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Vorwort Folgen des Zweifels
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Beginn eines ersten Romans Der 17. Juni – nicht nur ein Fall Loest Strafbare Utopien Kommunistische Orthodoxie Ein Roman schreibt Geschichte Ein Schriftsteller zwischen den Systemen Der Grenzgänger
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»Mit Erich Loest hat der VS einen Fuß in der Tür« Historischer Betriebsunfall: Der VS-Kongress 1984 in Saarbrücken und seine Folgen »Zwiebeln für den Landesvater« Die deutsche Frage wird neu entschieden Wer hat das Recht der offenen Worte? Zeit zu handeln Schreiben aus dem Labyrinth – Fenster nach Osten werden geöffnet Eine Reise ins Polnische Annäherungen Literatur im Fernsehen zur besten Sendezeit Der sächsische Kulturpolitiker
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»Adler« und ich Eine Liebeserklärung an Leipzig Der 14. VS-Kongress in Chemnitz 1997 Würden und Bürden oder h. c. steht auch für hochachtbares Chemnitz »Das Sozialdemokratischste überhaupt sind die öffentlichen Bibliotheken« Ein Koloss wird Hundert »Die Krake lacht« »Aufrecht stehen«
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Dank Literaturverzeichnis
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Vorwort Dieses Buch begibt sich auf eine Suche. Die Persönlichkeit, deren Spur gesucht und gefunden wird – aufgehoben in Literatur, zeitgeschichtlichen Dokumenten und einem engagierten Wirken – ist eine herausragende Person der deutschen Öffentlichkeit. Zu reden ist von Dr. h. c. Erich Loest. In ihm vereinen sich politische Wachsamkeit und überzeugende Fabulierkunst. Der Fundus von Erlebnis- und Forschungsberichten, von Interviews und Zeitzeugendokumenten, Briefen und Beobachtungen von Künstlern, Journalisten und Geisteswissenschaftlern, gesammelt und weitergeführt im Erich-Loest-Archiv der Kultur- und Umweltstiftung Leipziger Land der Sparkasse Leipzig war Animation für mich, dem politischen Erich Loest durch Jahrzehnte zu folgen. Der Turmbau der Geschichte hat viele Zugänge. Er lässt sich von denen darstellen, die ihren Staat verantworten oder von denen, die von ihren politischen Winkelzügen profitieren. Er kann aber auch aus der Sicht derer beschrieben werden, die sie erlitten haben, bei denen sich der Aphorismus Karl Krauss’ bewahrheitet: »Wer seine Haut zu Markt getragen, hat mehr Recht auf Empfindlichkeit, als wer dort ein Kleid erhandelt hat.« Erich Loest, Chronist des 20. Jahrhunderts, kommt zu Wort als Mittler zwischen gelebter Geschichte und einer heutigen Leserschaft; aber auch als Sachwalter kulturpolitischer Auseinandersetzungen. Für ihn, glaube ich, ist der eine nicht ohne den anderen denkbar. Seine Leidenschaft gilt der Literatur, für sie hat er stets Politik gemacht. Er spricht die Sprache seines Nachbarn, die des Politikers, die des Philosophen. Er schreibt über das Zuchthaus und die friedliche Revolution, über historische Markierungen und legt das Seziermesser an die Lebenswirklichkeit von 40 Jahren real existierendem Sozialismus. In seinen Romanen reizt er die verwegene Mischung aus Privat- und Zeitgeschichtsschreibung aus. Haarscharf am politischen Tagesgeschehen entlang agieren
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seine quer zu den Strömungen stehenden Protagonisten, notiert er seine ausgefallenen Einfälle und Schnitte durch Biografien. Für ihn hat Romanliteratur die Aufgabe, historische Zeitabläufe, geschichtliche Verhältnisse, soziale Probleme, Spannungen mit den ihr eigenen Mitteln darzustellen. Das Feld dafür ist weit. Sowohl literarisch als auch publizistisch setzte der 1926 Geborene von Beginn an auf Klärung. Schon in den Fünfziger Jahren brachte ihm seine Auseinandersetzung mit der ersten politischen Gegenbewegung in der DDR, dem Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953, den er mit analytisch-kritischem Blick im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel hinterfragte, massive Anfeindungen ein. Wenige Jahre später folgten Verhaftung und Verurteilung zu siebeneinhalb Jahren Haft wegen »konterrevolutionärer Gruppenbildung«. Die Bewältigung dieser Zeit verdanken wir seinem Zorn und unbeugsamen Willen, nachzulesen in Loests Buch »Prozesskosten«1, einem erschütternden Stück Dokumentarliteratur. Seine Realität war gegeben für ein abgeriegeltes Land mit 17 Mio. Einwohnern. Das Buch »Prozesskosten« beginnt zur Zeit der Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 und endet ein halbes Jahrhundert später. Ebenso vielschichtiges Dokument dieser frühen Jahre ist die Autobiografie »Durch die Erde ein Riß«2, Loests »Versuch« – so der ursprünglich vorgesehene Untertitel – »die eigene Wahrheit zu schreiben«. Sie ist nicht nur von besonderer zeitgeschichtlicher Bedeutung – und konnte schon deshalb 1981 nur in Westdeutschland erscheinen – sondern eine der wichtigsten und aufschlussreichsten Quellen zur Kulturpolitik der UlbrichtRegierung. Nichts ist erfunden in diesem Buch und doch ist es eine Findung. Details werden mit einer Genauigkeit ins Bild gesetzt, die den Autor als Geschichtsvermittler ausweist. Das ist noch nicht die Erklärung für das Lebendige, unmittelbar Berührende seiner Texte. Geschichtsvermittler gibt es viele, aber eben nur wenige,
