Skog Ogvann "Der Eisschnellträumer"

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Skog Ogvann

DER EISSCHNELLTRÄUMER ROMAN

l ei pz i g


Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © 2014 Jonas Plöttner Verlag UG, Leipzig 1. Auflage ISBN 978-3-95537-146-3 E-Book 978-3-95537-156-2 Umschlagreihengestaltung: Maike Hohmeier, Hamburg Umschlag: Jonas Plöttner, unter Verwendung eines Fotos von Harald Schottner / pixelio.de Satz: Martin Schotten Gesetzt in der Adobe Garamond Pro Druck: In der EU www.ploettner-verlag.de


Still it was very uncomfortable, and, as there seemed to be no sort of chance of her ever getting out of the room again, no wonder she felt unhappy. Lewis Caroll, Alice’s Adventures in Wonderland

Aber auch so fand sie ihre Lage noch unbehaglich genug, und da sie allem Anschein nach nicht die leiseste Aussicht hatte, jemals aus diesem Zimmer wieder herauszukommen, war es kein Wunder, dass ihr kläglich zumute war.


z u m au t o r

Skog Ogvann, 1974 in Sömmerda geboren, studierte in Leipzig und Oslo Sport. Er nimmt an Dichterwettstreiten teil, ist I­ nhaber einer Baumschule und Redakteur für ein Vornamenportal, im Winter arbeitet er mitunter als Skiguide in Österreich. zum buch

DDR 1983: Richard Busch, Schüler der achten Klasse, tritt nicht in die ideologisch instrumentalisierten Massenorganisationen ein und nimmt nicht an deren Veranstaltungen teil. Seine Passivität wird von Dr. Schmidt, Richards Klassenlehrerin, als Provokation verstanden. Während sie seinen Ausschluss aus Sportvereinen veranlasst und seinen Wechsel in die Abiturstufe verhindert, entfernt er sich auf Schlittschuhen immer weiter von der Tristesse der realsozialistischen Wirklichkeit. Viele Jahre später – Richard ist arbeitsloser Werkzeugmacher und Vater eines Sohnes, Dr. Schmidt ist Schulleiterin – sehen sie sich bei einem Elterngespräch wieder, und alte Wunden ­brechen auf.


Inhalt

11 Der Reiher 13 September 1983 33 Sterne im Kopf 65 Verstaubt und schmutzig 87 Die Hormone 101 Der Tag ist nun vergangen 113 Mitternachtsball 127 Den Schlittschuh ? Neu erfunden ? 141 Einfach weg  ? 159 Westfernsehen 169 Schneewittchen 177 Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden 191 Innenbahn 219 Im Keller



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atürlich habe ich es gelesen, es lag ja zwischen meinen Büchern, zwischen Carroll und Grass, zwischen Alice im Wunderland und Blechtrommel. Den Carroll, zerlesen und abgegriffen, habe ich von einer Engländerin bekommen, für einen Lonely Planet und eine Avocado. Den Grass hat mir Bruno geschenkt. Zugegeben, er ist mein Trost nicht geworden und könnte mein Glaube nicht sein; Strichmännchen habe ich in den Einband gekritzelt, mit dem Fingernagel Buchstaben aus … aber ich schweife ab. Zurück zum Tagebuch, Richards Tagebuch. Mein Bruder Richard. Ich habe es also gelesen, habe in Erinnerungen geblättert, habe lose Gedanken reflektiert, habe die Vergangenheit durch die Nacht getragen, habe … Habe Bruno gefragt – mit seinen zerknitterten Ringeröhrchen hat er gewackelt –, ob es nicht vielleicht wichtig, ja unerlässlich sei, sie zu sortieren, zu veranschaulichen, zu inter­pretieren, diese Erinnerungen, diese losen Gedanken. Und er, was macht er, Bruno ? Kauft mir in einer Schreibwarenhandlung fünfhundert Blatt unschuldiges Papier, reißt den Packen auf, zählt zehn Blatt ab und legt den Rest in mein Nachttischchen, reicht mir einen Füllfederhalter. Mehr Anstoß bedarf es nicht, beschreibe ich sie also, diese unschuldigen, mich tugendhaft beschmeichelnden, so gelehrigen Blätter, mögen sie Richards Erinnerungen tragen, wie die Frau die Frucht, wie der Tag den Sonnenschein, wie der …

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Gott, was für wirre Gedanken. So kann man sich doch nicht treiben lassen. Nein, ich muss mich zur Seriosität zwingen, zur Besonnenheit ermahnen. Also gut, fange ich an. Oder halt. Lasse ich der Gegenwart – der dinglichen, der ­unverschleierten – den Vortritt, lasse ich sie vorangehen, folge ich ihr auf leisen Sohlen.

