Monique Reining / Karoline Wolff "Herzfehler" ROMAN

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Monique Reining Karoline Wolff

HERZFEHLER R oman

Leipzig


Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig. Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © 2014 Jonas Plöttner Verlag UG, Leipzig 1. Auflage ISBN 978-3-95537-144-9 E-Book: 978-3-95537-155-5 Umschlagreihengestaltung: Maike Hohmeier, Hamburg Umschlag: Jonas Plöttner, unter Verwendung eines Fotos von svolanski / http://creativecommons.org Satz: Jonas Plöttner Gesetzt in der Adobe Garamond Pro Druck: In der EU www.ploettner-verlag.de



Zu den Autorinnen: Monique Reining, 1983 auf Rügen geboren, hat sich nach einer Ausbildung zur Mediengestalterin und vier Jahren des Studiums in Greifswald für ein Leben auf der Insel entschieden. Sie wohnt und arbeitet in Bergen auf Rügen. Karoline Wolff ist 1984 auf Rügen geboren, ebendort aufgewachsen und nach sieben Studienjahren in Oldenburg wieder auf die Insel zurückgekehrt. Sie hat ein Kind und ein Antiquariat.


Zum Buch: »Herzfehler« ist eine Geschichte über die Liebe – über erfüllende und unerfüllte Liebe; Liebe, die jahrzehntelang wartet, und Liebe, die innerhalb eines Augenblicks geboren wird; beginnende Liebe und Liebe, die endet. »Herzfehler« ist eine Geschichte von jüdischen Großmüttern und verträumten Enkeltöchtern, von überaus klugen älteren Herren und vorlauten Bengels, von Familien, von Freundschaften, vom Leben, vom Tod. Eine Geschichte zwischen Mutters Küchentisch und der Piazza San Marco, zwischen dem Rücksitz eines klapprigen Volvos und den Hollywood Hills. Eine Geschichte zum Lachen. Eine Geschichte zum Weinen. Eine Geschichte mit viel Musik. Eine, die schlussendlich sagt: Hör auf dein Herz.


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Kapitel I Herzflattern

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1 August. Venedig. Kennen Sie Margaret DuChamp? Sie sollten sie kennenlernen. Die Dame ist nämlich keine, sondern eine recht nette Bar am Campo Santa Margherita, benannt offenbar von einem Freund der Wortspiele, ein angenehmer Aufenthaltsort für junge Menschen und für solche wie mich, die junge Menschen ganz gern betrachten – vor allem die weiblichen. Ich bemerke soeben, wie zweideutig dieser Satz ausgefallen ist, impliziert er doch, dass die Signorinas auch mich gern betrachten. Sei’s drum. Wäre dem nicht so, könnte ich meinen Beruf an den Nagel hängen, und danach steht mir noch lang nicht der Sinn. Ich bin, müssen Sie wissen, beim Film. Dennoch sitze ich hier, an diesem herrlichen Sonntag im August, an dem das ganze Hotel Excelsior mit Prominenz vollgestopft ist und sich die Touristen in den Gassen nach jedem angegrauten Herrn umdrehen, da er durchaus George Clooney sein könnte. Ich habe mit Clooney schon gearbeitet; er ist ein netter Bursche – italophil, guter Mann – nur hatte ich Schwierigkeiten mit seiner Aussprache. Und den Rummel um seine Person habe ich nie begriffen … Es ist also die Zeit der Filmfestspiele in Venedig. Wir verleihen wieder einmal den Goldenen Löwen – was ist dagegen die Goldene Palme von Cannes? Ich bitte Sie, eine Palme? Aber der Löwe hat Stil. Heute Abend werde ich an einem Empfang teilnehmen, gestern schleppte mich meine Frau in einen dieser fürchterlichen

