Wunibald Müller, Myriam Wijlens - Ans Licht gebracht - Weiterführende Fakten und Konsequenzen des se

Page 1


INHALT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 MYRIAM WIJLENS, WUNIBALD MÜLLER

1

Standortbestimmung: »Ihr seid ein königliches Priestertum« (1 Petr 2,9) . . . . . . . . . . 11 WUNIBALD MÜLLER

2

Vom Schutz des Klerikerstandes zum Schutz der Geringsten: Die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels . . . . . . . . . . . . 23 MYRIAM WIJLENS

3

Konsequenzen richterlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . 33 HOLGER PRÖBSTEL

4

Aus dem Licht ins Dunkel – und wieder zurück ins Licht: Erfahrungen eines Engagements in einer Kommission für Fälle sexuellen Missbrauchs durch Kleriker und dessen kritische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 GUDRUN SCHRAMM ARNTZEN

5

Das Bußsakrament als Kontaktaufnahme für den sexuellen Missbrauch: Reflexionen über das Delikt der Sollicitatio . . . . . . 59 ROBERT P. DEELEY

6

Sexueller Missbrauch: Wann und wie die Glaubenskongregation einschalten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 CHARLES J. SCICLUNA

7

Sich der Wirklichkeit und Wahrheit stellen: Wie geht es weiter mit den Tätern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 WUNIBALD MÜLLER

5


8

Der Verbleib eines Täters in der Ordensgemeinschaft aus präventiven Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 MICHAEL BAUMBACH

9

»Wird er aber zu mir schreien, so werde ich ihn erhören« (Ex 22,26): Klösterliche Gemeinschaften für Täter als Einrichtungen der Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . 133 WUNIBALD MÜLLER

10

Perspektivenwechsel im Kirchen- und Amtsverständnis . . . . . 147 KARL HILLENBRAND

Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

6


Vorwort

»In Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Priester hilft nur ein schonungsloses Vorgehen, ein uneingeschränktes Ausleuchten der Situation. Da darf nichts im Dunkel bleiben, darf nichts verschwiegen, verheimlicht, verharmlost werden. Nichts.« Mit diesen Worten begann das von uns im Frühjahr 2011 veröffentlichte Buch »Aus dem Dunkel ans Licht: Fakten, und Konsequenzen des sexuellen Missbrauchs für Kirche und Gesellschaft«.1 Im Juni 2011 wurde das Buch an der KatholischTheologischen Fakultät in Erfurt im Rahmen eines Symposions insbesondere Mitgliedern von Kommissionen für sexuellen Missbrauch in der deutschen Kirche vorgestellt. Einige Beiträge aus diesem Band wurden dort vorgetragen, andere Diskussionspunkte gingen bereits über die Thematik des Buches hinaus, da die Zeit seit dem Verfassen der Manuskripte nicht stillgestanden hatte und schon neue Fragen aufgekommen waren. Auf der Tagung ergab sich ein lebendiger Meinungsaustausch, in dem das Anliegen aller Beteiligten zum Ausdruck kam, die Kirche in ihrem Bemühen zu unterstützen, es den Opfern zu ermöglichen, das, was im Dunkel passiert war, nun auszusprechen, zu benennen, ja es ans Licht zu bringen. Spürbar war jedoch auch, wie sehr sich die Kirchenleitungen durch die Krise selbst wie in einer dunklen Nacht fühlten und sich nach dem Licht sehnten, da ihr Bild von Kirche und von Priestern durch die Berichte der Opfer und Geständnisse der beschuldigten Priester zutiefst erschüttert war. 7


