INHALT
Vorwort 7
I
Die Krise des Glaubens 9
1
Der Beginn einer neuen Christusbeziehung 10
2
Tiefere Schichten der Hingabe 16
3
Ist Gott abwesend? 22
4
Die Reinigung des Glaubens 27
5
Das Schweigen Jesu 33
6
Der Sinn der Zeit ist das Warten 38
7
Lazarus 44
8
Marta und Maria 51
9
Das Ziel der Glaubenskrise 54
II
Die Krise der Liebe 61
10 GroĂ&#x;er Glaube, groĂ&#x;e Liebe 62 11 Die Entwicklung der spirituellen Achtsamkeit 68 12 Die spirituellen Sinne 73 13 Von der Hoffnung zur Liebe 79 14 Das Opfer der Witwe 85 15 Der Lohn der Witwe 88 16 Ijob 93 5
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17 Die größere Gnade des Johannes 100 18 Lazarus als Symbol des christlichen Erwachens 107
III Lehrjahre eines Apostels 119 19 Petrus – Die Ausbildung eines Jüngers 120
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3 Ist Gott abwesend?
Das Evangelium erzählt uns sowohl direkt als auch durch symbolische Ereignisse, wie das Leben in Gnade, das wir in der Taufe empfangen haben, sich von der Kindheit zum Erwachsensein entwickelt. Die Heilung des Sohnes des königlichen Beamten und die Heilung des Dieners des Hauptmanns sind zwei Beispiele für diese symbolische Art des Lehrens. Sie zeigen uns die Voraussetzungen von zwei Menschen mit unterschiedlichen Graden des Glaubens, und sie zeigen uns, wie Jesus mit ihnen umging, je nach dem Grad des Glaubens. Wir wollen uns diese Ereignisse noch einmal ansehen. Die Geschichte von der Heilung des Sohns des königlichen Beamten wird mit den folgenden Worten eröffnet: »Er kam wieder nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser in Wein verwandelt hatte.« Damit wird ein weiteres Ereignis erwähnt – die Verwandlung von Wasser in Wein. (Johannesevangelium 2,1–11) Was war da geschehen, und warum erwähnt Johannes das erste Wunder, wenn er von dem zweiten erzählt? Zur Erinnerung: In Kana gab es ein Problem mit dem Wein bei einem Hochzeitsfest. Der Wein wurde knapp, und Maria, die Mutter Jesu, machte sich Sorgen deswegen. Sie sprach mit Jesus, und nach einigem Zögern gab er schließlich nach und verwandelte eine riesige Menge Wasser in Wein. 22
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Dies ist ein in höchstem Maße symbolisches Ereignis im Johannesevangelium und der Ausgangspunkt für alle anderen Wunder. Augustinus sagt, das Wasser symbolisiere das alte Gesetz und der Wein das neue. Das Evangelium ist der neue Wein, die Gnade Christi, die auf Bitten der Mutter Jesu auf uns gekommen ist. Allerdings ist die Verwandlung von Wasser in Wein eben nicht gleichbedeutend mit der Verwandlung von Wasser in noch besseres Wasser. Es geht um die Verwandlung einer Substanz in eine andere, in etwas vollkommen anderes. Und das ist auch genau die Pointe an dem zweiten Wunder – deshalb erwähnt Johannes das erste noch einmal. Dort wird nämlich ein Mann tatsächlich verwandelt, von dem, was er vorher war – ein sehr gewöhnlicher Mann –, in etwas ganz Neues, ganz besonders Gutes. Christus ist in die Welt gekommen, sagt uns das Wunder von Kana, um uns zu verwandeln – die menschliche Kreatur in etwas Göttliches –, wenn wir uns darauf einlassen, aufzugeben, was wir bisher waren. Er kam also wieder nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser in Wein verwandelt hatte. (Johannesevangelium 4,46–54) Wir bekommen nun das Bild von dem Sohn eines gewissen königlichen Beamten, der in seinem Bett in Kafarnaum liegt und hohes Fieber hat. Als der besorgte Vater hört, dass Jesus aus Judäa nach Galiläa gekommen ist, geht er los, um Jesus zu treffen, und fleht ihn an, mitzukommen und seinen kleinen Sohn zu heilen. Er geht davon aus, dass das Kind dem Tode nahe ist. »Wenn ihr keine Zeichen und Wunder seht«, sagt Jesus zu ihm, »dann glaubt ihr nicht«. Das ist eine ziemliche Zurückweisung. Außerdem liegt auch eine erhebliche Ironie in diesen Worten. Fast könnte man den Eindruck bekommen, Jesus verachte seine eigenen Wunder. Sie sind eine schreckliche Notwendigkeit für Menschen, die sich nicht einfach dazu entschließen wollen, »richtig« zu glauben. Inzwischen hat er zweifellos einen Plan im Hinterkopf, um den schwachen Glauben des Mannes in etwas Neues zu verwandeln, etwas Lebendi23