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Streifen, die außer Konkurrenz laufen. Inzwischen erhole ich mich von alledem bei einer Tasse Kaffee – und einem kleinen Schnaps – bei Margaret DuChamp und betreibe menschliche Studien. Bitte halten Sie das nicht für persönliche Neugier. Ich bin sehr ungern indiskret. Als Künstler aber – und als solchen betrachte ich mich, denn ich singe und schreibe auch – darf mir nichts Menschliches fremd sein … wie schon der große Dingsbums sagte. Sie wissen schon. Der Franzose in seinem Turmzimmer. Ich werde mir noch ein Gläschen bestellen. Marco, der Kellner, arbeitet seit Ewigkeiten hier und hat bei aller Scheu eine phantastische Art, mit den Touristinnen umzugehen. Da will sich schon wieder eine mit ihm fotografieren lassen. Nicht einmal ansatzweise George Clooney, der Junge. Und was ist mit mir? Barbaren. Ah, und wer betritt jetzt die Szene? Elisabetta, eine meiner Nachbarinnen, wandelt in voller Pracht über den Campo, am Arm so ein unscheinbares junges Ding, an der strassbesetzten Leine ihren hässlichen Köter, dieses kläffende Mistvieh, das irgendeinen faschistischen Namen trägt, auf den ich mich en ce moment partout nicht besinnen kann. Elisabetta – lebt auf der Giudecca, ist, soweit man weiß, Jüdin, hat vor Jahren ihren Mann beerbt und nennt den Fiffi Mussolini … Oder war es Goebbels? Egal; ich proste ihr zu, sie schenkt mir ein Lächeln direkt aus der Meißener Manufaktur und flaniert, die Signorina im Schlepptau, vorüber. Doch nun! Den beiden kommt ein Paar entgegen, Elisabettas Begleiterin stutzt, erbleicht, ihr entgleisen die Züge. Sie

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hält inne und gibt ein atemloses »Was machst du denn hier?!« von sich. Auf Deutsch. Ich muss sofort an Walsers Fliehendes Pferd denken. Zwei Paare, zufällige Begegnung am Urlaubsort, und Rums! (bei der Romanverfilmung hat mir meine Auferstehungsszene am besten gefallen). Paar eins: Eine trotz ihrer unsäglich gefärbten Haare und des nicht unbedingt altersgemäßen Seidenkleids würdevolle venezianische Nonna mit ihrer alles in allem nicht unattraktiven zwanzigjährigen Enkelin. Paar zwei: Ein junger Mann, ein Knabe beinahe noch, in Gesellschaft eines an sich hässlichen Mädchens von unbestimmbarer Anziehungskraft. DER JUNGE MANN. Er errötet, reißt die Augen auf, etwas scheint ihn machtvoll von seiner Begleiterin weg- und zu der Elisabettas hin zu ziehen (ich vermute, man kennt sich … und ich habe, wie gewöhnlich, Recht). DER JUNGE MANN ALSO. Stammelnd. »Merle … Merle, Merle …« Es ist zu herrlich. Welch ein Klischee. Das Unverhoffte Wiedersehen In Der Lagunenstadt. Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee. Der kleine Nazi von einem Hund beschnüffelt hingebungsvoll die nackten Beine des hässlichen Mädchens, welches sich unwillkürlich in Positur geworfen hat, um ihre Stellung an der Seite des Jünglings deutlich zu machen. Elisabetta sieht sich die überrumpelten Kinder eine Weile an, zerrt dann an der Hundeleine. ELISABETTA. Wie gesagt, würdevoll. »Nun, Merle? Möchtest du mir deinen Bekannten nicht vorstellen?«

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MERLE. Zuckt zusammen und windet sich verlegen. »Das ist Severin. Wir waren am Gymnasium in einer Klasse. Ich hab dir schon von ihm erzählt.« Elisabettas hauchdünn gezeichnete, schwarze Brauen heben sich bis zum Ansatz ihrer kupferroten Locken. »Severin, aha«, murmelt sie. Der Junge scheint sich seiner guten Kinderstube bewusst zu werden, tritt einen Schritt vor und reicht meiner geschätzten Nachbarin eine mit Sicherheit schweißnasse Hand. Ich erhalte fast den Eindruck einer dezenten Verbeugung. »Severin Pfaff. Guten Tag«, sagt er, »Sie müssen Merles Großmutter sein. Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen.« Eine infame Lüge, das sehe ich bis hier. Er wäre im Augenblick ganz bestimmt an jedem anderen Ort lieber. »Und das ist meine Freundin Katja.« Er schiebt seine Begleiterin ein Stückchen nach vorn; es folgt mehr gutdeutsches Händeschütteln und so weiter. »Katja verbringt ihr Auslandssemester hier«, verkündet Severin Pfaff. »Kunst und Romanistik. Im zweiten Semester«, gibt Katja nun preis. Kaum hat sie zu Ende gesprochen, entgegnet ihr Elisabetta eiskalt: »Nun, da bist du ja noch nicht weit gekommen.« Ach, Elisabetta. Immer spielt sie sich so auf, wie sie sich selbst am liebsten sieht: schnippische, abgekühlte Grande Dame ihres eigenen Universums. Ich weiß nicht, wie sie ist. Es herrscht betretenes Schweigen, bis Elisabettas Enkeltochter versucht, die kleine Entgleisung ihrer Großmutter zu über-

