Michael Nyqvist
Gefallen aus allen Wolken A utobiogrAphie
Aus dem Schwedischen von Sonja Vanessa Tonn
Originalausgabe Norstedts Verlag Stockholm 2009, »NÄR BARNET LAGT SIG« Bibliograische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliograie; detaillierte bibliograische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © 2014 JONAS PLÖTTNER VERLAG UG, LEIPZIG 1. Aulage ISBN 978-3-95537-140-1 Umschlagreihengestaltung: Maike Hohmeier, Hamburg Umschlag: Martin Schotten unter Verwendung eines Fotos von Patrick Miller Stockholm Übersetzung: Aus dem Schwedischen von Sonja Vanessa Tonn Satz: Jonas Plöttner Gesetzt in der Adobe Garamond Pro Druck: Elbe Druckerei Wittenberg www.ploettner-verlag.de
ZUM AUTOR: Der Schauspieler Michael Nyqvist wurde 1960 in Stockholm geboren. Sein internationaler Durchbruch erfolgte mit der Hauptrolle als erkrankter Dirigent in »Wie im Himmel« (2004). Der oscarnominierte Film entwickelte sich vom Geheimtipp zum Nischenfavoriten, der in Deutschland über 1 Mio. Kinobesucher erreichte. Neben zahlreichen Preisen brachte dies Nyqvist seine bisher bekannteste Rolle als Mikael Blomkvist in der Verilmung der Stieg Larsson-Trilogie »Verblendung«, »Verdammnis« und »Vergebung« ein.
ZUM BUCH: In seinem ersten autobiographischen Buch »Gefallen aus allen Wolken« berichtet Michael Nyqvist, einer der beliebtesten und bekanntesten Schauspieler Schwedens, von seiner Adoption und vom Suchen und Finden seiner Wurzeln. Der Mann, der sich seit ein paar Jahren auch in Hollywood einen Namen macht, versetzt sich einfühlsam in seine Kindheit zurück, legt das tragikomische Verhalten seiner erwachsenen Mitmenschen ofen und zeigt sein kindliches Denken und Fühlen, das ihm als Erwachsener erhalten geblieben ist. Auf poetische und trockene Weise beschreibt er die Anfänge seiner holprigen Schauspielkarriere, seiner schon früh ausgeprägten Vorstellungskraft bis hin zu seinen ersten heater und Filmarbeiten. Inspiriert durch die Geburt seines ersten Kindes macht er sich schließlich auf die Suche nach seinen leib lichen Eltern. Michael Nyqvist schreibt, wie er spielt: reduziert aufs Wesentliche und mit Gefühl für die kleinen Nuancen. Sein tiefer Sinn für Details und sein authentischer, menschlicher Blick lassen den Leser äußerst mitfühlend und vielleicht auch mit einer Träne in den Augen zurück.
Der Vorhang geht auf. Ich höre einen Pistolenschuss. Aber ich sehe keine Pistole. Es gibt keine Wafen in Strindbergs Drama »Der Vater«. Wo dieser Geruch herkommt, weiß ich nicht. Aber ich bin mir sicher, dass ich ihn gehört habe. Ich sehe mich um, aber niemand sonst im Publikum reagiert. Niemand sonst hat den Schuss gehört. Zwei Schauspieler beinden sich auf der Bühne, fast vorne an der Kante. Sie sitzen auf einem Diwan in der rechten Bühnenhälfte. Ein Pastor und ein Oizier. Die Uniform des Oiziers scheint aus dem gleichen Material wie die Uniformen der Stockholmer Verkehrsgesellschaft gemacht. Ein Stof, der sich etwas dehnen lässt, dann aber wieder zurück in seine genähte Form fällt. Ein belastbarer Stof, der nur an den Stellen abgenutzt aussieht, die man am meisten strapaziert, vor allem an Gesäß und Knien. Der Oizier trägt braune Reitstiefel, hat Biesen an den Hosen, goldene Knöpfe am Wafenrock und einen Stehkragen mit drei Sternen. Sie reden miteinander und schauen sich dabei intensiv an, der Pastor in seinem Gewand aus dem 19. Jahrhundert und der Oizier. Sie sind nicht erzürnt, doch ihre Körper wirken angespannt und sie reden mit feuriger Seele. Ich hänge an ihren Lippen. Nöjd kommt herein, schlägt die Absätze aneinander und stellt sich stramm an die Tür. Der Rittmeister steht auf und geht auf Nöjd zu. Er bewegt sich auf ruckartige Weise, wie eine buschige Krabbe, ist aber die ganze Zeit intensiv und fokussiert.
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Der Pastor und der Oizier scherzen über Nöjds Spielereien mit seiner Verlobten. Ich schaue direkt in das 19. Jahrhundert. Es ist, als bekämen alte, vergilbte Bilder neues Leben. Ich habe Geschichten über meinen Opa gehört. Der Baumeister, der mit den Dienst-und Kindermädchen schlief wie eine Mähmaschine. Ich sehe auch meinen Verwandten Uggla, den Regimentsarzt, der um Entlassung bat, nachdem seine Pistole während der Hauptwache losgegangen war. Jetzt riecht es nach panierter Aalraupe aus der Küche des Ofiziers. Bin es nur ich, der das riecht? Ich sitze im Publikum des kleinen Hauses im Stadttheater und atme durch den Mund. Die Dialoge wühlen mich auf, schlagen mir vielmehr direkt auf den Magen und schütteln mich durch wie eine Achterbahn. Alles ist stark, schön, lecker und ergreifend. Zum ersten Mal spüre ich die Kraft des heaters. Ich besuche die heaterlinie der Birkagårdens Volkshochschule5. Jeden Tag laufen wir in weichen Trainingsklamotten herum und machen Übungen, die eine dümmer als die andere. Ich bin einer der Jüngsten in der Klasse. Aus irgendeinem Grund habe ich die Aufnahmeprüfung bestanden. 5 Die skandinavischen Volkshochschulen richten sich vornehmlich an junge Erwachsene, die dort Erfahrungen in den hemenbereichen Kunst, Handwerk, Musik, Sport, Philosophie, heater, Fotograie oder Medien sammeln können, um die Zulassung zum universitären Studium zu erlangen. Anm. d. Ü.