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ges und Starkes. Es ist eine Zurückweisung, kein Zweifel. Jesus unterstreicht ganz klar, was falsch ist an der Bitte des Mannes: Es fehlt an Glauben. Aber indem Jesus so tut, als wiese er die Bitte zurück, steigert er seine Sehnsucht noch. Und so fleht der Mann: »Komm mit, Herr, mein Kind stirbt.« Und Jesus versichert ihm: »Geh heim, dein Sohn ist in Sicherheit.« »Der Mann glaubte dem Wort, das Jesus zu ihm gesagt hatte, und machte sich auf den Weg«, heißt es weiter. Bis zu diesem Moment war er gar nicht auf die Idee gekommen, dass Jesus seinen Sohn tatsächlich heilen könnte, ohne selbst in Kafarnaum zu sein. Der Entzug der spürbaren Gegenwart Gottes hat das Ziel, unseren Glauben zu stärken. Ohne diesen Entzug könnten wir nur auf der niedrigen Ebene verharren, die der königliche Beamte zu Anfang repräsentiert. Ich frage mich, was dieser Mann wohl dachte, als er nach Hause ging. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er einfach auf das Wort Jesu vertraut. Bis zu diesem Augenblick hatte er nur auf die Kraft Jesu als Mensch gebaut; vielleicht hatte er von dem Wunder bei der Hochzeit zu Kana gehört. Und jetzt vertraute er auf einmal seiner Allgegenwart. Er glaubte an seine Göttlichkeit. Aber dieser Glaube an die Göttlichkeit Jesu kostete ihn die physische Präsenz Jesu. Wir können uns gut vorstellen, dass er auf dem Heimweg – und es war ein langer Fußweg an einem heißen Tag – daran dachte, wie er seinen Sohn im Bett liegend zurückgelassen hatte. Viele beunruhigende Gedanken müssen ihm durch den Kopf gegangen sein. »Kann das wirklich wahr sein? Ist er wirklich gesund?« Wir können uns vorstellen, wie er seinen Schritt beschleunigte und wie sein Herz klopfte, als er sich seiner Heimatstadt näherte. Als er seine Diener traf, sagten sie: »Gestern ...« Ja, es war ein weiter Weg gewesen. Eine lange Nacht, in der er sich an sein Vertrauen in diesen Menschen klammern musste, von dem er nun glaubte, er sei Gott. 24
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Maria hatte den Dienern beim Hochzeitsfest in Kana gesagt: »Was er euch sagt, das tut.« Dieser Mann tat genau das. Und er erlebte, wie sein Glaube von Wasser in Wein verwandelt wurde. Noch auf der Straße kamen ihm seine Diener entgegen, und sie werden sicher gelaufen sein. Sie riefen ihm zu: »Dein Sohn ist gesund!« Was für ein Augenblick muss das für ihn gewesen sein! Er wird den inneren Sprung erlebt haben, der jeden durchfährt, der begreift, dass er soeben eine tiefgreifende spirituelle Krise überstanden hat. Er hatte gekämpft, geglaubt, gehofft. Es war eine lange, schmerzhafte Prüfung gewesen, aber plötzlich war sie vorbei. Alles ist gut. Er hat es geschafft! Und die innere Befriedigung kommt, eine Befriedigung, die jeder anderen überlegen ist: die Freude, zu wissen, dass er vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben an Gottes Seite getreten ist. Die Evangelien werden zu Recht mit Wein verglichen. Sie enthalten echte Freuden, die in unserem tiefsten Inneren aufspringen wie die Süße des Weins, manchmal vielleicht sogar wie der Rausch bei einem Übermaß an Wein. In der Begeisterung darüber, geglaubt zu haben und seine Hoffnung nicht auf die falsche Stelle gesetzt zu haben, überschwemmte eine Welle der Erleichterung den königlichen Beamten. Er war überzeugt, dass Jesus wirklich Gott war. Seine ganze Familie glaubte daran. Sein eigener Glaube sprudelte über auf jeden anderen Menschen im Haus. Kein Zweifel, dass es unheimlich viel Jubel, Umarmungen und Küsse gab. Und Tränen. Dies war das zweite Mal, dass Jesus seine Ansprüche geltend machte, seit er von Judäa nach Galiläa zurückgekehrt war. Und das erste Mal? Das erste Mal war die tatsächliche Verwandlung von Wasser in Wein gewesen. Diesmal jedoch zeigte er, was das erste Wunder bedeutete. Er verwandelte den schwachen Glauben eines Mannes in einen starken, lebendigen Glauben. Allerdings nur um den Preis einer Krise, um den Preis des Todes der eigenen Sehnsüchte 25