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spielen (merken Sie, dass ich wiederholt das Wort »spielen« verwende? Das kommt nicht von ungefähr, nur so viel dazu). »Ach, ähm … wie ulkig. Ich studiere das Gleiche. In Greifswald.« Ich sehe den Ulk in den nüchternen Tatsachen, welche die Gesprächspartner nun beginnen, einander pingpongballartig um die Ohren zu werfen, zwar nicht (Der Ulk in den nüchternen Tatsachen wäre ein feiner Titel für ein Gedicht), aber diese jungen Dinger von heute haben ohnehin einen eigenartigen Humor. Obwohl Elisabettas zunehmend angewiderter Gesichtsausdruck ein wahrer Augenschmaus ist, fängt die Szene an, mich zu langweilen; auch wird es Zeit, meine Frau abzuholen. Auf bald, Margaret DuChamp, auf bald.

2 August. Panker/Darry. Eins muss ich diesem Facebook lassen: Es hat eine Gemeinsamkeit mit der Philosophie. Wenn man einmal angefangen hat, sich darauf einzulassen, kann man sich völlig darin verlieren. Völlig. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin Lehrer der Philosophie an höheren Lehranstalten. Schon immer gewesen. Und jetzt vierundsechzig. Heute geworden. Eigentlich könnte ich in Rente gehen und mir ein Hobby für meine letzten Tage suchen. Mache ich aber nicht. Mein Geist ist zu umtriebig. Ich werde Seminare über Sar-

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tre und Locke abhalten, bis ich auf einem zusammenbreche und verende, da keiner der dort Anwesenden sich dazu durchringen können wird, mich Mund-zu-Mund zu beatmen. Oh nein, ich habe kein negatives Bild meiner Selbst. Ich bin mit mir im Reinen. Ich find mich gut. Heute habe ich mir – zur Feier des Tages sozusagen – einen Facebook-Account zugelegt. Man soll ja mit der Zeit gehen. Und was soll ich sagen – die ersten Personen, die mir zum Zwecke der Freundschaftseinladung einfielen, waren nicht etwa meine Frau (was ja auch Quatsch wäre, denn mit der bin ich ja verheiratet) oder meine Eltern (was noch größerer Quatsch wäre, denn die leben ja nicht mehr – ha! Oh, Walter – das bin ich – makaberer Walter, reiß dich zusammen), nein, das waren eine Handvoll Schülerinnen, die ich ihrer Zeit unterrichtet habe. Nicht, dass ich so was wie erotische Gefühle für diese jungen Damen gehegt hätte … oder? Nein. Oder? Wir waren ja alle erwachsen. Damals am Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium. In der Oberstufe. Ja. Soviel steht fest. Jedenfalls ist irgendetwas hängen geblieben in meinem alten Hirnkasten. Besonders bezüglich dieser Einen … und ich öffne mir genüsslich ein kaltes Bier, während ich Ihnen das erzähle, was ich nicht könnte, wenn ich jetzt aufgeregt wäre. So speziell aufgeregt. Sie verstehen schon. Keine Aufregung. Keine erotischen Gefühle. Ich hab’s Ihnen ja schon zu erklären versucht. Alles rein platonisch. Platon. Hähä. Doch ich schweife ab. Wo war ich? Ach ja: Bei der Einen, Merle Vogt. Merle. Das klingt schon nach Märchen. Und einen Anklang von etwas Märchenhaftem hatte sie auch. Klug. Sehr klug. Aber hoffnungslos unterschätzt. Nicht von mir. Eher von anderen Lehrern, wie mir schien. Irgendwie hat sie es aber doch