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die Sprache beherrschen, die Stimme besitzen und sich aufs Instrumentieren verstehen. Mit seiner Form der Literatur gelingt es ihm, ein Zeugnis zu geben für den Einzelnen und die namenlose Masse derer, die eben diese Sprache nicht besitzen oder zum Verstummen gebracht wurden, ehe sie ihre Stimme erheben konnten. Es ist vorprogrammiert, dass er auch nach seiner Haftentlassung in der DDR als Unperson gilt. Kampagnen, Zensurmaßnahmen und die Verzögerung der Neuauflage seines 1978 endlich erschienenen und sofort vergriffenen Romans »Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene« 3 sind die sichtbaren Zeichen. Der Roman ist einer der wichtigsten Prosatexte dieser Zeit, der in genauen Momentaufnahmen das Wesentliche über die gesellschaftliche Verfassung und darüber hinaus über historische Zusammenhänge aussagt. In ihm wird nicht Hass auf die DDR thematisiert. Das Buch ist damals Angebot und Aufforderung gewesen, sich endlich von einer tiefsitzenden inneren Angst zu befreien. Die offensive Art des Romans hat im Leben des Schriftstellers seine Entsprechung. 1979 unterzeichnet er eine gegen die öffentliche Diffamierung Stefan Heyms gerichtete Petition und tritt aus dem Schriftstellerverband der DDR aus. Die Folge sind Bespitzelungen des Schriftstellers durch die Staatssicherheit. Als der Drehbuchautor Eberhard Görner Jahre später im geeinten Deutschland mit seinem Kamerateam im ehemaligen Gefängnis der Staatssicherheit die Dreharbeiten am Porträt »Erich Loest oder der Zorn des Schafes« beginnt, erklärt ihm der über den Akten sitzende Romancier, »trocken und sarkastisch«, wie sich Görner erinnert, dass er von den 10.000 Seiten, die die Staatssicherheit über ihn angelegt hatte, schon 2.000 gelesen habe und dabei betroffen feststellte: »Ich muss umdenken. Die ich für meine Freunde hielt, waren in Wahrheit meine Feinde. Und die ich als Feinde sah, waren meine Freunde.« 4 Bis zum März 1981 lebt der Loest weiter in Leipzig. Die Erfahrungen und Beobachtungen dieser Zeit genügen, um Loest
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als Verteidiger der Demokratie das Leben und Schreiben in der DDR unmöglich zu machen. Nach vielen Anträgen und Gesprächen wird ihm ein Dreijahresvisum für die Bundesrepublik erteilt. 1984 erscheint in Hamburg bei Hoffmann und Campe der bereits in der DDR konzipierte Roman »Völkerschlachtdenkmal«5, in dem der Autor über die letzten 150 Jahre der Leipziger Stadtgeschichte fabuliert und vom Einfluss der ungeliebten preußischen Nachbarn erzählt. Seine Situation in der Bundesrepublik aktiviert ihn zu einem Sprecher für die Probleme der Emigranten und neben der literarischen Arbeit zu einem Kulturjournalisten, der die Welt bereist und beschreibt. Am 15. Dezember 1989, einen Monat nach dem Mauerfall, liest Erich Loest wieder in Leipzig. Der Andrang im Gohliser Schlösschen ist unglaublich. Stehend wird er begrüßt. In dem anhaltenden Applaus schwingen Erwartungen und Hoffnungen mit. Loest redet nicht von Aufklärung, er ist ihr legitimer Vertreter; die Arbeit an seinem Buch »Nikolaikirche«6 und dem gleichnamigen Film ein folgerichtiger Prozess. In ihm geht der Schriftsteller anhand von Einzelschicksalen den Gründen nach, wie und warum es zum Untergang der DDR kommen musste. Das Buch endet mit der friedlichen Revolution im Oktober 1989. Seine Aufforderung zum Dialog führt Erich Loest selbst auf vielfache Weise weiter, als er mit großer Mehrheit 1994 zum Vorsitzenden des Verbandes deutscher Schriftsteller gewählt wird. Intensiv und energisch betreibt er die literarische Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschen und setzt damit ein Korrektiv zum einstigen Versagen des Verbandes. Hunderte von Lesungen polnischer Autoren in Deutschland, Symposien und Übersetzungen polnischer Literatur sind die neu gewachsenen Möglichkeiten. Darüber hinaus setzt er sich für den Erhalt von Bibliotheken ein, spendet Geld und Bücher, kämpft für mehr Lesestoff in Schulen und Kindergärten. Wichtige Preise und Ehrungen würdigen dieses Engagement.
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Erich Loests politische Bedeutung, die ihn gleichzeitig als einen maßgebenden Schriftsteller und Chronisten auszeichnet, ist der umfassende Blick auf die tiefere Psychologie der Ereignisse, die sich in all seinen Büchern und kulturpolitischen Aktionen widerspiegelt; sowohl in den Romanen der letzten Jahrzehnte, als auch in den politischen Essays, den dramatischen Arbeiten, den Reden. Sie sind die Konturen eines Schriftstellers, den die Städte Leipzig und Mittweida mit der Ehrenbürgerwürde ausgezeichnet haben. Mit dem Erfahrungsfundus seiner eigenen Biografie und der Einsicht in historisches Material greift er in seinem 2005 erschienenen Roman »Sommergewitter« 7 die Geschehnisse des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 auf und erzählt spannend und eindringlich die Schicksale von Menschen, die als Mutige oder Mitläufer in dieses erste Aufbegehren im östlichen Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verwickelt sind. Beeindruckt von einer sich fortschreibenden Haltung erleben wir, dass Erich Loest auf gänzlich andere Weise unterdrückten Persönlichkeiten einen ungewöhnlichen, öffentlichen Raum gibt: Der Schriftsteller hat den Maler Reinhard Minkewitz beauftragt, ein Bild zu malen in Erinnerung an Menschen, deren Lebenswege sich in dem Zeitraum 1946 bis 1960 mit der Leipziger Universität verknüpfen. Zu ihnen gehören der Student und christliche Studentenführer Werner Ihmels. Er trat für eine nicht politisch doktrinierte Lehre ein, wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt und starb an Tuberkulose. Der liberale Studentenrat Wolfgang Natonek wurde am 11. November 1948 festgenommen und ebenfalls zu 25 Jahren Haft verurteilt. Studentenpfarrer Siegfried Schmutzler wurde am 5. April 1957 verhaftet und erst am 18. Februar 1961 wieder aus der Strafvollzugsanstalt Torgau entlassen. Festgehalten wurden auch der Germanist Hans Mayer und der Philosoph Ernst Bloch. Die beiden Professoren verließen die DDR, da sie auf Grund ihrer Lehrmeinungen an der Leipziger Universität in Ungnade gefallen waren. Mit der Sichtbarmachung einer besonderen his-