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Der Reiher

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ichard hat die letzten Äpfel gepflückt, das Laub geharkt und den Rasen noch einmal gemäht. Er setzt sich auf die alte Holzbank neben der Walnuss, sieht in den Teich und zählt Fische. Die Katze der Nachbarin schleicht auf samtigen Pfoten geräuschlos durch den Garten, bläulich schimmernde Raben sitzen laut krächzend in den Bäumen. Ostwind, denkt Richard. Er hält Ausschau nach dem Reiher, der manchmal über Feld und Grundstück kreist. Er summt so vor sich hin, sieht gedanken­verloren zu, wie die goldbraunen Blätter der Walnuss zu Boden und aufs Wasser fallen. » Summst du den Fischen was vor ? « » Leo, na, alles klar ? «, fragt Richard, aus den in welken Blättern schwebenden Gedanken gerissen. » Wie war’s in der Schule ? « » Von der Schmidt «, sagt Leo. Er gibt seinem Vater einen Brief, setzt sich zu ihm auf die Bank. Die Schmidt – Dr. Jutta Schmidt, Schulleiterin am Friedrich-Schiller-Gymnasium – kennt der Vater schon länger, als ihm lieb ist. Sie war seine Klassenlehrerin. Damals. In der DDR. An der Polytechnischen Oberschule Ernst Thälmann. » Die Schmidt, die Schmidt «, raunt Richard. Er zieht einen Zettel aus dem Umschlag, entfaltet ihn und liest leise vor: » Sehr geehrte Familie Busch, da Leo wiederholt negativ im Schulbetrieb aufgefallen ist, bitte ich Sie am Donnerstag, den 11. Oktober um

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18 Uhr, in Raum 8 des Friedrich-Schiller-Gymnasiums zu einem Elterngespräch. Dr. Jutta Schmidt. « » Ich bin überhaupt nicht wiederholt aufgefallen «, sagt der Junge. » Ich bin einmal zu spät gekommen. Und als sie mich gefragt hat, warum, da hab ich gesagt, dass ich einer alten Omi noch über die Straße helfen musste. Das war alles. « » Soso, einer alten Omi «, nickt Richard und zeigt auf den Teich. » Ich glaube, der Reiher holt unsere Fische. « » Der Reiher ? « » Der Reiher. «

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September 1983

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r. Schmidt hatte gelocktes, dunkelblondes Haar und kleine Füße. Ihr Kopf war rund, die Nase spitz. Saß sie hinter dem Lehrertisch, wirkte sie beinahe sportlich. Natürlich hatte sich Richard die erste Deutschstunde bei seiner neuen Klassenlehrerin anders vorgestellt. Mit fester Stimme sprach sie zu den 25 Schülerinnen und Schülern der 8a und rechtfertigte den Abschuss eines süd­ koreanischen Passagierflugzeuges durch einen sowjetischen ­Abfangjäger: Die Boeing 747 sei ein Spionageflugzeug der USA gewesen und die Personen an Bord, Agenten, hätten mit Fallschirmen über dem Territorium der Sowjetunion abspringen wollen, um hetzerische Flugblätter zu verbreiten und die fortschrittlichen Kombinate der UdSSR auszukundschaften. Insgesamt sei es wieder einmal ein so schäbiger wie nutzloser Versuch der imperialistischen Länder gewesen, den Siegeszug des Kommunismus aufzuhalten; die Reaktion der Sowjetunion müsse daher unbedingt als logische und richtige Konsequenz auf diese plumpe Aggression verstanden werden. Nach der ersten Deutschstunde bei Dr. Schmidt waren Richard die Spionagemethoden der imperialistischen Welt hinlänglich bekannt. Und weil sich die Schmidt auch noch über angloamerikanische Wertevorstellungen lustig gemacht hatte, war er doch skeptisch, dass sie als Englischlehrerin überhaupt was taugte. Logische und richtige Konsequenz ?, fragte er sich, als er zum Training fuhr. Agenten ? Mit Fallschirmen abspringen ?