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durchs Abitur geschafft. Ein sehr bemerkenswertes Mädchen. Mit einem sehr bemerkenswerten Männergeschmack. Wie hieß noch gleich ihr Scheeks … auch Schüler von mir … langes, dünnes Elend, immer eine Gitarre unterm Arm … Ich werde doch alt. Wie hieß er, wie hieß er? Ah! Severin! Severin Pfaff. So heißt auch nur einer unter achtzig Millionen. Gleich mal suchen in diesem lustigen Facebook. Ich komme mir vor wie ein Stalker. Kennen Sie das? Sind sie auch bei Facebook? Ah, da haben wir ihn ja. Severin. Fünf von vier meiner Unterrichtsstunden hast du gefehlt. Ich nehme das jedoch nicht persönlich. Aber was müssen meine Augen da sehen? – In einer Beziehung mit Katja Bindernagel. Kenn ich nicht. Was ist mit Merle? Ich hätte Stein auf Bein schwören können, dass die beiden zusammen bleiben würden. Für immer. Merle und Severin. Obwohl … ich sag’s den jungen Leuten ja immer wieder: Die einzig wahre Liebe ist die unerwiderte. So. Und diese traurige Erkenntnis gerade eben ist nur ein Beweis für den Aphorismus. Ich hoffe, Sie können mir folgen. Aber nur bis hierher. Zu meiner Kaffeetafel gehe ich nun allein. Mal schauen, ob schon Geburtstagsgäste eingetroffen sind … Merle und Severin. Ich liebe Kuchen.

3 August. Venedig. Merle + Severin, und ein Herz drum herum. Das hatte er tatsächlich mit dem kleinen Messer, das er einmal auf dem Weg

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zum Bahnhof gefunden hatte, in die Rinde eines umgestürzten Baumes am Lietzower Steilufer geschnitzt. Kinderkram vielleicht, aber damals war es ihnen so schön und richtig erschienen. Die alte Buche mit der noch grünen Krone im Wasser hatte aber im Sterben gelegen, was man im Nachhinein, dachte Severin jetzt, als schlechtes Omen hätte werten – und vermeiden sollen. Andererseits würde er in keinen Baum schneiden wollen, der gesund und friedlich im Wald vor sich hin wüchse. Merle und er hatten sich oft in dem kleinen Dorf getroffen, das in der Mitte zwischen ihren beiden Wohnorten lag, zwischen kleinem und großem Bodden. Außer Natur gab es dort nicht viel, aber gerade das hatte sie immer wieder angelockt. An jenem Tag waren sie am Strand spazieren gegangen, obwohl ein leichter Nieselregen fiel. Sie hatten vorgehabt, im Restaurant Lagune etwas zu trinken, doch es war schon geschlossen gewesen. So hatten sie, schweigend beinahe und einander sehr nah, ihre Wanderung an der Küste fortgesetzt. Über die glitschigen Findlinge hinweg hatte er Merles Hand gehalten – sie waren über dieses Stadium ja noch kaum hinaus – während ihm Wassertropfen in den Nacken rannen. War er glücklich gewesen? Oh ja. Merle, seine Merle, sein Märlein, in ihrem langen Rock und dem roten Wollmantel mit Kapuze, wie Rotkäppchen hatte sie ausgesehen, und Severin hätte sich gern ein wenig wölfischer gefühlt. Sie waren noch viele Male dort spazieren gegangen, den schmalen Pfad am Steilufer hinaufgestiegen und wie zwei Waldgeister zwischen den hohen Stämmen der Buchen entlanggehuscht. Im April suchten sie Anemonen, einmal hatten sie Rehe gesehen. Es war eine verzauberte Zeit gewesen, ein zauberhafter Ort.

