Thomas keating das kontemplative gebet

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Inhalt Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 ͷ

Programmierung des Glücks . . . . . . . . . . . . 17

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Das falsche Selbst in Aktion. . . . . . . . . . . . . 31

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Anfechtungen der Gefühle . . . . . . . . . . . . . 39

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Die Natur des Menschen . . . . . . . . . . . . . . 49

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Das mythische Bewusstsein

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Das rationale Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . 69

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Die vier Einwilligungen . . . . . . . . . . . . . . 75

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Bernie

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Der heilige Antonius als Beispiel für die spirituelle Reise . . 93

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Die Nacht der Sinne – Freiheit vom falschen Selbst . . . . 105

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Besondere Prüfungen in der Nacht der Sinne . . . . . . 111

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Antonius in den Gräbern – Freiheit von der kulturellen Konditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

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Die Früchte der Nacht der Sinne

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Stufen des kontemplativen Gebets . . . . . . . . . . 139

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Die Nacht des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . 145

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Vereinigung und Verwandlung

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Die ersten vier Seligpreisungen . . . . . . . . . . . 159

. . . . . . . . . . . . 59

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

. . . . . . . . . . 131

. . . . . . . . . . . 153


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Die letzten vier Seligpreisungen . . . . . . . . . . . 165

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Die Essenz des kontemplativen Gebets. . . . . . . . . 171

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Von der Kontemplation zur Aktion . . . . . . . . . . 181

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Kontemplation in Aktion . . . . . . . . . . . . . . 191

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Spiritualität im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . 195

Anhang I: Das falsche Selbst in Aktion . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Anhang II: Die menschliche Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Anhang III: Vergleich zwischen christlich-spiritueller Reise und evolutionärem Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Glossar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Ausgewählte klassische Quellen der christlich-kontemplativen Tradition . 220 Zentren der Kontemplation im deutschsprachigen Raum . . . . . . . . 221

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Einleitung

Dieses Buch ist das Ergebnis unserer fortdauernden Bemühung, den christlichen spirituellen Weg in einer Weise neu zu gestalten, die ihn für heutige Nachfolger Christi gut begehbar macht. Während der ersten sechzehn Jahrhunderte der Kirchengeschichte war das kontemplative Gebet ein anerkanntes Ziel christlicher Spiritualität, sowohl für Geistliche als auch für Laien. Nach der Reformation ging dieses Erbe, jedenfalls als lebendige Tradition, praktisch verloren. Heute jedoch, im 21. Jahrhundert, im Kontext des interkulturellen Dialogs und der historischen Forschung, erlebt die kontemplative Tradition des Christentums eine Erneuerung. Während der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts ergab es sich, dass einige Trappistenmönche im Kloster St. Joseph’s Abbey in Spencer, Massachusetts, gemeinsam darüber nachdachten, wie sie zu dieser Erneuerung beitragen könnten. 1975 entwickelte Pater William Meninger die kontemplative Übung des Centering Prayer, zu Deutsch Gebet der Sammlung, die sich auf einen Klassiker aus dem 14. Jahrhundert gründete, die anonyme Schrift Die Wolke des Nichtwissens. Pater William Meninger bot diese Übung zuerst den Priestern an, die in Spencer an Exerzitien teilnahmen. Im folgenden Jahr nahm er eine Reihe von Audiokassetten auf, die sich bis heute großer Beliebtheit erfreuen. Die Resonanz auf diese Form des kontemplativen Gebets war so positiv, dass von da an regelmäßig Einführungsseminare angeboten wurden, die für jedermann offen waren. Pater Basil Pennington übernahm einen Teil dieser Arbeit und weitete die 11


Einführungsseminare auf einen stetig wachsenden Kreis von Orten und Teilnehmern aus. 1981 trat ich von meinem Amt als Abt von St. Joseph’s zurück und zog in die Abtei St. Benedict’s in Snowmass, Colorado. Schon bald kam der Gedanke auf, intensivere Erfahrungen mit dem Gebet der Sammlung zu ermöglichen. 1983 wurden die ersten längeren Exerzitien mit dem Gebet der Sammlung durchgeführt, und zwar bei der Lama Foundation in San Cristobal, New Mexico. Seitdem werden solche Exerzitien in St. Benedict’s und auch an anderen Orten angeboten. In verschiedenen Teilen des Landes entstanden Unterstützergruppen, die sich wöchentlich trafen, und es wurde bald deutlich, dass mehr Organisation nötig sein würde. 1984 wurde die Firma Contemplative Outreach gegründet; sie koordiniert seither die Bemühungen, das Gebet der Sammlung Menschen anzubieten, die auf der Suche nach einer Vertiefung ihres Gebetslebens sind, und sie stellt verschiedene Hilfen und Anregungen zum vertieften Üben bereit, um auf diese Weise die Hingabe der Übenden zu unterstützen. Die weitere Praxis ließ auch die Notwendigkeit eines umfassenderen theoretischen Hintergrunds deutlich werden, um Menschen in die Lage zu versetzen, die Übung besser zu verstehen und ihre Wirkung in ihren Alltag zu integrieren. In der christlichen Tradition ist das kontemplative Gebet nie eine private spirituelle Einzelerfahrung gewesen, die auf veränderte Bewusstseinszustände oder Selbstverwirklichung hinauslief. Im Gegenteil: Je stärker der spirituelle Durst durch die Begegnung mit Gottes Gegenwart im Gebet der Sammlung geweckt wurde, desto notwendiger wurde eine Besinnung auf den klassischen spirituellen Weg des Christentums, und dies im Einklang mit der modernen Wissenschaft, vor allem mit den Einsichten der modernen Psychologie. 12