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Schäbiger wie nutzloser Versuch der imperialistischen Länder ? Richard war Radsportler. Bei den Bezirksmeisterschaften im Juni war er Fünfter im Zeitfahren geworden. Zweifellos ein Erfolg. Über den er sich aber nicht so recht hatte freuen können, nur wenige Sekunden war er an einer Medaille vorbeigefahren. Richard, mein Bruder Richard. Wir wohnten im Plattenbaukomplex Frohe Zukunft. Unsere Dreiraumwohnung im vierten Stock entsprach realsozialistischem Standard: Küche und Bad waren fensterlos, die Zimmer waren klein, der Flur war schmal. Die Stube hatte Südbalkon, mit Blick auf Wohnblocks, betonierte Wege und einen Baum. Schlaf- und Kinderzimmer hatten Nordfenster, mit Blick auf Wohnblocks, eine asphaltierte Straße und einen Baum. Als Richard nach Hause kam, stand unsere Mutter in der Küche und trocknete Geschirr ab, ich saß mit einem gelben Karton in der Stube und wartete darauf, ihn öffnen zu dürfen. » Na, Großer, wie war’s in der Schule ? «, fragte Mutter. » So lala «, antwortete Richard. » Aha, ach so, und das heißt ? « » So lala eben «, sagte Richard und kam in die Stube. » Westpaket ? «, fragte er. Ich nickte. » Von Renate. « Renate war eine Freundin unserer Mutter. Sie hatten sich irgendwann mal über die Junge Gemeinde kennengelernt, seither schickten sie sich gelegentlich Briefe und Pakete über die Grenze, besucht hatte uns Renate das letzte Mal zu meiner Taufe. » Ist da auch was für mich drin ? «, wollte ich wissen. » Vielleicht ein Tintenkiller ? «

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Schon zu meinem Geburtstag im Mai hatte ich mir einen Tinten­killer gewünscht, aber nicht bekommen. Und natürlich hoffte Richard, dass ein Tintenkiller für mich in diesem Paket war. » Wohl kaum «, antwortete er. » Da ist bestimmt nur Kram drin, nichts Spannendes. « » Nichts Spannendes ? In einem Westpaket ? «, wunderte ich mich. » Darf ich es aufmachen ? Bitte. « » Erst wenn Papa da ist. « Unsere Eltern arbeiteten in volkseigenen Betrieben, Mutter in einem Büromaschinenwerk, Vater in einem Baustoff­kombinat. Sie disponierte und er stellte Drähte her. Drähte für Maschenzäune, Spannbeton und solche Sachen. Dicke und dünne Drähte, kurze und lange. Aus Aluminium, aus Kupfer, aus Stahl und so weiter. Im Fernsehen sprachen sie immer mal wieder über Leute, die sich mit Drähten beschäftigten, an Drähten zogen. Dunkle Gestalten, Halunken waren das aber meistens. Zugegeben, ich schämte mich dann für unseren Vater. Und wenn mich jemand fragte, wo er denn arbeite, dann antwortete ich, er arbeite im Zoo, bei den Schlangen. Vater kam meistens erst gegen fünf nach Hause. Ich sah zur Uhr, es war halb, ein paar Minuten musste ich also noch warten. Renate hatte wieder abgetragene Sachen, Schokolade und Backzutaten, aber auch, und das war ungewöhnlich, ein paar Südfrüchte geschickt. Dass die Jeans doch Richard passen könnte, er sie doch mal anprobieren solle, rief Mutter und warf ihm die Hose zu, und

