Wunibald müller vergebung wege der befreiung

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INHALT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1. KAPITEL

Wer vergeben kann, der ist befreit . . . 13 »Ich trage mit mir nicht mehr die Last herum, Opfer zu sein« . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Heilung ist möglich . . . . . . . . . . . . . . 15 Kein oberflächliches Vergeben . . . . . . . . . 16 Vergebung kann nicht verordnet werden . . . . 18 Sich der Auseinandersetzung mit den echten Gefühlen stellen . . . . . . . . . . . . 19 Beim Ärger und der Wut nicht stehen bleiben . 21 Die Trauer zulassen . . . . . . . . . . . . . . 22

2. KAPITEL

Opfer und Täter . . . . . . . . . . . . 25 »Der Kapitän meiner Seele bin ich selbst« . . . 25 Sich einfühlen können in den Täter . . . . . . 28

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Der Täter muss mit seinem wahren Menschsein in Berührung kommen . . . . . . 29 Von falscher Scham befreien

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Einen sinnvollen Weg finden . . . . . . . . . 32

3. KAPITEL

Vergebung und Barmherzigkeit . . . . . 35 Empathie und Mitleiden . . . . . . . . . . . 35 Vergebung wird unterstützt durch Gottes Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 »Gottes ist die überschwängliche Kraft« . . . 39 Gott ist größer als unser Herz . . . . . . . . . 40

4. KAPITEL

Sinnfindung . . . . . . . . . . . . . . . 43 Auf eine vertiefte Weise das Leben sehen . . . 43 Die Tat selbst macht keinen Sinn . . . . . . . 44 Sich auf einen Verwandlungsprozess einlassen . 46 Die destruktive Erfahrung in einen spirituellen Kontext stellen . . . . . . . . . . 48 Frei sein für etwas, für andere

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5. KAPITEL

Sich selbst vergeben können . . . . . . 55 Verrat an der Liebe . . . . . . . . . . . . . . 55 Erinnerungen tauchen auf . . . . . . . . . . 58 Er wollte sich rächen . . . . . . . . . . . . . 60 Sehnsucht nach Versöhnung . . . . . . . . . . 61 Sich selbst vergeben können . . . . . . . . . . 62 Wenn ich mir selbst vergeben kann, kann ich anderen leichter vergeben . . . . . . . . . . . 63 Wir befinden uns im gleichen Boot . . . . . . . 66 Den Raum betreten, der frei ist von den gängigen Denkmustern . . . . . . . . . . . . 68

Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . 73 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . 74

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1. Kapitel

Wer vergeben kann, der ist befreit

»Ich trage mit mir nicht mehr die Last herum, Opfer zu sein« Eva Kor, die mit ihrer Zwillingsschwester Mirjam nach Auschwitz verschleppt wurde, vergab als über 70-Jährige ihren Peinigern und fühlte sich dadurch befreit. Zu vergeben verleihe ihr, so Eva Kor, ein Gefühl der Macht über die Täter. Sie fühle sich dem Schmerz, den keiner nachholen und keine gesetzliche Gerechtigkeit ändern könne, nicht länger hilflos ausgeliefert. Sie sagt:

Kein Opfer hat darum gebeten, Opfer zu sein ... Niemand verdient es. Vergebung ist ein Geschenk der Befreiung von den Schmerzen der Vergangenheit. Ich verstehe, dass es auch ein Geschenk an den Täter sein kann. Aber den Schmerz zu ertragen hilft mir doch in keinem Fall weiter. Zu vergeben, meint sie, hat zur Folge, dass sie nicht länger die Last mit sich herumtrage, »Opfer zu sein«. Als Opfer habe sie »die Macht, darüber zu entscheiden, ob sie Opfer bleiben oder die 13

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Rolle loswerden will«. Das Abschütteln der Opferrolle bezeichnet sie als »Heilung«. Ich erinnere mich noch gut daran, als ich vor einigen Jahren in der Süddeutschen Zeitung das erste Mal von Eva Kor und ihren Vorstellungen über Vergebung las und mir damals so richtig bewusst wurde, welche gewaltige Auswirkung Vergebung für das Opfer haben kann. Welche Wohltat der, der vergeben kann, sich selbst antut. Zugleich wurde mir aber auch bewusst, ein welch langer Weg es bis dahin ist. Und: eine welch große Herausforderung das bedeuten kann, zunächst einmal für den, der vergibt; dann die, die sich nicht in der Lage sehen, vergeben zu können; und schließlich jene, die das nicht verstehen können, dass man einem Täter vergibt. Doch die stärkste Botschaft, die für mich von dem, was Eva Kor von ihrer Erfahrung mit Vergebung berichtet, ausgeht, ist: Wer vergeben kann, befreit sich aus der Umklammerung des Täters. Der Täter hat von diesem Augenblick an nicht länger Macht über ihn. Es findet eine Umkehrung statt. Das Opfer hört auf Opfer zu sein, indem es aus der Opferrolle heraustritt. Dem Täter vergeben zu können verleiht dem Opfer Macht über den Täter. Das Opfer, das jetzt nicht länger Opfer ist, ist befreit aus der Macht des Täters. Die Verantwortung für die Tat liegt und bleibt beim Täter. Die Verantwortung, sich aus der Opferrolle zu befreien, liegt aber beim Opfer.