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torischen Situation und ihrer Opfer in der DDR erinnern Erich Loest und der Maler Reinhard Minkewitz an viele in diesem Land, die ebenfalls aufrecht standen. Erich Loest gehört zu denjenigen deutschen Kulturpolitikern und Schriftstellern, die die persönlichen gesamtdeutschen Erfahrungen vor dem Mauerbau, während der Zeit der problematischen Kontakte durch eine ideologische und reale Mauer hindurch zum Anlass genommen haben, konstruktiv mit einer neuen Chance umzugehen und anstehenden Dialogen nicht auszuweichen. Regine Möbius
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FOLGEN DES ZWEIFELS Beginn eines ersten Romans Zehnjährig füllt Erich Loest im April 1936 den Aufnahmeantrag für das Deutsche Jungvolk aus. Seit drei Jahren regiert Adolf Hitler. Der Diktator hat den Reichsjugendführer der NSDAP, Baldur von Schirach, eingesetzt, die Jugend in gleichem Schritt und gleichem Denken auszurichten. Der eher schmächtige Erich L. wechselt in jenem Jahr von der Volksschule zur Oberschule. Ein Einparteienstaat ist entstanden, der den Menschen Rechte nimmt, die in der westlichen Welt als unveräußerlich gelten. Deutsche, die ihrer Stellung und ihrem Selbstverständnis nach für diese Rechte stehen, bleiben stumm oder werden als Verräter eliminiert. Drei Jahre später, im Sommer 1939, tritt Adolf Hitler vor den Reichstag und verkündet den angeblichen Angriff polnischer Soldaten. Keiner erfährt, dass SS-Männer in polnischen Uniformen das Feuer eröffnet haben. Auf Grund dieser Lüge beginnt am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Mit ihr wächst der Schüler Erich L. auf. Durch die offiziellen Siegesmeldungen hindurch, die auch im dritten und vierten Kriegsjahr nichts an ihrem pathetischen Allmachtswillen verloren haben, hört der junge Loest an einem Sonntagmorgen seinen Vater sagen: »Krieg mit Russland. Nun haben wir den Krieg verloren.« 8 Er behält Recht. Nach der Kapitulation der Deutschen in Stalingrad und der Landung der Alliierten in Frankreich rückt bereits ein halbes Jahr später die Rote Armee unerbittlich von Osten vor. Noch immer dringt kaum etwas von den deutschen Gräueltaten an die Öffentlichkeit; weder die Vernichtung des tschechischen Dorfes Lidice im Juni 1942, noch der heldenhafte Aufstand des Warschauer Ghettos, 1943 liquidiert durch die deutsche Armee. Der Kriegsalltag wird bedrückende Gewohnheit. Immer mehr deutsche Städte werden zerbombt. Die einberufenen Soldaten sind oft erst Sechzehnjährige.
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Auch einige von Loests Klassenkameraden schicken die ersten Feldpostbriefe von der Ostfront. Angst und Hoffnungslosigkeit befällt den Oberschüler. Im März 1944 wird er selbst eingezogen zu einem Grenadier-Ersatzbataillon.9 Der 8. Mai 1945, Datum der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, ist ein Tag der Erlösung. Es ist schwer, die Vergangenheit zu begreifen. Verschwunden ist der deutsche Staat, aber sein Volk, das um sieben Millionen Bürger trauert, die gestorben oder als Gefangene interniert sind, steht unter dem Schock des Krieges inmitten von Trümmern und Elend. Viele hatten geglaubt, für den von der Vorsehung geschickten Führer Adolf Hitler könne es keine Niederlage geben. Doch in nur zwölf Jahren haben die Nationalsozialisten ein ganzes Weltgefüge zerstört. Hunger, Leid und die Bürde einer unglaublichen Schuld sind die Hinterlassenschaften. Die Alliierten einigen sich jetzt über die Aufteilung des besiegten Deutschlands in zunächst drei, später auf Drängen Churchills vier Besatzungszonen. Die »großen Drei« treffen sich das erste Mal nach Kriegsende zu einer Konferenz in Potsdam. Führend sind der neue britische Premierminister Clement Attlee, der US-amerikanische Präsident Harry S. Truman und der sowjetische Generalissimus Josef Stalin. Die Besatzungsmächte übernehmen die oberste Regierungsgewalt. Die sowjetische Zone soll Berlin, die ehemalige Hauptstadt, umschließen. Die Stadt selbst ist in vier Sektoren aufgeteilt, die jeweils von einer der Siegermächte besetzt werden. Sie wird der Sitz eines alliierten Kontrollrates sein. Dieses theoretische Bündnis ist jedoch so nicht haltbar. Auf ganz unterschiedliche Weise kommt das politische Leben in den vier Zonen wieder in Gang. Der ehemalige britische Premierminister Winston Churchill gebraucht mit dem in einer Rede geprägten Begriff des »Eisernen Vorhangs« bereits im Frühjahr 1946 einen Ausdruck, der in den späteren unüberbrückbaren Differenzen immer wieder neu belebt wird. Schon zu diesem Zeitpunkt können sich Journalisten in den westlichen