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Mitten in dem Wald gab es zwei Teiche, terrassenförmig angelegt, aus denen ein stetes Rinnsal den Hang hinuntertropfte und im Winter kleine Stalaktiten aus Eis bildete. In einem dieser Teiche lag eine winzige Insel, über einen morschen Steg zu erreichen. Auf ihr zwei Bäume und eine Bank. Auf dieser Bank hatten sie Erdbeeren gegessen an einem Abend im Juni, dort hatten sie Wein getrunken und sich inmitten eines warmen, großen Schweigens zum ersten Mal geliebt. Severin erinnerte sich, dass ihm vor Lust beinahe schlecht geworden war – aber das mochte auch am Wein gelegen haben. »Ich liebe dich so, meine Merle«, hatte er danach erschrocken geflüstert, und sie hatte gelächelt und gesagt: »Das ist schön.« Ob sie ihn auch liebte? »Natürlich.« Und waren sie glücklich gewesen? Sehr. Sie hatten geglaubt, es wäre für immer, und das war erst zwei Jahre her. Severin war, dank eines von seinem Vater geerbten Herzfehlers (er setzte in Gedanken eine Fußnote: Herzfehler = Herzen in sterbende Bäume schnitzen und dann meinen, es hält) für wehrdienstuntauglich befunden worden, sodass beide sich direkt nach dem Abitur um Studienplätze bewerben konnten. Dann bekam Merle die Zusage für Romanistik und Kunst in Greifswald, Severin wurde in Oldenburg für Germanistik, Philosophie und Musik angenommen. Wartesemester konnten sie sich beide nicht erlauben. Wartesemester hätten beider Eltern nicht erlaubt, um genau zu sein. Und so trennten sie sich unter Liebesschwüren und Tränen. Schrieben einander, telefonierten, meldeten sich bei Facebook an und installierten Skype und stürzten sich in den ersten Se-

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mesterferien wie Verhungernde aufeinander. Aber dann war es zu lang bis Weihnachten. Und dann kam Katja. Severin fuhr sich durchs Haar. Katja. Jetzt seine Katja. Seine schöne, laute, lachende, vollbusige Katja, die in ihrem kurzen Röckchen über den verschneiten Campus schlenderte und dabei an ihrem Mensakühltruheneis lutschte, als gäbe es kein Morgen. Severin hatte sich furchtbar verknallt in diese Katja. Es war, dachte er, wirklich klischeehaft, aber auch wirklich wahr: Wenn die Sonne aufgeht, muss der Mond verblassen. Aus welchem Film stammte das doch gleich wieder? Irgendetwas mit Peter Ustinov. Jedenfalls – so war es gewesen. Severin zündete sich eine Zigarette an. Er hatte Katja nach Hause gebracht – sie teilte sich eine kleine Wohnung mit zwei Studentinnen aus England, solange sie hier in Venedig war. Das Haus lag im Dorsoduro, nahe bei der Accademia und der Universität. Severin besuchte sie für zwei Wochen; er war in einem preiswerten – sogar jetzt preiswerten – Hotel auf dem Lido untergekommen. Er überlegte, ob er gleich das Vaporetto von der Accademia-Haltestelle nehmen sollte, beschloss aber, doch noch einmal über die hölzerne Brücke und bis San Marco zu laufen. Er war zu langsam, jedermann schien an ihm vorbei zu hasten. Sicher Einheimische auf ihrer immerwährenden Flucht vor den Touristen. Severin mochte Venedig. Er wäre gern länger geblieben, aber konnte er es sich leisten? Nein. Er drückte seine Zigarette aus und warf die Kippe in einen Papierkorb. Ein älterer Mann, der ihm vage bekannt vorkam, drängte sich an ihm vorbei. Er trug, ganz old school, einen hellen Leinenanzug, sogar einen Hut. Sicher irgendein überkandidelter Schauspieler. Severin dachte

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wieder an Peter Ustinov. Der Tod auf dem Nil, das war der Film. Mia Farrow. Jane Birkin. David Niven. Maggie Smith. Das waren Schauspieler gewesen. Waren es noch. Zumindest einige von ihnen. Severin musste über sich selbst lächeln. Romantiker, hoffnungsloser. Er würde jetzt seine Gitarre aus dem Schließfach in der Ferrovia holen und sich sein Essensgeld verdienen, punktum. Trotzdem: Merle? … Merle hier und jetzt und überhaupt? Das war wirklich … unwirklich.