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an mir vorbei, und so nah an mir vorbei, dass mich ein leiser Lufthauch streifte. Ich sortierte die Früchte der Größe nach. Ob eine Kartoffel also auch eine Südfrucht sei, wollte ich wissen. Und warum uns Renate denn überhaupt Kartoffeln schicke, warum sie das denn gemacht habe. Mutter lachte. Und erklärte mir, dass das eine Kiwi sei, keine Kartoffel. » Kiwi ? «, fragte ich und ahnte, dass man eine so raue, so h ­ aarige Frucht wohl besser nicht mit Schale aß. » Muss man die schälen ? « » Die muss man in der Mitte durchschneiden und dann auslöffeln «, erklärte sie mir. Ich griff zur nächsten Südfrucht. » Und was ist das hier ? « » Das ist eine Pampelmuse «, sagte Mutter. » Pampelmusen haben viele Vitamine. « Vitamine sind wichtig, dachte ich, strich mit der Hand über die glatte Frucht und biss hinein. » Nein ! «, schrie Mutter. » Schmeckt nicht «, nuschelte ich und ließ den Biss in meine hohle Hand fallen. » Man muss die Pampelmuse ja auch in der Mitte durchschneiden und dann auslöffeln, dann wird sie schon schmecken «, meinte Mutter. » Wieso bist du denn auch immer so voreilig ? Und außerdem sollst du nicht immer gleich alles in den Mund nehmen, das habe ich dir schon oft gesagt, du bist ja schließlich kein kleines Kind mehr. « Südfrüchte schnitt man also in der Mitte durch, um sie dann auslöffeln zu können. Obgleich ich mich inzwischen mächtig

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genierte, fragte ich weiter: » Und was ist das hier ? Ist das eine Ananas ? « » Eine Ananas, ja «, nickte Mutter. » Die muss man bestimmt schälen. « » Oder in der Mitte durchschneiden und dann auslöffeln «, vermutete ich. Sie gluckste, legte eine Kokosnuss aus der Hand und sah Vater beim Anprobieren eines Ledermantels zu. » Der ist ja recht hübsch, aber vielleicht doch etwas zu groß «, wiegte er unschlüssig den Kopf. » Ja, der ist zu groß «, fand auch Mutter. » Den kannst du nicht anziehen, nein, das sieht ja liederlich aus. « Inzwischen probierte Richard die ausgewaschene Jeans und einen weinroten Pullover an, auf dem in fetten weißen Druckbuchstaben St. Louis stand. » Passt doch ganz gut «, meinte Mutter. » Die Hose ist vielleicht ein bisschen zu lang, aber wie ich dich kenne, stört dich das ja nicht. Und außerdem, du wächst ja noch. « » Nicht schlecht «, fand Richard. » Kein Tintenkiller dabei «, sagte ich enttäuscht. Diesen weinroten Pullover, der so herrlich nach Westweichspüler roch, zog Richard am nächsten Tag in die Schule an. Doch in solch politisch angespannter Situation einen Pullover mit dem Schriftzug einer nordamerikanischen Stadt zu tragen, war töricht, ob der Pullover nun gut roch oder nicht. » St. Louis ist eine US-amerikanische Verbrecherstadt «, verkrampfte sich Dr. Schmidt, als Richard seine Jacke an den

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Kleider­haken gehängt hatte. » Wie kannst du es wagen, so einen Pullover anzuziehen ! « » Wir haben den Pullover geschickt bekommen «, rechtfertigte sich Richard irritiert. » Er ist schön weich, er gefällt mir. Und das mit der Verbrecherstadt, das habe ich ja gar nicht gewusst. « » Ich kann mir auch schon denken, woher ihr den Pullover geschickt bekommen habt «, schimpfte Dr. Schmidt weiter. » Schöne weiche und vor allem preiswerte Pullover gibt es aber auch in der Deutschen Demokratischen Republik zu kaufen, es ist also überhaupt nicht nötig, die schäbigen Sachen des Klassen­ feindes anzuziehen. Würdelos ist das, zieh diesen Pullover sofort aus ! « » Dann bin ich nackt. « » Dann zieh deine Jacke an ! « » Dann schwitze ich mich kaputt. « » Dann gehst du jetzt nach Hause und ziehst dich um, ich möchte diesen Fetzen Stoff jedenfalls nicht mehr sehen, schon gar nicht hier in der Schule; Ernst Thälmann würde sich ja im Grabe umdrehen, schämen solltest du dich ! « Richard nahm seine Jacke und lief aus dem Klassenraum, sprang die Treppen hinunter, rannte über den Schulhof, über die Straße und auf die grauen Plattenbauten der Frohen Zukunft zu. Vor dem Kindergarten sah er Bauarbeiter Backsteine von einem W50 laden. Backsteine. In einem Plattenbaukomplex. Erstaunlich fand er das allemal. Erstaunlich fand er dann aber auch, dass so viele abgetragene Sachen aus dem Westen in unserem Kleiderschrank lagen. Er zog sich um und ging zurück in die Schule. Im Treppenhaus