Der Austausch machte klar, dass seit dem Frühjahr 2010, als die Krise in Bezug auf sexuellen Missbrauch in Deutschland ausbrach, mehrere Phasen durchlaufen werden. Zuerst gab es die Phase des Zuhörens und eine Art Bestandsaufnahme dessen, was vorgefallen war: Man wollte die Opfer ermutigen, sich zu melden, und wollte den Beschuldigungen nachzugehen, um so die Wahrheit herauszufinden und – wo möglich und erforderlich – strafrechtliche Konsequenzen zu ziehen. Aufgrund der Leitlinien der Bischofskonferenz wurden viele Beschuldigungen bei den staatlichen Strafverfolgungsbehörden angezeigt. Inzwischen mussten die meisten Verfahren eingestellt werden, da sie entweder verjährt sind oder der Sachverhalt nach dem deutschen Strafrecht überhaupt kein Delikt darstellt. Andere Verfahren wurden mittels eines Strafbefehls beendet. Opfer sind oft enttäuscht von dieser Reaktion von Seiten des Staates und so schauen sie nun erwartungsvoll auf die Kirche. Diese wird die eigenen Gesetze und Regelungen anwenden müssen und ist aufgefordert, in den allermeisten Fällen die Akten nach Rom an die Glaubenskongregation zu schicken. Dies nicht zu tun, birgt in sich die Gefahr, zurück in die alten Muster zu verfallen, wo man den Beschuldigten zwar bestimmte Handlungen untersagt, aber im Grunde wenig ändert. So beginnt die zweite Phase, in der die entscheidende Frage sein wird, ob die Bistumsleitungen einen Paradigmenwechsel vollzogen haben, indem sie sich nicht zuerst um die Kleriker bemühen, sondern sich primär zu den Geringsten unter sich bekennen, zu denen, die am wehr- und hilflosesten sind: Das heißt, die Sicherheit von Kinder und Jugendlichen bekommt höchste Priorität. Viele Bistumsleitungen tun sich schwer mit diesem Wechsel im Umdenken. Diese Schwierigkeit wird vor allem dann spürbar, wenn die Frage ansteht, wo der Täter verbleibt beziehungsweise ob und wie er wieder eingesetzt wird. Um dann verantwortungsvoll zu entscheiden, ist es zuerst erforderlich, sich mit den eigenen Vorstellungen von Priestertum und Barmherzigkeit und deren Einfluss auf Entscheidungsprozesse in Personalangelegenhei8


ten auseinanderzusetzen. Die Einsicht darin, welche eigenen Bedürfnisse und Anschauungen in den Personalentscheidungen eine Rolle spielen, wird der Fähigkeit, die Wahrheit anzunehmen und verantwortungsvoll zu entscheiden zugutekommen. So werden Voraussetzungen geschaffen, wie zum Beispiel die staatlichen Entscheidungen richtig zu interpretieren und zu bewerten sowie die eigenen kircheninterne Vorschriften zu beachten und zu befolgen. Dann werden Bedingungen geschaffen, Präventivmaßnahmen nicht nur zu erlassen, sondern diese auch einzuhalten. Im Austausch in Erfurt wurde klar, dass vor allem die Frage nach dem Verbleib der Täter und nach deren Tätigkeit eine gewisse Ratlosigkeit bei den Bistumsleitungen hervorruft. Eine Balance zu finden zwischen absolut erforderlichen Präventionsmaßnahmen und Barmherzigkeit gestaltet sich schwierig. Um des Opfers willen und um den Schutz von derzeit heranwachsenden jungen Menschen zu gewährleisten, muss dies jedoch gelingen. Das vorliegende Buch geht auf diese Themen und Spannungen ein, und will helfen den erforderlichen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Es richtet sich vor allem an Entscheidungsträger in der Kirche. Die Beiträge wurden geschrieben von Menschen, die mit Thema des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen bei ihrer Arbeit konfrontiert werden und sich damit befassen. Sie sind entweder selbst Entscheidungsträger oder beraten diese aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz im Entscheidungsprozess. Die Autoren sind selbst in der Glaubenskongregation in Rom, in der Bistums- oder Ordensleitung tätig oder haben als Ermittlerin nicht nur im polizeilichen, sondern auch im kirchlichen Dienst gearbeitet oder erklären als Strafrichter, wie die Entscheidungen der staatlichen Strafverfolgungsbehörden zu verstehen sind. Wie im vorherigen Buch soll erneut der Blick über die Grenzen von Deutschland hinausgehen, um von den Erfahrungen dort zu lernen: So wird berichtet, wie vielen ausländischen Verfahren, die der Glaubenskongregation vorgelegt wurden, zu entnehmen ist, dass gerade die Beichte bei der Kontaktaufnahme zu Opfern eine wichtige Rolle spielt, ein Sachverhalt, der möglicherweise ein zusätzliches Delikt darstellt. Es wird 9