4 August. Venedig. Michel de Montaigne! Jetzt fällt es mir ein. Humanum nil a me alienum puto, oder so ähnlich. Lang ist’s her. Selbst mein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es einmal war. Andererseits heißt es doch, wo der Verstand wächst, müssten die Haare weichen. Was wiederum auf mich zutrifft. Doch genug der müßigen – ich kann mich nicht beherrschen, verzeihen Sie – Haarspalterei. Ich beschleunige meine Schritte, die Frau Gemahlin erwartet mich, ich muss mein Vaporetto erreichen. Sehnsüchtig am Fenster stehend will ich die Holde vorfinden, die veilchenblauen Augen auf den Kanal gerichtet, über den mein weißes Boot mich zu ihr tragen wird. Nun, vermutlich steckt die Gattin eher taillentief im Kleiderschrank, während dessen mit Jugendstilmotiven verzierte Tür ihr immer wieder unter lautem Knarren gegen das zarte Gesäßchen schlägt. Keine Tür in unserer Wohnung schließt oder öffnet vernünftig, das macht die feuchtsalzige Luft, und Sie wür-

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den nicht glauben, wie viel eben diese auch unserem verehrten Klavierstimmer einbringt. So. Schon wieder steht mir einer dieser dämlichen Touristen im Weg. Pack, elendes. Ich sehne den November herbei. Aber das ist ja – ich schiebe mich sanft, aber nachdrücklich (das ist so meine Art) an ihm vorbei – das ist doch dieser Severin Pfaff, Albtraum venezianischer Schwiegergroßmütter, schon wieder. Bar jeder weiblichen Eskorte steht er just neben einem Mülleimer und blickt mich kurz mit jenem grüblerischen Den-kenn-ich-doch-Ausdruck an. Ja, ja, mein lieber Severin, aber ich muss eilen, mein Boot geht von der Station Zattere, und zwar in zwölf Minuten.

5 August. Venedig. Severin hatte sich, bevor er herkam, bei den venezianischen Behörden eine Genehmigung ausstellen lassen (teuer erkauft traf es eher), um an relativ exponierter Stelle seiner Arbeit als Straßenmusiker nachgehen zu können. So begab er sich, den Gitarrenkoffer in der Hand, zum Riva degli Schiavoni, das sich vom Markusplatz bis fast zu den (zuweilen) blühenden Landschaften der Giardini erstreckt. Der Nachmittag neigte sich schon dem Ende zu; es schien auf den Straßen um ein Winziges ruhiger geworden zu sein, aber das war eben die Zeit, zu der ihm die Leute gern zuhörten. Vor dem Hotel Londra Palace – vor dem Danieli war er vertrieben worden, obgleich seine Lizenz für ganz San Marco galt – öff-

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nete er den Koffer für die wohlmeinenden Spenden der Urlauber. Er hängte sich die Gitarre um, griff ein paar Akkorde, räusperte sich. Severin spielte Gitarre, seit er vier Jahre alt gewesen war. Für die Aufnahmeprüfung zum Studium hatte er außerdem Gesangsunterricht genommen. Was das Instrument anging, da war er Autodidakt; er besaß ein feines Gehör und begnadete Hände. Bis heute konnte er keine Noten lesen. Er hörte zu – eine Kunst, die nur wenige beherrschen – und eignete sich so alles an, was er brauchte. Groß und hager war er, nicht unbedingt das, was die Mädchen zum Kreischen brachte; aber er hatte volles, dunkelblondes Haar, das im Sommer verblich und wie Messing glänzte, große, dunkelblaue Augen und aus reiner Bequemlichkeit den obligatorischen Dreitagebart. Seine Singstimme war klar, hell und sanft; natürlich sang er Balladen. Meistens waren es Frauen, die Münzen und Scheine in seinen Koffer warfen und ihm dabei schöne Augen machten. Severin konzentrierte sich auf Katja, tippte leicht mit dem rechten Fuß, um sich den Takt vorzugeben und begann zu singen. Er fing mit den Rolling Stones an; dabei klang er immer ein wenig wie der junge Billy Joel, machte darum aber nicht weniger Eindruck. »Have you seen her dressed in blue? See the sky in front of you And her face is like a sail Speck of white so fair and pale Have you seen a lady fairer?«