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Ich habe eine Szene aus »Der Hase und der Bussard«6 von Lars Forssell gespielt und war damit zufrieden, dass ich den Text auswendig konnte. In den Pausen sprechen meine Klassenkameraden über heaterinszenierungen und Schauspieler. Sie haben den gleichen Ton drauf wie meine Mutter, wenn sie über das Königshaus spricht. Messerscharfe, bestimmte Beurteilungen, als ob alle ihre persönlichen Freunde wären. Ich kenne die Namen Gösta Ekman und Dustin Hofmann. Ich habe von Brecht und Molière gehört, weiß aber nicht, was sie geschrieben haben. Für mich sind die Kurse wie Sportunterricht. Ich will mich beanspruchen und schwitzen. Neue Wörter wie Präsenz und Ausstrahlung tauchen auf. Ich weiß nicht, was sie beinhalten, ich verwechsele sie ständig. Wenn ich im Unterricht etwas sage, wird niemals darauf eingegangen, es wird einfach fallen gelassen. Man führt die Diskussion einfach an dem Punkt fort, an dem ich sie unterbrochen habe. Nun beobachte ich Keve Hjelm, der den Rittmeister spielt. Ich sehe etwas, das ich nie zuvor gesehen oder erlebt habe. Er hat eine Urkraft und gleichzeitig eine Intelligenz, so berauschend, dass ich gleichzeitig verlegen und wahnsinnig werde. Ich will herausinden, wie er das macht und glaube, dass ich hier sehe, was Schauspielerei wirklich sein kann. Ich sehe diese Vorstellung acht Mal. Aber es ist mir immer noch ein Mys-
6 Der Titel wurde vom Übersetzer ins Deutsche übertragen. Anm. d. Ü.
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terium. Es ist so, als wisse er, dass er angeschaut wird und als pfeife er darauf. Wir hocken in unseren verwaschenen Trainingsklamotten herum. Der Lehrer sagt, dass man knien müsse, das mache man in einer Grube. Wenn unsere Blicke aufeinandertrefen, werden wir verlegen und schauen weg. Manche lassen sich auf die Übung ein und schließen die Augen. Ich fürchte, dass mein Lachen wieder aus mir herausplatzen könnte, ein nervöses Lachen. Der Lehrer ruft, dass einer der Grubengänge eingestürzt sei. Wir sind eingesperrt. Der Sauerstof wird uns ausgehen. Jemand schreit um Hilfe. Schnell füllt sich die Bühne auf Stora Essingen mit Angstschreien. Ich habe mich längst zum Sterben in eine imaginäre Bergspalte gelegt. Nach anderthalb Stunden ist die Übung vorbei und wir haben Durchnahme und Analyse. Ich muss die letzten zwanzig Minuten in der Grube geschlafen haben. Alle sind sich einig, dass das eine starke, herausfordernde Übung gewesen sei. Ich sitze und schweige. Frage mich, was Keve Hjelm getan hätte. Der Lehrer teilt Aufgaben für die Woche aus. Wir bekommen geschriebene Texte und kompliziertere Situationen, mit denen wir arbeiten sollen. Szenen, mit Hilfe derer wir uns entwickeln sollen. »Helena, ich will dass du eine Szene aus ›Königin Christine von Schweden‹ spielst.«
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Der Lehrer reicht ihr einige Blatt Papier. »Anders, du bekommst eine Szene aus ›Der Geizige.‹ Arbeite das Komische heraus. Maria, du bekommst eine Szene aus ›Der kaukasische Kreidekreis‹. Klar und rein, wie Brecht es verlangt. Dialektik !« Diejenigen, die ihre Szenen bekommen, nicken zustimmend, als ob die weltbekannte Dramatik nur für sie geschrieben worden wäre. »Michael, von dir will ich eine Szene aus ›Schuld und Sühne‹ sehen. Raskolnikow. Zeig mir deinen Ernst.« Mein Kopf füllt sich mit Raskolnikow, Sankt Petersburg, mit hohen, hungernden Idealen in einer kalten Mansarde. Ich lese mir den Text durch. Es ist eine blutige Dramatisierung des Originals. Auf dem Heimweg gehe ich zur Stadtbibliothek im Sveavägen und leihe mir Dostojewskis Roman aus. Ich soll die Szene spielen, nachdem Raskolnikow die Pfandleiherin getötet hat. Er rennt zurück zu seiner kleinen Mansarde, während ihm sein Gewissen zusetzt. Gequält von der Frage, ob es richtig war, die Welt von diesem Parasiten zu befreien, oder ob er einfach brutal gemordet hat. Ideale, die auf menschliches Mitgefühl stoßen. Kopf und Herz. Er köpfte sie mit einer Axt und hat anschließend Blut an seiner Kleidung. In der daraufolgenden Nacht träume ich, dass ich einen Zug überfalle. Der Überfall ist ein Triumph. Aber ich muss mich schuldig bekennen. Als ich erwache, weiß ich nicht, ob die Eu-
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phorie über den gelungenen Überfall mehr wert ist, als die Befreiung durch das Schuldbekenntnis. Ist es das, was Raskolnikow zu schafen macht? Die Angst davor, entdeckt zu werden? Am Vormittag bleibe ich zu Hause. Ich möbliere mein Zimmer um, mache es zu Raskolnikows Wohnraum. Er braucht einen Kamin, in dem er die blutigen Lumpen verbrennen kann. Einen Schreibtisch mit einem Stift und Papier, um seine ins Wanken geratene Ideale aufzuzeichnen. Ich inde ein zerrissenes Jackett und eine Karafe. Er muss Wasser trinken, um sich zu beruhigen. Am Nachmittag gehe ich zum obligatorischen Fechtunterricht. Der Lehrer ist ein älterer Schüler mit einem Lächeln, das in seinem Gesicht festgefroren scheint. In einer Pause sagt er, dass ich wie Björn Borg7 aussehen würde. Ich sehne mich nach Hause zu meinem Raskolnikow. In zwei Tagen soll ich der Klasse die Szene vorführen. Je tiefer ich in die Welt des Romans eindringe, desto schwerer wird es, zurück nach Stockholm zu kommen. Ich will mit Marmeladov in einer Kneipe sitzen und diskutieren. Die Pferde des Zaren über die Plastersteine galoppieren hören, von Hass erfüllt sein. Aber wie soll ich diese Szene gestalten ? Sie soll vier Minuten lang sein. Es reicht nicht, sich wie ein armer Student zu fühlen. Ich übe, im Raum umherzugehen. Ich schüttele mich, aber dabei