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Zonen wieder frei äußern, während die sowjetische Besatzung getreu dem eigenen Vorbild mit der »Bodenreform« die Enteignung der Großgrundbesitzer in ihrer Zone vorantreibt. Einschneidendste politische Veränderung im östlich besetzten Gebiet ist die Zwangsvereinigung der Sozialdemokraten und der Kommunisten im April 1946. Schmerzhaft empfindet auch Erich Loest, der aus einer Familie ursozialdemokratischer Prägung kommt, diesen Schritt. Gegründet wird die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), mit der, so argumentieren ihre Befürworter, die Spaltung der Arbeiterklasse überwunden werden soll. Die westzonale SPD jedoch lehnt diesen Schritt ab. Briten und Amerikaner schaffen 1947 ein vereintes Wirtschaftsgebiet. Auf der Moskauer Konferenz wird die Neuorganisation des Finanz- und Geldwesens in Deutschland beschlossen. Es kommt zu Währungsreformen in Ost und West. Im April 1949 unterzeichnen die Außenminister der USA, Großbritanniens und Frankreichs das Besatzungsstatut für Westdeutschland sowie ein Abkommen über die Vereinigung der drei Westzonen. In Ostberlin bildet sich der Volkskongress zur Nationalen Front um, die der politischen Erfassung und Beeinflussung der gesamten Bevölkerung dient. Am 7. Oktober proklamiert der Deutsche Volksrat die DDR und konstituiert sich als Nationalparlament, Volkskammer genannt. Wenige Tage später wählt sie den 73-jährigen SED-Vorsitzenden Wilhelm Pieck zum ersten Präsidenten der DDR. Nach diesem Schritt ernennt das SED-Politbüro den Parteisoldaten Walter Ulbricht zu seinem Generalsekretär und damit zum mächtigsten Mann im Osten des geteilten Deutschlands. Später erinnert sich Erich Loest in seinem Essayband »Träumereien eines Grenzgängers« seiner ersten Nachkriegsarbeitsstelle bei der Leipziger Volkszeitung: »Es war eine wirre Zeit, in der versucht wurde, die Zeitung nach und nach nur von Volkskorrespondenten ,aus der Arbeiterklasse’ schreiben zu lassen.« 10 Die Sowjetunion gilt hierbei, wie in fast allen Belangen, als das große Vorbild. Dass diese den Ländern Mittelosteuropas
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ihr gesellschaftliches und politisches System aufzwingt, ist ein Tabuthema. In Frankreich und Italien gibt es starke kommunistische Parteien, die ihren Widerstand gegen die Deutschen während des Krieges immer wieder thematisieren und damit indirekt die sowjetische Politik unterstützen und die Hoffnung auf ein großes kommunistisches Lager in Europa nähren. Immer deutlicher ist der Kalte Krieg zu spüren. Sein Brennpunkt liegt zwischen dem Westen und der sowjetisch besetzten DDR. Hier wird intensiv und propagandistisch an der Umerziehung zum neuen sozialistischen Menschen gearbeitet. Erich Loest beispielsweise hat die Aufgabe, Arbeiter aus volkseigenen Betrieben zu Kritikern zu erziehen, die die neue Kulturpolitik des Landes bewerten sollen. Der Schriftsteller Bruno Apitz, der das KZ Buchenwald überlebt hat und es 1958 in seinem Roman »Nackt unter Wölfen« einer Weltöffentlichkeit vor Augen führt, ist Leiter dieser Aktion. Während »Nackt unter Wölfen« in der DDR als Inbegriff des »sozialistischen Realismus« gilt, reagiert die Literaturkritik in der Bundesrepublik darauf aggressiv und antikommunistisch. In den Jahren 1945 bis 1949 ist der Oberst (später General) Sergej Tulpanow der Sowjetischen Militäradministration im östlichen Deutschland oberste kulturpolitische Instanz.11 Er weist dem neu gegründeten »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« eine entscheidende, zunächst überparteiliche Rolle zu in Erwartung einer gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit. In der im Jahr 1949 gegründeten DDR wird von Beginn an versucht, Literatur zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen, die die Bevölkerung bewegt und erzieht. Der Begriff »Literaturgesellschaft« wird zur tragenden Vokabel. Er geht zurück auf Johannes R. Becher, Schriftsteller und neuer, kommunistisch geprägter Kulturminister, der die Literatur dazu prädestiniert sieht, erzieherisch an der Menschenformung mitzuwirken. Das ist sicher einer der Gründe, warum die sowjetische Besatzungsmacht hilft, nach dem Krieg wieder ein Theaterleben mit
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vielfältigem Repertoire zu installieren. Bereits 1946 sind 75 Bühnen erneut spielbereit. Bertolt Brecht weiß das zu würdigen mit der Bemerkung: »der mit solcher mühe niedergerungene feind wurde in die theater eingeladen. die ersten maßnahmen des siegers sind brotversorgung, wasserinstallation und öffnung der theater!« 12 Einmal ist Loest anwesend, »als Bert Brecht Leipziger Schauspieler für Maxim Gorkis ‚Die Mutter’ schliff. Volksbühnenfunktionäre waren zur Hauptprobe geladen, aber Brecht ließ sie nicht ein, denn noch hielt er die Inszenierung für nicht vorzeigbar. Das rügten wir im Blatt,« erinnert sich Loest. »Brecht ließ uns ein Handschreiben zukommen, alles wäre Lüge, und er forderte Berichtigung.« 13 Es passierte nichts. Einige Tage später wollte Erich Loest »im Archiv dafür sorgen, daß dem kostbaren Blatt nichts zustieße« und es verschwinden lassen, »aber ein Schuft hatte es schon geklaut.« 14 So wie auf dem Theater für das Proletariat »starke, blutvolle« Kost gefordert wurde, tobte auch in der Redaktion der Leipziger Volkszeitung, in der Loest ja arbeitete, »der Kampf gegen den Sozialdemokratismus und für die Partei Neuen Typs. Der große Stalin, Kampf gegen die Atombombe, der Lebensmittelkartenaufruf, und selbst bei ärgster Papierknappheit, die das Blatt hin und wieder auf zwei Seiten schrumpfen ließ und zwei Abonnenten sich darein teilen sollten, bestand die sowjetische Kommandantur auf der Veröffentlichung der Kirchennachrichten.« 15 Das alles beschäftigt Loest. Tagsüber als Zeitungsredakteur, abends und an den Wochenenden als beginnender Romanschreiber. Er sammelt Papier, das vollständig oder teilweise zum Schreiben genutzt werden kann, halbleere Schulhefte, Rückseiten von Briefen oder Zeitungsmanuskripten. Bedrängend nah sind die Erlebnisse des Krieges. Die will er notieren und sich damit einen Teil der persönlichen Bürde von der Seele schreiben. Im Schreiben hält er Biografien, Verhaltensweisen und Gehörtes fest von Freunden, Weggefährten und Zufallsbegegnun-