auch beschrieben, wie in den USA Täter zusammen in einem Haus untergebracht werden, um so Prävention und Fürsorge gleichermaßen zum Ausdruck zu bringen und wie nach dem Konzept der USA in Deutschland bereits über den Verbleib eines Täters in einem Orden entschieden wurde. Wir bedanken uns vor allem bei dem Generalvikar des Bistums Würzburg, Herrn Dr. Karl Hillenbrand, für die Unterstützung, den eingeschlagenen Weg konsequent weiter zu verfolgen und die Veröffentlichung dieses Buches zu ermöglichen. Möge das vorliegende Buch der Kirche in Deutschland helfen, das, was ans Licht gebracht wurde, in Aufrichtigkeit und Demut anzunehmen und mit Konsequenz weiter zu verfolgen.

DIE HERAUSGEBER MYRIAM WIJLENS

1

WUNIBALD MÜLLER

Müller, M./Wijlens, M. (2011): Vorwort: Nichts darf im Dunkel bleiben, in: Müller, W./Wijlens, M. (HG.): Aus dem Dunkel ans Licht. Fakten und Konsequenzen des sexuellen Missbrauchs für Kirche und Gesellschaft, Münsterschwarzach, 11.

10


1 WUNIBALD MÜLLER

Standortbestimmung: »Ihr seid ein königliches Priestertum« (1 Petr 2,9) Ans Licht gebracht – Wie geht es weiter? Vieles ist ans Licht gebracht worden, was im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen in den letzten Jahrzehnten in der katholischen Kirche stattgefunden hat. Vieles vermutlich oder sogar sicher aber auch noch nicht. Unklar zeigt sich vor allem noch, wie mit dem, was ans Licht gebracht worden ist, umgegangen werden soll, welche unmittelbaren und weiterführenden Konsequenzen sich daraus ergeben. Wie geht es weiter? Ich bin im Augenblick sehr viel unterwegs und bekomme ganz unterschiedliche Stimmungen mit. Da gibt es ein eher zaghaftes Hoffen, dass die Krise der Kirche in Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen zu einem Erwachen geführt hat und die Kirche mehr als bisher bereit ist, manches, an dem sie bisher festgehalten hat, zu hinterfragen – auch sich selbst – und manches an ihrem Verhalten im Zusammenhang mit den »Missbrauchsfällen« zu überdenken. Da und dort meine ich tatsächlich ein Wehen des Heiligen Geistes zu spüren, natürlich weit weniger als zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils. Ich selbst bin zutiefst davon überzeugt: Es ist höchste Zeit, dass wir in der Kirche wieder das Fenster öffnen, wie es Johannes XXIII. einmal vor Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils formulierte, damit der Heilige Geist in unsere Kirche einziehen kann. Aber, aber ... Wenn ich dann feststellen muss, dass Verantwortliche in der Kirche wieder in die Defensive gehen, sie davon sprechen, dass zwar nicht auszuschließen sei, dass sexuelle Übergriffe in der Kirche vertuscht worden seien, um aber gleich hinzuzufügen, dass dies überall in der Gesellschaft 11