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und Urteile. Die physische Präsenz des Meisters, die er sich gewünscht hatte und die er zu brauchen glaubte, musste ihm erst genommen werden. Auch in unserem eigenen spirituellen Wachstumsprozess können wir der Krise des Glaubens nicht ausweichen. Dieses Ereignis lehrt uns ganz klar, dass es sich nicht einfach um eine Zurückweisung handelt, wenn Jesus uns allem Anschein nach gegen die Wand schiebt und uns die Krücken wegnimmt, die wir angeblich so nötig brauchen. Vielmehr ist es der Ruf in ein neues Wachstum, in eine Verwandlung unserer Schwäche. Es ist der Ruf in eine neue Vereinigung mit ihm, der Ruf, dorthin zu rudern, »wo es tief ist«. (Lukasevangelium 5,4) Es ist entsetzlich schade, dass wir an dieser Herausforderung so häufig scheitern. Wir bestehen auf unserer Forderung nach der spürbaren Gegenwart Christi oder nach anderen Krücken für unseren Glauben. Wenn wir sie loslassen und einfach an sein Wort, an seine Göttlichkeit glauben würden, könnten wir eine Verwandlung unseres Glaubens erleben, deren Frucht eine neue Ausgießung des Heiligen Geistes ist – der im Johannesevangelium durch den Wein symbolisiert wird. Wir müssen uns daran erinnern, dass wir uns dem Heiligen Geist nicht durch Fühlen oder Denken nähern können. Wenn wir es zulassen, dass die frühere Form der Beziehung uns genommen – oder womöglich sogar entrissen – wird, dann machen wir es dem Heiligen Geist möglich, unseren Glauben in eine dauerhafte Wahrnehmung Gottes zu verwandeln.
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4 Die Reinigung des Glaubens
Indem sich Jesus der Bitte des königlichen Beamten verweigerte, dessen Sohn zu heilen, schenkte er ihm die Gelegenheit, sich auf eine höhere Ebene des Glaubens zu bewegen. Der Hauptmann, von dem hier schon die Rede war, befand sich in annähernd derselben Situation wie der königliche Beamte. Er hatte ebenfalls jemanden, seinen Diener nämlich, von dem er sich wünschte, dass er geheilt würde. Statt sich zu weigern, mit ihm zu kommen, zeigte sich Jesus außerordentlich willig, geradezu eifrig. Er tat dies, um dem Hauptmann die Möglichkeit zu geben, seinen großen Glauben in die Kraft des Wortes Jesu zu zeigen. Und ihm selbst, Jesus, eröffnete sich damit die Möglichkeit, seine Jünger auf diesen großen Glauben hinzuweisen. Wir wollen jetzt aber den Blick auf einem Menschen richten, dessen Glaube noch größer war. Und ich glaube, dieser Blick bringt uns der Bedeutung und dem Sinn der Krise des Glaubens noch ein wenig näher. Jesus hatte sich gerade in die Gegend von Tyrus und Sidon zurückgezogen, einen Landstrich, der außerhalb der Grenzen Israels lag. Aus dieser Gegend kam eine kanaanäische Frau (Matthäusevangelium 15,21–28); sie war also keine Jüdin. 27
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An diesem Punkt der Heilsgeschichte hatten Nicht-Juden kein Recht auf die Privilegien der Kinder Israels. Aber irgendwie war sie trotzdem zum Glauben an den Christus gekommen, und in dieser Geschichte entfaltete sie ihren Glauben auf eine höchst ungewöhnliche Weise. Sie flehte ihn an: »Hab Erbarmen mit mir, Herr, du Sohn Davids!« (Diese Anrede zeigt, dass sie an ihn als den Messias glaubte.) »Meine Tochter wird von einem Dämon gequält.