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Severin war gut in dem, was er tat. Schon war das erste Zweieurostück gelandet. In Oldenburg finanzierte er mit der Musik sein Studium. Nicht nur auf der Straße, er gab auch ein paar Kindern Gitarrenunterricht. Es machte ihm wahnsinnige Freude; er wollte Musiklehrer werden und dann zurück nach Rügen, an seiner alten Schule unterrichten. Bald würde er dafür noch ein zweites Instrument erlernen müssen. Noch schwankte er zwischen Cello und Klavier. »Have you seen her all in gold? Like a queen in days of old …« Prompt erschien Merle vor seinem inneren Auge. Ihm kam bei dieser Zeile trotz Mick Jaggers Stimme jedes Mal dieses Tennyson-Gedicht über die Lady of Shalott in den Sinn. Dann die dazu geschaffenen Gemälde von Waterhouse. Die Queen in Days of Old, die in ihrem Spiegel die Welt an sich vorüberziehen sieht, ohne jemals teilhaben zu können. So war Merle gewesen. Der Lady von Shalott war zum Verhängnis geworden, dass sie sich verliebt hatte. Merle auch? Aber was konnte er, Severin Pfaff, für seine Gefühle? Die nun einmal nicht dieselben geblieben waren. Aber das nächste Lied ist trotzdem für dich, mein Märlein, dachte er, während er die ersten Einnahmen in seinen Hosentaschen verstaute. Als er aufsah, bemerkte er zwei Carabinieri, die in einiger Entfernung standen und herüberschauten. Aus der anderen Richtung, vom Markusplatz her, näherte sich Igor, ein Bekannter seit einigen Tagen. Igor verdiente seine Brötchen damit, dass er sich silbern anmalte, in ein selbst gebautes Robo-

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terkostüm stieg und auf einem Podest Faxen machte. Gerade als Igor grüßend an Severin vorbeizog, sprachen ihn zwei aufgeregte Touristinnen an. Sie gestikulierten in Richtung der Carabinieri und versuchten, dem silbernen Mann in scheußlichem Italienisch beizubringen, dass dieser Platz unter Beobachtung stünde. Severin grinste. Deutsche natürlich. Igor hatte es ebenfalls bemerkt; er verbeugte sich vor den Frauen und schnarrte in ihrer Landessprache »Macht nix. Ich habe Kontrrrakt!« Sie starrten ihn verdutzt an, lächelten und spazierten weiter. Sofort stimmte Severin sein nächstes Lied an; diese beiden guten, besorgten Menschen würden sicher auch etwas für ihn übrig haben. Er sang Lady Stardust. Nicht von David Bowie. Von Lisa Miskovsky. »Stardust, Lady Stardust, Spread your hair across your universe of magic Let us in Let’s fly into the Milky Way Climb these concrete walls and say Don’t ever close us in …« Fünf Euro für die Rotweinkasse. Severin lächelte, bis es wehtat, und die dicken, deutschen Damen waren glücklich. Mit einem Mal stand ein Mann vor Severin, der ihn auf eine irgendwie unangenehme Weise anstarrte. Er wirkte nicht wie ein netter schwuler Onkel, der ein Gläschen mit ihm trinken wollte. Er wirkte überhaupt nicht wie ein netter Onkel, vielmehr sah er – ja, hungrig aus. Severin kam zwar nicht aus dem

