Wunibald müller erinnerungen an henri nouwen

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INHALT

Meine Erinnerungen an Henri Nouwen und ein Wort zu diesem Buch 8 Ein Geleitwort von Anselm Grün

VORWORT 11

Lieber Henri 13 DER LEBENDIGE MENSCH

Plötzlich taucht er auf – Henri Nouwen 17 Du bist mein geliebter Sohn, du bist meine geliebte Tochter 20 DER HEILER

Der verwundete Heiler 26 Überwältigt von Erbarmen 31 Eine an Jesus ausgerichtete Seelsorge 34 ZU GRUNDE GEHEN

Die Höllenfahrt 38 Der Durchbruch 43 Nach der Krise – der neue alte Henri 46

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DER EINSAME, RASTLOSE UND SUCHENDE

Die Wunde der Einsamkeit 50 Der Rastlose 54 Der Sucher 57 DER THEOLOGE UND KÜNSTLER

Fleischgewordene Spiritualität 60 Henri Nouwen und Thomas Merton 65 DER BETER

Begegnung mit Jesus 69 Die Eucharistie als Feier des Kusses 74 Der Mystiker 78 Mitglied der menschlichen Rasse 82 DER TÄNZER UND CLOWN

Das Inferno von New York 85 Gottes Clown 91 Einer, der das Leben tanzt 97 Leidenschaft und Ekstase 101 DER LIEBHABER

Begegnung in San Francisco 105 Die Sehnsucht nach Liebe 109 Bin ich geliebt? 112 Ganz Mensch sein 115 ͤ


NACHTS BRICHT DER TAG AN

Ein Ort der Geborgenheit 120 Besuch in Daybreak 122 Unter den behinderten Männern und Frauen 125 WAS BLEIBT VON HENRI NOUWEN?

Was hat Henri Nouwen mir gegeben? 128 Von diesem Ort geht ein Segen aus 134 Was würde Henri Nouwen uns heute sagen? 138 Was würde Henri uns heute zur Situation unserer Kirche sagen? 141 DER SPRINGER

Ruhe in Frieden 143 Der Springer muss springen und der Fänger muss fangen 149 POSTSKRIPTUM

Lieber Henri 154

Anmerkungen 157

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Meine Erinnerungen an Henri Nouwen und ein Wort zu diesem Buch Ein Geleitwort von Anselm Grün

Gerne erinnere ich mich an die beiden Begegnungen mit Henri Nouwen, von denen Wunibald Müller auf den folgenden Seiten erzählt. Die erste war in Freiburg in einem kleinen Kreis einiger Priester. Wunibald hatte uns eingeladen, mit Henri zu sprechen und uns auszutauschen über das, was uns bewegt. Die Eucharistiefeier habe ich noch in guter Erinnerung. Und dann war die Einweihung des Recollectio-Hauses. Die Ansprache von Henri hat mich so berührt, dass ich sie am Abend ziemlich wörtlich aus dem Gedächtnis aufschreiben konnte. Und ich weiß von Mitbrüdern, denen diese Ansprache tagelang nachging. Etwas hatte sie angesprochen, das tiefer ging als die vielen Predigten, die sie sonst in der Abtei hörten. Ich spürte bei Henri ein ehrliches Suchen. Er wollte keine theoretischen Einsichten vermitteln, sondern Erfahrung. Er wollte gemeinsam mit dem Hörer und mit dem Leser darum ringen, wonach wir uns im Tiefsten sehnen und was uns eigentlich trägt. Im Jahre 2001 hatte mich der jüngere Bruder von Henri, der Rechtsanwalt Laurent Nouwen, eingeladen, am 1. Dezember einen Vortrag in einem Gottesdienst zu halten, den die Henri NouwenStiftung in Utrecht in jedem Jahr für einen größeren Kreis anbietet. Als Laurent zur Vorbesprechung des Vortrags mit seinem Freund in Münsterschwarzach ankam, meinte ich, Henri zu sehen. Er hatte das gleiche Gesicht, das gleiche Temperament. Und ich denke gerne an die Gespräche mit Laurent und seinen Freunden am Tag nach dem Gottesdienst in Utrecht zurück. Zwei Mitbrüder, Bruder Isaak und Bruder Linus, hatten mich nach Utͦ