7 Björn Borg war zur damaligen Zeit ein berühmter schwedischer Tennisspieler. Anm. d. Ü.
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fühle ich mich albern. Ich brauche Publikum. Was würde Keve Hjelm jetzt machen? Ich schaue aus dem Fenster. Es wird langsam dunkel und es fällt etwas Schnee. Ostermans Werbebanner färbt die Straße in ein kaltes blaues Licht. Meine Stirn liegt an der kalten Fensterscheibe. So muss sich Raskolnikow gefühlt haben. Eine kalte Fensterscheibe an seiner iebrigen Stirn, als er hinaus in die komplizierte Realität schaut. Die verständnislose Realität. Ich wandere wieder durch das Zimmer, fühle wie meine Kreativität zunimmt, wie ich zu arbeiten beginne. Es kommt ins Laufen. Es ist nur so, dass ich keine Technik habe, mit Hilfe derer ich mich ausdrücken könnte. Ich habe keine Ahnung, wie man eine Szene aufbaut. Ich habe bisher nur einen eingesperrten Grubenarbeiter gespielt. Ich habe Angst, dass das Raskolnikow-Gefühl mich verlassen könnte, wenn ich nur umhergehe und beschließe, etwas zu tun. Ich habe von Improvisation gehört, es aber noch nie gemacht. Ich bin mir nicht sicher, was das ist. Aber, dass es mit Wirklichkeit und heater zu tun hat, das weiß ich. Im Treppenhaus habe ich eine kleine Holzaxt. Ich habe sie hinter meinen Jacken vergessen. Eigentlich hätte sie raus aufs Land gesollt. Und ich habe Papas zerschlissenen Lodenrock übernommen. Er ist ganz blank am Kragen und riecht nach altem Zigarettenrauch. Er reicht mir bis zu den Knien. Der Mantel ist perfekt. Er fühlt sich russisch an.
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Ich nehme die Axt und fühle mich etwas dramatisch, als ich mit ihr in der Hand alleine im Treppenhaus stehe. Ich gehe raus ins Schneegestöber mit der Axt unter dem Mantel. Die Straßenbeleuchtung ist an, im Schneegewirbel sehen die Straßenlampen aus wie Gasleuchten. Es ist kaum ein Mensch draußen. Ich gehe den Vanadisvägen hoch, an der Matteus Schule vorbei. Oben auf dem Dach steht ein weiser Spruch für die Kinder: »Fleiß macht weise Gedanken.« Ich verstehe nicht, was es bedeutet. Raskolnikows Außenseitertum liegt mir direkt unter der Haut. Ich stolpere die Surbrunnsgatan entlang. Das Axtblatt fühlt sich kalt an in meiner Achsel. Jederzeit kann ich eine Pfandleiherin erschlagen. Ein Hieb müsste reichen, um ihren Kopf in zwei Hälften zu teilen. Ich bleibe vor einem Reformhaus stehen. Ich betrachte mein Spiegelbild im Fenster und frage mich, was ich hier mache. Ich stolpere über den Odenplan mit einer Axt unter dem Mantel. Die Polizei könnte mich festnehmen. Die wissen ja nicht, dass ich improvisiere. Ich beeile mich, zurück in meine Einzimmerwohnung. Ich habe Lust, die Axt in ein Gebüsch zu schmeißen. Aber wenn das jemand sieht, ist die Axt voller Fingerabdrücke. Wohlbehalten zu Hause angekommen, versuche ich zu handeln, wie es Raskolnikow in seiner Mansarde tun würde. Ein Stuhl muss als sein Kamin herhalten. Ich werfe ein paar Lumpen in den Raum zwischen Stuhlrücken und Sitz. Das soll die
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Kaminöfnung sein. Dann weiß ich nicht richtig, was ich tun soll. Morgen soll ich die Szene meiner Klasse vorspielen. Ich beschließe, die Axt mitzunehmen. Die Klasse sitzt still im Zuschauerraum und wartet darauf, dass ich anfange. Ich bin früher gekommen, um auf der Bühne alles einzurichten. Ich habe einen kleinen Schreibtisch aufgestellt, zwei Stühle daneben und einen Stuhl, der den Kamin darstellen soll. Ich habe meinen Teppich ausgerollt, hauptsächlich damit es schön aussieht. Die Axt trage ich unter dem Jackett, in der Tasche ein paar Lumpen. Die will ich in den Kamin werfen. Ich gehe im Vorraum der Bühne auf und ab. Manchmal höre ich, wie in der Klasse gelüstert wird. Ich weiß, dass niemand höhere Erwartungen an mich hat. Sie denken wahrscheinlich nur, dass es bedauernswert ist, zu warten, bis sie ihre eigenen Szenen vorspielen dürfen. Ich habe keine Ahnung, was ich auf der Bühne machen soll. Keine Ahnung. Ich beginne, meinen Raskolnikow-Gang heraufzubeschwörenm. Wie am Abend vor der Surbrunnsgatan. Plötzlich gehe ich raus auf die Bühne. Ich gehe mit meiner Axt umher. Mein Körper schüttelt sich und ich schaue ins Leere. Ich hole meine Lumpen hervor und werfe sie auf den Boden, dann eile ich zum Schreibtisch und schreibe. Ich stöhne und seufze dabei. Der Brief wird ein Abschiedsbrief.