Ich bin davon überzeugt, dass die Sprache der Psychologie in unserer Zeit ein unverzichtbares Mittel ist, den Prozess der inneren Heilung in der »Dunklen Nacht« zu erklären, wie sie Johannes vom Kreuz beschreibt. Zum einen wird diese Sprache zumindest in der westlichen Welt heute besser verstanden als die traditionelle Sprache der Theologie. Zum anderen verschafft sie uns ein umfassenderes Verständnis für die seelischen Vorgänge, auf die die Gnade im Verlauf des Heilungs- und Umwandlungsprozesses trifft. Der erste Versuch, einen umfassenden Rahmen für die Erfahrung des kontemplativen Betens zu schaffen, begann 1983 mit den zweiwöchigen Exerzitien in Lama. Dort fanden Gesprächsrunden statt, die über die nächsten Jahre bei folgenden Exerzitien weiterentwickelt wurden. Im Oktober 1986 entstand daraus ein siebzehnteiliger Film mit dem Titel The Spiritual Journey (Die spirituelle Reise). Zwei Jahre später wurden noch einmal sieben Teile hinzugefügt. Diese Filmreihe wurde zu einem wichtigen Unterrichtsmittel für die Unterstützergruppen, gemeinsam mit dem Buch Open Mind, Open Heart (1986; deutsche Ausgabe: Das Gebet der Sammlung, Vier-Türme-Verlag Münsterschwarzach 1987, Neuausgabe 2010). Das vorliegende Buch beruht auf einem Teil des Materials aus diesen Filmen. Es stellt den Versuch dar, eine Art Straßenkarte für die Reise zu zeichnen, die zwangsläufig beginnt, wenn man das Gebet der Sammlung ernsthaft praktiziert. Dabei will es ebenso auf einige wichtige wiedererkennbare Wegzeichen hinweisen wie auch auf das Endziel. Wobei dieses »Endziel« kein erreichbares Ziel im engeren Sinne ist, sondern eher in einer noch entschlosseneren Hingabe an die Reise besteht. Außerdem sollen in diesem Buch die Einsichten zahlreicher Menschen zur Sprache kommen, die das Gebet der Sammlung praktizieren und über viele Jahre hinweg ihre Erfahrungen mit uns geteilt haben. 13


1 Programmierung des Glücks Das kontemplative Gebet spricht die Natur des Menschen an einer ganz entscheidenden Stelle an: Dieses Gebet heilt die emotionalen Verletzungen eines ganzen Lebens. Es eröffnet die Möglichkeit, schon in dieser Welt die Verwandlung in Christus zu erleben, zu der das Evangelium uns einlädt. Gott will schon in diesem Leben so viel göttliches Leben mit uns teilen, wie wir nur aushalten können. Der Ruf des Evangeliums, »Folge mir nach!«, richtet sich an jeden getauften Menschen. Durch die Taufe sind wir im Besitz aller Gnadengaben, die wir brauchen, um Christus bis ans Herz des Vaters zu folgen. Und genau darum geht es auf unserer spirituellen Reise: den Versuch zu unternehmen, uns immer mehr nach der Liebe Christi in uns auszustrecken und sie immer mehr in dieser Welt zu verkörpern. In der christlichen Tradition wird diese Reise zumeist als ein Aufstieg dargestellt. Bilder von Leitern und Wegen nach oben gibt es zuhauf. Aber für die meisten von uns, die diese Reise heute unternehmen, in unserer Zeit, in der das Wissen über die Entwicklungspsychologie und das Unbewusste so weit verbreitet ist, muss man vielleicht eher von einem Weg in die Tiefe sprechen. Zumindest am Anfang geht es in eine Richtung, die uns mit unseren tiefsten Motivationen und unbewussten emotionalen Programmierungen und Reaktionen konfrontiert. Unsere spirituelle Reise beginnt nicht bei Null. Wir bringen ein fertig gepacktes Paket von Wertvorstellungen 17