recht begleitet. Wir feierten im kleinen Kreis die Eucharistiefeier zum ersten Adventssonntag. Danach setzten wir uns zusammen, eigentlich um uns zu verabschieden. Aber es wurde ein so lebendiges Gespräch über Henri, dass wir noch lange sitzen blieben. Laurent sprach von seinem Bruder offen und ehrlich. Der Tod seines Bruders hat sein Leben geändert. Er gab seinen Beruf als Rechtsanwalt auf und arbeitet nur noch für die Stiftung, die den Namen seines Bruders trägt. Er machte aus seinem Bruder keine Ikone, sondern erzählte, wie zerrissen er sich manchmal fühlte, dass Henri mit seinem Vater große Probleme gehabt hatte und sich manchmal wie behindert gefühlt hatte. Deshalb galt Henris Vorliebe dem Maler van Gogh, der in seiner inneren Zerrissenheit wunderbare Bilder malte, Bilder, an denen sich die Menschen heute noch wärmen können, um die Liebe zu spüren, die in diesem Maler wie ein Feuer brannte. Und er wollte seine Doktorarbeit über einen anglikanischen Theologen schreiben, der psychisch krank geworden ist. Mit diesen Menschen fühlte er sich verwandt. Aber gerade seine Zerrissenheit machte ihn offen für die Menschen und ihre Nöte, für ihre Verzweiflung und ihre tiefe Sehnsucht nach Angenommenwerden. Bei allem Chaotischen, das Henri an sich hatte, hielt er doch eine klare Ordnung ein. Jeden Tag – ganz gleich, wie er verlaufen mochte – nahm er sich eine Stunde Zeit zum Beten und eine Stunde zum Schreiben. Beten und Schreiben - das waren seine Stützen. Ohne sie konnte er nicht leben. Wenn Henri betete, dann zog er sich nicht zurück, um still und beschaulich sein Brevier zu beten oder zu meditieren. Laurent schilderte anschaulich, wie er oft beim Beten auf und ab ging und laut mit Gott redete, ihn anklagte, mit ihm rang, ihn nach dem Sinn all dessen, was er erlebt hatte, fragte, ihn anflehte und vor ihm weinte. Wenn er Brevier betete, dann sprach er laut die Psalmworte und stellte sie sofort wieder in Frage. Er machte ein persönliches Geͧ


spräch daraus. Und jeden Tag schrieb er. Das, was er erlebte, musste er ins Wort fassen, um es zu verstehen, um Gott in allem zu erkennen und um sich von allem zu Gott führen zu lassen. Ich glaube, dass ich alle Bücher von Henri Nouwen gelesen habe. Und ich habe sie immer gerne und mit großer innerer Betroffenheit gelesen. Ich fühle mich von seinen Worten persönlich angesprochen. Ich spüre in ihnen eine große Liebe, ein weites Herz und eine tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit und Heimat, nach Gott als dem wahren Quell des Lebens. Henri konnte so schreiben, weil er sich seinem Menschsein mit allen Höhen und Tiefen gestellt hat. Der Mensch Henri, in seiner Liebe und Zärtlichkeit, in seiner Bedürftigkeit und in seinem Angefochtensein, in seiner tiefen Sehnsucht nach Gott und nach dem Bruder Jesus, der mit ihm geht und dem er sein Herz öffnen und hingeben wollte, kommt mir in dem Buch von Wunibald Müller nahe. Ich wünsche Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, dass auch Sie in den Zeilen dieses Buches diesem außerordentlichen Menschen Henri Nouwen begegnen werden und durch ihn Jesus Christus, der bei uns und in uns ist als der, der unsere Zerrissenheit heilt und uns in Berührung bringt mit unserem wahren Selbst.

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NACHTS BRICHT DER TAG AN

Ein Ort der Geborgenheit Henri Nouwen war immer ein Suchender und Forschender, der mit dem, was man nur von außen und auf den ersten Blick sieht, nicht zufrieden war. Für ihn war das immer auch ein Suchen nach dem, was uns letztendlich angeht. Als ob er versucht hätte, immer wieder einen Blick in den Himmel zu erhaschen, um für Momente jetzt schon eine Ahnung von dem Unendlichen, dem ganz Anderen, dem, was über uns hinausgeht, zu erhalten. Dabei begnügte sich Henri Nouwen nicht mit einer Ahnung davon, geschweige denn mit dem Wissen darüber. Er wollte von diesem Himmel jetzt schon etwas erfahren. Er wollte jetzt schon zumindest immer wieder die Erfahrung machen, am Ziel seiner Sehnsucht nach bedingungsloser Annahme und Geborgenheit angekommen zu sein. In seinem Buch Nähe. Sehnsucht nach lebendiger Beziehung schreibt er: In einer Welt, die ganz von Wettbewerb und Leistung geprägt ist, sind sich Menschen aller Altersgruppen schmerzlich ihrer tief sitzenden Sehnsucht nach einem Ort bewusst geworden, wo sie in einer persönlichen Beziehung Geborgenheit erfahren können. Es ist die Sehnsucht des Menschen nach einem Platz in der Welt, an dem er wirklich geborgen und daheim sein kann.ͷ͵

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Diesen Platz hat Henri Nouwen ein Leben lang gesucht und in Daybreak – fast? – gefunden. Hier wirkte er für nahezu zehn Jahre als Pastor. Dort besuchte ich ihn im Jahre 1991. Zehn Jahre später, fast genau fünf Jahre nach seinem plötzlichen Tod, plante ich, wieder für zwei bis drei Tag nach Daybreak zu gehen. Doch der 11. September 2001, als die Welt den Atem anhielt, brachte es mit sich, dass ich über eine Woche dort verbrachte. Für mich wurde es eine Woche, in der ich Henri auf vielfältige Weise wieder begegnete. Ich wohnte in seinem Haus, traf Menschen, die ihm nahe standen, besuchte sein Grab und war ihm – wie lange nicht mehr – innerlich sehr nahe.