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kam ihm Direktor Schell entgegen. » Hoi, Richard, warum bist du denn nicht im Unterricht ? «, wollte er wissen. Direktor Schells Tochter Anne war in Richards Klasse. Und sie war Richards beste Freundin. Und wir wohnten mit Schells im selben Hauseingang. Und weil sie uns ihre Blumen gießen ließen, wenn sie im Urlaub waren, und weil sie Vater hin und wieder um Hilfe bei Renovierungs- oder Reparaturarbeiten baten (da der Direktor, wie Mutter meinte, zwei linke Hände habe, was ich für eine üble Laune der Natur hielt), war ich mir sicher, dass sie uns mochten, uns Buschs. Mal bedankten sie sich dann mit einer Flasche Wein, mal mit einem Pfund Schinken bei unseren Eltern. Doch selbst Richard und ich bekamen ab und zu eine Kleinigkeit von ihnen geschenkt; so erinnere ich mich beispielsweise an eine Signalanlage für unsere Modelleisenbahn: » Aber Frau Schell «, hatte Mutter da gesagt, » das ist doch bestimmt sehr teuer gewesen «. Und Frau Schell hatte geantwortet: » Ach, i wo, Frau Busch, das hat doch nur ’n Appel und ’n Ei gekostet. « Ein Apfel und ein Ei, für so eine tolle Signal­anlage. Ich hatte lange geglaubt, Schells hätten sie tatsächlich mit einem Apfel und einem Ei bezahlt. Ich hatte aber auch lange geglaubt, dass der Direktor tatsächlich zwei linke Hände habe. Obwohl, selbst wenn seine rechte Hand eine linke Hand gewesen wäre, wäre sie doch trotzdem irgendwie zur rechten Hand geworden, wenn sie an seinem rechten Arm … aber ich schweife ab, schon wieder schweife ich ab. Also zurück zum …

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Meine Geschichte ist traurig, sagte die Maus. Aber ich bin von Natur aus weitschweifig, und deswegen fürchte ich, meine Geschichte könnte es auch werden. Was deine Person angeht, so hast du recht, sagte Alice und sah dabei mit Staunen auf den langen Schwanz der Maus hinunter. Zurück zum Tagebuch, Richards Tagebuch: » Ich war zu Hause, mich umziehen «, antwortete Richard. » Ach so, umziehen «, sagte der Direktor. Er legte seine Hände auf den Rücken, schien nachzudenken, sprach weiter: » Du, Richard, an meinem Fahrrad ist neulich die Kette gerissen. Ich habe auch schon probiert, sie zu reparieren, habe das aber nicht hinbekommen. Kannst du dir das nicht vielleicht mal ansehen ? « » Kann ich, klar, gleich nach der Schule. « » Nein, nein, keine Eile, du hast doch heute bestimmt Training, oder ? « » Heute nicht, nein. « » Ah, na dann, gut «, sagte der Direktor, strich sich mit der Hand über sein spitzes Kinn und nickte. » Gut «, sagte er wieder. » Es steht im Keller, es ist das … also das mit der gerissenen Kette. « Direktor Schell lachte, und Richard lachte manierlich mit. Richard ließ sich von Anne den Schlüssel geben, ging in den Keller und reparierte das Fahrrad ihres Vaters. Während er so reparierte, sah er zwischen Marmeladengläsern und Apfelsaftflaschen eingestaubte Rollschuhe liegen. Rollschuhe, mit sol-