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gen. Es entsteht der autobiografisch inspirierte Antikriegsroman »Jungen die übrig blieben«.16 1950 wird dieser in Leipzig veröffentlicht. Mit einem Schlag ist Erich Loest in der DDR bekannt. Für ihn, wie für viele Schriftsteller dieser Zeit, bildet die Erinnerung an den Terror des Nationalsozialismus, die eigene Flucht in Naivität oder die inneren Entschuldigungen für das Unentschuldbare den geistigen Hintergrund des literarischen Schaffens. Im Buch erzählt Erich L. den Weg des Oberschülers Walter Uhlig durch die Wirren der letzten Kriegsmonate und der Zeit danach. Der junge Autor stattet diesen Jugendlichen mit Eigenschaften aus, so erzählt er später, die er gern selbst in sich vereint gesehen hätte: »Schlau, zäh, seinen Ausbildern geistig überlegen, ein trefflicher Schütze, gerissen in den Winkelzügen des feldgrauen Alltags, eifrig im Gefechtsdienst, sonst undiszipliniert, mehr Raufbold als Paradestück. Uhlig ist ein schnellerer Hundertmeterläufer, als sein Autor es je war.« 17 Loests Absicht, auch den »inneren Widerstand« dieses Jugendlichen, den die »Kommissmaschine zu zerbrechen suchte«, nachdrücklich zu beschreiben, stößt bereits zu diesem Zeitpunkt bei der offiziösen Literaturkritik auf Ablehnung. Literatur hat, so die Vorgabe der DDR-Kulturfunktionäre, wesentliche Aufgaben im Rahmen einer sozialistischen Gesellschaftsplanung. Nach einer Rezension dieses Romans »Jungen die übrig blieben« in der Täglichen Rundschau wird er zur Parteikreisleitung bestellt. Der Zeitungstext liegt auf dem Tisch. Zu lesen ist: Loests Haltung mag typisch gewesen sein für Hunderttausende Soldaten. Mochte er damals diese erbärmliche Haltung für die ausschließlich mögliche halten, das war mit seiner Jugend einigermaßen zu rechtfertigen. Inzwischen sind aber fünf Jahre vergangen, und heute ist es nicht mehr angebracht, so »objektiv« standpunktlos darüber zu schreiben. Heute muß ein Deutscher wissen, wie falsch und verhängnisvoll seine damals so schwächliche Haltung der nazistischen Wehrmacht gegenüber war. Diese
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uns gebotene Einsicht müßte bei Loest unzweideutig zum Ausdruck kommen, in der distanzierenden Art, in der sein damaliges Verhalten gewertet wird. Sie fehlt, und damit wird offenbar, wie geistig unverarbeitet der Stoff des Romans geblieben ist. 18 Das Nachspiel ist gravierend. Schließlich geht es um das Blatt der sowjetischen Genossen. Mitarbeiter der Parteikreisleitung stehen innerlich stramm vor dem Zeitungsurteil. Sie werden Lo est zu einem proletarischen Klassenbewusstsein verhelfen müssen. Als Redakteur wird er entlassen und soll für zwei oder drei Jahre in der Produktion arbeiten. Eine ungerechte Behandlung; hatte er doch geglaubt, sich über die erzählte Geschichte hinaus auf ein problematisches Thema zu konzentrieren und sich zu den persönlichen und öffentlichen Erlebnissen seiner Generation in Beziehung setzen zu können. Die offizielle Empfindlichkeit bestätigt Loest: Er ist auf ein wichtiges Thema gestoßen, das nicht nur historische Bedeutung besitzt, sondern zugleich aktuell ist und ideologische Wurzeln freilegt. Ausgerechnet jetzt soll er sich in der Produktion bewähren, gleichbedeutend einer Strafversetzung zu niedrigem Lohn? Dieser Vorgabe will er sich nicht beugen. Ob ihm ein Zufall zu Hilfe kommt oder eine List ist schwer zu sagen. Der neue Status ist: freier Schriftsteller. Reportagen, Rezensionen, Kurzgeschichten sind der Broterwerb. Kulturbund und Schriftstellerverband nehmen ihn Monate später auf. Bald schon entstehen Freundschaften zu Leipziger Schriftstellerkollegen. Herausragend für ihn Wieland Herzfelde, Professor für Germanistik, sowie der Lyriker und spätere Direktor des Literaturinstitutes Georg Maurer. In Maurer vereinen sich für Loest moralische Redlichkeit und kreative Intelligenz. Es ist inspirierend für ihn, sich im Gespräch neuen Genres zu nähern, über Schreibhaltungen zu diskutieren und sich der Gegenwartsliteratur umfassend zu öffnen. 1952 wählen die etwa 160 Schriftsteller des Bezirks Leipzig ihren Vorstand und den Vorsitzenden neu. Die Wahl fällt auf