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Die Szene handelt plötzlich davon, wie ich mir das Leben nehmen will. In aller Ruhe hebe ich die Lumpen vom Boden auf und lege sie ernst ins Feuer meines vorgeblichen Kamins. Ich sehe, wie das Feuer die Lumpen verzehrt und die Beweise verbrennt. Plötzlich höre ich etwas draußen auf der Straße. Die Männer des Zaren. Ich nehme meine Axt, gehe noch ein paar Runden und verlasse die Bühne. Unten im Zuschauerraum ist es still. Absolut still. Mein Lehrer unterbricht das Schweigen, indem er mich zurück auf die Bühne bittet. Als ich wieder ins Bühnenlicht trete, sehe ich, dass mich die meisten anlächeln. Sogar Maria, die Hochnäsige in der Klasse, die bis dahin meist lachte, wenn ich den Faden verloren hatte oder wenn ich etwas sagte, womit ich meine Unerfahrenheit unter Beweis stellte. Sie soll gleich ihre Brechtszene auführen. Nun lächelt mich Maria warm an. Ich stelle mich breitbeinig hin, bewahre einen kühlen Kopf und warte auf meine Hinrichtung. Mein Lehrer schlägt die Beine übereinander. Sie sind sehr kurz und er trägt immer hohe Absätze. Ich habe bemerkt, dass er immer die Beine übereinander schlägt, wenn er ernst reden will. »Hier sehen wir eine neue Seite von Michael. Konzentriert und mit großem Einfühlungsvermögen.« Ich antworte breitbeinig, verändere meine Pose nicht. »Aha.« »Du weißt, dass deine Übung zwanzig Minuten lang war ?«
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»Nein.« Maria meldet sich zu Wort. »Ich inde, das war sehr gut, wie er sich zurückarbeitete, nachdem er alles verloren hatte.« »Ich habe nicht alles verloren.« »Nein, … nein, aber das war gut.« Dann wird es still. »Darf ich mich setzen ?« Der Lehrer wendet sich zur Klasse. »Ich denke, dass Michael nun reif für mehr Text ist. Vielleicht Strindberg ?« Mir fällt auf, dass ich während der ganzen Raskolnikow-Szene nur grunzende Laute und hier und da »Nein!« und »Oh nein!« von mir gegeben hatte. Der Lehrer wendet sich mir zu. »Ich will dich eine Szene aus ›Der Pelikan‹ spielen sehen.« »Ok.« Innen, unter allen Klamotten und meinem neutralen Gesichtsausdruck, bin ich überglücklich. Am Abend sehe ich Keve Hjelm zum neunten Mal. Ich beginne, »Der Pelikan« zu lesen. Ich soll die Szene spielen, in der Sohn Fredrik nach Hause zu seiner Mutter kommt, betrunken und luchend. Fredrik hat herausgefunden, wie die Mutter die ganze Familie ausgesaugt und hintergangen hat, nach Paris gefahren ist und die Kinder zu Hause in der Kälte zurückgelassen hat. Die Mutter trank Champagner und tanzte, während die Kin-
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der Brotkrumen aßen und zusehen mussten, wie Hunde kopulierten. Alles ist rasend geschrieben und gleichzeitig so einfühlsam, dass ich zittere. Ich fühle mich sofort zu Hause. Ich ahne, dass ich die fünf Minuten lange Strindberg-Szene überstrapaziere. Ich gehe sie durch, wenn ich laufe, Rad fahre. Ich zitiere Ausschnitte in Gesprächen mit meinen Kumpels und träume von der großen, kalten Wohnung auf Östermalm, wo die Mutter alle wie ein Vampir aussaugt. Ein Kumpel von mir, der Bühnentechniker am Stadttheater ist, fragt mich, ob ich eine theaterinterne, ofene Probe sehen wolle. Es geht um ein Stück von Lars Norén8. Es nennt sich »Ein schreckliches Glück«9. Es fühlt sich gut an, eine Pause von der Arbeit mit Strindberg zu machen. Die ofene Probe indet im Probesaal in der Wallingatan statt. Es sind nur richtige Schauspieler und Angestellte des Stadttheaters im Publikum. Und dann ich. Das Publikum kann jederzeit unterbrechen und Frage stellen. Da sehe ich ihn ganz vorne an der Eingangstür stehen. Er trägt Jeans, reingestopft in ein Paar Stiefel und hat einen hochge-
8 Lars Norén ist ein schwedischer Dramatiker, Bühnenregisseur und Intendant. Anm. d. Ü. 9 Der Titel wurde vom Übersetzer ins Deutsche übertragen. Anm. d. Ü.
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stelltem Jackenkragen. Er ist größer, als die meisten in der Schlange und spricht leise mit ein paar Leuten. Keve Hjelm. So nah habe ich ihn noch nie gesehen. Suzanne Osten leitet die Präsentation ein, indem sie sagt, dass so etwas bisher nicht gemacht wurde, dass es aber einen Versuch wert sei. Sie erklärt, dass die Schauspieler diese Vorstellung paarunddreißig Mal gespielt haben, dass aber alle Kommentare interessant seien. Ich sehe, dass sie kurz zu Keve Hjelm herüberschielt. Die Präsentation beginnt. Ich inde mich sofort in der Handlung zurecht. Alles wird gespielt wie in einem Woody Allen-Film, nur eben auf Schwedisch. Die Rolleninhaber quatschen sich gegenseitig ein Ohr ab und sind nur an sich selbst interessiert. Nur sie selbst können mit einem Kommentar ins Schwarze trefen und so der eigenen seelischen Tristesse ein Ende bereiten. Mich stört die erste Unterbrechung, die der Regisseur selbst vornimmt. Das Stück geht weiter mit einer Szene, in der ein Schauspieler direkt hintereinander zehn Kurze hinunterkippt. Er muss brechen, wird dabei aber von einem anderen Schauspieler auf seinem Weg zur Toilette unterbrochen. Das ganze wird eine Clownnummer, in der man den Kampf mit dem Brechreiz verfolgen kann. Ich lache. Da unterbricht Keve Hjelm. »Ich selbst habe sechzehn Kurze nacheinander gekippt. Ich weiß, dass, wenn einem die Kotze im Hals stecken bleibt, die
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Fontäne danach noch schlimmer wird. Warum macht ihr das so, wenn es doch aber in Wirklichkeit nicht so funktioniert?« Der Schauspieler beginnt sich zu verteidigen. »Wir sehen das so, dass es auf diese Weise geschehen kann …« »Aha. Aber warum hält der eine in seiner Bewegung inne und wartet darauf, dass sich der andere ausgekotzt hat? Wenn es um Erbrechen geht, will man doch nicht, dass alles auf dem Teppich landet.« »Ich warte auf das Lachen des Publikums.« »Also baust du deine Rolle auf dem Lachen des Publikums auf?« »Nein, so meine ich das nicht …« »Was meinst du dann?« »Man soll das Publikum nicht vergessen.« »Also lässt du das Publikum deinen freien künstlerischen Ausdruck steuern. Das ist Kommerzialisierung.« »Der Regisseur …« »Hast du keinen eigenen Willen?« In wenigen Sätzen hat Keve Hjelm mich dazu gebracht, zu verstehen, dass ein Schauspieler die Wirklichkeit nicht widerspiegeln, sondern sie enthüllen soll. Und dass man sich für niemanden verbiegen soll, nicht für die Erwartungen des Publikums und auf gar keinen Fall für den Regisseur. Dass man als Schauspieler jeden angreifen und unterbrechen kann. Der Raum, in dem wir sitzen ist voller Schauspieler und Regisseure, aber nur einer hat alles verstanden.