passiere, dann kann ich jene verstehen, die glauben, dass die Kirche aus der augenblicklichen Krise doch letztlich nichts gelernt hat. Denn hier zeigt sich, dass man nicht bereit ist, die im System tiefer liegenden Ursachen für den sexuellen Missbrauch ernsthaft in den Blick zu nehmen und die entsprechenden Konsequenzen daraus zu ziehen. Ich kann sie verstehen, so sehr ich aber auch noch nicht aufgegeben habe, daran zu glauben, dass wir als Kirche daraus gelernt haben. Ohne Frage ist es wichtig und gut, den Opferschutz in den Vordergrund zu stellen und transparent bei allen Vorkommnissen sexuellen Missbrauchs in der Kirche vorzugehen. Dieses Buch will ja auch einen Beitrag dazu leisten. Aber die Kirche darf es nicht bei Aufklärung und Transparenz belassen, sie darf hier nicht stehen bleiben. Das alleine ist nicht genug. Die Kirche muss sich darüberhinaus der spirituellen Herausforderung stellen, die sich aus den Missbrauchsfällen ergibt und sich an bestimmten Stellen von Grund auf ändern. Diese Veränderung muss nach meiner Überzeugung damit beginnen, dem negativen Klerikalismus, der sich wie ein Krebsgeschwür über die Kirche gelegt hat und der gerade im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal so deutlich zu Tage getreten ist, den Garaus zu machen, damit er nicht zum Tod der Kirche führt.

Klerikalismus Es lässt sich ein enger Zusammenhang zwischen Klerikalismus und sexuellem Missbrauch aufzeigen. Will man sexuellen Missbrauch im kirchlichen Kontext beseitigen oder verringern, muss man beim Klerikalismus anfangen. Andere notwendige Konsequenzen, wie die Überprüfung der Einstellung und Lehre der Kirche zur Sexualität, darunter auch zur Homosexualität, oder die Öffnung des Priestertums für verheiratete Männer und Frauen werden von selbst einen anderen Stellenwert bekommen, wenn die möglichen negativen Auswirkungen des Klerikalismus erkannt und behoben worden sind. Das wohl größte Übel, das vom Klerikalismus ausgeht, ist die Tendenz, die andere Person zu entpersönlichen, sie zu einem Objekt zu machen, 12


sie damit zu degradieren. Konkret heißt das, die Rolle, die ich einnehme, dominiert die Interaktion. Der andere wird zu einem Geringeren gemacht, die Würde seiner Person mit Füßen getreten, eine echte Beziehung unmöglich gemacht.1

»Ihr seid ein königliches Priestertum« (1 Petr 2,9) Das ist das Dilemma, mit dem wir es in weiten Strecken in unserer Kirche zu tun haben. So sehr Rollen notwendig und wertvoll sein können, um eine Gruppe oder Organisation funktionstüchtig zu machen, sie können eine solche Macht und Bedeutung bekommen, dass jedes Gefühl für die gleiche Würde dabei verloren geht. Das königliche Priestertum, das – wie uns im 1. Petrusbrief (1 Petr 2,9) zugesagt wird – alle Getauften miteinander verbindet, wird zur Farce. Missbrauch geschieht. Ich bin schon unzähligen Brüdern und Schwestern begegnet, die Anteil an diesem königlichen Priestertum haben, die durch Missbrauch zutiefst verletzt worden sind. Es gibt natürlich viele Ausnahmen. Aber – Hand aufs Herz –, wie viel ist in unserer Kirche von »dem auserwählten Geschlecht, dem königlichen Priestertum, dem heiligen Volk, das Gottes Volk geworden ist, nachdem es aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht berufen worden ist« (1 Petr 2,9) zu spüren? Es geht schlicht darum, dass wir in der Kirche wieder miteinander reden. Freilich auf Augenhöhe. Wieweit sind wir doch noch davon entfernt.

Priesterliches Verhalten – Klerikales Verhalten Wie hätte das Drama sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Priester anders aussehen können, wäre nicht die klerikale Seite dominierend gewesen, sondern die wahrhaft priesterliche, die sich aus dem allgemeinen königlichen Priestertum ergibt, das sowohl die so genannten Laien als auch die so genannten Kleriker einbezieht und dessen Kennzeichen die Liebe ist. Spielen wir das doch einmal durch. Ich will dies anhand der unterschiedlichen Akte, die dieses Drama hat, aufzeigen. Ich orientiere mich dabei an Georges B. Wilsons Buch Clericalism.2 13


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.