, was unser tägliches Leben prägt: die Straßenverkehrsordnung, unsere Steuergesetze, das Arbeitslosenrecht und überhaupt die Sozialgesetzgebung, dann stimmt doch, was der Staatsmann Otto von Bismarck vertritt: »Das Recht ist ein solidarisches Ganzes für alle im Lande, sowohl für die Höchsten wie für die Niedrigsten!«7 Und was ist mit den vielen Verbrechen, die in Vergangenheit und Gegenwart weltweit begangen werden und aus den verschiedensten Gründen unbestraft bleiben: Kindesmissbrauch, Folter, Terror? Diesen Anfragen kann die Auffassung des Philosophen Baruch de Spinoza entgegen gehalten werden: »Jeder hat so viel Recht wie er Macht hat!«8 Wer von den zitierten Herren hat nun recht? Und was davon gilt auch für das Recht in der Kirche? Meines Erachtens haben alle ein bisschen recht, aber auch ein bisschen unrecht. Und von all dem über das Recht Gesagte gilt auch etwas für das Recht in der Kirche. Was das genau heißt, das soll nun Schritt für Schritt aufgezeigt werden:

1.1 Frieden und Freiheit als Aufgabe und Funktion von Recht Gäbe es den Menschen nicht, gäbe es weder Recht noch Moral; denn Recht und Moral gibt es nur, 13


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