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chen Dingern war er als Kind mal gelaufen, er erinnerte sich dunkel. Er zog die Rollschuhe an und stolperte los, stolperte auf schmalen Bürgersteigen durch die Frohe Zukunft und weiter Richtung Stadtrand. Auf den gepflasterten, leicht abschüssigen Trottoirs der Altstadt stürzte er zweimal. Eine Frau mit Kinderwagen wich ihm aufgeregt aus, über Kreidekästchen hüpfende Mädchen sprangen lachend zur Seite, als er ungelenk auf sie zugerollt kam und nicht bremsen konnte. Er lief zum Ziegelteich und setzte sich auf eine Bank. Die schäbigen Sachen des Klassenfeindes ?, fragte er sich. Ernst Thälmann würde sich im Grabe umdrehen ? Zwei Rentnerinnen spazierten auf den Teich zu; auf einen Krückstock gestützt, wunderte sich die eine zu der anderen, dass sich ihre Katze, wenn sie Fischbüchsen auslecke, nicht die Zunge an den scharfen Kanten aufschneide. Als Richard nach Hause kam, stand Mutter in der Küche und trocknete Geschirr ab. Komisch, dachte Richard, immer wenn ich nach Hause komme, steht sie in der Küche und trocknet Geschirr ab. » Wo bist du denn gewesen ? «, fragte sie. » Ich war Rollschuh laufen. « » Rollschuh laufen ? Ach so ? Haben wir denn Rollschuhe, ja ? « » Wir nicht. Aber Schells. « » Ah, Schells «, nickte sie. » Ich habe dir Schnittchen gemacht, stehen im Kühlschrank. Du hast doch bestimmt noch nichts gegessen, oder ? Hast du Durst ? Im Kühlschrank steht Apfelsaft. « » Ich verdurste gleich. «

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» Und wie war es heute in der Schule ? Hattest du Unterricht bei deiner neuen Klassenlehrerin ? Wie heißt sie noch mal ? Frau Schmidt ? « » Schmidt, ja. « » Und ? « » Die Schmidt «, sagte Richard und holte tief Luft, » die ist zwar Englischlehrerin, aber die englischsprachigen Länder, die findet sie anscheinend doof, und St. Louis irgendwie ganz besonders. « » Wieso ? « » Na, die unterrichtet nicht, die schimpft nur. Die schimpft auf die USA und auf England, und auf denen ihre Vasallenstaaten. Und den Pullover darf ich nicht mehr anziehen, weil St. Louis drauf steht. « » Deren Vasallenstaaten. « » Was ? « » Deren Vasallenstaaten. Genitiv. « Richard nahm sich ein Glas aus dem Küchenschrank. » In den beiden Org.-Stunden am Donnerstag «, sprach er weiter, » da war die noch ganz nett, da hat die auch mal gelacht und hat auch mal versucht lustig zu sein. Aber gestern und heute, da ist die nur noch streng gewesen. « » Dass eine Englischlehrerin die englischsprachigen Länder nicht mag, das ist aber seltsam «, fand Mutter. » Und ob. « » Und Deutsch ? Wie ist sie so als Deutschlehrerin ? « » Keine Ahnung «. Er hob seine Schultern und trank einen Schluck Apfelsaft. » Die hat ja bisher nur den Abschuss von

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dem südkoreanischen Flugzeug gerechtfertigt, aber noch kein Deutsch unterrichtet. « » Kein Deutsch unterrichtet «, schüttelte Mutter den Kopf. » Ach, weißt du was, zieh den Pullover ruhig wieder in die Schule an. Und wenn sich Frau Schmidt dann aufregt, dann sagst du ihr einfach, dass du den Pullover nur anhast, weil du auf die Rassendiskriminierungen in St. Louis hinweisen willst. « » Das ist eine gute Idee. « » Das war ein Scherz. « » Schon klar «, sagte Richard und ging in die Stube. Vater saß auf dem Sofa und sah sich die Nachrichten des Klassen­ feindes an. Dieses rotbraune Klappsofa, Modell Dagmar, hatte auch unsere Nachbarin. Und unsere Schrankwand, Modell Favorit (polierte Front, Nussbaumdekor), hatte Richard auch schon in mindestens drei anderen Wohnungen gesehen. Irgendwo in der DDR, da war er sich sicher, gab es die gleiche Wohnung noch mal, irgendwo in der DDR war eine Wohnung genauso eingerichtet wie diese: die gleichen Möbel, die gleiche Auslegware, die gleichen Tapeten, die gleichen Gardinen, die gleiche Markise auf dem Balkon, die gleiche Türglocke im Bad. Die gleiche Türglocke im Bad. Obwohl eine Türglocke vielleicht doch etwas Besonderes war, zumindest im Bad einer Plattenbauwohnung. Wir wurden manchmal gefragt, mein Bruder Richard und ich, warum denn bei uns im Bad diese Türglocke hänge, sehr seltsam sei das ja.