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den Jüngsten im Verband, auf Erich Loest. Er bringt eine wichtige Voraussetzung mit: Loest ist Genosse der SED. Noch ist ihm die Dimension der Aufgabe nicht gänzlich klar, doch der Wille, sie auszufüllen, lässt sein Selbstbewusstsein wachsen. Neben der ideologischen Auseinandersetzung mit Kollegen erarbeitet er Pläne für ein aktives Verbandsleben. Er selbst sieht sich als kritischen Sozialisten und erwartet, dass die Kritik am Gegenwärtigen die Parteidisziplin nicht aushebelt. Diesen Widerspruch auszuhalten, sieht er als Pflicht eines politischen Bürgers und ordentlichen Genossen an. Der 17. Juni – nicht nur ein Fall Loest In den Nachkriegsjahren bietet die Geschichte zwei grundlegend unterschiedliche Ansätze des deutschen Neuanfangs: In der DDR Reparationszahlungen an die verbündete sowjetische Besatzungsmacht, die das neue Staatsgebilde fast ausbluten lässt; in der eben gegründeten Bundesrepublik forcierter Aufbau durch den Marshallplan. Mit beginnendem westlichen Wirtschaftswunder werden dort Freiheit, Chancengleichheit und Pluralismus als neue Errungenschaften postuliert. Dabei prägt in der Bundesrepublik die tief sitzende Angst vor dem Kommunismus die politische Szene. Slogan der DDR ist »Auferstanden aus Ruinen«, der Titel der östlichen Nationalhymne. Hier will man die Macht in die Hände der Arbeiter und Bauern legen – demokratisch und antifaschistisch selbstverständlich – unter Führung der SED. Diese definiert sich als Trägerin der revolutionären, fortschrittlichen Traditionen in Deutschland und sieht sich deshalb legitimiert, politisch und ideologisch alle zu bekämpfen und zu eliminieren, die ihr im Wege stehen. Sie werden als Feinde und als Agenten des Imperialismus stigmatisiert. Die Partei glaubt, über eine ideologisch unterfütterte Erziehung, die im Kindergarten beginnt und in der Schule fortgeführt wird, um dann an den Universitäten, in den Betrieben und selbst in den Ferienheimen
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eine spezielle Ausformung zu finden, einen sozialistischen Menschen heranziehen zu können. Immer den Ersten Vorsitzenden der Kommunistischen Partei der Sowjetunion vor dem geistigen Auge. Unser »Generalissimus«, unser »Väterchen Stalin« wird er genannt. Die frühen Fünfziger Jahre sind folgerichtig eine schwierige Zeit. Die wirtschaftliche Stellung der Bundesrepublik indes hat sich in dieser Zeit beträchtlich gefestigt. Adenauers Herrschaft, als »Kanzlerdemokratie« bezeichnet, verhilft Bonn zu einer Stabilität, die Weimar nie besessen hat. Entschlossen drängt Adenauer auf Westintegration und versucht gleichzeitig mit den Vereinigten Staaten verschiedene Pläne einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft unter Einbeziehung Westdeutschlands zu diskutieren. Von dieser Entwicklung bedroht, unterbreitet Stalin 1952 einen ungewöhnlichen Plan für ein geeintes Deutschland, das neutral und frei von allen Besatzungstruppen sein soll. Die Vorstellung eines politischen Vakuums in der Mitte Europas wird folgerichtig als Versuch in letzter Minute gesehen, die Integration Westdeutschlands in ein westliches Bündnis zu verhindern und von Adenauer und den Westmächten abgelehnt. Damit ist die faktische Teilung des Landes vollzogen. Am 5. März 1953 stirbt Stalin. Danach lässt die sowjetische Führung über einige Fehler des großen Demagogen Rauchzeichen aufsteigen und verordnet der SED den »Neuen Kurs«. In den ersten Junitagen werden Ulbricht und Grotewohl, die Spitzen der DDR-Führung, darüber unterrichtet. Notgedrungen beschließt der Ministerrat Verordnungen, die die schlimmsten Unterdrückungsmechanismen abmildern könnten: Rückkehrende Westflüchtlinge sollten unbehelligt bleiben und ihr Eigentum zurückbekommen und Selbstständige wieder mit Lebensmittelkarten versorgt werden. Politbüromitglieder kritisieren in diesem Zusammenhang Walter Ulbrichts Führungsstil und fordern eine Verbesserung der Leitungsarbeit. Ungeachtet dieser Tatsache wird die Umformung der SED zur zentralistisch geleiteten Kaderpartei weitergeführt. So genügt in der Regel der
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Verdacht auf gegenwärtige oder frühere Abweichungen von einer einheitlichen Parteilinie, die durch einen systematisch aufgebauten Sicherheitsapparat erkundet werden, um einen Parteiausschluss zu provozieren oder Haftstrafen zu verhängen. Die Kirchenleitungen protestieren öffentlich gegen die Versuche, kirchliche Mitarbeiter und Gemeindeglieder für die Stasi anzuwerben. Die atheistische Propaganda an Schulen und Universitäten nimmt zu. Mit dem Beschluss der SED, den Aufbau des Sozialismus zu proklamieren, sind die Kirchen zum offenen Widerstand genötigt.19 Der angekündigte »Neue Kurs« öffnet im Juni 1953 ein Ventil, das schon lange unter Überdruck steht. Am Vorabend des 17. Juni dann eine aufregende Nachricht im Radio, fast übertönt durch die Störgeräusche der Kurzwelle: In der Berliner Stalinallee wird gestreikt. vAuch am anderen Morgen wird diese Meldung mehrfach gesendet. Es ist vielen klar, das ist die Initialzündung zum Aufstand. Erich Loest versucht trotz Störsender, durch das Pfeifen hindurch etwas zu verstehen. Das gelingt nur in Bruchstücken. Als er früh gegen 6.00 Uhr auf den Leipziger Bahnhof kommt, spürt er bereits das Besondere der Situation. Arbeiter stehen in Gruppen, die sich mit Volkspolizisten streiten auf eine harte und rabiate Art. Er kann nicht stehen bleiben und zuhören, sondern muss zu einem bestimmten Zug. In Berlin ist Sitzung des Schriftstellerverbandes, zu der die Bezirksvorsitzenden geladen sind. Die letzten Wochen und Monate seit Stalins Tod im März sind voller Anspannung in der DDR. Loest spürt eine Nervosität, die von Moskau herüberweht. Sie konzentriert sich in einer kurzen Nachricht: Gegen Ärzte in Moskau sei ein Prozess geführt worden mit unsozialistischen Mitteln. Von Folter ist die Rede. Das allerdings wird offiziell abgestritten. Während seiner Fahrt nach Berlin sieht Erich Loest vom Zugfenster aus einen sowjetischen Schützenpanzer und zwei Lastwagen mit Rotarmisten, die er auch am Flughafen Schönefeld, in Adlershof und in Schöneweide nicht aus den Augen verliert.