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Takt, begann allerdings, sich unwohl zu fühlen. Der Mann hatte einen recht ausgeprägten Silberblick und furchtbar kalte blaue Augen. Sein gelocktes dunkles Haar war lang und ölig; der ganze Kerl sah schmierig aus. »I sing this song So please hold on I sing this song for you And say something that matters Try to say something that matters to you …« Der Fremde deutete einen kurzen Applaus an und kam näher. Geld hatte er offenbar nicht zu verschenken. Severin war nicht überrascht. Schnell sammelte er seine Beute ein und füllte sich die Taschen. »Schon mal dran gedacht, die zu verkaufen?«, fragte der Mann plötzlich. Seine Stimme klang genauso, wie er aussah, sein Englisch verwaschen und kaum greifbar. Severin zuckte zurück. »Was?!« »Die Gitarre«, sagte der Fremde. »Würdest du die verkaufen?« Severin war empört. Der Kerl war Amerikaner, wie man hörte, aber galten die nicht gemeinhin als höflich? Aber bitteschön – unhöflich sein war ja so einfach. »Nö«, machte er nur. Der Mann stieß ein zischendes Geräusch aus, das eher Zorn als Enttäuschung verriet. Schien sich auf rudimentäre Umgangsformen zu besinnen und streckte die Hand aus.

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»Entschuldige. Wollte dich nicht beleidigen. Aber – Mann, weißt du überhaupt, was für eine Schönheit du da hast? Hm? Eine Gibson, ja. Weißt du, ich sammle Gibson-Gitarren. Okay, und deine – eine Hummingbird, richtig? Aber nicht irgendeine; das ist ’ne verdammt alte Hummingbird. Ich meine – sie ist wunderschön, verstehst du?« Severin gab ihm nickend die Hand und fragte sich, womit um alles in der Welt er das nun wieder verdient hatte. »Richtig, ja«, sagte er. »Sie ist vierundachtzig gebaut worden, im Jahr meiner Geburt. Meine Freundin hat sie mir geschenkt. Also, wie gesagt, die Antwort ist nein, ich verkaufe diese Gitarre nicht.« »Was für eine Freundin«, murmelte der Fremde. »Sie muss sehr großzügig sein. Ich meine reich, hm?« »Kann schon sein«, sagte Severin. »Was hat sie ausgegeben?«, wollte der seltsame Mann wissen. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete Severin. »Es war ein Geschenk. Wir reden nicht darüber, was Geschenke gekostet haben.« »Ah«, machte der Mann. »Also – keine Chance, die Gitarre zu kriegen? Sicher?« »Ganz sicher«, meinte Severin ernst. »Okay, aber falls du deine Meinung ändern solltest, ich meine, es könnte ja sein. Ich werde noch neun oder zehn Tage lang hier sein. Mein Name ist Giallo, Mr. Giallo, G-I-A-L-L-O, und hier ist meine Nummer.« Er kramte in den Taschen seiner ausgebeulten braunen Hose und förderte einen Zettel zutage, auf dem in der Tat eine Handynummer stand. Severin nahm das Stück Papier und verstaute es in seiner Hosentasche.

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»Ich glaube nicht, dass ich meine Meinung ändern werde …« »Nur für den Fall!«, unterbrach ihn der schmierige Mr. Giallo. »Nur für den Fall, okay? Wir sehen uns. Ja. Danke.« Damit ging er davon. Severin stand da und starrte ihm dumm hinterher. Seine Gitarre verkaufen, so weit käme es noch! Katja hatte sie ihm zum Geburtstag geschenkt, und sie war teuer gewesen, aber davon – von beidem – einmal abgesehen, war es einfach die schönste Gitarre, die Severin jemals hatte spielen dürfen. Seine Hummingbird, die im selben Jahr geboren war wie er. Er streichelte den Korpus und fuhr mit dem Finger über den Kolibri an der Vorderseite. Verkaufen. Seine Hummingbird. Also wirklich. Severin schüttelte den Kopf. Dann griff er in die Saiten um That look you give that guy von den Eels zu spielen.

6 August. Venedig. »Ach, Oma … ich weiß gar nicht, warum ich so durcheinander bin … ich …« Merle faltete ihre kleinen Hände in ihrem Schoß und pfriemelte am Saum ihres smaragdgrünen Kleides herum. Zwischen den alten, dunklen Möbeln, den schweren Vorhängen und den Unmengen an Porzellan und Tand, der die Wohnung ihrer Großmutter bis in die kleinste Ecke ausfüllte, wirkte sie genauso eingezwängt und zerbrechlich, wie sie sich in diesem Moment fühlte. Die bunten Blumen des kitschigen Polstersofas, auf dem Merle kauerte, schienen sich geradezu in ihr Kleid zu fressen.

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