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Wir aber fanden das gar nicht seltsam, wir waren ja mit dem Klingeling aufgewachsen, die Glocke hing ja schon immer da. Klingeling. Klingeling. Bevor die Glocke jedoch schon immer da hing, hing sie in einer Drogerie in Karl-Marx-Stadt. In der sich unsere Eltern kennengelernt hatten. Noch lange bevor Mutter angefangen hatte zu disponieren. Und noch lange bevor Vater angefangen hatte Drähte zu ziehen. Wenn wir also gefragte wurden, mein Bruder Richard und ich, warum denn bei uns im Bad eine Türglocke aus einem Tante-­Emma-Laden hänge, dann antworteten wir immer, dass das was mit Erinnerungen zu tun habe, dass das was Sentimentales sei, dass sich unsere Eltern unter dem Klingeling der Glocke kennengelernt hätten. Dann nahmen wir oft nicht mehr als ein beiläufiges Nicken wahr. Nur selten fragte jemand nach, nur selten wollte jemand wissen, warum sich unsere Eltern denn unter dem Klingeling einer Glocke kennengelernt hätten. Wenn aber doch mal jemand nachfragte, dann antworteten wir, dass unsere Mutter ja gelernte Drogistin sei und einmal in einer Drogerie gearbeitet habe. Und dass unser Vater oft Seife bei ihr gekauft habe. Und dass er sie mit seiner Reinlichkeit sehr beeindruckt habe. Und dass sie sich deshalb von ihm aus der Drogerie, der Stadt, dem Bezirk und aus ihrem Beruf habe wegheiraten lassen. Klingeling. Klingeling. Wenn wir die Badtür aber ganz langsam öffneten oder schlossen, dann blieb die Glocke stumm.

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In den nächsten Tagen ging Richard immer artig angezogen in die Schule, er arbeitete in Deutsch und Englisch gut mit und fiel ausnahmslos durch sehr gute Leistungen auf. Als ihn Dr. Schmidt dann auch mal anlächelte, schien sie ihm verziehen zu haben, dass er diesen Pullover getragen hatte. Doch schon bald verkrampfte Dr. Schmidt erneut seinetwegen. Sie trug einen weitschwingenden, dunklen Glockenrock und eine helle, bestickte Bluse, als sie sich feierlich an die 25 Schüler der 8a wandte: Glück sei es, im Sozialismus aufwachsen zu dürfen; Glück sei es, in der achten Klasse die Jugendweihe als wertvollen Bestandteil sozialistischer Erziehung feiern zu dürfen; Glück sei es, durch die Jugendweihe in den Kreis der Erwachsenen des Arbeiter- und Bauernstaates aufgenommen zu werden; glückliche Menschen seien sie, glückliche Menschen. Und obwohl sie die Frage sicher nicht stellen bräuchte – schließlich sei die Teilnahme an der Jugendweihe ja sozialistischer Patriotismus –, frage sie nun doch, ob es einen Schüler gebe, der nicht an der Jugendweihe teilnehmen werde. Nur Richard meldete sich. Den Blick, den ihm Dr. Schmidt jetzt zuwarf, kannte er schon, es war dieser Zieh-diesen-Pullover-sofort-aus-Blick. » Richard, warum meldest du dich ? «, fragte sie. » Weil ich nicht an der Jugendweihe teilnehmen werde «, antwortete er. » Sie haben doch gerade gefragt, wer nicht an der Jugendweihe teil… « » Ich weiß selbst, was ich gefragt habe, ich brauche keinen Papagei «, unterbrach sie ihn schroff. Sie holte tief Luft, rang

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sich ein Lächeln ab. » Du hast mich wahrscheinlich nicht richtig verstanden. Vielleicht habe ich mich aber auch nur undeutlich ausgedrückt: Die … « » Doch, ich weiß … « Die Jugendweihe, fuhr sie fort, sei fester Bestandteil des sozialistischen Lebens in der Deutschen Demokratischen Republik und revolutionäre Tradition der deutschen Arbeiterklasse. Durch die Teilnahme an der Jugendweihe bekunde jeder Schüler sozialistische Vaterlandsliebe, durch die Teilnahme an der Jugendweihe ergreife jeder Schüler Partei für die menschlichste und gerechteste Sache der Welt, für Sozialismus und Kommunismus. Sie wolle nun also noch einmal wissen, ob es einen Schüler in der Klasse gebe, der nicht an der Jugendweihe teilnehmen werde. Wieder meldete sich Richard. Und wieder sah ihn die Lehrerin böse an. Sehr enttäuscht sei sie, Ernst Thälmann würde sich im Grabe umdrehen. Ernst Thälmann. Der hing über der Tür und starrte ihn lächelnd an. Alle starrten ihn an, meinen Bruder Richard: ­ Dr. Schmidt, die Mitschüler, Ernst Thälmann. Aber nur der alte Thälmann lächelte. Er werde sich konfirmieren lassen, erklärte Richard, deshalb nehme er nicht an der Jugendweihe teil. Als Protestant lasse man sich eben konfir… Sie wolle jetzt mit dem Unterricht beginnen, fiel ihm Dr. Schmidt ins Wort.