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Besuch in Daybreak September 2001 — Ich tauche ein in die Welt, in der Henri Nouwen in den letzten zehn Jahren seines Lebens gelebt hat. Über zehn Jahre sind seit meinem letzten Besuch hier, bei dem ich Henri traf, und seinem Besuch in Münsterschwarzach vergangen. Als ich in Daybreak ankomme, brauche ich drei Anläufe, bis ich das Haus der Stille, in dem ich untergebracht bin und in dem Henri früher lebte, finde. Niemand scheint da zu sein. Als ich, nachdem ich endlich meine Bleibe gefunden habe, über das Gelände gehe, denke ich mir: »Hier ist es gut sein.« Inmitten einer Umgebung, die beherrscht wird vom Highway und nie enden wollenden Geschäften und Wohnanlagen, komme ich mir vor wie auf einer Oase. Ein kleiner See, viele Bäume, farnähnliche Gräser, golden rods genannt, ja selbst Tiere – Eichhörnchen und sogar kleine Waschbären – finde ich vor. Die alte, grün angestrichene Scheune, in der Holzarbeiten verrichtet werden, steht immer noch und trägt mit bei zum ländlichen Charakter der Umgebung. Meine Gedanken gehen zurück in die Zeit vor zehn Jahren, als ich im Januar 1991 Henri Nouwen hier besuchte: Ein kleines, unscheinbares Schild weist darauf hin, dass hier Daybreak ist. Um zu Henri Nouwen zu gelangen, muss ich etwa zweihundert Meter gehen, vorbei an der grün gestrichenen Scheune, die jetzt als Schreinerei benutzt wird. Überall in der Nachbarschaft entstehen neue Häuser. Früher gehörte auch dieses Land Daybreak. Die Besitzer, ein Orden, mussten aus finanziellen Gründen das Farmland verkaufen, so dass Daybreak immer mehr zu einem recht kleinen Stück Land zusammenschmolz und inzwischen nicht mehr richtig in die Gegend passt. Es ist eine eher unwirtlich anmutende Gegend. Dann komme ich in Dayspring an, dem Haus, in dem Henri Nouwen wohnt. Er ist noch bei einer Besprechung ͟͠​͠


und so warte ich im Vorraum der Kapelle, die im Keller des Hauses untergebracht ist, auf ihn. In wenigen Minuten beginnt die Eucharistiefeier, zu der die Bewohne und die Besucher von Daybreak eingeladen sind. Die Gottesdienstbesucher treffen ein, vorwiegend behinderte Männer und Frauen mit ihren Begleiterinnen und Begleitern, Assistenten genannt. Dann treffe ich Henri. Eine kurze, freudige Begrüßung. Jetzt im September 2001, zehn Jahre später, bin ich wieder in dem Haus, in dem ich ihn damals traf. Es dauert einige Zeit, bis mir klar wird, dass dieses Haus der Stille jenes Haus ist, in dem ich ihm damals begegnet bin. Ich wohne in dem Zimmer neben seinem damaligen Zimmer. Die Kapelle wurde inzwischen ausgelagert und befindet sich in einem Neubau. Zurückgeblieben ist eine kleinere Kapelle, die sich sehr gut zum Meditieren und zum persönlichen Gebet eignet. Während ich über das Gelände gehe, meine ich, gleich müsse Henri um die Ecke kommen. Dabei fuhr Henri jeden Tag die kurze Strecke von seiner Wohnung zu seinem Büro mit dem Auto. Wo ihm doch etwas Bewegung als Ausgleich nur gut getan hätte. Es ist früh am Morgen, der Tag erwacht, ich höre da und dort einen Vogel, im Hintergrund die Geräuschkulisse des vorbeifahrenden Verkehrs. Über mir sehe ich immer wieder gut sichtbar ein paar Flugzeuge am Himmel. Die hat Henri Nouwen sicher auch gesehen und manchmal wird ihn das Fernweh gepackt haben. Und er hat dieser Sehnsucht oft nachgegeben. Vielleicht zu oft, denke ich manchmal. Ich sitze auf dem Balkon im Dayspring House. Irgendwie erinnert mich dieses Haus an die Einsiedelei von Thomas Merton. Als ich vor einigen Jahren sein Kloster Gethsemani im Bundesstaat Kentucky besuchte, verbrachte ich viele Stunden bei seiner Einsiedelei und dachte über Thomas Merton nach, las in Büchern von ihm und über ihn. Auch sprach ich mit Father Matthew, der ihn ͟͠͡


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