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Sie streben ebenfalls dem Zentrum zu. Dann stehen sie Unter den Linden.20 Wenig später nur bewegt sich ein Menschenstrom auf ihn zu: Arbeiter aus den Betrieben Ostberlins ziehen Unter den Linden entlang und biegen in die Friedrichstraße ein. Der Weg der Demonstranten führt zum Haus der Ministerien. Sprechchöre werden laut: »HO [die staatliche Handelsorganisation – Anm. d. Autorin] macht uns k. o.!« Dann wieder: »Es hat keinen Zweck, der Spitzbart [gemeint ist Walter Ulbricht – Anm. d. Autorin] muss weg!« Aufregung im Verbandsbüro. Kuba, der Vorsitzende, telefoniert mit dem Zentralkomitee der SED (ZK). Alle spüren, dass die Lage sich zuspitzt. Und dann kommen zwei Gewitter. Loest schreibt ihnen eine tragende Rolle an diesem heißen Tag in Berlin zu. Zwei Mal müssen die aufgebrachten Massen vor Wolkenbrüchen Schutz in Haus- und Ladeneingängen suchen. Nachmittags gegen 14.00 Uhr kommen die Panzer in die Innenstadt. Schlagartig ändert sich die Situation. Es ist nicht mehr möglich, am Haus der Ministerien den großen Ulbricht herausholen, um mit ihm zu diskutieren. Am Potsdamer Platz fallen Schüsse, die weithin zu hören sind. Hunderte von Fahrzeugen, Schützenpanzerwagen und Panzern fahren in den Grenzbogen vom Ulbrichtstadion über das Brandenburger Tor, den Potsdamer Platz bis zur Warschauer Brücke hinein. Kuba, Loest und einige Kollegen begrüßen die Panzer mit erhobener Faust.21 Im Sinne der Roten Armee scheint das Aufbegehren gelöst. Aber der Funken von der Stalinallee springt über auf das ganze Land. Im Nachgang fordern der Verbandsvorsitzende Kuba und die anderen erfahrenen Schriftsteller, dass sich die Autoren des Landes mit ihren Mitteln zu Wort melden. Auch Erich Loest schreibt darüber, was er an diesem Tag in Berlin erlebt und gehört hat. Die Leipziger Volkszeitung scheint die richtige Adresse. Der Chefredakteur nimmt den Artikel als den genau passenden entgegen. Zwei Tage später liest Loest in der Zeitung seinen Text gröblich verändert. Heute kann er das nicht mehr nachweisen. Seine eigene Fassung hat er längst weggeworfen.
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Sehr schnell bemerkt Erich Loest, wie von einem Tag zum anderen der Volksaufstand verharmlost wird. Erst heißt es: Viele legten die Arbeit nieder, dann: Einige. War erst zu lesen, dass in vielen Städten demonstriert wurde, verkündigt man wenig später: nur in manchen. Die erste Infragestellung der sowjetischen Herrschaft in ihren Satellitenstaaten wird zum Verstummen gebracht. Aber es entgeht der Öffentlichkeit nicht, dass die Arbeiter genau gegen die Machtkonstellation sich aufgelehnt hatten, die die Kommunisten als Arbeiterparadies proklamierten. Letztendlich behaupten Partei und Regierung, es sei ein faschistischer Putsch gewesen und sonst nichts. Diese Art politischer Verharmlosung erbost Erich Loest, und er schreibt den für ihn schicksalhaften Artikel »Elfenbeinturm und Rote Fahne«. Wahrscheinlich in drei, vier Stunden, erinnert er sich. So etwas geht rasch, wenn Wut da ist und Entschlusskraft. Möglichst schnell soll er gedruckt werden. Wolfgang Böhme, Chefredakteur des Börsenblattes für den deutschen Buchhandel, nimmt den Artikel sofort, in dem Loest versucht, erneut eine politische Debatte anzustoßen: Elfenbeinturm und Rote Fahne Wir dürfen es uns mit den Provokateuren vom 17. Juni nicht zu leicht machen. Auf der einen Seite stand ihre wohlgerüstete Organisation, und ihre Arbeit gipfelte in Brand, Terror und Mord. Auf der anderen Seite standen die Demonstrationen von Arbeitern, die sich gegen Mißstände auf manchen Gebieten, vor allem in der Normenfrage, zur Wehr setzten. Es wäre den Provokateuren nicht gelungen, Teile der Arbeiterschaft vor ihren Karren zu spannen, wenn nicht Regierung und Partei, wenn nicht von allen führenden und leitenden Organen innerhalb der Deutschen Demokratischen Republik Fehler von zum Teil ernstem Ausmaß begangen worden wären. Die Zeit, diese Fehler zu untersuchen, ist jetzt gekommen, um so mehr, als diese Fehler nicht etwa mit dem 17. Juni automatisch abgestorben sind, sondern hartnäckig trachten, weiterhin am Leben zu bleiben. Dies
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trifft auch auf die Fehler der Presse zu. Es ist vermutlich nicht mit mathematischer Sicherheit festzustellen, welche Ministerien, welche Parteiorganisationen, welche Behörden und Institutionen am meisten beigetragen haben, Staat und Partei von den Massen zu entfernen, und es dürfte auch müßig sein, dies zu tun; fest steht: Schuld tragen sie alle, und ein gerüttelt Maß an Schuld kommt auf das Konto unserer Presse. […] Auf die Kritik der Massen – und das ist weit schlimmer – gingen die Redakteure auch in ihren Reportagen und Artikeln nicht ein. Machten sie schon in der Präzisierung des Fortschrittlichen erhebliche Fehler, so vernachlässigten sie den zweiten Punkt ihrer Maxime vollständig. Sie rissen die Zurückgebliebenen nicht mit, sie drückten sie in die Ecke. Wer irgendwelche Maßnahmen nicht verstand, hatte ein schlechtes Bewußtsein und war ein Mensch zweiter Klasse. […] Ein weiteres Grundübel unserer Zeitungen war das fast völlige Verschweigen von Mißständen. Beispielsweise war es – vor allem in jüngster Zeit – hin und wieder vorgekommen, daß Partei- oder Gewerkschaftsfunktionäre von den Arbeitern, zu denen sie