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In der Großen Pause saß Richard zusammen mit seinen Freunden Max und Jojo hinter einem rostigen Fahrradständer am Rand des Schulhofs und aß seine Schnitten, bewarf den kurzen Schatten einer Kastanie mit Kieselsteinchen. » Warum willst du denn die Jugendweihe nicht machen ? «, wollte Jojo wissen. » Weil ich mich konfirmieren lasse. « » But you can doch beides machen, Jugendweihe und Konfirmation, dann beruhigt sich die Schmidt auch wieder, die hat verdammt finster geguckt. « » Und wie finster die geguckt hat «, fand auch Max. » Gleich zweimal erwachsen werden ? «, fragte Richard. » Bei der Jugendweihe und bei der Konfirmation ? « » Findest du das denn alles doof hier ? DDR und so ? «, fragte Jojo. » Doof ? Nee, überhaupt nicht. Die DDR, das ist doch meine Heimat. Aber paar Sachen versteh ich einfach nicht, zum Beispiel, dass es hier keine Tintenkiller gibt; Tintenkiller sind doch ’ne prima Erfindung. Und dass man nicht reisen darf, wohin man will, das versteh ich auch nicht. Und dass der Abschuss eines Passagierflugzeugs die logische Konsequenz auf irgendwas sein soll, das versteh ich schon mal gleich gar nicht. « Max und Jojo kannte Richard seit über zehn Jahren, seit es die Frohe Zukunft gab. Mit ihnen hatte er Rad fahren gelernt, Sportarten und Arbeitsgemeinschaften ausprobiert, die meisten seiner Geburtstage gefeiert, zusammen im Ferienlager waren sie gewesen. Jetzt sah er in ihren starren Gesichtern, dass sie seine Entscheidung nicht nachvollziehen konnten.

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In der nächsten Stunde hatte die 8a eine Vertretungsstunde ­Geschichte bei Frau Kuhles. Frau Kuhles war die Frau mit dem Buckel. Frau Kuhles war die Frau mit den grauen Haaren. Frau Kuhles war die Frau, die immer einen Stoffbeutel trug. Und weil ihr Mann irgendwann mal versucht hatte, gar nicht helden­haft, einen gefrorenen Broiler in der Kaufhalle zu klauen, unter dem Hut hatte er ihn versteckt, war Frau Kuhles auch die Frau von dem Alten mit dem Broiler unterm Hut. Frau Kuhles sah immer etwas kränklich (blasses Gesicht) und nachdenklich (geneigter Kopf, langsame Bewegungen) aus. Sie war nicht besonders groß und hatte eine Stimme, die so dünn und gebrechlich war wie sie selbst. Stephan Künze hatte Schuhcreme an die Türklinke geschmiert. Als Frau Kuhles die Klinke dann angefasst und die Schuhcreme an der Hand hatte, guckte sie zwar etwas komisch, sagte aber nichts. Statt böse zu werden oder zum Direktor zu gehen, forderte sie die Thälmannpioniere auf, für Frieden und Sozialismus bereit zu sein, dann ging sie, während einige Schüler antworteten, dass sie dazu immer bereit seien, weiter zum Lehrertisch. Sie sah sich in der Klasse um, fragte, wer Richard Busch sei, musterte ihn und ging dann zum Waschbecken, machte sich die Hände sauber und begann, als wäre nichts gewesen, mit dem Unterricht. » Also ich lebe ja eigentlich ganz gerne in der DDR «, begann Jojo auf dem Heimweg, während Anne die Melodie zu ­Hubert Kahs Sternenhimmel pfiff. » And I find es auch gar nicht so schlimm, dass ich keinen Tintenkiller habe. In the GDR gibt es

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