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Am nächsten Tag rufe ich ihn an. Im Telefonbuch steht. »Keve Hjelm, Schauspieler.« »Eeeh, hallo, Keve.« Er antwortet mit dem gleichen »Eeeh« wie am Anfang seiner Sätze im Stadttheater. Das ist wirklich Keve Hjelm. »Hallo, hier ist Michael Nyqvist und ich spiele zufällig auch gerade Strindberg.« »Eeeh, ja.« »Ich wollte fragen, ob Sie eine Szene aus ›Der Pelikan‹ anschauen wollen. Kennen Sie das Stück?« »Eeeh, ja.« »Soll ich die Szene im Stadttheater vorspielen oder kommen Sie zu Birkagårdens Volkshochschule?« »Eeeh, ich komme nach Birkagården.« »Die Schule liegt auf Stora Essingen.« »Eeeh, ja, ich weiß, Bosse wohnt dort.« »Wer?« »Eeeh, Bosse Widerberg.« »Achso, er. Wie schaut es Mittwoch bei Ihnen aus?« »Eeeh, ja, zwei Uhr.«
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Direkt nach dem Telefonat beginne ich, meine Szene aus »Der Pelikan« zu üben. Allein das Wissen darum, die Szene Keve Hjelm vorzuspielen, verleiht mir Fluss und Gewicht. Ich versuche, ein paar Eeehs in die Szene einzubauen, aber das wird dumm. Meine Verehrung wird zu ofenbar. Als ich darum bitte, den heatersaal am Mittwoch um zwei Uhr auszuleihen, muss ich erklären, was ich vorhabe. In meiner Klasse und bei meinem kurzwüchsigen Lehrer schlägt die Nachricht ein wie eine Bombe. Sie fragen ernsthaft, ob ich verrückt sei oder ob ich nur lügen würde. Ich gebe zurück, dass ich die Wahrheit sage und dass Bosse Widerberg einen Block entfernt wohne. Es wird still und ein paar Minuten lang, schaut mich keiner an. Ich habe wohl noch nicht richtig verstanden, wo ich mich da hineinbegeben habe und ich werde nervös. Keve Hjelm macht sich vielleicht über mich lustig. Am Mittwoch gehe ich im Bühnenraum auf und ab und warte darauf, dass es zwei Uhr schlägt. Ich habe keine Uhr dabei, also folge ich den Zeigern des Kirchturms. Die Kirche wurde aus rotem Ziegelstein gebaut und ich denke daran, dass Bosse Widerberg die Kirchenglocken auch hören muss, wenn er in seiner Küche auf Stora Essingen sitzt. Ein Saab fährt vor das heater »Der Orkan«. Es ist ein ausgedientes Kino, das jetzt als Bühnenraum meiner Schule genutzt wird.
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Keve Hjelm steigt aus dem Auto und er ist sehr viel größer, als ich es in Erinnerung habe. Er geht ein wenig ruckartig, wie auf der Bühne als Zeb Macahan. »Eeeh, so sieht das hier also aus.« »Ja.« Er schaut mich an, misstrauisch, als ob ich etwas gestohlen habe. Schweigend gehen wir in den leeren heatersaal. Es fühlt sich so an, als ob meine Klassenkameraden sich versteckt hätten, um zu kontrollieren, ob ich die Wahrheit gesagt habe. Ich bin etwas enttäuscht, dass wir niemanden auf dem Weg zur Bühne trefen. Keve Hjelm setzt sich hinten in den Zuschauerraum und ich springe auf die Bühne. Ich weiß, dass ich den Text oft zu leise ausspreche, dass ich ihn nicht richtig aus mir herausbekommen will. Ich beschließe, alles zu geben und gehört zu werden. Bevor ich mit der Szene beginne, bitte ich Keve Hjelm, mich während meines Spiels nicht zu unterbrechen und einen Satz als meine Mutter zum Einstieg zu sagen. Kurz und einfach zum Anfang der Szene. Ich will, dass er sagt. »Bist du das?« Keve Hjelm nickt und schaut mich an. Ich erwidere seinen Blick und sage. »Du bist dran, Keve!« Er nickt. »Eeeh, bist du das?« Ich beginne mit der Szene und inde, dass es wirklich gut läuft.
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Als ich fertig bin, wird es wieder still. Wir schauen einander an. Keve Hjelm unten im Zuschauerraum und ich oben auf der Bühne. »Eeeh, du spielst sehr akut.« Ich nicke und tue so, als ob ich verstanden hätte.
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Meine schwangere Frau und ich sind per Anhalter in die Pyrenäen gefahren. Ich wollte unbedingt in die Berge. Sie wäre lieber an den Strand gefahren, doch jetzt sehen wir die schönen weißen Berggipfel vor uns. Wir mieten ein Obergeschoss in einem großen südfranzösischen Haus am Fuße der Pyrenäen. Vom Balkon aus kann man den Cirque de Gavernie sehen. Die weißen Gipfel sind wie eine Treppe zu Gott. Ich muss hinauf in das reine Weiß. Am nächsten Tag gehen wir wandern. Auf schlängelnden Wegen verlassen wir das Dorf. Nach drei Stunden bergauf erreichen wir das Gebirge. Die Natur gleicht den schwedischen Bergen, sie ist karg und vom Wind gemartert. Die Berggipfel fühlen sich nun noch weiter entfernt an, als zu Anfang. Wir setzen uns auf ein Plateau. Tief unten im Tal liegt das Dorf. Mir wird klar, dass wir den Schnee nicht erreichen werden. Wir teilen uns einen Apfel und sitzen in Stille. Ich fühle mich wie eine Ziege. Ich sitze hinten im Bus 48 auf dem Weg ins südliche Krankenhaus. Es ist mitten in der Nacht. Meine Tochter wurde vor vier Tagen geboren. Ihre Mutter leidet unter Milchstau. Ich soll eine Pumpmaschine holen, damit man die Milch aus ihren schmerzenden Brüsten pumpen kann. Ich denke an all die Menschen, die geboren wurden, alle, die sich aus der Gebärmutter herausgekämpft haben und ins Leben
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gepresst wurden. Alle, die ich sehe, Babys, Säufer, Direktoren, alle, auch ich selbst. Ich steige aus und gehe ins Krankenhaus. Nach der Geburt ist meine Angst vor Krankenhäusern verschwunden. Ich ekele mich auch nicht mehr so vor Blut und muss die Augen davor nicht mehr verschließen. Wie immer ist es schwierig, die richtige Abteilung zu inden, aber schließlich erreiche ich die Entbindungsstation. Es herrscht eine nächtliche Ruhe. Meine Tochter ist auf einer besonderen Station geboren worden, in der man ohne Betäubung entbindet. Hebammen werden dort als Sage Femme bezeichnet und uns wurde ein Film über einen Gorilla gezeigt, der ohne Angst gebar. Die Pumpmaschine soll ich in der normalen Entbindungsstation abholen. Das Personal dort trägt Krankenhauskleidung und ich weiß, dass man den Film über den Gorilla dort nicht zeigt. Eine Krankenschwester zeigt mir einen riesigen Apparat. Er gleicht einer uralten Landwirtschaftsmaschine. Die Pumpe ist schwer und unhandlich, aber ich tue alles, wirklich alles für meine Tochter und ich weiß, dass ich das mein ganzes Leben lang tun werde. Meine Tochter ist eine Woche alt und bereits ein vollkommener Mensch. Sie kann neugierig auf etwas schauen, das ihre Aufmerksamkeit fängt, ein Licht oder ein Muster auf ihrem Kissen. Es ist unmöglich, etwas Unbehagliches über sie zu sagen. Man weiß, dass sie zuhört und alles registriert. Wenn ein Feuerwehrauto mit lauten Sirenen beim Spazierengehen an uns vorbeifährt, halte ich ihr die Ohren zu. Ich sage