« Aber er antwortet ihr nicht, er sagt kein Wort. Keine Erwiderung. Die anderen beiden haben wenigstens eine Antwort bekommen; diese Frau bekommt gar nichts. Je größer der Glaube, desto langsamer kommt unter Umständen die Antwort auf Ihre Gebete. Gott weiß, dass er sich bei Ihnen Zeit lassen kann und beschäftigt sich mit anderen, weniger glücklichen Menschen – obwohl es gut sein kann, dass Sie sich inzwischen richtig unglücklich fühlen. Diese Frau jedoch ließ sich von seiner offensichtlichen Zurückweisung nicht beeindrucken, denn als nächstes wandte sie sich an die Jünger. Sie suchte nach jemandem, der für sie eintrat, mit einigem Erfolg, denn die Jünger ergriffen tatsächlich ihre Partei und sagten zu Jesus: »Befrei sie von ihrer Sorge, denn sie schreit hinter uns her.« Ich versuche, mir die Lage einer Seele vorzustellen, die sich voller Vertrauen an Jesus wendet und nur Schweigen erntet. Und wohlgemerkt, nicht nur Schweigen, sondern Kälte. Seine Antwort an die Jünger lautet nämlich: »Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.« Mit anderen Worten: Es interessiert mich nicht. Diese Frau geht mich nichts an. Das ist nicht so viel anders als die Antwort, die Maria auf der Hochzeit zu Kana bekam. Der Wein wurde knapp, sehr schnell entwickelte sich eine ausgesprochen peinliche Situation. Sie erklärte die Nöte der Jungverheirateten ihrem Sohn Jesus. Und der sagte: »Meine Stunde ist noch nicht gekommen.« (Johannesevangelium 2,4) Eine klare Ablehnung. 28
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Maria akzeptierte das voll und ganz, sagte aber trotzdem ohne zu zögern leise zu den Dienern: »Falls er es sich doch anders überlegen sollte, tut einfach, was er sagt.« Die kanaanäische Frau hat offenbar einen ganz ähnlichen Glauben. Sie verstand ebenso gut wie Maria, dass Jesus Nein sagte, aber sie ging auf ihn zu und warf sich vor ihm nieder. Sie verstand, dass er auf einer Ebene tatsächlich Nein meinte, dachte sich aber offenbar: »Wenn ich mich auf eine niedrigere Ebene begebe, bekomme ich vielleicht eine andere Antwort zu hören.« Also warf sie sich vor ihm nieder. Sie begab sich ganz nach unten, legte sich flach vor ihm hin, niedriger ging es nicht. Und sagte zu ihm: »Herr, hilf mir!« Selbst Sie und ich, hartherzig wie wir sind, hätten jetzt wohl gesagt: »Na na, so schlimm wird es doch nicht sein. Vielleicht kann ich ja doch etwas für dich tun.« Aber Jesus? Er weigerte sich. Immer noch kein Zeichen von Mitgefühl, Barmherzigkeit, menschlicher Freundlichkeit. Er sagte wieder Nein. Diese arme Frau erhielt als Antwort auf ihre Gebete nichts als Schweigen, Kälte und Verweigerung. Und es kommt noch schlimmer. »Es ist nicht recht«, sagte er, »das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen.« Da liegt eine Frau hingestreckt ihm zu Füßen, und Jesus nimmt die Situation ganz und gar wahr, denn er sagt zu ihr, er wolle kein Brot nehmen und auf den Boden werfen, wo sie liegt und darauf wartet, es zu empfangen. Wenn das keine schneidende Zurückweisung einer einfachen, klaren menschlichen Bitte ist, dann weiß ich nicht, was Sie noch verlangen. Jesus weiß genau, womit er es zu tun hat: Diese Frau bringt außerordentliche Voraussetzungen mit. Langsam führt er sie weiter, von einem Gipfel des Glaubens zum nächsten. Aber beachten Sie seine Mittel: Schweigen, Kälte, Zurückweisung, Demütigung. Und was antwortet sie ihm? Sie sagte: »Ja, du hast recht, Herr.« Sie akzeptiert die Demütigung. »Du hast vollkommen recht, keine 29