und vorgefassten Ideen mit, die bearbeitet und neu ausgerichtet werden müssen, wenn sie unsere Reise nicht behindern oder in Richtung Pharisäertum lenken sollen – das große Berufsrisiko aller religiösen und spirituellen Menschen. In den letzten hundert Jahren haben wir viel darüber erfahren, dass menschliches Leben immer auch Entwicklung bedeutet – was sich ganz enorm auf unsere spirituelle Reise auswirkt. Inzwischen wissen wir, dass unsere persönlichen Geschichten sozusagen in den Biocomputern unserer Gehirne und Nervensysteme aufgezeichnet sind. Die Datenbank unseres Gedächtnisses hat alles gespeichert, was uns widerfahren ist, vom Mutterleib bis heute, vor allem solche Erinnerungen, die stark emotional aufgeladen sind. In unseren ersten Lebensjahren gibt es noch kein Ich-Bewusstsein, aber natürlich gibt es Bedürfnisse und emotionale Reaktionen darauf, und all das ist getreulich im Biocomputer unseres Gehirns bewahrt. Dieser Computer wiederum entwickelt emotionale Programmierungen für das Glück – wobei Glück in dieser Lebensphase nichts anderes bedeutet als die prompte Erfüllung unserer instinktiven Bedürfnisse. Bis wir in das Alter kommen, in dem sich unsere Vernunft entwickelt und in dem wir, mit etwa zwölf, dreizehn Jahren, ein vollständiges, reflexives Bewusstsein unserer selbst entwickeln, verfügen wir bereits über voll entwickelte emotionale Programmierungen des Glücks, die auf den emotionalen Urteilen des Kindes in uns beruhen – selbst des Säuglings. Kein neugeborenes Säugetier ist hilfloser als das Menschenkind. Andere Arten haben alle möglichen nützlichen Instinkte, aber das menschliche Neugeborene ist vollkommen abhängig von den Reaktionen seiner Eltern. Das Beste, was es tun kann, ist laut schreien und seine Bedürfnisse kundtun. Die wichtigsten instinktiven Bedürfnisse im ersten Lebensjahr beziehen sich auf das Überleben und das Sicherheitsgefühl. Im Mutterleib hat das Kind in einer wunder18


baren Umgebung gelebt, in der alle seine Bedürfnisse befriedigt wurden und in der es sich vollkommen sicher fühlen durfte. Die neue Welt nach der Geburt ist mit der Umgebung im Mutterleib kaum zu vergleichen. Das erste Bedürfnis des Neugeborenen ist es, die Verbindung zu seiner Mutter herzustellen. Seine Welt besteht nur aus dem Gesicht der Mutter, ihrem Lächeln und dem Herzschlag, der es an die Geborgenheit im Mutterleib erinnert. Seine ganze Sorge bezieht sich auf die unmittelbare Befriedigung seiner Bedürfnisse, und dabei geht es neben der Versorgung mit Nahrung vor allem um Zuneigung. Das Kind hat das Bedürfnis, im Arm gehalten, geküsst und liebkost zu werden. Es wird häufig hochgenommen, wenn es gefüttert werden soll oder wenn die Windeln gewechselt werden müssen, und all das stärkt die Bindung an die Mutter. Die Bindungskraft des Universums ist die Liebe. Wir können die Menge an Zärtlichkeit kaum hoch genug einschätzen, die ein Neugeborenes braucht, um sich sicher zu fühlen. Dieses Sicherheitsgefühl erlaubt es dem Kind, ein gesundes Gefühlsleben zu entwickeln. Nehmen wir aber einmal an, ein Kind kommt in einer Umgebung zur Welt, in der es nicht willkommen ist oder in der es eine eher zurückhaltende Reaktion auf seine Ankunft erlebt: Dann wird es sich nur zögernd auf das Abenteuer des Lebens einlassen, weil sein wichtigstes Bedürfnis, das biologische Bedürfnis nach Sicherheit, nicht befriedigt wird. Im zweiten Lebensjahr entwickelt das Kind ein breiteres Repertoire von Emotionen. Es lernt das Bedürfnis nach Freude, Zuneigung und Wertschätzung kennen. Dies alles gibt es natürlich auch schon früher im Leben, aber jetzt beginnt das Kind, sich selbst als getrennt von seiner Umgebung zu erfahren, als einen Körper, der sich von den anderen Geschöpfen unterscheidet, die auf dem Boden herumkrabbeln. Mehr denn je braucht es jetzt die Wärme der Zuneigung und Annahme durch seine Eltern und seine Familie. 19


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