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Wauwau und zeige auf einen Hund, wiege sie in den Schlaf und will sie mit meiner Stimme beruhigen. Wenn sie von jemandem bedroht würde, würde ich ihn töten. Da bin ich mir sicher. Ich würde töten, wie ein Gorilla, beißen und zu Tode schlagen. Jetzt verstehe ich, warum ich mir den Gorillailm anschauen sollte. Meine Tochter ist die erste biologische Verwandte, die ich trefe, und die Verwandtschaft entstand innerhalb von einer Sekunde. Wie von selbst. Dann brauchte sie nur noch geplegt werden. Alles war stark und neu. Was mich, meine Geschichte angeht, ist diese Zeit ausgeschnitten, genau wie ein Filmstreifen. Ich muss doch etwas registriert haben, als Leute gingen, lachten, Türen öfneten. Minuten, Stunden, Tage. Alles ist verschwunden. Der Filmstreifen ist weg. Meine Tochter suchte mich mit ihrem Blick bereits nach wenigen Minuten auf dieser Welt. Wen habe ich gesucht? Wen habe ich gesehen? Es muss doch jemanden gegeben haben. Wenn meine Tochter fragt, wo ich als Baby gewohnt habe, werde ich ihr mit dem Blick ausweichen. Ich, der ihr Halt und Kraft geben soll, kann nicht einmal die einfachste Frage über meine Herkunft beantworten. Das Sozialamt hat die Papiere von meiner Geburt, den Namen meiner leiblichen Eltern, die Daten vom Kinderheim und die Adresse meiner leiblichen Mutter. Und vielleicht auch die von meinem Vater?
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Das Sozialamt müsste das alte Jugendamt sein. Meine Eltern haben mich immer vor diesem Amt gewarnt, dass mich vielleicht holen käme, wenn ich etwas falsch machte. Jugendamt war eine exakte Bezeichnung. Man hörte, womit es arbeitete. Sozialamt ist kein Name, nur ein Ort ohne Adresse. Ich nehme die U-Bahn nach Högdalen. Das Sozialamt liegt in einem alten Schulgebäude aus den fünfziger Jahren. Ich hatte geglaubt, dass es auf Kungsholmen liegen würde, neben dem großen Postkomplex und dem Straßenverkehrsamt, an einer oizielleren Adresse. Nun bin ich in einem verschlafenen Vorort. Ich habe mich auf einem harten Sofa im Treppenhaus niedergelassen und warte. Der Bau gleicht der Schule, die ich in der Mittelstufe besuchte. Ich weiß nicht, was die Leute mich hier fragen werden. Das Einzige, was ich haben will, ist der Name und die Adresse meiner leiblichen Mutter, nichts mehr. Dann will ich mit allen Informationen auf einem Zettel einfach nur nach Hause. Mich hinlegen, einschlafen. Meine Batterien wieder auladen. Die Angestellte und ich sitzen in einem kleinen Raum mit einem leeren Schreibtisch zwischen uns. »Es ist lange her und damals waren es andere Zeiten.« »Ich verstehe.« »Das, was ich herausgeben darf, habe ich hier.« Sie holt einen Stoß Papiere hervor. Manche davon sind, wie ich sehe, Kopien von Kopien.
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»Ich will nur den Namen meiner Mutter haben und gerne auch den Namen meines Vaters.« »Den Namen Ihrer Mutter habe ich hier, aber den Namen Ihres Vaters darf ich nicht herausgeben.« »Warum nicht? »Weil hier steht, dass der Vater unbekannt sei.« »Ich weiß, dass er aus Italien kommt.« »Alles, was Ihren Vater angeht, müssen Sie Ihre Mutter fragen.« »Haben Sie ihre Telefonnummer?« »Nein, ich habe nur ihren Namen, den Namen, den sie 1960 hatte.« »Aber sie kann ja geheiratet haben und den Vor-und Nachnamen geändert haben.« »Ja, das ist möglich.« »Haben Sie ihr Geburtsdatum?« »Das darf ich nicht herausgeben.« »Aber Sie wissen es?« Das ganze beginnt die Form eines polizeilichen Verhörs in einem schlechten Krimi anzunehmen. Aber es ist real. Ich bin der Detektiv und fühle mich kein bisschen wohl in dieser Rolle. Ich weiß, dass die Frau mir gegenüber Daten hat, die mir und meiner Tochter helfen könnten. Sie sitzt auf der Wahrheit und gibt sie mir nicht. Das Schlimmste, das passieren kann, ist, dass ich wütend oder traurig werde. Doch ich bewahre einen kühlen Kopf. »Unser schwedisches Gesetz sagt, dass ich den Namen des Vaters nicht herausgeben darf, wenn da steht, dass er unbekannt ist.«
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»Also ist die einzige Möglichkeit, seinen Namen herauszuinden, meine Mutter zu fragen?« »Ja, oder jemanden, der ihm nahe steht.« »Aber ich kenne doch seinen Namen nicht.« »Nein.« »Und meine Mutter kann den Vor-und Nachnamen geändert haben« »Das kann sein.« »Wenn sie geheiratet hat, hat sie ja den Nachnamen ihres Mannes angenommen.« »Ja.« »Aber so ist das Gesetz?« »Ja und ich muss es befolgen.« »Kann ich einklagen?« »Es ist interessant, dass Sie das ansprechen. Wir haben ein paar ähnliche Fälle, wo man an dieser Idee dran ist. Wollen Sie sich dieser Gruppe anschließen?« »Ja, das will ich.« »Ich lasse von mir hören, wenn sich in Ihrem Fall etwas tut. Diese Papiere dürfen Sie mitnehmen. Viel Glück !« Sie steht auf und gibt mir die Hand. Ich nehme den Stoß Papiere und gehe zur U-Bahn. Als ich heim komme, schlage ich den Namen meiner leiblichen Mutter im Telefonbuch nach. Ich inde sie nicht. Ich rufe bei der Auskunft an und suche sie in ganz Schweden. Es gibt keine Frau mit ihrem Namen in Schweden, die ein Telefon hat. Ich verstehe, dass sie ihren Nachnamen geändert haben muss.