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Frage. Es wäre falsch, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen. Keine Diskussion. Ich stimme dir aus ganzem Herzen zu.« Und dann kommt eine dieser Antworten, die der Heilige Geist eingibt, eine dieser fantastischen Unterscheidungen, die keine noch so große menschliche Weisheit hervorbringen kann. Eine, die nur aus der Liebe kommen kann. Nachdem sie die Demütigung ganz und gar akzeptiert hat, auf dem Boden vor ihm liegend, im Angesicht seiner offenen Zurückweisung, erwidert diese Frau: »Ja, du hast recht, Herr! Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen.« Mit anderen Worten: »Ich bitte gar nicht um irgendeine Nahrung, die ich verdient hätte. Ich weiß genau, dass ich nichts verdient habe, ich habe überhaupt keine Verdienste. Aber wenn die Kinder gegessen haben, gibt es dann nicht immer ein paar Krümel, die übrig bleiben? Könntest du mir nicht ein paar davon herunterwerfen? Du musst sie auch gar nicht herunterwerfen, es reicht ja, wenn sie aus Versehen vom Tisch fallen. Ich bin hier unten auf dem Boden. Vielleicht kann ich ja einen auffangen. Was sagst du dazu?« Diese Frau hatte ohne Zweifel das seltsame Benehmen Jesu ihr gegenüber durchschaut. Sie war keine Jüdin, sie hatte keinerlei Anleitung, außer durch den Heiligen Geist. Aber mit seiner Hilfe eroberte sie das Herz Jesu ganz und gar. Und Jesus willigte ein. Er war mit seinen eigenen Waffen geschlagen worden, aber er nahm das mit großer Freude zur Kenntnis, denn er rief freudig aus: »Frau, dein Glaube ist groß! Was du willst, soll geschehen.« Auf einen solchen heroischen Akt des Glaubens hatte Jesus gewartet. Hätte er sofort nachgegeben, ihr ihren Wunsch auf ihre erste oder zweite Bitte hin erfüllt, dann wäre sie nie so weit gekommen. Es gibt keinen Weg zur spirituellen Reife, zum Wachstum im Glauben, der nicht diese Straße nimmt. 30
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Wer ist diese Tochter, die so arg von einem Dämon geplagt wird? Es ist nicht zu weit hergeholt, sie als Symbol für das zu sehen, was Paulus den »äußeren Menschen« nennt (2. Korintherbrief 4,16). Der äußere Mensch wird in dieser Lebenskrise tatsächlich wie von einem Dämon geplagt: Wir wenden uns an Gott und erleben, wie seine frühere Zärtlichkeit, seine Freundlichkeit und was immer wir von ihm bekommen haben, zu Asche und Staub zerfallen. Je mehr wir flehen, desto weniger scheint er uns anzuhören. Je tiefer wir im Staub kriechen, desto mehr scheint er von uns zu erwarten. Es scheint, als würde Jesus den Schrei eines Herzens abweisen, das wirklich Gott dient. Warum? Weil wir unwürdige Diener sind und kein Recht auf das Brot der Kinder haben. Wir haben kein Recht auf irgendetwas, wir sind ganz auf die Gnade angewiesen. Erst wenn wir uns dieser Realität stellen, gelingt uns der Übergang vom Vertrauen auf unsere eigenen Verdienste zum Glauben an seine Barmherzigkeit. Sobald die Frau anerkannte, dass sie kein Recht auf das Brot hatte, bekam sie nicht nur einen Krümel, sondern ein ganzes Festmahl. Das ist der wahre Stoff der Glaubenskrise – und ihre Lösung. Aber wie viele Menschen können die langen Wochen, Monate und vielleicht Jahre ertragen, in denen sie beten und anscheinend nichts dafür bekommen? Zuerst werden wir auf die Knie gezwungen, dann auf Hände und Knie, dann auf den Bauch, mit dem Gesicht im Staub. Wie viele stehen das durch, ohne die Hoffnung zu verlieren, dass Gott ihre Gebete beantworten, ihnen die Kontrolle über ihre rebellische menschliche Natur geben und ihnen die Vereinigung mit Christus schenken wird? Die kanaanäische Frau hatte einen Glauben, der bis in die Wolken reichte. Sie akzeptierte keine Zurückweisung als echte Zurückweisung, als echtes Nein. Sie betete einfach vertrauensvoll weiter. Je mehr sie geprüft wurde, desto mehr setzte sie ihr Vertrauen auf Jesus, bis sie endlich ihr Ziel erreichte und bekam, was sie sich wünschte. 31
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Das ist die Haltung, auf die Gott in der Krise des Glaubens wartet: Vertrauen in seine Barmherzigkeit, wie auch immer er uns behandelt. Nur ein groĂ&#x;er Glaube kann die offensichtlichen ZurĂźckweisungen durchdringen, die Liebe verstehen, die sie hervorruft, und sich dieser Liebe ganz und gar unterwerfen.
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