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Heilung ist möglich So befreiend diese Aussage und Erkenntnis ist, so niederdrückend und herausfordernd bleibt es zum Beispiel in Fällen sexuellen Missbrauchs, von Vergebung zu sprechen. So geht es auch mir. Ich kann das daher nur zurückhaltend, mich vorsichtig vortastend, unsicher tun. Ich sehe vor mir Opfer, Überlebende sexuellen Missbrauchs, die ich kennenlernen und begleiten durfte. Ich denke an das, was ihnen angetan wurde, an ihren seelischen Schmerz und ihre Verzweiflung, die ich mit ihnen auszuhalten versuchte. Ich denke an ihr Zittern und Zagen, das mich oft nur zunächst verstummen lässt. Wie kann ich ihnen gegenüber von Vergebung sprechen? Sie sollen denen, die ihnen so Schreckliches, Demütigendes, Entwürdigendes angetan haben, vergeben? Die ihr Vertrauen zutiefst verletzt haben. Die ihre Stellung, vielleicht auch noch ihre spirituelle Vormachtstellung, dazu benutzt haben, sie sich gefügig zu machen? Ihnen sollen sie vergeben? Alles in mir sträubt sich zunächst dagegen. Doch gerade weil ich um ihre Not weiß, weil ich sie auch von innen her kenne, weil sie mir so viel bedeuten, wage ich mich – ihnen zuliebe –, von Vergebung zu reden. Denn, wenn Vergebung der Weg ist, der zur Befreiung und zur Heilung führt, kann ich gar nicht anders, als Mut zu machen, sich auf den Weg und Prozess der Vergebung einzulassen. Dabei weiß ich, dass es sich hier um einen lan15

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gen und schwierigen Weg handelt, der nicht geradlinig verläuft, auf dem es zwischendurch anscheinend nicht weitergeht und auf dem man vielleicht auch ab und zu zusammenbricht. Aber es ist ein Weg, den zu gehen sich lohnt und bei dem ich am Ende erfahren darf, wie es ist, wenn ich heiligen Boden betrete, wenn Vergebung und damit einhergehend Heilung geschieht, das Wunder der Heilung sich ereignet. Das Wunder! Das Wunder, zu dem wir etwas beitragen können und auch beitragen müssen, das wir aber nicht wirken können und nicht wirken müssen.

Kein oberflächliches Vergeben Doch bevor es so weit ist, bevor wir wirklich vergeben können, müssen wir zunächst das, worin wir verletzt worden sind, benennen und bewerten. Wir müssen uns die Frage stellen, wie groß der Schaden ist, der uns zugefügt wurde, wie schwer er wiegt. Wir müssen eine Bestandsaufnahme darüber machen, wo und wie sich die Verletzung, die uns zugefügt worden ist, in der Beziehung zu uns selbst, zu anderen Menschen, zu Gott, ja auch zu Sachen, die vielleicht dadurch beschädigt worden sind, auswirkt? Wir können und sollen auch nicht einfach leicht und vorschnell über die Verletzung hinweggehen, da ein oberflächliches Vergeben letztlich kein wirkliches Vergeben ist, das 16

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alles, was zwischen mir und dem anderen steht, wegzuräumen vermag. Vergeben heißt auch nicht, etwas zu tolerieren, einfach anzunehmen oder zu entschuldigen. Was einem Menschen angetan wurde, ist nicht zu tolerieren. Es ist verwerflich, abstoßend, tut weh, schneidet ins Fleisch. Soll wirklich vergeben werden, muss die Schuld des Täters in ihrem ganzen Ausmaß und ihrer Auswirkung erkannt, benannt und erfasst werden. Sonst bleibt die Vergebung oberflächlich oder partiell, schließt nicht alles ein, was durch das schädigende Verhalten verletzt worden ist. Damit Vergebung wirklich stattfinden kann, ist es wichtig, dem anderen nicht nur oberflächlich, sondern aus der Tiefe des Herzens heraus zu vergeben. Bis jemand so weit ist, kann und darf es lange dauern. In Romanen und Filmen begegnen uns immer wieder Situationen, bei denen einer der Protagonisten Freunde oder Familienmitglieder auffordert, diesem oder jenem zu vergeben: Da ist der Vater, der nicht mehr lange zu leben hat und seinen Sohn, der sich mit seiner Ehefrau zerstritten hat, bittet, ihm zuliebe, ihr zu vergeben. Solche Szenen erwecken den Eindruck, dass die andere Person geradezu erpresst wird, zu vergeben. Das aber wird in der Regel nicht zu einer wirklichen Vergebung führen. Nach außen hin mag es so erscheinen, in der Tiefe des Herzens bleiben aber der Groll und der Hass erhalten, da der einer echten Vergebung vorausgehende schwierige 17

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Reinigungsprozess nicht stattgefunden hat. Echter Vergebung muss oft eine Katharsis vorausgehen, bei der alle Gefühle von Wut bis hin zu Hass und Verachtung, Enttäuschung und Trauer zugelassen werden müssen.

Vergebung kann nicht verordnet werden Vergebung kann nicht verordnet werden. Ich kenne die Stimmen, die die christlichen Werte in Erinnerung rufend meinen, darauf hinweisen zu müssen, dass Christen vergeben müssen. Ich sehe die Täter, die mit dem Hinweis, als Christen müssten wir uns doch verzeihen, ein Vergeben einfordern. Christlich motivierte Appelle, dem Täter doch endlich zu vergeben, sind aber in der Regel eher kontraproduktiv und schädlich. Im Fällen von sexuellem Missbrauch kann ein Drängen auf Vergebung einer erneuten Traumatisierung der Opfer gleichkommen (vgl. Stauss 2010, 67). Vergebung kann und darf daher niemals erzwungen werden. Wenn sie nicht möglich ist, muss das selbstverständlich akzeptiert werden. Ob und wann ich vergeben kann, hängt auch von der Schwere dessen ab, was mir angetan worden ist. Für viele Opfer sexuellen Missbrauchs zum Beispiel ist es oft unmöglich, den Tätern zu vergeben, ja allein schon das von ihnen zu erwarten, erscheint manchen verständlicherweise bereits als 18

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