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Ich blättere durch die Papiere, die ich auf dem Sozialamt bekommen habe. Es fühlt sich an, als ginge es um wen ganz anderes aus einem anderen Zeitalter. »Wohlbehaltener Junge« und »Mutter überzeugt von Adoption«. Werte und Daten limmern vorbei. Ich erkenne die Handschrift meiner Adoptivmutter, wie sie sich in einem Brief beschreibt. Ich streife den Gedanken, wie viel es für meine Eltern bedeutet haben muss, ein Kind zu bekommen, aber ich schlage ihn mir wieder aus dem Kopf. Ich muss weiter zu meiner eigenen Geschichte. Ich will meinen Kopf klar halten und mich nicht mit der Hälfte zufrieden geben. Ich will das erste Kapitel meines Lebens inden. Arbetargatan 41 in Stockholm, das war die Adresse meiner biologischen Mutter, als sie mich im Bauch getragen hat. Ich habe keine Ahnung, wo diese Straße liegt. Ich schlage die Stadtkarte im Telefonbuch auf. Eine ganz unbekannte Straße auf Kungsholmen. Ich habe keine Erinnerungen an sie oder Assoziationen mit ihr, sie ist für mich genauso anonym wie meine früheste Kindheit. Ich erinnere mich, dass ich, als ich fünf Jahre alt war, zum Nachbarn ein Stockwerk tiefer ging, im Glauben, ich ginge nach Hause. Es dauerte einige Sekunden, bis ich verstand, dass dem nicht so war. Eine Angst beiel mich, nicht weil ich mich in der Tür geirrt hatte, sondern weil ich keine Ahnung hatte, wo ich war. Ich glaubte, ich wäre aus einem Traum aufgewacht und die echte Realität würde endlich ihr wahres
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Gesicht zeigen. Ein Gesicht, von dem ich nicht wusste, wem es gehört. Jetzt fühle ich mich in die Grenzgebiete dieser Angst zurückversetzt. Ich habe gelesen, dass die Arbetargatan in den dreißiger Jahren eine der ärmsten Straßen Stockholms gewesen sein soll. Meine Mutter wurde 1941 geboren. Auch zu dieser Zeit muss es dort noch arm gewesen sein. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie als Mädchen ihre Straße entlangging. Es fällt mir schwer. Viele Häuser sind abgerissen, die Straße ist zu einer Sackgasse geworden und vieles wurde umgebaut. Das Haus, in dem sie wohnte, ist auch abgerissen. Dort steht jetzt ein rotes Ziegelhaus aus den siebziger Jahren. An der neuen Haustür drehe ich mich um und versuche zu sehen, was sie sah, wenn sie zur Schule oder zu einer Freundin ging. Aber meine Augen bekommen kein Motiv zu fassen, mein Blick ist kalt. Auf dem Weg zurück zur U-Bahnstation gehe ich an einer alten Konditorei vorbei. Sie muss auch schon hier gewesen sein, als meine Mutter draußen in den Sechzigern auf der Straße vorbeiging. Vielleicht warf sie durch das Fenster sehnsüchtige Blicke auf die Torten und Hefestückchen. Dieses Bild nehme ich mit nach Hause. Wird das meine einzige Erinnerung an meine leibliche Mutter bleiben? Als ich nach Hause komme, setze ich mich aufs Bett und weiß nicht, wie ich weiter vorgehen soll. Ich will mich nicht mit dem zufrieden geben, was man mir geben will. Ich will alles. Ich will die Wahrheit über mich und
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meine Geschichte erfahren. In einem Impuls hole ich das Telefonbuch und schlage die Nummer des Finanzamts nach. Ich rufe an. »Ich will kontrollieren, ob eine unserer Kundinnen einen Zahlungsvermerk oder einen anderen Vermerk wegen Steuerhinterziehung hat.« »Wie heißt sie?« »Ich habe leider nicht ihren jetzigen Nachnamen, hingegen aber ihren früheren, wahrscheinlich ihren Mädchennamen.« »Ich schaue mal, was wir da machen können.« Es dauert eine Minute, dann habe ich ihren gegenwärtigen Namen und ihre Adresse. Ich versichere, dass es sich wohl um die gleiche Person handeln müsse, bedanke mich für die Hilfe und lege auf. Wie beginnt man einen Brief, von dem man weiß, dass er wie eine Bombe einschlagen wird? Wie ihr Interesse wecken, mich zu trefen? Ich weiß ja gar nicht, ob sie psychisch krank oder rachsüchtig ist. Ich weiß überhaupt gar nichts über ihr Leben. Vielleicht verletze ich sie, ihre Familie und auch mich selbst? Es könnte aber auch ein glückliches Zusammentrefen werden, eine Begegnung, nach der wir uns beide gesehnt haben. Mir muss ein guter Anfang für den Brief einfallen, damit sie ihn nicht gleich wegwirft. Das Einzige, das ich wirklich weiß, ist, dass ich lebe. Sie hätte mich ebenso abtreiben können, aber sie hat mich in ihrem Bauch wachsen lassen.