sprechen wollten, nicht angehört worden waren. Darüber las man nichts in den Zeitungen. Vor allem aber las man nichts über die Gründe, die die Arbeiter zu ihrer ablehnenden Haltung bewogen hatten. Hier wäre es notwendig gewesen, klärend einzugreifen, die Gründe zu untersuchen und beizutragen, sie zu beseitigen. Wir lasen täglich, welche Brigaden ihre Normen erhöht, wir lasen nichts, welche Brigaden die Erhöhung abgelehnt hatten, und vor allem lasen wir nichts über die Motive. Wir lasen nichts über kurze Proteststreiks in einigen Betrieben, mit denen sich die Arbeiter gegenüber Funktionären zur Wehr setzten, die sie in der Normenfrage übers Ohr hauen wollten. [...] Das Negative wurde verschwiegen, das Positive aufgebauscht. Die Proportionen wurden verschoben, und getäuscht wurden nicht etwa unsere Feinde, sondern täuschen ließen sich nur die fortschrittlichen Kräfte innerhalb unserer Republik, täuschen ließen sich nicht zuletzt die Genossen der SED. Kaum eine Zeitung gab es, die nicht auf dem verderblichen Kurs der Selbsttäuschung mitfuhr, und an der
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Spitze steuerten zweifellos die Bezirkszeitungen der Sozialistischen Einheitspartei. Diese Redakteure machten sich selbst etwas vor, sie hatten sich kilometerweit von den Realitäten entfernt. Sie boten ein gleich lächerliches wie tief beklagenswertes Bild: sie saßen im Elfenbeinturm und schwangen die Rote Fahne. Und nach dem 17. Juni? Diese Zeilen brauchten nicht geschrieben zu werden, wenn auf einmal alles in Butter wäre. Aber alte Gewohnheiten sind nicht von einem Tag auf den anderen auszurotten, und auch das Gewitter des 17. Juni hat nicht alle üblen Zeitungssitten der vergangenen Jahre in die Gosse gespült. Mancher atmete am 18. Juni auf: Was war da plötzlich für ein ehrlicher, klarer Ton! Schnitzler hielt einen prächtigen Rundfunkkommentar, das Neue Deutschland schrieb einen sachlichen, in jeder Weise den Tatsachen entsprechenden Leitartikel. Dabei spielt Loest auf die unmittelbar nach dem 17. Juni im Neuen Deutschland zugegebenen Fehler der Partei an. Aber schon wenige Tage später ging es mit dem Beschönigen und Vertuschen wieder los. Selbst das Neue Deutschland schlich sich von der glatten Straße der Offenheit auf einen holprigen Seitenweg. Im Leitartikel des Neuen Deutschland vom 19. Juni stand zu lesen, es sei den Banditen gelungen, »im demokratischen Sektor von Berlin und in zahlreichen Orten der Republik Teile der Werktätigen, an einigen Orten beträchtliche Teile zur Arbeitsniederlegung und zu Demonstrationen zu bewegen!« Zwei Tage später reduzierte das Neue Deutschland schon beträchtlich: »Im sowjetischen Sektor von Berlin wie in einigen Orten der Deutschen Demokratischen Republik gelang es den Provokateuren durch Täuschung und Betrug, einen kleinen Teil der Werktätigen mit sich zu ziehen!« Und was das Zentralorgan tat, machten die anderen Zeitungen fleißig mit. […] Die Proportionen wurden verschoben, und mit all ihren Beschönigungen trugen die Zeitungen in keiner Weise dazu bei, das verlorengegangene Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung wiederzugewinnen. Artikel, die das Gleichgewicht der verschiedenen
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Komponenten einzuhalten versuchten, wurden von manchen Redaktionen eigenmächtig verändert. Kuba erging es so beim Neuen Deutschland, Jan Koplowitz bei der Täglichen Rundschau und dem Schreiber dieser Zeilen bei der Leipziger Volkszeitung. Wie schön wäre es gewesen, eine Zeitung hätte das Bild eines Arbeiters etwa mit folgender Unterschrift gebracht: »Ich habe mit demonstriert. Ich will mit den Provokateuren nichts zu tun haben; aber ich kann auch nicht verschweigen, daß ich mit vielem, was Partei und Regierung bisher getan haben, nicht einverstanden gewesen bin. Ich bin skeptisch geworden wie viele meiner Kollegen. Regierung und Partei werden sich anstrengen müssen, wenn ich ihnen wieder vertrauen soll.« Diese Stellungnahme hätte der Meinung vieler Arbeiter entsprochen; ähnliches aber konnte man nur sehr, sehr vereinzelt lesen. Die Minister und führenden ZK-Mitglieder, die nach dem 17. Juni in den Betrieben gesprochen haben, waren von einer imponierenden Offenheit. Ministerpräsident Grotewohl scheute sich nicht zu erklären, die Regierung habe »den Karren in den Dreck gefahren«. Und da sollen sich einige Zeitungen nicht hinstellen und so tun, als wäre der Karren schon wieder draußen. […] Unsere Zeitungen müssen besser kommentieren, weniger phrasenhaft und völlig ungeschminkt. Sie müssen sich auf den wirklich besten Teil unseres Volkes orientieren, und das ist nicht der, der zu jeder Maßnahme von Partei und Regierung gewaltige Begeisterung heuchelt. Sie dürfen den nicht an die Wand drücken, der nicht jede Maßnahme sofort versteht, und sie dürfen nicht in jedem einen bezahlten Agenten sehen […] Tatsächlich wurden die Arbeiter wieder quasi entmündigt und galten erneut als weiter zu erziehende Bevölkerungsschicht. Die Elfenbeintürme unserer Presse sind durch den 17. Juni ins Wanken geraten, beendet der Schriftsteller seinen folgenschweren Artikel. Nun ist es an den Presseleuten selbst und an allen, denen eine wirkungsvolle Presse am Herzen liegt, die schwankenden Mauern schleunigst und bis auf ihre Grundfesten abzutragen! 22
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