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»Ich will dir dafür danken, dass es mich gibt …« So beginnt mein Brief. Dann beschreibe ich, wie ich bei meinen Adoptiveltern aufgewachsen bin, dass ich heater spiele, dass ich eine Tochter habe und dass ich sie, meine Mama, trefen will, nur um zu sehen, wie sie aussieht. Und ich will den Namen von meinem Papa bekommen. Dann würde ich verschwinden. Ich klebe den Briefumschlag zu, meine Adresse und Telefonnummer habe ich sowohl auf das Kuvert als auch in den Brief geschrieben. Ich nehme den Brief mit, als wir am nächsten Morgen zur Kita gehen. Meine Tochter wirft den Brief ein. Im Stadttheater proben wir »Der kaukasische Kreidekreis«. Mir wurden drei kleine Rollen zugeteilt und eine größere. Es ist mein erstes Engagement an einem großen institutionellen heater. Mir gefällt das. Trotz all der wissenschaftlichen Langeweile bietet Brecht viel heaterspiel. Meine älteren Kollegen diskutieren und analysieren viel. Meine große Rolle ist Jussup, ein scheintoter, verheirateter Mann, der zu neuem Leben erwacht. Er ist ein richtiges Schwein. Ich muss ein paar Sekunden nackig auf der Bühne sein und das hasse ich. Ich schäme mich über meinen Körper und versuche diese Sekunden möglichst schnell herumzubekommen. Aber der Regisseur sieht das und scherzt darüber, dass ich mich geniere. Schließlich kümmere ich mich nicht mehr darum. Als die Premiere näher rückt, bin ich
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so gelassen, dass ich befürchte, ich könnte unsere Lesart aufgeben oder zu viel Fokus auf mich ziehen, aber der Regisseur pfeift darauf. Die Spielfreude entsteht aus der Sehnsucht, allem da draußen in der dröhnenden Realität zu entliehen, nur für eine Weile. Diese Weile kann sich wie eine Ewigkeit anfühlen und das tut mir gut. Ich habe eine Scheidung hinter mir und manchmal ist meine Tochter mit mir im heater. Es gibt ein Spielzimmer, in dem sie mit dem Kindermädchen der Produktion spielen kann. Aber nach einer halben Stunde ist sie bei mir hinter der Bühne. Wir wollen zusammen sein. Wenn wir nach Hause fahren, schläft sie in meinen Armen ein. Manchmal stehen wir zusammen am Fenster und schauen zu unserer alten Adresse. Wir sind uns jedes Mal wieder darüber einig, wie nah sie liegt. Montags habe ich frei. Da verbringe ich Zeit mit meiner Tochter. Wir bereiten Beefsteak und Kartofelpufer im Ofen zu und ich trinke ein Glas Wein. Sie macht alle Lichter aus und zündet Kerzen auf dem Tisch an. Nachmittags sehen wir das Dschungelbuch und schlafen auf dem Sofa ein. Eines Tages kommt die Antwort von meiner leiblichen Mutter. Sie habe erst gedacht, mich nicht zu trefen, getan ist getan, wie sie es ausdrückt. Aber der Satz »Ich will dir dafür danken, dass es mich gibt.« habe dazu beigetragen, dass sie ihre Meinung geändert hat. Sie schlägt vor, dass wir uns in einem Monat um zehn Uhr auf dem Medborgarplatsen trefen. Sie hinterlässt keine Telefonnummer, sodass ich per Brief antworte. In meiner Antwort
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danke ich ihr, dass sie mich trefen will. Das Datum, den zehnten März, trage ich in all meine Kalender ein. In der Nacht auf den zehnten ist es schwer, meine Tochter zum Einschlafen zu bewegen. Sie fühlt meine Unruhe. Ich muss ein Glas Wasser holen und versprechen, ganz still neben ihr zu liegen. Später werde ich vom Klingeln des Telefons geweckt und stehe vorsichtig auf. Es ist ungefähr ein Uhr. Am anderen Ende des Hörers beindet sich eine beschwipste Stimme. »Ich kenne Ernst-Hugo Järegård10.« »Mit wem spreche ich?« »Ich kann dir mit deiner Karriere helfen, sodass du ins Königliche Dramatische heater kommst. Ernst-Hugo und ich gehen zusammen schwimmen.« »Wer sind Sie?« Ich bekomme keine Antwort und lege auf. Nach zwanzig Minuten klingelt es wieder. Die Stimme ist jetzt mehr betrunken und bleibt an den Konsonanten hängen. Es ist schwer, seinem Gedankengang zu folgen. Er wechselt ganz zusammenhanglos und mitten in einem begonnenen Satz das hema. »Sie ist eine gute Frau.« »Wer ? Was sagen Sie ?« »Ich komme morgen.«
10 Ernst-Hugo Järegård war zu der Zeit einer der bekanntesten Schauspieler Schwedens. Anm. d. Ü.
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»Ich kann Ihnen das nicht verbieten und ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich glaube, ich verstehe. Ich bitte Sie, dass ich meine Mutter allein trefen kann. Wir brauchen das. Das ist das erste Mal, dass wir …« Er legt auf. Ich meine zu verstehen, dass Mamas Mann oder Freund meinen Brief gelesen hat. Der Brief ist ofenbar wie eine Bombe in einem Zuhause eingeschlagen, über das ich nichts weiß. Die Mutter meiner Tochter passt am nächsten Morgen auf sie auf. Seit der Scheidung verstehen wir uns nicht besonders gut, aber heute gelten keine gewöhnlichen Gesetze. Ich weiß nicht, wann und wie ich meiner Tochter vom Treffen mit meiner Mutter erzählen soll, aber ich weiß, dass ich es machen werde. Ich will, dass sie – im Gegensatz zu mir – alles wissen darf. Ich ziehe einen Mantel an und einen eleganten Schal. Ich will geplegt aussehen, stylisch. Der Schnee ist geschmolzen, auf den Straßen liegt noch Sand von den Schneeräumungen im Winter. Auf dem Weg zum Medborgarplatsen will ich niemandem begegnen, den ich kenne. Als ich um das Hotel Malmen herumgehe, spannt sich mein Körper an. Ich weiß, dass irgendwo in meiner Nähe meine Mutter ist. Ich habe keine Ahnung wie sie aussieht. In ihrem Brief hatte sie geschrieben, dass ich nicht enttäuscht sein solle. Sie sei ja nur eine alte Tante. Ihre Wortwahl lässt durchblicken, dass sie ebenso nervös ist wie ich. Beim Wurststand verlangsame ich meine Schritte. Ich sehe keine Frau um die sechzig. Jemand vom Straßenbauamt kehrt,
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